12. MAI 2016 No 21 DIEZEIT WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR PREIS ÖSTERREICH 4,80 € ZEIT Österreich Illustration: Smetek für DIE ZEIT (nach einem polnischen Gnadenbild vom Barmherzigen Jesus) Warum haben wir noch zwei Kirchen? Faymanns schweres Erbe Der überfallartige Rücktritt des Kanzlers treibt die SPÖ und das Land tiefer in die Krise Seite 8 Katholiken und Protestanten sind sich längst nähergekommen. Aber viele Würdenträger hegen und pflegen das Trennende. Dabei müssten die Christen gerade jetzt zusammenstehen »Wir sind das neue Italien« Was die 35 Jahre alte Reformministerin Maria Elena Boschi denkt Politik, Seite 6 GLAUBEN UND ZWEIFELN WOHLSTAND IN DEUTSCHLAND DAS BILD VON ANGELA MERKEL Nur keine Angst Genauer bitte! Der Mittelschicht geht es gar nicht so schlecht wie behauptet – weil viel mehr Frauen berufstätig sind VON ELISABETH NIEJAHR A us den Vereinigten Staaten gelangt momentan eine Erzählung nach Deutschland, die begierig aufgesogen wird. Es ist die Erzählung vom wütenden weißen Mann, der sich abgehängt fühlt. Er wohnt in Iowa, Kentucky oder einem anderen Bundesstaat in den Weiten Amerikas. Er hat wenig Geld, noch weniger Hoffnung, hasst Veganer, Ausländer und Feministinnen und bewundert Donald Trump. Er ist die Hauptperson in vielen Berichten über die schrumpfende amerikanische Mittelschicht. Sein Drama ist, dass es weniger klassische Industriejobs gibt, mit denen sich ein bürgerliches Leben mit Haus und Familie finanzieren lässt. Von solchen frustrierten Verlierern wird man bis zur Präsidentschaftswahl noch häufiger hören. Und es wäre ein Wunder, wenn hierzulande dann nicht noch mehr Fernsehteams nach Duisburg-Marxloh oder Mannheim-Jungbusch ausschwärmen, um die wütenden Männer dort zu befragen. Ähnlichkeiten zwischen Wählern der Alternative für Deutschland (AfD) und Trump-Bewunderern scheinen auf der Hand zu liegen. Eine passende Statistik hat gerade das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vorgelegt. Danach wird auch in Deutschland der Anteil von Menschen mit einem mittleren Einkommen abnehmen. Sorgen machen sich auch jene, die eigentlich zufrieden sein könnten Weil derzeit aus kleinen Nachrichten schnell große Emotionen werden, lohnt sich ein genauer Blick auf die untersuchten Entwicklungen. Dabei stellt sich heraus: Die These von der schwindenden Mitte stimmt für Deutschland nicht ganz. Für den deutschen Wutbürger passt eine andere Diagnose. In Deutschland hat sich der Arbeitsmarkt anders entwickelt als in Amerika. Die Industrie hat die Finanzmarktkrise gut überstanden. Die Löhne stagnierten zwar ein paar Jahre, zuletzt aber sind sie in fast allen Bereichen gestiegen. Die Zahl der Arbeitsplätze wächst von Jahr zu Jahr. Die Warnungen vor einem Schwinden der Mittelschichtsjobs erklären sich vor allem durch den eingeschränkten Blick vieler Experten. Sie blenden die vielleicht schwerwiegendste Arbeits- marktveränderung seit dem Mauerfall einfach aus: Die Zahl der berufstätigen Frauen ist allein in den vergangenen zehn Jahren um mehr als eine Million gestiegen. Die meisten dieser Frauen haben keine hoch bezahlten Arbeitsplätze. Manchmal ist das sehr unfair, oft aber auch nicht. Vor allem Mütter wollen meistens keine volle Stelle, das zeigen Umfragen eindeutig. Lebenssituation, Bezahlung und Absicherung dieser Frauen mögen nicht ideal sein. Aber sie sind doch besser als die von ehemaligen Industriearbeitern, die einen sozialen Abstieg verkraften müssen. In den Statistiken erscheinen diese Frauen