Die komplette Pressemappe - AOK

Bundespressekonferenz mit Hermann Gröhe
Thema: Gesundheitskompetenz in Deutschland
13. Mai 2016, Berlin
Inhalt der Pressemappe
• Übersicht der Gesprächsteilnehmer
• Pressemitteilung
• Statement Prof. Dr. Doris Schaeffer
Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften
und Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaften
• Statement Martin Litsch
Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes
• Infografiken
• Factsheet
• Buchauszug
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Dr. Kai Behrens | Pressesprecher | 030 346 46-23 09 | [email protected]
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Gesundheitskompetenz in Deutschland
Bundespressekonferenz am 13. Mai 2016 in Berlin
Ihre Gesprächspartner:
Hermann Gröhe
Bundesminister für Gesundheit
Prof. Dr. Doris Schaeffer
Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften und
Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaften
Martin Litsch
Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes
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Presseinformation des AOK-Bundesverbandes vom 13.5.2016
Studie zur Gesundheitskompetenz:
Über die Hälfte der Deutschen von Informationsflut
überfordert/
Gröhe unterstützt Nationalen Aktionsplan
Mehr als die Hälfte der Deutschen fühlt sich von der Informationsflut zu Gesundheitsthemen
überfordert. Das zeigt eine repräsentative Studie der Universität Bielefeld. Demnach weisen rund
44 Prozent der Deutschen eine eingeschränkte und weitere zehn Prozent sogar eine unzureichende Gesundheitskompetenz auf. Damit liegt Deutschland nicht nur unter dem europäischen
Durchschnitt, es fällt auch deutlich gegenüber vergleichbaren Ländern wie den Niederlanden
oder Dänemark ab. Dem wollen die Universität Bielefeld, der AOK-Bundesverband und die
Hertie-School of Governance mit einem „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ entgegenwirken. Schirmherr ist Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: „Mehr als die Hälfte der Menschen in
Deutschland hat erhebliche Mühe, sich in der ständig anwachsenden Fülle an Gesundheitsinformationen zurechtzufinden und Entscheidungen für die eigene Gesundheit zu treffen. Das muss
alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen aufrütteln. Der schnelle Zugang zu immer mehr
Informationen im Internet ist dabei Chance und Herausforderung zugleich. Denn im Internet
lassen sich neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht immer leicht von werblichen
Angeboten und interessengeleiteten Empfehlungen unterscheiden. Nötig sind unabhängige,
wissenschaftlich belegte und leicht verständliche Gesundheitsinformationen. Gerade das ArztPatienten-Gespräch ist entscheidend, um Patienten die Diagnose und Behandlung verständlich
zu erklären. Denn je mehr Patientinnen und Patienten über Vorsorge, Krankheitsbilder und
Behandlungsmöglichkeiten wissen, desto besser können sie Krankheiten vorbeugen und informierte Entscheidungen treffen, die Therapie und Heilung unterstützen. Wir brauchen jetzt
eine gemeinsame Kraftanstrengung von Ärzten, Krankenkassen, Apotheken, Pflege-, Verbraucher- und Selbsthilfeverbänden und Behörden, um das Gesundheitswissen in ganz Deutschland
zu verbessern. Dazu müssen alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen an einen Tisch. Der
‚Nationale Aktionsplan für Gesundheitskompetenz‘, für den ich sehr gerne die Schirmherrschaft
übernommen habe, ist dafür ein wichtiger Baustein.“
Unter „Gesundheitskompetenz“ verstehen Wissenschaftler das Finden, Verstehen und Umsetzen
von Gesundheitsinformationen. Für die erste repräsentative Studie zur Gesundheitskompetenz
der Bevölkerung in Deutschland hat die Universität Bielefeld 2.000 Menschen über 15 Jahren
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Presseinformation des AOK-Bundesverbandes vom 13.5.2016
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vom Forschungsinstitut Ipsos befragen lassen. Basis war der international erprobte Fragebogen
„Health Literacy Questionaire Europe“. Zwei Ergebnisse stechen dabei besonders hervor: Mehr
als die Hälfte der Deutschen hat offenbar Schwierigkeiten, gesundheitsrelevante Informationen
zu verstehen und zu verarbeiten. Das gilt vor allem für sogenannte vulnerable Gruppen, also
Menschen mit Migrationshintergrund, geringem Bildungsgrad oder hohem Lebensalter. Hier sind
die Einschränkungen und Unsicherheiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen besonders
ausgeprägt. Auffällig ist auch das schlechte Abschneiden Deutschlands im Vergleich zu anderen
europäischen Staaten. In den Niederlanden, Dänemark, Irland oder Polen hat die gleiche Befragung deutlich höhere Kompetenzwerte ergeben. Deutschland schneidet also im europäischen
Vergleich unterdurchschnittlich ab.
Studienleiterin Prof. Doris Schaeffer von der Universität Bielefeld hält die Ergebnisse für bedenklich: „In den vergangenen Jahren wurde einiges angestoßen, um die Gesundheitsinformationen
der Bevölkerung zu verbessern. Aber die Ergebnisse zeigen, dass das längst nicht ausreicht.
Wir müssen neu über die Art, Aufbereitung und Vermittlung von Informationen nachdenken.“
Schaeffer kündigte an, gemeinsam mit einer Gruppe von anerkannten Experten in den nächsten
zwei Jahren eine umfassende und koordinierte Strategie zur Stärkung der Gesundheitskompetenz auszuarbeiten. „Wir brauchen ein abgestimmtes Maßnahmenkonzept, eben einen Nationalen Aktionsplan, der konkrete Handlungsimpulse setzt und nicht nur das Gesundheitswesen,
sondern auch den Bildungssektor und die Forschung erreicht.“
Mit von der Partie ist der AOK-Bundesverband. Dessen Vorstandsvorsitzender Martin Litsch
stellte fest: „Für eine gesunde Lebensführung braucht man heute Informationen und gesichertes
Wissen. Welchen Einfluss haben Ernährung und Bewegung auf meinen Körper? Was kann ich
tun, um fit zu bleiben? Aber auch das Kleingedruckte auf den Lebensmittelverpackungen, das
für die Entscheidung gesund oder nicht nur selten Transparenz schafft. Bei all dem kann das
Internetwissen helfen, wenn es gut läuft. Aber die Studie zeigt: Es sorgt in großem Maße eher
für Verwirrung und ein mulmiges Gefühl, was da oft ergoogelt wird.“ Und dieses Misstrauen sei
berechtigt, denn hinter vielen Internetseiten zu Gesundheitsthemen steckten Pharmafirmen, und
auch das Angebot von teilweise unsinnigen „individuellen Gesundheitsleistungen“ in Arztpraxen sei ein Problem. Litsch kündigte an, die AOK-Faktenboxen weiter auszubauen. Dieses neue
Informationsformat vermittle verfügbares medizinisches Wissen auf verständliche, kompakte
Weise und stärke durch seine Kompassfunktion die Orientierung im Meer der Informationen. In
diesem Jahr werde die AOK noch eine Reihe weiterer Faktenboxen veröffentlichen, etwa zu den
Themen Nahrungsergänzungsmittel oder Bluthochdruck.
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Bundespressekonferenz
Thema: Gesundheitskompetenz in Deutschland
13. Mai 2016, Berlin
Statement von Prof. Dr. Doris Schaeffer
Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir freuen uns sehr, dass Herr Bundesminister Gröhe die Schirmherrschaft für das Vorhaben
‚Aktionsplan Gesundheitskompetenz’ übernimmt. Denn ein solcher Aktionsplan ist dringend
erforderlich, wie unsere aktuelle Studie zu diesem Thema zeigt. Mehr als die Hälfte der Deutschen hat Schwierigkeiten beim Verständnis oder bei der Verarbeitung gesundheitsrelevanter
Informationen. Das ist ein besorgniserregender Befund, denn wer nicht über diese Fähigkeiten
verfügt, hat es äußerst schwer, sich in unserem komplexen Gesundheitssystem zurechtzufinden
und die zahlreichen Anforderungen der Gesundheitserhaltung im Alltag zu bewältigen. Das hat
Folgen, die sich letztlich in einem höheren Krankheitsrisiko niederschlagen.
Unter Gesundheitskompetenz, international als Health Literacy bezeichnet, wird die Motivation
und die Fähigkeit verstanden, gesundheitsrelevante Informationen suchen, richtig verstehen, beurteilen und verwenden zu können, um ein angemessenes Gesundheitsverhalten zu entwickeln,
sich bei Krankheiten die nötige Unterstützung durch das Gesundheitssystem zu sichern und die
dazu nötigen Entscheidungen treffen zu können.
In unserer Studie – der ersten repräsentativen Untersuchung der Gesundheitskompetenz der
Bevölkerung in Deutschland, gefördert vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz – haben wir die Gesundheitskompetenz mit einem international erprobten Fragebogen
erhoben. Mehr als 2.000 Menschen wurden persönlich befragt.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass jeder zehnte Deutsche eine unzureichende Gesundheitskompetenz aufweist. Weitere 44 Prozent verfügen über deutliche Einschränkungen. Somit
haben 54 Prozent der Deutschen – mehr als jeder zweite Deutsche – eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz. Ihnen fällt es schwer, mit Gesundheitsinformationen umzugehen und sie
im Alltag nutzen, um die an sie gestellten Anforderungen bei der Krankheitsbewältigung und
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der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, aber auch bei der Prävention und der Gesundheitserhaltung zu erfüllen. Sie haben beispielsweise große Schwierigkeiten dabei, Information
einzuschätzen, etwa unterschiedliche Behandlungsoptionen zu beurteilen, Packungsbeilagen
für Arzneimittel zu verstehen und zu bewerten oder zu entscheiden, wann eine ärztliche Zweitmeinung sinnvoll ist. Aber auch die Einschätzung von Gesundheitsinformation in den Medien
stellt sie vor Probleme.
