Verfassungsschutz und V-Männer

Manuskript
Beitrag: NSU-Aufklärung unerwünscht? –
Verfassungsschutz und V-Männer
Sendung vom 17. Mai 2016
von Arndt Ginzel und Ulrich Stoll
Anmoderation:
Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um
merkwürdig zu finden, was zum NSU nach und nach
herauskommt. Da taucht das Handy eines V-Manns erst jetzt auf.
Da verschwinden Akten, Hinweise werden unterdrückt und
Fragen bleiben unbeantwortet. Welche Rolle spielten die
Geheimdienste? Hätte der NSU entdeckt werden können, bevor
zehn Menschen ermordet wurden? Die Bundeskanzlerin
versprach den Angehörigen der Opfer persönlich Aufklärung – bei
den V-Männern liegt aber vieles noch im Dunkeln, berichten Arndt
Ginzel und Ulrich Stoll.
Text:
8. Juli 2015. Zum fünften Mal durchsuchen Beamte einen
Panzerschrank im Bundesamt für Verfassungsschutz. Erst
jetzt entdecken sie einen Umschlag mit der Aufschrift „privat
beschafft“ – darin ein Mobiltelefon. Es gehört einem V-Mann dem Neonazi Thomas Richter, Deckname „Corelli“. Topquelle des
Bundesamtes für Verfassungsschutz: 18 Jahre lang hatte er
Berichte geschrieben, dafür fast 300.000 Euro kassiert. „Corelli“
lieferte Hinweise auf den NSU, das Terror-Trio Zschäpe,
Mundlos, Böhnhardt. Die Informationen blieben viele Jahre ohne
Auswertung liegen.
Auch das Handy, das seit 2012 im Safe lag, wird nach der
Entdeckung erst einmal nicht untersucht. 200 Adressen von
Neonazis und über tausend Fotos sind darauf gespeichert –
mögliche Ermittlungsansätze, die nicht verfolgt wurden.
Ein Bundestags-Untersuchungsausschuss soll die Hintergründe
des NSU-Komplexes aufklären. Die Abgeordneten erfahren
wieder einmal zu spät von der Existenz eines wichtigen
Beweismittels.
O-Ton Uli Grötsch, SPD, MdB, NSUUntersuchungsausschuss:
Dass ein Handy im Juli 2015 entdeckt wird und es dauert bis
in dieser Woche im Mai 2016, bis es der Bundestag erfährt,
dass es Monate dauert, bis das Handy überhaupt mal
ausgewertet wird, dass die Auswertung wieder Monate
dauert, das halte ich für einen Vorgang, für den mir die Worte
fehlen.
Erneut Ermittlungspannen. Bereits vor Jahren übergab „Corelli“
dem Verfassungsschutz eine CD mit dem Titel NSU/NSDAP. Ein
Hinweis auf die rechte Terrortruppe. Doch der Verfassungsschutz
wertete die CD neun Jahre lang nicht aus.
Der Bundestag setzte Jerzy Montag als Sonderermittler ein, um
den Fall „Corelli“ aufzuklären. Montag ging davon aus, dass der
Verfassungsschutz keine Unterlagen zum V-Mann „Corelli“
zurückgehalten hatte.
O-Ton Uli Grötsch, SPD, MdB, NSUUntersuchungsausschuss:
Den Eindruck hatte ich, dass Jerzy Montag alle Unterlagen
und alle Informationsquellen, die für seine Arbeit wichtig
waren, zur Verfügung standen. Seit dieser Woche habe ich
begründeten Zweifel daran, dass das auch wirklich so war.
Der Verdacht: Das Bundesamt für Verfassungsschutz schützte
systematisch seine Spitzel aus dem Umfeld der NSU-Terroristen.
Das legt auch der Fall eines weiteren Zuträgers nahe.
Ralf Marschner, Neonazi und V-Mann mit dem Decknamen
„Primus“. Jahrelang will er nichts vom Terror-Trio mitbekommen
haben. Dabei war er vermutlich sehr nah dran am NSU. Doch
statt aufzuklären, vernichtete der Verfassungsschutz Marschners
V-Mann-Akte 2010 - vor Eintritt der Löschfrist.
Und jetzt soll auch noch Marschners Strafakte verschwunden
sein. Am 7. August 2010 überflutete das Hochwasser die Stadt
Chemnitz. Sechs Jahre später teilt die Staatsanwaltschaft mit:
Marschners Akte soll in diesem Gebäude durch die Flut vernichtet
worden sein.
O-Ton Irene Mihalic, B‘90/GRÜNE, MdB, NSUUntersuchungsausschuss:
Unseren Recherchen zufolge hat es im Jahr 2010 keine
Pressemitteilung oder Ähnliches der Staatsanwaltschaft
gegeben, dass da ein Archivkeller beispielsweise unter
Wasser stand oder Ähnliches. Also, wir als
Untersuchungsausschuss können es nicht akzeptieren, dass
uns hier Informationen vorenthalten werden, dass da Akten
nicht zugeliefert werden, dass da einfach hinterm Berg
gehalten wird mit gewissen Informationen.
Heute Abend tauchte eine Kopie von Marschners Akte plötzlich
auf. Marschner behauptet, er habe nichts vom Untertauchen des
NSU-Trios in seiner Stadt mitbekommen. Dabei versteckten sich
Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe mit Hilfe
örtlicher Kameraden über zehn Jahre lang in Zwickau.