gleichwohl als Geringverdienerinnen. Und weil es so viele von ihnen gibt – Deutschland ist Teilzeit-Weltmeister –, nimmt in der Jobstatistik der relative Anteil der mittelprächtigen Jobs langsam ab. Anders als in Amerika ist das in Deutschland aber kein Alarmsignal. Der typische Industriearbeiter hat heutzutage eben keine Hausfrau, sondern eine Teilzeitkraft an seiner Seite. Woran also liegt es dann, dass in Umfragen so viele Menschen eine steigende soziale Ungleichheit feststellen und kritisieren? Offenbar machen sich selbst diejenigen Sorgen, die persönlich zufrieden sein könnten. Eine Erklärung lautet, dass man heutzutage für Geld mehr kaufen kann als früher: Zeit, Schönheit oder Gesundheit beispielsweise. Es gibt mehr Dienstleistungen, etwa für Eltern, und mehr Fitnessangebote. Selbst die Chancen, eine Familie zu gründen, sind in Zeiten von Auslandsadoptionen und Leihmüttern mitunter eine Frage des Kontostands. Hinzu kommt, dass Menschen es zunehmend als individuelles Versagen empfinden, wenn sie nicht beruflich erfolgreich sind. Theoretisch hat ja jeder unzählige Entwicklungsmöglichkeiten. Die Menschen erwarten mehr von sich. Es gibt weniger Ausreden als früher, wenn jemand seine Ziele nicht erreicht. So steigt die Unzufriedenheit, auch wenn die statistisch messbare Ungleichheit fast unverändert ist. In Deutschland gibt es momentan weniger Arbeitsmarktverlierer als in Amerika, aber nicht unbedingt weniger Angst vor Abstieg und Stagnation. Die Mittelschicht wird nicht kleiner, aber sie reagiert gestresst. www.zeit.de/audio Mit Animierdamen unter einem Dach In einer bayerischen Kleinstadt wohnen syrische Flüchtlinge über einer Erotikbar Z – Zeit zum Entdecken, Seite 55 Warum die vermeintliche Stärke der Kanzlerin auch mit einer Schwäche ihrer Beobachter zu tun hat VON MARC BROST I rgendwann muss ein einzelner Italiener beschlossen haben, die deutschen Kleinsparer zu ruinieren. Glaubt man den Schlagzeilen, dann ist Mario Draghi ein »selbstherrlicher« Chef der Europäischen Zentralbank, der »wie eine Dampfwalze« über rechtliche Bedenken hinwegrollt und ohne jeden Grund entschieden hat, die Zinsen im EuroRaum so weit zu senken, dass er damit die Bürger »enteignet«. Das alles liest sich, als gäbe es keinen Kontext zu Draghis Tun, als hätte er sich die Niedrigzinspolitik einfach so ausgedacht. Dabei könnte es doch sein, dass ihn politische Fehlentscheidungen bei der Euro-Rettung dazu zwingen. Ein zweites Beispiel: In der Flücht lings debatte hieß es lange Zeit, ein Staat könne seine Grenzen heute gar nicht mehr schließen. Dann zeigten die Balkanstaaten, dass dies kurzfristig zumindest sehr wohl geht. Warum aber möglich wurde, was doch angeblich nicht möglich war – auch damit blieben die Bürger ratlos zurück. Nur zwei Beispiele sind das, die zeigen, dass man die Dinge eben immer auch anders sehen kann. Und dabei fällt auf, dass es diesen anderen Blick auf die Dinge in vielen gesellschaftlichen Debatten inzwischen fast gar nicht mehr gibt. Die Kanzlerin konnte ihre Politik ändern, ohne diese Veränderung erklären zu müssen Womit wir bei der Rolle der Beobachter und Erklärer wären: der Journalisten. Nur 49 Prozent der Deutschen glauben laut einer Studie des Bayerischen Rundfunks, dass die Medien Sachverhalte so wie dergeben, wie sie wirklich sind. 61 Prozent meinen, die Medien gingen zu wenig auf die Folgen der Entscheidungen von Politikern und Managern ein. 66 Prozent sagen, die Medien vereinfachten zu sehr. Viele Leser und Zuschauer haben wahrscheinlich