Menschen mit eingeschränkter oder unzureichender Gesundheitskompetenz wissen zudem häufig nicht, wohin sie sich mit gesundheitlichen Problemen wenden sollen. Sie werden häufiger im
Krankenhaus behandelt und nehmen häufiger den ärztlichen Notdienst in Anspruch. Und noch
etwas: Sie haben häufiger einen schlechten subjektiven Gesundheitszustand und leiden häufiger
unter chronischen Krankheiten oder Gesundheitsstörungen.
Die Studie offenbart zugleich große soziale Unterschiede, denn bestimmte Bevölkerungsgruppen
sind besonders oft betroffen. Das gilt etwa für Menschen mit niedrigem Bildungsgrad – etwa
bildungsferne Jugendliche –, niedrigem sozialen Status, Menschen mit Migrationshintergrund
und für ältere Menschen.
All diese Fakten stimmen nachdenklich: Obwohl wir in Deutschland über ein im internationalen
Vergleich sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem verfügen, hat ein großer Teil der Bevölkerung
Schwierigkeiten, dieses System effektiv zu nutzen und sich darin zu bewegen. Und obwohl in
den vergangenen Jahren viel unternommen wurde, um die Gesundheitsinformation der Bevölkerung zu verbessern, lassen die Studienergebnisse Zweifel daran aufkommen, ob dabei immer
der richtige Weg beschritten wurde. Denn offenbar erreicht die bereitgestellte Information die
Bevölkerung nicht so wie intendiert. Daher ist es erforderlich, dass wir neu über die Art, Aufbereitung und Vermittlung von Informationen nachdenken. Und nicht nur das: Zugleich müssen wir
über eine Intensivierung der Gesundheitsbildung, zielgruppenspezifische Vermittlungskonzepte,
Sensibilisierungs- und Schulungsprogramme für Ärztinnen und Ärzte und andere Gesundheitsprofessionen, seriöse Informationsquellen im Internet, aber auch eine nutzerfreundliche
Ausgestaltung unseres Gesundheitssystems nachdenken und entsprechende Schritte in diese
Richtung einleiten.
Kurz und gut: Wir benötigen ein ganzes Bündel an Maßnahmen, um Menschen mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz besser erreichen und unterstützen zu können. Aber Einzelmaßnahmen reichen nicht aus; erforderlich ist eine umfassende Strategie. An der Universität
Bielefeld haben wir deshalb gemeinsam mit der Hertie School of Governance Berlin und dem
AOK-Bundesverband eine Initiative zur Entwicklung eines Nationalen Aktionsplans zur Förderung der Gesundheitskompetenz gestartet. Internationalen Vorbildern folgend, soll der Aktionsplan als Basis für die Politik, die Forschung und die Interventionsentwicklung dienen und in
den nächsten zwei Jahren gemeinsam mit einer Gruppe anerkannter Expertinnen und Experten
erarbeitet werden. Die Projektinitiative wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
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Die Expertengruppe wird in Kürze ihre Arbeit aufnehmen und Ende 2017 ein systematisches
Maßnahmenkonzept vorlegen, das sich nicht nur auf das Gesundheitswesen konzentriert, sondern beispielsweise auch den Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungssektor tangiert.
Bis zur Vorlage dieses Aktionsplans wird also etwas Zeit vergehen. Angesichts der Befundlage
gibt es aber keinen Grund, bis dahin damit zu warten, die Gesundheitsinformation zu verbessern
und das Gesundheitssystem verständlicher zu machen. Das beginnt mit leicht verständlichen
Informationen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, geht über nutzerfreundlichere Interaktions- und Kommunikationsstrategien im Arzt-Patienten-Gespräch und reicht bis hin zu leicht
verständlichen Formularen und gut aufbereiteter Information im Internet. Selbstverständlich ist
auch die Forschung eingeschlossen, denn sie steht in Deutschland noch am Anfang.
Zusammenfassend: Unser Gesundheitssystem bietet Leistungen auf hohem Niveau. Damit auch
wirklich alle Bevölkerungsgruppen davon profitieren können, muss es nutzerfreundlicher werden
und die Kommunikation und Informationsvermittlung unter neuen Vorzeichen betrachten. Das
zu realisieren ist sicher eine große Herausforderung in unserem immer komplexer werdenden
Gesundheitssystem und wir freuen uns, daran mitwirken zu können.
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Sandra Sieraad I Pressereferentin I 0521 106 4170 I [email protected]
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Bundespressekonferenz
Thema: Gesundheitskompetenz in Deutschland
13. Mai 2016, Berlin
Statement von Martin Litsch
Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes
Vor knapp zwei Jahren haben wir das Thema Gesundheitskompetenz schon einmal genauer
unter die Lupe genommen. Damals hat unser Wissenschaftliches Institut, das WIdO, eine Kurzfassung des etablierten Fragebogens zur Messung von Gesundheitskompetenz eingesetzt. Unser WIdO-Monitor kam 2014 auch zu dem Ergebnis, dass über die Hälfte der Befragten eine
problematische bis unzureichende Kompetenz in Fragen zur Gesundheit aufweist. Wir haben
schon damals auf das Problem hingewiesen. Frau Professor Schaeffers aktuelle bevölkerungsrepräsentative Studie mit der Langfassung des Fragebogens hat den damaligen Befund nun
eindrucksvoll bestätigt. Sie unterstreicht die Relevanz des Themas noch einmal.
Dabei wird deutlich: Wir brauchen im Gesundheitswesen mehr zielgruppengerechte Angebote
für bildungsferne Schichten, aber auch für Senioren, Migranten und chronisch kranke Patienten.
Das gilt für die Gesundheitsinformation und die Gesundheitsversorgung gleichermaßen. Deshalb
ist es richtig, dass die Politik in dieser Legislaturperiode z. B. die Pflegeversicherung und ihre
Beratungsangebote gestärkt hat und die Verhältnisprävention in Kindergärten, Schulen oder
Betrieben großschreibt. Gerade weil es sich hier um zielgruppengerechte, nachhaltige Angebote
handelt, investiert die AOK schon seit Jahren ganz gezielt in diesen Bereichen.
Unsicherheit bei Informationen aus dem Netz
Wir wollen mit unserem Engagement in der Pflegeberatung oder in Kindergärten die Zugangsbarrieren abbauen, denn gesundheitliche Chancengleichheit ist uns ein echtes Anliegen. So
wurden über 85 Prozent aller sogenannten Settingmaßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, beispielsweise in Schulen und Kindergärten, von der AOK durchgeführt. Mit 97 Cent
pro Versichertem hat die AOK in diesem Bereich fünf Mal mehr investiert als die anderen Krankenkassen mit 18 Cent. Dieses Geld ist gut investiert.
Gesundheitlicher Analphabetismus ist aber kein schichtenspezifisches Problem, wie man vielleicht
annehmen könnte, sondern es zieht sich durch breite Bevölkerungsschichten. Ob Akademiker
oder Hilfsarbeiter – Versicherte und Patienten haben generell Probleme damit, gesundheitsrele-
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vante Infos – zum Beispiel zu Krankheitssymptomen – zu finden und die Berichterstattung der
Medien oder Internetseiten zu Gesundheitsthemen zu verstehen. Ein großes Problem ist auch
die Vertrauenswürdigkeit dieser Informationen. Nicht nur, dass mit den medizinischen und
medialen Optionen die Unübersichtlichkeit wächst. Ein Gros der Befragten ist sich nicht
sicher, ob sie dem, was sie sich im Internet „ergooglen“, auch trauen können. Und das
Misstrauen ist durchaus berechtigt. Das zeigen nicht nur die vielen Internetseiten zu Gesundheitsthemen, hinter denen Pharmainteressen stecken. Auch das große Angebot von zum Teil
unsinnigen oder sogar schädlichen „individuellen Gesundheitsleistungen“ in Arztpraxen ist ein
Problem.
Außerdem gibt es große Unsicherheiten zum Beispiel bei der Frage, ob vor einer planbaren
OP eine Zweimeinung einzuholen ist oder nicht. Schon eine Entscheidung für oder gegen eine
Impfung überfordert viele Befragte. Und Nährwertangaben auf Lebensmittelpackungen werden
ohnehin kaum verstanden. In all diesen Dimensionen schneiden die Deutschen schlechter ab als
Niederländer, Dänen oder Iren.
Von einem „PISA-Schock“ in Sachen Gesundheit zu sprechen, ist vielleicht etwas übertrieben.
Aber aus Sicht von Krankenkassen, Verbraucherschutz und Wissenschaft ist dieser Befund bedenklich. Seit Jahren wird die Idealvorstellung vom mündigen Patienten gepflegt. Den Alltag
erleben die Menschen aber offenbar anders: In einem Meer von Gesundheitsinformationen,
medizinischen Angeboten und Formalitäten fühlen sie sich allein gelassen und überfordert.
Vom kompetenten Gesundheitsexperten in eigener Sache, der Gesundheitsinformationen findet, versteht, einordnet und dann umsetzt, sind wir meilenweit entfernt. Stattdessen gibt es im
deutschen Gesundheitswesen erhebliche Orientierungsprobleme.
Neue Ansätze: Faktenboxen & Co.