In einer Polizei-Vernehmung sagt Marschner 2013:
„Mundlos oder Böhnhardt kenne ich aus der Presse. Frau
Zschäpe kenne ich aus der Presse.“
Ein Widerspruch zu den Ermittlungsakten. Danach haben Zeugen
Marschner in Begleitung von Mundlos und Böhnhardt beobachtet.
Andere wollen Beate Zschäpe in einem Szeneladen gesehen
haben, den Marschner in Zwickau betrieb.
Die Polenzstraße in Zwickau. Hier im Haus Nummer zwei wohnte
das NSU-Trio sechs Jahre lang unter falschen Identitäten. Hier
parkten Mundlos und Böhnhardt die auffälligen Wohnmobile, mit
denen sie zu den Mordanschlägen fuhren.
Schräg gegenüber, in der Polenzstraße 5, lebt noch heute ein
enger Vertrauter von V-Mann Marschner, der Neonazi Jens G.
Wir wollen von Jens G. wissen, was er vom NSU-Trio in seiner
Nachbarschaft mitbekam. Keine Auskunft.
O-Ton Sprechanlage Jens G.:
Nein, interessiert mich nicht.
Ortstermin in der Polenzstraße mit Petra Pau vom NSUUntersuchungsausschuss.
O-Ton Petra Pau, DIE LINKE, MdB, NSUUntersuchungsausschuss:
Dann ist das allerdings hier auch ein idealer Rückzugsort für
das Kern-Trio, wenn zum Beispiel einer der besten Freunde
von Herrn Marschner, der ja nicht nur Unternehmer und Nazi
in dieser Stadt war, sondern auch V-Mann des Bundesamtes
für Verfassungsschutz, schräg gegenüber, fast auf Rufweite,
wohnt.
Eine weitere Zwickauerin, Susann E., hielt engen Kontakt zu
Zschäpe. Sie besuchte das NSU-Trio häufig im Zwickauer
Versteck. Die Bundesanwaltschaft verdächtigt Zschäpes
Freundin, den NSU unterstützt zu haben.
Dem Bundeskriminalamt sagte Ralf Marschner, er kenne
Zschäpes Vertraute Susann E. kaum:
„Ich kenne ihren Namen, das war’s. Ich weiß auch, wie sie
aussieht. Mehr gab es da nicht. Sie war sicher nicht
gewalttätig.“
O-Ton Petra Pau, DIE LINKE, MdB, NSUUntersuchungsausschuss:
Nach nochmaligem Aktenstudium ist das eine glatte Lüge
gewesen, als er mehrfach bei Vernehmungen beim BKA
gesagt hat, er hätte die E. nicht gekannt. Wir wissen, dass
einer seiner besten Freunde, Herr G., gemeinsam mit Susann
E. und anderen Nazi-Kumpanen ein hier in der Nähe
liegendes Café 2001 überfallen hat.
Dieses Café, das Big Twin, liegt ganz in der Nähe der
Polenzstraße. Hier verprügelte Marschners Nazi-Truppe Gäste –
auch Marschners Bekannte Susann E. schlug zu. Sie kannten
sich also.
Nach diesem BKA-Vermerk wurden Ralf Marschner und Susann
E. gemeinsam dieser Straftat beschuldigt. Der Vorwurf: Sie hätten
mit weiteren „Glatzen“, also Neonazis, die Kneipe gestürmt, „um
diese aufzumischen.“
Ein Opfer der Schlägerei erinnert sich:
O-Ton Ralf Hoffmann, Oper des Überfalls 2001:
Wenn man sich dort in eine Kneipe begibt und innerhalb von
einer kurzen Zeit dort eine Schlägerei anfängt und in einer
Truppe noch, dann wird das wahrscheinlich schon so sein,
dass die auf Krawall gebürstet waren. Ralf Marschner kannte
jeder in der Stadt unter dem Spitznamen „Manole“. Alles,
was so in der rechten Szene passierte, hatte diesen
Oberbegriff „Manole“.
Wie glaubwürdig ist es also, dass der Verfassungsschutz nichts
vom Zwickauer Terror-Trio mitbekommen haben will, obwohl über
40 V-Leute auf das NSU-Umfeld angesetzt waren?
München, Strafprozess gegen Beate Zschäpe und die
mutmaßlichen Unterstützer des NSU. Die Familien der Opfer
fordern die Vernehmung von V-Leuten wie Marschner. Doch
Bundesanwaltschaft und Gericht lehnen das ab.
O-Ton Sebastian Scharmer, Anwalt der Familie Kubasik:
Dreh- und Angelpunkt in Zwickau sämtlicher dieser NaziBewegungen war Ralf Marschner. Deswegen war er auch VMann „Primus“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Wir haben Zeugen, die Zschäpe in Marschners Geschäft
gesehen haben wollen, wie sie möglicherweise dort
gearbeitet hat. Wir haben einen Zeugen, der gesagt hat,
Mundlos hat für Marschner, für seine Baufirma, gearbeitet.
Also, dem muss doch nachgegangen werden - und hier wird
kategorisch abgelehnt.
Wenn es um V-Leute im Umfeld des NSU geht, blockieren
Staatsanwaltschaft und Gericht. Und den Verfassungsschützern
scheint eines besonders wichtig zu sein: der Schutz der Spitzel.
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