weder Zeit noch Lust, sich mit allen Themen bis ins kleinste Detail zu beschäftigen. Aber sie sind auch nicht dumm. Sie durch schauen es, wenn Journalisten zuspitzen, übertreiben, weglassen. Wenn die Bürger aber glauben, dass Journalisten ihren Job nicht so gut machen, wie sie ihn machen sollten (und könnten!), dann ist das mehr als ein Medienthema. Denn jede demokratische Gesellschaft lebt davon, dass genau hingesehen wird; dass Zusammenhänge beschrieben und erklärt werden; dass Ursache und Wirkung von politischen Entscheidungen dargestellt und hinterfragt werden. PROMINENT IGNORIERT Angela Merkel ist die Meisterin des fehlenden Kontexts, der Entkoppelung von Ursache und Wirkung. Nur so funktionierten im Übrigen ihre beiden spektakulären Wenden – die Energiewende und die Wende in der Flüchtlingspolitik. Nach Fukushima warf Merkel ihre bisherige Einstellung zum Atomstrom über den Haufen – obwohl das sogenannte Restrisiko, mit dem sie ihren plötzlichen Politikwechsel begründete, nicht höher war als zuvor. Auch in der Flüchtlingsfrage zeigte sie sich von zwei unterschied lichen Seiten. Im Spätsommer war sie die moralisch Gute, die als Einzige unter den europäischen Regierungschefs noch Herz bewies. Wenn das nicht mehr möglich sei, »dann ist das nicht mehr mein Land«, sagte sie. Doch dieselbe Merkel behandelt Flüchtlinge inzwischen wie eine Art Austauschware, die man beliebig per Flugzeug zwischen der Türkei und der EU hin- und hertransportieren kann. Im Licht der heutigen Maßnahmen wirken ihre Worte von damals wie hohle PR. Es gibt derzeit kein größeres, kein wichtigeres gesellschaftliches Thema als die Flüchtlingsfrage. Und trotzdem konnte die Kanzlerin ihre Politik ändern, ohne diese Veränderung wirklich er klären zu müssen. Das ist die Parallele zu Fuku shima. Und so haben Angela Merkels vermeintliche Unangreifbarkeit und ihre politische Stärke womöglich weniger mit starker Politik, sondern mehr mit der Schwäche ihrer Beobachter zu tun. Viele Bürger spüren sehr gut, wenn etwas nicht stimmt. Und da geht es nicht um den abwegigen Vorwurf, die Medien seien von dunklen Mächten im Hintergrund gelenkt. Aber die L eser und Zuschauer merken, dass Journalisten häufig genug auch nicht mehr wissen als sie. Dass sie bei ihren Recherchen an Grenzen stoßen und auf Widersprüche aufmerksam werden. In einer immer komplexer werdenden Welt kann das gar nicht anders sein. Die beste Antwort darauf ist jedoch nicht, keine Zweifel zuzulassen. Oder (um auf der sicheren Seite zu sein) nur zu schreiben, was andere schreiben. Gut wäre es, die Welt so widersprüchlich darzustellen, wie sie ist. Immer wieder hartnäckig nachzufragen. Die Politik zu Erklärungen zu zwingen. Und den Kontext von Entscheidungen zu zeigen. Das würde die Medien stärken. Und, wichtiger noch, die Demokratie. www.zeit.de/audio Arabische Zahlen Auf einem inneramerikanischen Flug hat eine Frau ihren dunkelhäutigen Nachbarn, der bizarre Zeichen niederschrieb, für einen Terroristen gehalten und die Sicherheitsleute informiert. Nach einem Verhör startete der Flug verspätet. Der namhafte italienische Professor hatte mathematische Formeln für einen Vortrag notiert. Dass er nicht römische Zahlen verwendete, sondern arabische, machte ihn zu Recht verdächtig. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Leonhard Foeger/Reuters; Annette Schreyer für DIE ZEIT; Jeff Greenberg/ agefotostock/Avenue Images Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. 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