Beim Thema Gesundheitskompetenz zeigt sich die Abhängigkeit der Gesundheit von der Bildung. Kurz gesagt: Wer gesund werden oder gesund bleiben will, der muss Informationen zur
Gesundheit verstehen und erfassen können. Vor diesem Hintergrund haben wir gemeinsam mit
unabhängigen Experten die „AOK-Faktenboxen“ entwickelt. Das ist ein neues Informationsformat, um verfügbares medizinisches Fachwissen auf verständliche, kompakte Weise
zu vermitteln. Und das vorzugsweise im Internet. Faktenboxen können eine Kompassfunktion
im unendlichen Meer der Informationen übernehmen, wenn es darum geht, einen sicheren
Überblick über eine medizinische Fragestellung zu bekommen. Übrigens bieten sie nicht nur
eine verständliche schriftliche Vermittlung, sondern stehen auch für die Visualisierung von Informationen. Das bedeutet auch, dass wir jetzt Faktenboxen im Bewegtbild anbieten werden. So
erschließen sich die Informationen vielen Menschen schneller.
Auch unsere Navigatoren, Entscheidungshilfen und Apps tragen dazu bei, Patienten und Versicherten Orientierung zu geben und sie gut zu informieren. So stärken wir die Kompetenz der
Patienten mithilfe gezielter Informationen zu Nutzen und Risiken medizinischer Angebote. Der
Patient kommt so in die Lage, eine aktive Rolle in der Therapie von Erkrankungen, aber auch
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ganz generell als Akteur im Gesundheitssystem einzunehmen. Aus Studien wissen wir, dass
informierte Patienten einfach besser bei ihrer Therapie mitwirken, die Fachleute nennen das
Compliance oder Adherence.
Für die Faktenboxen arbeitet der AOK-Bundesverband mit ausgewiesenen Experten wie dem
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zusammen. Diese lehren uns einen angemessenen
Umgang mit Risiken und Unsicherheiten und stehen für das „Recht auf Einfachheit“. Und unsere „Faktenboxen“ zeigen: Laienverständlichkeit und evidenzbasierte Medizin schließen sich
nicht aus. Und das ist das Neue. Kommt beides zusammen, dann kann eine patientengerechte
Antwort auf Informationsflut und medizinischen Fortschritt geliefert werden. Zusammen mit
Wissenschaft und Ärzteschaft werden wir diesen Informationsansatz systematisch ausbauen
und noch in diesem Jahr eine Reihe weiterer Faktenboxen etwa zu den Themen Nahrungsergänzungsmittel oder Bluthochdruck veröffentlichen. Wir stehen für die Vertrauenswürdigkeit der
Inhalte und Darstellungen ein, der Patient kann sich darauf verlassen.
Schließlich wird auch deutlich: Die Stärkung von Patientenorientierung und Gesundheitskompetenz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Neben den Akteuren aus dem Gesundheitswesen und der Wissenschaft sind hier Politik und Bildungssystem gefordert. Eine Schlüsselrolle
bei der Vermittlung von medizinischen Inhalten haben natürlich die Ärztinnen und Ärzte und alle
anderen Gesundheitsprofessionen. Wir sind deshalb froh, dass mit dem „Nationalen Aktionsplan
Gesundheitskompetenz“ nun ein Forum entsteht, das zentrale Akteure zusammenbringt, um
das Thema „Gesundheitskompetenz“ auf der Agenda von Bildungs-, Verbraucher- und Gesundheitspolitik weiter nach vorne zu bringen.
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Gesundheitskompetenz in Deutschland – Ergebnisse des HLS-GER
exzellentes
15-29 J.
30-45 J.
46-64 J.
ab 65 J.
männlich
weiblich
MH*
ohne MH*
Bildung niedrig
Bildung mittel
Bildung hoch
Gesamt
ausreichendes
problematisches
inadäquates HL-Niveau
10,3
42,5
40,5 8,5
44,3
40,2
7,8
37,1 45,8
3
30,7
51,1
7,1
7,5
39,8
37
43,8
45,4
10,6
18,8
53
7
40,1
43,8
6,8
7
9,4
15,2
9,2
10,1
17,5
9
6,231,745,916,3
7,5
42,2
44,4
5,8
9,1
39,7
43,9 7,4
7,3
38,4
44,6
9,7
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100%
*Migrationshintergrund
Quelle: S
chaeffer et al. (i.E.) Health Literacy in Deutschland. In: Schaeffer, Pelikan (Hrsg.)
Health Literacy: Forschungssstand und Perspektiven. Göttingen: Hogrefe
Gesundheitskompetenz im europäischen Vergleich – Ergebnisse des HLS-EU
exzellentes
Deutschland Gesamt
Österreich
Bulgarien
DE (NRW)
Griechenland
Spanien
Irland
Niederlande
Polen
Europa Gesamt
7,3
9,9
11,3
ausreichendes
problematisches
38,4
32,6
19,5
26,9
30,9
50,8
7,5
29,7
36
34,4
35,2
11
13,9
46,3
35,9
9,7
18,2
35,3
38,7
25,1
16,5
38,2
39,6
21,3
44,6
35,2
34,1
15,6
9,1
33,7
26,6
19,6
inadäquates HL-Niveau
10,3
26,9
< 1,8
10,2
12,4
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100%
Quelle: H
LS-EU Consortium (2012) Comparative Report of Health Literacy in eight
EU Member States. The European Health Literacy Survey HLS-EU, online
Publication: www.health-literacy.eu
Factsheet
Bundespressekonferenz
Thema: Gesundheitskompetenz in Deutschland
13. Mai 2016, Berlin
54,3%
Mehr als die Hälfte
der Deutschen hat
Schwierigkeiten
im Umgang mit
Gesundheitsinformationen.
HEALTH
Gesundheitskompetenz
LITERACY
Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz...
è
... haben häufiger einen schlechten subjektiven
Gesundheitszustand und leiden häufiger unter
chronischen Erkrankungen
è
... wissen oft nicht, wohin sie sich mit einem
gesundheitlichen Problem wenden sollen
è
... nehmen häufiger Medikamente ein
è
... gehen häufiger ins Krankenhaus und nutzen
häufiger den ärztlichen Notfalldienst
In bestimmten Bevölkerungsgruppen ist der
Anteil der Menschen mit geringer
Gesundheitskompetenz besonders hoch:
è
Menschen mit niedrigem Bildungsstatus (62 %)
è
Menschen im höheren Lebensalter (66 %)
è
Menschen mit Migrationshintergrund (71 %)
“Gesundheitskompetenz umfasst
das Wissen sowie die Motivation
und die Fähigkeiten von Menschen,
Gesundheitsinformationen zu finden,
zu verstehen, zu beurteilen und
anzuwenden, um im Alltag in
gesundheitsrelevant en Bereichen
Entscheidungen treffen zu können.“
Sørensen et al. 2012
44,5%
der Deutschen finden es schwierig,
die Vor- und Nachteile von verschiedenen
Behandlungsmöglichkeiten
zu beurteilen.
49,3%
der Deutschen finden es schwierig, zu
beurteilen, wann sie eine zweite Meinung
von einem anderen Arzt einholen sollen.
Gesundheitskompetenz
in Deutschland
Prof. Dr. Doris Schaeffer
Universität Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Die Studie wird durch das Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz gefördert.
www.aok-bv.de I www.uni-bielefeld.de
HEALTH LITERACY
IN DEUTSCHLAND
Doris Schaeffer, Dominique Vogt,
Eva-Maria Berens, Melanie Messer,
Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann
Es handelt sich um einen Vorabdruck.
Der Beitrag erscheint 2016 in: Schaeffer, D. Pelikan, J. (Hrsg.):
Health Literacy: Forschungsstand und Perspektiven.
Göttingen: Hogrefe
Projektförderung: BMJV Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz
1. Zur Diskussion über Health Literacy in Deutschland
Die Bedeutung von Health Literacy – wörtlich als gesundheitliche Literalität verstanden1 – scheint mittlerweile unbestritten. Davon zeugt nicht zuletzt die jahrelang geführte Debatte über Eigenverantwortung, die nicht minder lange Diskussion über Patientenorientierung und -information, ebenso über die
Stärkung der Nutzerkompetenz und -position (SVR, 2003, 2012). Auch in der Debatte über Empowerment
und Befähigung von Bürgern, Patienten und Nutzern dazu, sich für ihre Gesundheit zu engagieren und bei
Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Krankheil aktiv an der Wiedererlangung gesundheitlichen Wohlbefindens mitzuwirken – sei es als Ko-Produzent oder bei der Entscheidungsfindung über Behandlungs- und
Versorgungsfragen – spielt Health Literacy eine entscheidende Rolle. Die dazu in so unterschiedlichen
Bereichen wie Gesundheitsförderung und Prävention, Krankheitsbewältigung, Gesundheitskommunikation, Patienteninformation/-beratung etc. geführten Auseinandersetzungen sind zahlreich, und auch die
Liste der unterschiedlichen Schlagworte, unter denen sie geführt wurden, ist stattlich.
Erstaunlicherweise tauchte das Thema „Health Literacy“ dabei bis vor kurzem in Deutschland nicht auf
oder wurde bestenfalls sehr verhalten aufgegriffen (Schaeffer & Dierks, 2012). Zwar fand es international,
besonders im anglo-amerikanischen Raum seit geraumer Zeit, große Aufmerksamkeit in Wissenschaft
und Forschung (siehe Rudd, auch Schulz & Hartung, in diesem Buch) vermochte sich hierzulande – trotz
großen Engagements einiger Pioniere (Kickbusch & Marstedt, 2008) – aber nicht recht durchzusetzen.
Etwas anders sah die Situation in der Praxis aus. Dort wurden in Deutschland seit der Jahrtausendwende zahlreiche Innovationen angestoßen, um die Gesundheitsinformation der Bevölkerung zu verbessern.
So wurde beispielsweise mit der Gesundheitsreform 2000 der Ausbau der unabhängigen Patienteninformation und -beratung initiiert. 2002 folgen die Etablierung trägerübergreifender Information und Beratung im Rehabilitationssektor und 2008 die Einrichtung von Pflegestützpunkten, in denen Information
und Beratung rund um das Thema Pflege angeboten werden. Auch Kostenträger und Leistungserbringer
stellen Information und Beratung zur Verfügung (Übersicht Schaeffer & Dierks, 2012; Schaeffer, Ewers,
& Schmidt-Kaehler, 2014; SVR, 2012) und in den Medien – besonders im Internet – hat die Bereitstellung
von Gesundheitsinformation expansiv an Bedeutung gewonnen.
Allerdings erfolgten viele dieser unbestritten wichtigen Schritte, ohne den Informationsbedarf und die
Ausgangsvoraussetzungen – oder anders ausgedrückt – ohne die Lernvoraussetzungen der Bevölkerung
genau zu kennen. Wollen Informationsangebote nicht fehl gehen, ist dies jedoch unerlässlich, denn nur
durch genaue Kenntnis der Lernvoraussetzungen der Adressaten können sie pass- und zielgenau zugeschnitten werden, so dass sie anschlussfähig an das vorhandene Informations- und Wissensrepertoire
sind und damit überhaupt rezipiert und in vorhandenes Wissen integriert werden können. Ansonsten
stehen sie in Gefahr, an den Adressaten vorbei zu gehen oder aber sogar auf Abwehr- und Abstoßreaktionen zu stoßen.
Hier ist einer der Anknüpfungspunkte der Health-Literacy-Studien, wie sie international seit längerem
vorliegen. Denn samt und sonders verfolgen sie die Intention, den Stand des Gesundheitswissens und
die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung empirisch zu beleuchten (Kutner, Greenberg, Jin, & Paulsen,
2006; Paasche-Orlow, Parker, Gazmararian, Nielsen-Bohlman, & Rudd, 2005) und geben damit auch
Einblick in die Ausgangs- und Lernvoraussetzungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Daher
ist es umso erstaunlicher, dass die internationale Health-Literacy-Debatte in Deutschland so lange Zeit
kaum auf Resonanz stieß. Eine Veränderung der Situation erfolgte mit dem europäischen „European Health Literacy Survey“ (HLS-EU), dessen Ergebnisse erstmals 2012 präsentiert wurden (Pelikan & Ganahl,
1 In Deutschland existieren eine Reihe an unterschiedlichen Bezeichnungen für ‚Health Literacy“ – zum Teil mit unterschiedlichen
Bedeutungen. Im vorliegenden Beitrag halten wir an der Bezeichnung ‚Health Literacy“ fest und werden synonym dazu die Begriffe
‚gesundheitliche Literalität“ und Gesundheitskompetenz verwenden. Dabei wird ‚Health Literacy“ als Fähigkeit definiert, Gesundheitsinformation suchen, als geeignet identifizieren, verstehen, einschätzen und sie für die Entscheidungsfindung bei Alltagsfragen
zur Gesundheitserhaltung, Bewältigung von Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie der Versorgungsnutzung nutzen zu können.
2
in diesem Buch). An dieser in acht europäischen Ländern durchgeführten Studie hatte sich Deutschland
nur mit einem Bundesland beteiligt, was nochmals die zurückhaltende Diskussion in Deutschland belegt. Zudem ließen die Ergebnisse aufhorchen, denn das Health-Literacy-Niveau der Bevölkerung in
Deutschland, richtiger im beteiligten Bundesland Nordrhein Westfalen, rangierte hinter den Niederlanden und Irland, bewegte sich dabei auf einem Niveau mit Polen und unterschied sich nur geringfügig von
Griechenland (HLS-EU Consortium, 2012). Ausgelöst durch diese Befunde begann das Thema „Health
Literacy“ schlagartig Aufmerksamkeit in Deutschland zu gewinnen, zumal unübersehbar war, dass gesamtdeutsche Daten fehlten. Seither haben sich einige Forschergruppen auf den Weg gemacht und mit
Studien begonnen2.
Eine dieser Studien steht hier im Mittelpunkt. In ihr erfolgte erstmals eine bundesweite, repräsentative
Erhebung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland, basierend auf einer Befragung
von 2000 Bürgern. Mit dieser Untersuchung wird die europäische Studie nun zeitlich verzögert um repräsentative Daten über die gesundheitliche Literalität der deutschen Bevölkerung und über mit ihr assoziierte Faktoren ergänzt. Damit erfolgt ein wichtiger Schritt, mit dem eine Lücke geschlossen werden kann.
Wie groß diese in Deutschland bestehende Forschungslücke bis dato war, zeigt ein kurzer Rückblick
auf die angloamerikanische Forschung. Health Literacy hat hier seit längerem einen festen Platz auf der
Agenda an Forschungsthemen. Bereits Anfang der 1990er Jahre wiesen die Ergebnisse eines in Amerika
landesweit durchgeführten Surveys auf den hohen Anteil an Erwachsenen in der amerikanischen Bevölkerung hin, dem es schwer fällt, mit schriftlichen Informationen umzugehen. Zwischen 21 und 23 %
– dies entspricht etwa 40 bis 41 Millionen Erwachsenen in Amerika – erreichten lediglich das niedrigste
Literalitäts-Niveau (Level 1; siehe Kirsch, Jungeblut, Jenkins, & Kolstad, 1993, p. 17). Auch die in weiteren
Folgeerhebungen (National Assessment of Adult Literacy) erhobenen Daten bestätigten dies und zeigten
zudem, dass der Umgang mit schriftlichen Informationen besonders dann Schwierigkeiten aufwirft,
wenn sie einen gesundheitlichen Bezug aufweisen (Kutner, Greenberg, Jin, & Paulsen, 2006). Aus einem
ausgehändigten Terminzettel das Datum eines Termins zu identifizieren oder aus einer kurzen Anleitung
zu einer medizinischen Untersuchung die relevanten Informationen herauszufiltern, stellt viele der befragten Amerikaner vor eine Herausforderung (Kutner, Greenberg, Jin, & Paulsen, 2006). Zu ähnlichen
Ergebnissen kamen Untersuchungen aus England, Kanada und Australien. Auch in diesen Ländern sehen
sich viele Bürger vor Schwierigkeiten gestellt, wenn sie sich im Gesundheits- und Versorgungssystem
zurechtfinden und mit gesundheitsbezogenen Informationen umgehen müssen (ex. Williams, Clemens,
Oleinikova, & Tarvin, 2003).
In Deutschland steht die Forschung zu Health Literacy also noch am Anfang. Zwar liegen inzwischen
empirische Befunde über die literalen Fähigkeiten der Bevölkerung vor (Grotlüschen, Riekmann & Buddeberg, 2012, p. 19; OECD, 2000), doch fehlen Daten über ihre gesundheitliche Literalität. Diese zu erheben,
war das Ziel der hier im Mittelpunkt stehenden Studie über Health Literacy in Deutschland (HLS-GER)3.
Ihre Ergebnisse geben Auskunft über Verteilung und Art von Health Literacy in der deutschen Bevölkerung und belegen, dass hier ein großes Public-Health-Problem besteht.
2. Konzeptionelles und methodisches Vorgehen bei der Erhebung
Konzeptionell lehnt sich die Studie an den European Health Literacy Survey an und basiert auf der ihr
zugrundeliegenden Definition und auch dem konzeptionellen Modell4 (Sørensen et al., 2012).
2 Insgesamt sind inzwischen zwei bundesweite Health-Literacy-Studien entstanden (siehe Kolpatzik & Zok, in diesem Buch), ebenso eine Untersuchung über die Gesundheitskompetenz vulnerabler Gruppen (Quenzel & Schaeffer, 2016). Darüber hinaus wurde Health Literacy Teil der
vom Robert Koch-Institut durchgeführten Untersuchung „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (Jordan, Domanska, & Firnges, in diesem Buch).
Auch ein Forschungsverbund widmet sich der Thematik und konzentriert sich dabei auf die Gruppe der Kinder und Jugendlichen (Okan, Pinheiro,
Zamora, & Bauer, 2015; Zamora et al., 2015).
3Die Studie wird vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) gefördert und an der Universität Bielefeld durchgeführt.
4Dieses Modell wurde in der deutschen Studie in Anlehnung an Squiers, Peinado, Berkman, Boudewyns, & McCormack (2012) um wichtige Faktoren, die mit Health Literacy assoziiert sind, ergänzt.
5Die Stichprobe ist für die Merkmale Alter, Geschlecht und Bundesland repräsentativ.
3
Die Erhebung der gesundheitlichen Literalität erfolgte mittels einer repräsentativen5 Querschnittuntersuchung der deutschen Bevölkerung ab 15 Jahren. Ihr lag die deutschsprachige Langversion des
Fragebogens HLS-EU-Q47 zugrunde, der speziell für den europäischen Survey entwickelt wurde und
eines der wenigen bislang vorliegenden deutschsprachigen Erhebungsinstrumente zur Erfassung von
Health Literacy darstellt. In diesem Fragebogen wird Health Literacy in insgesamt 47 Items operationalisiert. Die Items6 zielen auf die Bereiche Prävention, Gesundheitsförderung und Krankheitsbewältigung,
sowie die vier Stadien der Informationsverarbeitung7. Die Antwortskalen der Items waren vierstufig von
„sehr einfach“, „ziemlich einfach“, bis hin zu „ziemlich schwierig“, und „sehr schwierig“ (Röthlin, Pelikan,
& Ganahl, 2013).
Die Stichprobenziehung basierte auf dem dreistufigen ADM8-Auswahlverfahren. Bei diesem Verfahren
wird Deutschland als Fläche betrachtet und aufgegliedert. Aus dieser Flächenaufteilung der Bundesrepublik wurden insgesamt 258 Sample-Points und die dazugehörigen Startadressendatei als geographische
Startpunkte der Datenerhebung ausgewählt. Von ihnen aus erfolgte die Auswahl der Befragungshaushalte. Mit Hilfe des Geburtstagsschlüssels wurden dann die zu befragenden Personen ermittelt. So
wurden 2000 Personen im Alter ab 15 Jahren, wohnhaft in Privathaushalten, in Deutschland im Rahmen
von Computer Assisted Personal Interviews (CAPI) befragt. Die durchschnittliche Länge der Befragung9
betrug etwa 60 Minuten.
Die erhobenen Daten wurden zunächst deskriptiv ausgewertet10. Aus den Ergebnissen des HLS-EU-Q47
wurde ein Index berechnet, der sich aus allen 47 enthaltenen ltems zusammensetzt und Auskunft über
alle Bereiche gibt. Darüber hinaus wurden drei bereichsspezifische Indices (Krankheitsbewältigung, Prävention, Gesundheitsförderung) berechnet. Sie lassen Aussagen über den Anteil an Personen mit eingeschränkter Health Literacy in der deutschen Bevölkerung zu und weisen damit indirekt auf die Ausgangslage und Lernvoraussetzungen hin.
3. Health Literacy in Deutschland – empirische Befunde
3.1 Stichprobenbeschreibung
Die Stichprobe (siehe Tabelle 1) besteht jeweils ungefähr zur Hälfte aus männlichen und aus weiblichen
Befragten. Differenziert nach Altersgruppen ist mit knapp 20 % in der Altersgruppe zwischen 15 bis 29
Jahren der kleinste Anteil zu finden. Weitere ca. 25 % der Befragten sind 30 bis 45 Jahre alt. Der größte
Anteil der Befragten – insgesamt 31,6 % – gehört der Altersgruppe der 46- bis 64-Jährigen an. Knapp 24 %
sind 65 Jahre oder älter. Die älteste befragte Person in der Stichprobe des deutschen Health Literacy Surveys
ist nach eigenen Angaben 99 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Befragten liegt bei 48,2 Jahren (SD=18,1)
und ist damit etwas höher als im European Health Literacy Survey (M= 46,0; SD= 18,6).
Um das Bildungsniveau zu erfassen, wurde die International Standard Classification of Education (ISCED)
zugrunde gelegt: Danach verfügen 33,6 % der Befragten über ein niedriges Bildungsniveau, weitere 48,9 %
über ein mittleres und 17,5 % über ein hohes Bildungsniveau.
Einen Migrationshintergrund weist mit 7,9 % nur ein kleiner Teil der Befragten auf. Migrationshintergrund wird in der vorliegenden Untersuchung als eigene Migrationserfahrung und elterliche Migrationserfahrung definiert. Bemerkenswert ist, dass über ein Viertel der Befragten unter mindestens einer
4
6Zu den Items zählen beispielsweise „Wie schwierig / einfach ist es Informationen über Krankheitssymptome, die Sie betreffen, zu finden?“,
„Wie schwierig / einfach ist es Gesundheitswarnungen vor Verhaltensweisen wie Rauchen, wenig Bewegung oder übermäßiges Trinken zu
verstehen?“ oder „Wie schwierig /einfach ist es zu beurteilen, welche Alltagsgewohnheiten mit Ihrer Gesundheit zusammenhängen?“.
7Die vier Stadien der Informationsverarbeitung gliedern sich in das Finden, Verstehen, Beurteilen und Anwenden von Informationen
(Röthlin, Pelikan, & Ganahl, 2013, p. 16).
8Der ADM („Arbeitsgemeinschaft Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V.“) vertritt als Verband die Interessen der wirtschaftlichen Forschungsinstitute in Deutschland.
9Die Befragung wurde im Sommer 2014 durch das Umfrageinstitut Ipsos GmbH durchgeführt.
10 Die Auswertung der Daten wurde durch das Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research (LBIHPR) unterstützt.
chronischen Erkrankung leidet.
Tabelle 1: Stichprobenbeschreibung des deutschen Health Literacy Surveys (n=2000)
Anteil in %
n
Altersgruppe
15 - 29 Jahre
19,7
394
30 - 45 Jahren
24,9
499
46 - 64 Jahre
31,6
631
ab 65 Jahre
23,8
476
Durchschnittsalter
48,24 Jahre
SD 18,19
Frauen
51,1
1.022
Männlich
48,9
977
niedrig
33,6
669
mittel
48,9
972
hoch
17,5
349
Ja
7,9
158
nein
92,1
1.836
ja
25,0
499
nein
75,0
1.495
Geschlecht
Bildungsstand nach ISCED
Migrationshintergrund
Chronische Erkrankung
3.2 Health Literacy in der Allgemeinbevölkerung
Fragen wir zunächst, wie sich das Health-Literacy-Niveau der deutschen Bevölkerung darstellt und richten den Blick dazu auf die berechneten Health-Literacy-Indices. Im Durchschnitt wurde in der vorliegenden Untersuchung ein Health-Literacy-Punktwert von 32,78 erreicht (mögliche Werte von 0 bis 50;
SD=6,18). Er ist etwas niedriger als in der europäischen Studie: Dort betrug der Punktwert 33,8 (SD=8).
Nach Einteilung in die verschiedenen Health Literacy-Niveaus zeigt sich folgendes Bild (siehe Abbildung 1).
Über ein exzellentes Health-Literacy-Niveau verfügen 7,3 % der deutschen Bevölkerung. Hochgerechnet
auf die deutsche Bevölkerung sind dies knapp acht Millionen Bürger. Sie besitzen eine gute Informationsbasis und ihnen fällt es leicht, mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Auch Gesundheitsinformation zu verstehen und einzuschätzen, sehen sie als einfach an. Für ähnlich problemlos halten sie es,
sich bei Bedarf Informationen zu verschaffen und das daraus gewonnene Wissen für den Umgang mit
Herausforderungen bei der Gesundheits- und Krankheitsbewältigung oder bei der Nutzung des Gesundheitssystems zu nutzen – zum Beispiel im Notfall einen Krankenwagen zu rufen oder Anweisungen von
Ärzten und Apothekern zu folgen. Sie bilden jedoch − wie bereits beim ersten Blick zu erkennen ist – einen
verhältnismäßig kleinen Anteil der Bevölkerung in Deutschland.
Deutlich größer ist der Anteil an Personen mit ausreichender Health Literacy: 38,4 % der Befragten verfügen über ein als ausreichend zu bezeichnendes Health-Literacy­-Niveau. Auch sie besitzen eine solide
Informationsbasis und sind in der Lage, sich Gesundheitsinformation zugänglich zu machen, zu verstehen
und zu nutzen. Gleichzeitig werden von ihnen im Vergleich zur Gruppe mit exzellenter Health Literacy
5
aber weniger gesundheitliche Anforderungen als einfach eingeschätzt. So halten sie es beispielsweise für
schwierig, Angaben auf Lebensmittelverpackungen zu verstehen oder zu beurteilen, wann eine Zweitmeinung von einem Arzt einzuholen ist. Insgesamt aber überwiegt die Einschätzung, dass es relativ leicht
ist, mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn es darum geht,
sich Zugang zu Informationen über Krankheitssymptome zu verschaffen oder herauszufinden, wo im
Krankheitsfall professionelle Hilfe zu erhalten ist. Auch den Anweisungen ihres Apothekers oder Arztes
zu folgen, stellt sie vor keine besondere Herausforderung, sondern wird überwiegend als einfach oder
gar sehr einfach angesehen.
Der größte Anteil der Befragten – insgesamt 44,6 % – verfügt über ein problematisches Health-Literacy-Niveau11 . Diese Befragten haben deutlich häufiger Schwierigkeiten bei der Suche, dem Verstehen,
der Beurteilung und Nutzung von Gesundheitsinformationen. Die Befragten mit problematischer Health
Literacy schätzen in allen drei erfragten Bereichen – Krankheitsbewältigung, Prävention, Gesundheitsförderung – eine ganze Reihe an Anforderungen als „ziemlich schwierig“ oder sogar „sehr schwierig“ ein,
so beispielsweise das Beurteilen von Vor- und Nachteilen von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten. Über 55 % der Befragten mit problematischer Health Literacy halten dies für „ziemlich“ oder „sehr
schwierig“. Ähnliches gilt für die Beurteilung von Informationen über Krankheiten oder psychische Gesundheitsprobleme. Auch dies ist ihrer Einschätzung nach keine leichte Aufgabe: So halten es beispielsweise 42,7% der Befragten mit problematischer Health Literacy für „ziemlich schwierig“, Informationen
darüber zu verstehen, wie sie psychisch gesund bleiben. 7,4 % finden dies sogar „sehr schwierig“.
Bei knapp zehn Prozent (9,7 %) der Befragten kann insgesamt von einer „inadäquaten“ Health Literacy
gesprochen werden. Sie halten es in allen der drei erfragten Bereiche für schwer, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und zu nutzen. Im Bereich Krankheitsbewältigung wird
es beispielsweise von 30 % der Personen mit inadäquatem Health-Literacy-Niveau als „sehr schwierig“
angesehen, die Packungsbeilagen ihrer Medikamente zu verstehen. Auch zu beurteilen, wann eine zweite
Meinung von einem Arzt einzuholen ist, stellt aus Sicht der Befragten keine leichte Aufgabe dar: Knapp
70 % schätzen dies als „ziemlich schwierig“ und weitere 17,7 % sogar als „sehr schwierig“ ein. Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung: Sich über Angebote zur
Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz, in der Schule oder Kommune/Gemeinde zu informieren oder
mediale Informationen zur Gesundheitserhaltung und -förderung zu verstehen, stellt für sie eine Hürde
Abbildung 1: Prozentverteilungen des
Gen-Health-Literacy-Niveaus der am European
Health Literacy Survey
beteiligten Länder (HLSEU Consortium, 2012) und
des deutschen Health
Literacy Surveys
11Die Bezeichnung ‚problematisch“ wurde aus dem European Health Literacy Survey und den österreichischen Health Literacy Studien übernommen. Dieses
bezeichnet eines der zwei Health Literacy-Niveaus bei denen von einer ‚limitierten“ Health Literacy ausgegangen wird. Kennzeichnend ist, dass befragte
Personen mit problematischem Health Literacy-Niveau in den 47 Items häufiger Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen haben (HLSEU Consortium, 2012, p. 3).
6
dar. Zusammenfassend verfügen damit insgesamt 54,3 % der deutschen Bevölkerung über eine limitierte
Health Literacy. Anders ausgedrückt: Über die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat diesen Ergebnissen
zufolge Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen.
Schauen wir, wie sich die Deutschland-Daten zu den Ergebnissen der europäischen Studie verhalten.
Beide Studien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Dennoch lassen sich einige interessante Unterschiede erkennen, die kurz in den Blick genommen werden sollen (siehe Abbildung 1).
Auffällig ist, dass der Anteil an Personen mit limitiertem Health-Literacy-Niveau in der Deutschland Studie größer ist als in der europäischen Studie (HLS-GER: 54,3 % vs. HLS-EU: 47,6 %). Dies zeigt sich besonders
bei der Kategorie „problematisches Health-Literacy-Niveau“: Hier liegt der Anteil in der deutschen Studie
knapp 10 % höher als in der europäischen Studie (HLS-GER: 44,6 % vs. HLS-EU: 35,2 %). Eine vergleichbar
große Differenz ist auch bei der Kategorie „exzellentes Health-Literacy-Niveau“ zu finden. Über eine
exzellente gesundheitliche Literalität verfügen in der europäischen Studie 16,5 %; in Deutschland sind
es im Vergleich dazu nur 7,3 %.
Der Umgang und die Nutzung von Gesundheitsinformation werden damit von der hiesigen Bevölkerung
seltener als einfach oder sehr einfach eingeschätzt. Im Vergleich mit den an der europäischen Studie
beteiligten Ländern fällt auf, dass den Ergebnissen der vorherigen Studie zufolge in Deutschland der
geringste Anteil an Befragten mit exzellentem Health-Literacy-Niveau zu finden ist. Zudem ist der Anteil
an Befragten mit problematischer Health Literacy hier am zweithöchsten. Lediglich in Spanien haben mit
knapp 51 % mehr Befragte ein problematisches Health-Literacy-Niveau.
Zwar unterscheiden sich die Gesundheits- und Versorgungssysteme der Länder zum Teil erheblich,
was eine mögliche Erklärung12 für diese Befunde sein kann. Dennoch bleiben der hohe Anteil limitierter
Health Literacy und der geringe Anteil exzellenter Health Literacy in Deutschland aus Public-Health-Sicht
auffällig.
4. Unterschiede im Health-Literacy-Niveau in den Bereichen
Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung
Betrachten wir nachfolgend die erfragten Bereiche Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung genauer. Relativ leicht fällt den Befragten offenbar, den Anforderungen im Bereich Krankheitsbewältigung nachzukommen, in dem es schwerpunktmäßig um den Umgang mit Krankheiten
sowie deren Behandlung und Versorgung geht. Hier ist der höchste Anteil an Befragten mit einem exzellenten und ausreichenden Health-Literacy-Niveau zu finden. Analog dazu ist der Anteil an inadäquater
(10,3 %) und problematischer (31,7 %) Health Literacy im Bereich Krankheitsbewältigung der niedrigste
im Vergleich aller vier gebildeten Niveaus (siehe Abbildung 2).
Etwas geringer sind die Prozentwerte im Bereich Prävention: 11,5 % der Befragten schätzen den UmAbbildung 2: Prozentverteilung der Health- Literacy-Niveaus in den
Bereichen Krankheitsbewältigung (n=1971), Prävention
(n=1951) und Gesundheitsförderung (n=1914) für
die Gesamtstichprobe des
deutschen Health Literacy
Surveys
12Zudem unterscheiden sich beide Studien ebenfalls hinsichtlich der Stichprobenziehung. Auch diese Unterschiede sind bei Betrachtung der Ergebnisse
zu berücksichtigen.
7
gang mit Gesundheitsinformationen, wie beispielsweise Unterstützungsmöglichkeiten bei ungesunden
Verhaltensweisen ausfindig zu machen oder die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit von Impfungen
zu verstehen, als relativ einfach ein. Insgesamt haben 47,7 % der Befragten vermehrt Probleme mit der
Einschätzung solcher Informationen und wurden daher einem limitierten Health-Literacy-Niveau zugeordnet.
Besonders im Bereich der Gesundheitsförderung gibt es einige Aufgaben, die aus Sicht der Befragten
mit Schwierigkeiten verbunden sind. Über 20 % der Befragten haben in diesem Bereich ein inadäquates
Health-Literacy-Niveau. Eine limitierte Health Literacy – also problematische und inadäquate Health
Literacy zusammengenommen – weisen hier sogar gut 60 % der Befragten auf; ein exzellentes Niveau lediglich 6 %. Fragen und Situationen, in denen es darum geht, sich für die Erhaltung und Verbesserung der
Gesundheit und des Wohlbefindens einzusetzen, bereiten den Befragten also größere Schwierigkeiten.
Festzuhalten bleibt somit, dass der Umgang mit Informationen zur Gesundheitsförderung für deutlich
schwieriger gehalten wird als zu den anderen erfragten Bereichen. Bei der Entwicklung und Konzipierung
von Interventionen ist dies besonders zu beachten.
Auch im European Health Literacy Survey wurden die Anforderungen im Bereich der Gesundheitsförderung von den Befragten am häufigsten als „schwierig“ eingestuft. Knapp über die Hälfte aller dort befragten EU-Bürger wies in diesem Bereich eine limitierte Health Literacy auf (HLS-EU Consortium, 2012).
Wie schon bei der Betrachtung des umfassenden Health-Literacy-Niveaus zeigen sich zwischen dem
deutschen und dem europäischen Health Literacy Survey auch differenziert nach den einzelnen Bereichen bei dem exzellenten Health-Literacy-Niveau die größten Unterschiede. Sowohl in den Bereichen
Krankheitsbewältigung und Prävention als auch im Bereich Gesundheitsförderung ist der Anteil exzellenter Health Literacy in der europäischen Studie deutlich höher als in der deutschen.
5. Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Health-Literacy-Niveau
Nachfolgend sollen die Ergebnisse unter Populationsgesichtspunkten betrachtet und gefragt werden,
welche Bevölkerungsgruppen als vulnerabel einzuschätzen sind und daher besonders beachtet werden
sollten. Dazu gehören – wie die Abbildung 3 zeigt ¬– Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen
mit niedriger Bildung, Menschen im höheren Lebensalter ab 65 Jahren und Menschen mit chronischer
Abbildung 3: Prozentverteilungen Gen-HealthLiteracy-Niveau für die
Gesamtstichprobe des
deutschen Health Literacy
Surveys (n=1946) und die
Untergruppen (MH, n=158),
(o.MH, n=1788), (Bildung
niedrig, n=648), (Bildung
mittel, n=950), (Bildung hoch,
n=339), (o. chr. Erk., n=1450),
(chr. Erk., n=489), (Männlich,
n=949), (Weiblich, n=997),
(15−29 J., n=376), (30−45 J.,
n=490), (46−64 J., n=619), (ab
65 J., n=462)
13Ähnlich sind die Ergebnisse des European Health Literacy Surveys: auch hier konnten Menschen mit niedriger Bildung, ältere Menschen ab 76 Jahren und
Menschen mit mindestens einer lang andauernden, chronischen Erkrankung als vulnerable Gruppe identifiziert werden (HLS-EU Consortium, 2012, p. 55).
8
Krankheit13.
Besonders ins Auge fallen Menschen mit Migrationshintergrund. Bei ihnen weisen 17,5 % ein inadäquates Health-Literacy-Niveau auf. Auch der Anteil mit einem problematischen Health-Literacy-Niveau ist
bei Menschen mit Migrationshintergrund sehr viel größer als bei Menschen ohne Migrationshintergrund
(53 % vs. 43,8 %). Vor allem Anforderungen in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung
halten sie für schwerer zu bewältigen. So fällt es nahezu 57 % der Befragten mit Migrationshintergrund
beispielsweise schwer zu beurteilen, ob Informationen über Gesundheitsrisiken in den Medien vertrauenswürdig sind. Über die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund hält es zudem für „ziemlich
schwierig“ oder „sehr schwierig“, Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten bei psychischen Problemen, wie Stress oder Depression, zu finden. Deutlich seltener haben sie hingegen Probleme im Bereich
der Krankheitsbewältigung: im Notfall einen Krankenwagen zu rufen, ist für sie „ziemlich einfach“ (38,7
%) oder „sehr einfach“ (51,2 %).
Der höhere Anteil limitierter Health Literacy bei Menschen mit Migrationshintergrund dürfte u. a.
auf Sprachbarrieren und Unwissen über das deutsche Gesundheitssystem oder aber ein niedrigeres
Bildungsniveau zurückzuführen sein (Borde, 2009¸ Spallek & Razum, 2008). Dies zeigt auch die von uns
durchgeführte Studie zur gesundheitlichen Literalität vulnerabler Gruppen (Messer, Vogt, Quenzel, &
Schaeffer, und Quenzel, Schaeffer, Messer, & Vogt, in diesem Buch; auch Quenzel & Schaeffer, 2016).
Auch die Befragten mit niedrigem Bildungsgrad verfügen häufiger über eine limitierte Health Literacy
als Menschen mit einem mittleren oder hohen Bildungsgrad. Denn nur 7,4 % der Befragten mit hohem
Bildungsniveau und 5,8 % mit mittlerem Bildungsniveau weisen ein inadäquates Health-Literacy-Niveau
auf. Dagegen liegt dieser Anteil bei den Befragten mit niedrigem Bildungsniveau bei 16,3 %. Ähnlich sieht
es bei dem problematischen Health-Literacy-Niveau aus – auch hier haben Menschen mit niedrigem Bildungsniveau mit fast 46 %, den höchsten Anteil. Analog dazu weisen nur 6,2 % der Befragten mit einem
niedrigen Bildungsstand ein exzellentes Health-Literacy-Niveau auf und schätzen den Umgang und die
Nutzung mit Gesundheitsinformationen als einfach ein. Bei den Befragten mit hohem Bildungsniveau
beläuft sich der Anteil auf gut 9 % und bei denjenigen mit mittlerem Bildungsgrad auf 7,5 %.
Menschen mit niedriger Bildung schätzen – ähnlich wie Menschen mit Migrationshintergrund – besonders die Anforderungen in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung häufiger als schwierig
ein. Dazu zählt beispielsweise zu beurteilen, welche Impfungen benötigt werden oder ob die Informationen über Gesundheitsrisiken in den Medien vertrauenswürdig sind.
Auch ältere Menschen ab 65 Jahren gehören zu den sogenannten vulnerablen Gruppen. Bei ihnen beträgt der Anteil derjenigen mit einem inadäquaten Health-Literacy-Niveau 15,2 %. Weitere gut 51 % verfügen über eine problematische Health Literacy. Zusammengefasst weisen damit insgesamt 66,3 % der
älteren deutschen Bevölkerung eine eingeschränkte gesundheitliche Literalität auf. Vor dem Hintergrund
des voranschreitenden demografischen Wandels ist dies ein brisantes Ergebnis. Denn der Anteil älterer
Menschen und damit auch derjenigen, die in eine Lebensphase eintreten, in der die Wahrscheinlichkeit
von Gesundheitseinbußen und Krankheit zunimmt und Health Literacy notwendiger denn je ist, wird in
den kommenden Jahren deutlich zunehmen.
Insgesamt lassen die Daten ein „Altersgefälle“ erkennen: Nahezu durchgehend schneiden die jüngeren
Bevölkerungsgruppen besser ab. Bei den 15- bis 29-Jährigen beträgt der Anteil mit exzellentem umfassenden Health-Literacy-Niveau 10,3 %; in der Gruppe der 30- bis 45-Jährigen sind es immerhin noch 8,5
%, während in der Altersgruppe der 46- bis 64-Jährigen nur noch 7,8 % eine exzellente Health Literacy
aufweisen. Lediglich drei Prozent der Befragten ab 65 Jahren verfügen über ein exzellentes Health-Literacy-Niveau.
Ein Unterschied zwischen den Altersgruppen zeigt sich auch, wenn anders herum das Ausmaß inadäqua-
9
ter Health Literacy betrachtet wird. Hier nehmen ältere Menschen ab 65 Jahren den höchsten Anteil ein,
während bei den 15- bis 29-Jährigen lediglich 6,8 % ein inadäquates Health-Literacy-Niveau aufweisen.
Auch in den einzelnen Bereichen zeigen sich deutliche Unterschiede, so vor allem in den Bereichen
Krankheitsbewältigung und Gesundheitsförderung. Bei den Fragen zur Prävention sind die Unterschiede
gering – besonders, wenn der Anteil an Befragten mit inadäquater Health Literacy betrachtet wird. Die
Werte variieren bei den Altersgruppen zwischen 10,7 % und 12,4 %. Anders sieht es im Bereich Gesundheitsförderung aus. Hier besteht ein deutliches Altersgefälle: So haben bei den ab 65-Jährigen mehr als
70 % eine limitierte Health Literacy. Im Vergleich dazu sind es bei den 30- bis 45-Jährigen „nur’ 51,5 %.
Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen dürften sich u. a. dadurch erklären, dass ältere Menschen
infolge von gesundheitlichen Beeinträchtigungen intensiveren Kontakt mit dem Gesundheitswesen haben und in höherem Ausmaß darauf angewiesen sind, mit Gesundheitsinformation umzugehen. Folglich
werden sie direkter und intensiver mit sich dabei stellenden Hürden und Herausforderungen konfrontiert. Zu vermuten ist daher, dass ältere Menschen durch ihre Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem
die Items zur Erfassung von Health Literacy (deutlich) anders einschätzen als Personen, die kaum oder seltener Kontakt mit dem Gesundheitssystem haben.Dennoch bleibt der hohe Anteil an limitierter Health
Literacy bei älteren Menschen beachtenswert, denn speziell im Alter erfordern Gesundheitseinbußen
und Krankheiten – wie erwähnt – ein gutes Selbstmanagement und das wiederum setzt Gesundheitsinformation und -kompetenz voraus.
Aber nicht nur in der Gruppe der älteren Menschen ist der Anteil an Personen mit problematischer
oder gar inadäquater Health Literacy höher als in der Allgemeinbevölkerung. Ähnlich stellt sich die Situation chronisch Erkrankter dar: Auch sie gehören zu den sogenannten vulnerablen Gruppen, die über
eine eingeschränkte Health Literacy verfügen: 16,8 % von ihnen haben eine inadäquate und 55,9 % eine
problematische Health Literacy – deutlich mehr als Befragte, die nicht unter einer chronischer Krankheit
leiden. Denn von den Menschen ohne chronische Erkrankung haben lediglich 7,2 % ein inadäquates
Health-Literacy-Niveau. Aber auch in dieser Gruppe ist der Anteil an Befragten mit problematischer
Health Literacy mit 41 % relativ groß. Damit in Einklang ist bei den Befragten mit chronischer Krankheit
der Anteil derjenigen, die über ein exzellentes Health-Literacy-Niveau verfügen (ca. 2 %) sehr gering.
Verblüffend ist, dass sich chronisch Erkrankte vor allem im Bereich Krankheitsbewältigung vor Schwierigkeiten gestellt sehen. So haben 21 % in diesem Bereich eine inadäquate und gut 42,1 % eine problematische Health Literacy14. Lediglich 2,8 % der Menschen mit chronischer Krankheit erreichten in diesem
Bereich ein exzellentes Health-Literacy-Niveau. Für viele von ihnen ist es „ziemlich schwierig“ oder „sehr
schwierig“, Informationen über Therapien (46,9 %) oder über Krankheitssymptome (37,6 %) zu finden.
Dieses Ergebnis überrascht – besonders wenn man bedenkt, dass chronisch Erkrankte über viele Jahre mit
ihrer Krankheit leben und im Alltag mit ihr und dem meist umfangreichen Therapie- und Behandlungsregime umgehen müssen, was Wissen und Information voraussetzt. Umso mehr erstaunt daher der hohe
Anteil derjenigen, die Schwierigkeiten bei der Informationssuche zur Therapie bzw. Behandlung haben.
Aber auch das Beurteilen und Einschätzen ist für die Menschen mit chronischer Krankheit schwierig.
Beispielsweise wird es von 60,6 % als ziemlich oder sehr schwierig eingeschätzt, Vor- und Nachteile von
verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass
dies eine relativ komplexe Aufgabe darstellt, die relativ hohes Gesundheits- bzw. medizinisches Wissen
erfordert, das aber keineswegs – wie die Daten zeigen – durchgängig vorausgesetzt werden kann. Auch
zu beurteilen, ob eine Zweitmeinung von einem anderen Arzt eingeholt werden sollte, stellt die Befragten
mit chronischer Krankheit vor Schwierigkeiten (54 %).
Ebenso ist es mit der Nutzung der vom Arzt erhaltenen Information für die Entscheidungsfindung.
Dies fällt vielen von ihnen – insgesamt 35,9 % – schwer. Hier wiederum könnte zum Tragen kommen,
14 Auch dieses Ergebnis korrespondiert mit den Ergebnissen des European Health Literacy Surveys: Dort ist der Anteil an limitierter Health Literacy bei
Menschen mit chronischer Krankheit besonders hoch. 61 % der Befragten (mit mehr als einer chronischen Erkrankung) hat dort ein limitiertes Health
Literacy-Niveau (HLS-EU Consortium, 2012).
10
dass dies Aufgaben sind, die das traditionelle Verständnis der Patientenrolle überschreiten und möglicherweise von denjenigen Befragten, die sich mit dem Wandel der Patientenrolle schwer tun oder ihn
noch nicht nachvollzogen haben, nicht bewältigt werden können – nicht zuletzt, weil ihnen die dazu
nötigen Kompetenzen fehlen (siehe auch Schmidt-Kaehler in diesem Buch). Doch auch herkömmliche
Herausforderungen, wie das Verstehen von Beipackzetteln ihrer Medikamente, werfen für diese Gruppe
Probleme auf: Mit fast 55 % schätzt über die Hälfte dies als schwierig ein, und auch hier ist zu bedenken,
dass die medikamentöse Therapie die zentrale Behandlung bei chronischer Krankheit ist, die oft über
Jahre hinweg besteht.
Diese Schwierigkeiten erstaunen, denn viele Jahre lang wurde von der Annahme ausgegangen, dass
chronisch Erkrankte im Verlauf der Krankheit zu Experten in eigener Sache und in Krankheitsbelangen
werden. Die vorgestellten Daten lassen Zweifel an dieser Annahme aufkommen und legen die Vermutung nahe, dass eher Hilf- und Ratlosigkeit zunehmen. Zugleich ist zu bedenken, dass chronisch Erkrankte
sich aufgrund der Dauerhaftigkeit und Langjährigkeit ihrer Krankheit und ihrer häufig fragilen Gesundheitssituation intensiver mit den Anforderungen der Krankheitsbewältigung und mit dem Gesundheitssystem auseinandersetzen müssen und daher auch mehr mit deren Schwierigkeit und Komplexität konfrontiert sind. Daher liegt auch bei ihnen die Vermutung nahe, dass sie das Gesundheitssystem und die
Anforderungen der Krankheitsbewältigung aufgrund ihrer Erfahrungen anders einschätzen als Personen,
die nicht so häufig Kontakt mit dem Gesundheitssystem haben.
Dennoch: Gerade für Menschen mit chronischer Krankheit und dauerhaft eingeschränkter Gesundheit
ist es besonders wichtig, über Gesundheitsinformationen zu verfügen und sie nutzen zu können, um
die eigene Situation managen, verbliebene Gesundheitsressourcen erhalten und fördern und auch, um
Verschlimmerungen und Pflegebedürftigkeit prävenieren zu können – samt und sonders Herausforderungen, die durch den demografischen und epidemiologischen Wandel immer wichtiger werden (siehe
Schaeffer in diesem Buch).
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass insbesondere Bevölkerungsgruppen, die aus PublicHealth-Perspektive ohnehin als vulnerabel und als von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit bedroht gelten, auch aus Health-Literacy-Sicht in Deutschland als „gefährdet“ identifiziert werden können.
Denn sie haben eine niedrigere Gesundheitskompetenz und sehen sich vor erhebliche Schwierigkeiten
gestellt, mit Gesundheitsinformationen umzugehen, sich notwendiges Wissen anzueignen und es konstruktiv für die Erhaltung der eigenen Gesundheit oder die Nutzung des Gesundheitssystems einzusetzen.
6. Diskussion und Fazit
Die vorgestellte Studie zielt darauf, empirische Erkenntnisse über die Verteilung und Art von Health
Literacy in der deutschen Bevölkerung zu liefern und damit die in der europäischen Studie bestehende
Datenlücke zu schließen. Diese war daraus erwachsen, dass sich Deutschland seinerzeit nur mit einem
Bundesland an dieser Studie beteiligt hatte. Mit den erhobenen Daten soll zudem ermöglicht werden, die
Ausgangs- oder Lernvoraussetzungen der deutschen Bevölkerungen genauer zu beschreiben und damit
eine Datenbasis zu schaffen, um bedarfsgerechte und passgenaue Interventionen zur Verbesserung der
Gesundheitsinformation und -kompetenz entwickeln zu können. Denn obschon in den vergangenen
Jahren einiges angestoßen wurde, um die Gesundheitsinformation der Bevölkerung in Deutschland zu
verbessern, erfolgten die unternommenen Schritte – und dies war die Krux – meist ohne genaue Kenntnis
des Informationsstands und der Ausgangs- bzw. Lernvoraussetzungen der deutschen Bevölkerung und
stehen damit immer in Gefahr, ihr Ziel nicht zu erreichen.
15Die Ergebnisse wurden in etwas abweichender Form von den weiteren deutschen Health Literacy Studien bestätigt (siehe Jordan, Domanska, & Firnges
und Kolpatzik & Zok, in diesem Buch).
11
Dass diese Gefahr nicht unrealistisch ist, belegen die vorgestellten Ergebnisse15. Sie zeigen, dass in
Deutschland mehr Menschen als bislang angenommen eine limitierte Health Literacy haben. Einen
Großteil der deutschen Bevölkerung – konkret 54,3 % – stellt der Umgang mit Gesundheitsinformationen vor Schwierigkeiten. In allen drei erfragten Bereichen – Krankheitsbewältigung/Umgang mit dem
Gesundheitssystem, Prävention und Gesundheitsförderung – geht er mit Herausforderungen einher, die
aus subjektiver Sicht oft nicht adäquat bewältigt werden können.
Ebenso wurden soziale Ungleichheiten deutlich, denn bestimmte Bevölkerungsgruppen – hier als vulnerable Gruppen bezeichnet – sind besonders häufig vor Probleme im Umgang mit Gesundheitsinformation gestellt und haben eine niedrigere Health Literacy. Dies sind Menschen mit Migrationshintergrund
und niedrigem Bildungsgrad, ältere Menschen sowie chronisch Erkrankte, die ohnehin höheren Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind, über eine schlechtere Ressourcenausstattung verfügen und durch soziale
und gesundheitliche Ungleichheit bedroht sind. Deshalb sind gerade sie auf eine ausreichende Health
Literacy angewiesen.
Überraschend ist der hohe Anteil an chronisch Erkrankten mit niedriger Health Literacy, weil bislang immer unterstellt wurde, dass Erfahrungsakkumulation, wie sie durch die Krankheitssituation automatisch
gegeben ist, zu Kompetenzgewinn und Expertise führt. Stattdessen scheinen eher Irritation, Verunsicherung und empfundene Schwierigkeiten die Folge zu sein, eine Annahme, die weiter zu prüfen sein wird.
Die Ergebnisse belegen damit, was in der anglo-amerikanischen Diskussion bereits seit längerem als
offensichtlich gilt: Health Literacy ist ein Public-Health-Problem (Nutbeam, 2000), das in engem Zusammenhang zu Fragen gesundheitlicher Ungleichheit steht. Daher dürfte es auch hierzulande sinnvoll
sein, dem Beispiel anderer Länder zu folgen und zu einem alle Gesellschaftsbereiche einbeziehenden
Aktionsplan zur Förderung von Health Literacy zu kommen, denn die Verbesserung der Gesundheitsinformation und Gesundheitskompetenz der Bevölkerung tangiert nicht nur das Gesundheitswesen, sondern
beispielsweise auch den Bildungs- und Ausbildungssektor und vor allem den Lebensalltag und bedarf in
all diesen Bereichen eines systematischen, abgestimmten Maßnahmenkonzepts.
Zugleich kann und darf das Thema Interventionsentwicklung nicht in die Zukunft verschoben werden.
Schon jetzt zeigt die sicher noch verbesserbare Datenlage, dass Interventionen gefordert sind. Dazu
gehören zunächst einmal Maßnahmen, um das Gesundheitswissen und die Gesundheitskompetenz
unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen durch basale evidenzbasierte Gesundheitsinformation zu verbessern. Ferner sind zielgruppenspezifische und auf Empowerment ausgerichtete Interventionskonzepte
für vulnerable Gruppen erforderlich, die den lebensweltlichen Bedingungen dieser Gruppen entsprechen
und darauf zielen, bestehende Wissens- und Kompetenzdefizite auszugleichen und zur Milderung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit beizutragen. Nicht weniger wichtig ist die Entwicklung neuer und
anderer zielgruppenspezifischer Vermittlungsstrategien, die speziell an der lebensweltlichen Situation
vulnerabler Bevölkerungsgruppen ausgerichtet sind und sich einfacher Sprache, vermehrter Nutzung von
Film- und Bildmaterial, Piktogrammen etc. bedienen.
Die alleinige Bereitstellung von Information reicht jedoch nicht aus. Bei etlichen Gruppen ist außerdem
Unterstützung bei der Wissensverarbeitung und bei der Beurteilung und Nutzung von Information erforderlich, wie die Daten gezeigt haben. Denn auch das Vorhandensein von Information und Wissen allein
ist nicht ausreichend, sie müssen auch subjektiv nutzbar gemacht und in Handeln transferiert werden
können. Dazu ist notwendig, das neue Wissen in das vorhandene Wissensrepertoire zu integrieren, es auf
die eigene Problemsituation zu übertragen und in konkretes Handlungswissen zu „überführen“ – ein sich
keineswegs automatisch vollziehender Schritt, der vielfach der Unterstützung bedarf.
Wie in vielen Beiträgen dieses Buchs betont wird, ist parallel zu individuenbezogenen Interventionen
erforderlich, die Strukturen im Gesundheitswesen zu verändern. So sind Anstrengungen notwendig, um
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die Förderung von Health Literacy zu einem „Imperativ’ für die Gesundheitsprofessionen zu erheben
(Speros, 2011), d. h. zu einer elementaren Aufgabe besonders der Ärzte, aber auch der Pflege und der
psycho-sozialen Helferberufe. Das ist einfacher gesagt als getan und bedeutet, diese Aufgabe auch im
Selbst- und Aufgabenverständnis der Gesundheitsprofessionen und der jeweiligen Professionskultur
zu verankern und dafür Sorge zu tragen, dass die Gesundheitsprofessionen die für die Wahrnehmung
dieser Aufgabe nötigen kommunikativen und edukativen Kompetenzen und strukturellen Bedingungen
erhalten. Dazu müssen die Strukturen des Gesundheitssystems entsprechend angepasst und verändert
werden, sodass geeignete Rahmenbedingungen für diese Aufgabe existieren. Ebenso ist erforderlich,
dass auch in anderen Bereichen, etwa dem Erziehungs- und Bildungssektor, entsprechende Veränderungen stimuliert werden.
Last but not least: Wichtig ist, die Forschung auf diesem Gebiet zu intensivieren und die dazu nötigen
strukturellen und vor allem finanziellen Voraussetzungen zu schaffen, denn bislang wurde das Thema
Health Literacy in Deutschland nur sehr verhalten aufgegriffen, so dass noch zahlreiche Fragen über
Health Literacy unbeantwortet sind.
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