Kino: „Ein kleines Märchen der Gentrifizierung“ Regisseur Omer Fast über seinen Film „Remainder“ mit Tom Sturridge ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 11016 | 19. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 12. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ GroKo lässt das WLAN frei „SCHOCK“ Alice Schwarzers Buch befeu ert Streit über Kölner Silvesternacht ▶ SEITE 13 „DURCHBRUCH“ An drea Nahles feiert neue Regeln für Leiharbeit – zu Recht? ▶ SEITE 2, 12 § 175 Opfer des homo phoben Paragrafen sol len endlich entschädigt werden ▶ SEITE 7, 12 NETZPOLITIK Die Große Koalition verspricht das Ende der „Störerhaftung“. Hotspot-Betreiber können dann nicht mehr für illegales Verhalten ihrer Gäste im Netz zur Rechenschaft gezogen werden BERLIN Immer mehr Abschiebungen ▶ SEITE 23 Fotos: Boness und Piffl media(o) VERBOTEN Endlich anschlussfähig: Wer ein frei zugängliches WLAN sucht, soll es in Deutschland künftig leichter haben – wenn die weltweit einzigartige „Störerhaftung“ entfällt Foto: Peter Udo Maurer Guten Tag, meine Damen und Herren! Wie die profunde Analyse der Feminismus-Fachzeitschrift „Mann im Spiegel“ ergeben hat, ist der Aufstieg der AfD direkt, einzig und allein auf die Stern-Journalistin Laura Himmelreich zurückzuführen, die sich Kommentare von Reiner Brüderle über ihren Ausschnitt verbat und damit eine Sexismus-Debatte auslöste, die viele Fleischbeschauer als überkorrekt empfanden. Tja. Wenn das so einfach geht, die Gründung einer neuen rechten Partei auszulösen, kann diese ja sicher auch ganz leicht wieder abgeschafft werden. verboten fordert zu diesem Zweck eine Burka-Pflicht in Deutschland. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.828 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40619 4 190254 801600 BERLIN taz/dpa | Nach langem Streit wollen Union und SPD den Weg für offene private WLAN-Hotspots in Deutschland frei machen. Die Koalitionsparteien einigten sich darauf, Hot- spot-Betreiber nicht mehr für Rechtsverletzungen der Nutzer verantwortlich zu machen. „Der Weg für mehr freies WLAN ist endlich frei“, twitterte Justizminister Heiko Maas (SPD). „Die Abschaffung der Störerhaftung ist ein überfälliger und wichtiger Schritt.“ Nach dem Plan der Koalitionsparteien soll die neue Regelung im Herbst in Kraft treten. Bislang mussten private Hotspotbetreiber für Fehlverhalten von Nutzern – etwa beim illegalen Download von Songs oder Filmen – haften. Künftig sollen auch private oder neben- gewerbliche Anbieter wie Cafébesitzer davon befreit werden. Da der Gesetzestext noch nicht vorliegt, warnen Experten jedoch vor möglichen Lücken. LKW ▶ Schwerpunkt SEITE 4 KOMMENTAR VON SVENJA BERGT ÜBER DIE STÖRERHAFTUNG UND DIE NETZPOLITIK DER BUNDESREGIERUNG Symptomatisch planlos M anchmal wüsste man wirklich gern, wie genau es in der Bundesregierung eigentlich so zugeht. Aussage nach den Koalitionsverhandlungen: Wir schaffen die umstrittene Störerhaftung ab. Im Gesetz steht dann: Störerhaftung bleibt. Und nun, ein gutes Jahr später: Die Störerhaftung wird abgeschafft. Wirklich! Echt! Das wäre mal eine gute Nachricht. Denn die Störerhaftung beim WLAN ist ein seltsames Instrument: Warum muss der Inhaber eines Internetanschlusses dafür haften, wenn jemand Drittes darüber eine Rechtsverletzung begeht? Weil auch der Eigentümer einer Bohrmaschine haftet, wenn er sie verleiht und je- mand damit verletzt wird? Nein, eben, muss er nicht. Aber genauso unsinnig ist die Störerhaftung beim WLAN und dient damit in der Praxis vor allem einer Förderung der Abmahnindustrie. Doch ein Problem bleibt: Der Umgang der Bundesregierung mit dem Thema Störerhaftung ist symptomatisch für ihre gesamte Netzpolitik. Die basiert weitgehend auf unterschiedlichen Ausprägungen der Strategien: A sagen, B tun (Netzneutralität), halbherzigem Agieren (Breitbandausbau), Handeln weitgehend ohne System (bei Hasskommentaren) und im Zweifelsfall einfach mehr Überwachung (Vorratsdatenspeicherung). Das, was eine gute Netzpolitik leisten könnte – von Teilhabe bis zum Schutz der Privatsphäre, von Barrierefreiheit bis zur Förderung innovativer und nachhaltiger Geschäftsmodelle –, ist so nicht zu schaffen. Dass die Netzpolitik der Regierung so ist, wie sie ist, liegt sicher auch am Kompetenz-Hickhack innerhalb des Kabinetts. Allein an der Digitalen Agenda haben drei Ministerien mitgearbeitet – Die Störerhaftung dient vor allem der Förderung der Abmahnindustrie Flüchtlingsdeal auf der Kippe EUROPA Ohne Visumfreiheit will Türkei Flüchtlinge nicht von EU fernhalten ISTANBUL/BERLIN dpa/taz | Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei steht vor dem Scheitern. Ein Berater des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, AKP-Parlamentsabgeordneter Burhan Kuzu, drohte, erneut Flüchtlinge nach Europa zu schicken, sollte die EU die angestrebte Visumfreiheit verweigern. Die Ab- schaffung der Visumpflicht für Türken war bis Ende Juni geplant. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, machte jetzt aber deutlich, dass er dafür keine Chancen sieht. Der Streit kommt, während die UNO über neue globale Regeln zum Umgang mit Fluchtbewegungen nachdenkt. UNGeneralsekretär Ban Ki Moon will auf einem Weltflüchtlingsgipfel im September einen „Global Compact“ verabschiedet sehen, der Umverteilungen von Flüchtlingen weltweit ermöglicht. In vielen Ländern der Welt wird mit Flüchtlingszuströmen gelassener umgegangen als in D.J. Deutschland. ▶ EU-Türkei-Bericht SEITE 10 ▶ Reportage aus Uganda SEITE 3 dabei war da das Verbraucherschutzministerium, das in solchen Fällen nicht ganz unwichtig ist, nicht einmal dabei. Und wenn viele ein bisschen zuständig sind, ist es leider manchmal so, dass sich keiner richtig kümmert. Weil sich niemand auskennt. Oder die Interessen der Wirtschaft am Ende doch mehr wiegen als die der Internetnutzer. So ist auch die Ankündigung, die Störerhaftung beim WLAN jetzt aber wirklich abzuschaffen, mit Vorsicht zu genießen – bis tatsächlich ein Gesetzentwurf vorliegt. Denn mögliche Hintertüren, um es Nutzern, die ihr Netz für Nachbarn, Freunde und Passanten öffnen wollen, schwer zu machen, gibt es genug. Grüne: Nein zu Ceta FREIHANDEL Parteichefin Peter ermahnt Kretschmann BERLIN taz | Grünen-Chefin Si- mone Peter ruft die Grünen in den Bundesländern dazu auf, die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta im Bundesrat aufzuhalten. „Wir wollen, dass die TTIP-Verhandlungen unverzüglich gestoppt werden, und haben die Bundesregierung aufgefordert, dem Ceta-Entwurf im Europäischen Rat nicht zu- zustimmen“, sagte Peter der taz. „Entsprechend erwarte ich eine klare Ablehnung im natio nalen Gesetzgebungsverfahren. Hier stehen wir im Wort.“ Ceta ist ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada. Baden-Württembergs grünschwarze Regierung hält sich US eine Zustimmung offen. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN GERICHT ZUM VERSICH ERUNGSKAUF RAUSCHGI FTDELI KTE Weniger Beratungspflicht im Internet nötig Hinrichtungswelle in Jakarta steht bevor MÜNCHEN | Beim Abschluss ei- Letzte Reste eines Eilands in der Provinz Isabel Foto: reuters Inseln, die es nicht mehr gibt N ach und nach drängen mächtige Wellen auf den Sandstrand, umschließen die Wälder der Insel Kale und verschlucken sie. Auf den Satellitenbildern von Google ist noch ein Sandhügel zu sehen, vor Ort ist auch dieser verschwunden. Kale gehörte zum Inselstaat Salomonen, der östlich von Papua-Neuguinea im Pazifik liegt. Auf knapp 1.000 Inseln mit zusammen 28.000 Quadratkilometern leben 560.000 Einwohner. Fünf Inseln der Provinz Isabel des Inselstaats sind _zwischen 2002 und 2014 bereits versunken. Sechs weitere haben ein Fünftel ihrer Fläche verloren, fanden australische Wissenschaftler jetzt in einer Studie heraus, die sie im Journal Environmental Research Letters veröffentlichte. Dafür untersuchten sie 33 Inseln anhand von Luftbild- und Satellitenaufnahmen aus den Jahren 1947 bis 2014. Während der Meeresspiegel seit 1950 um durchschnittlich drei Millimeter im Jahr anstieg, waren es seit 1994 bereits 7 bis 10 Millimeter. Die Studie bestätige Berichte von den dramatischen Auswirkungen des Klimawandel auf Küsten und Menschen, sagten die Wissenschaftler. Kale und die anderen versunkenen Inseln waren von Menschen unbewohnt, jedoch Behausung von zahlreichen Tieren, darunter seltenen Meeresschildkröten. Doch auch menschliche Inselbewohner wurden vom Klimawandel schon vertrieben. Ganze Dörfer haben die Wogen zum Beispiel auf der Insel Nuatambu verschluckt. Auf Malaita zog die Bevölkerung zum höchsten Punkt der Insel, 20 Meter über den Meeresspiegel. Ursprünglich hatten sie wohl dort gelebt, wurden aber von Missionaren „ermutigt“, an die Küste zu ziehen, heißt es in der Studie. Diese Missionare könnten Deutsche gewesen, denn die Salomonen zählten vom April 1885 bis 1900 zum deutschen Kolonialreich. Dann gehörten sie zu England, die sie gegen Samoa tauschten. Im April 2016 hat der Inselstaat das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet. Im Notfall würde das Auswärtige Amt deutsche Staatsbürger von den Salomonen evakuieren. Für die Inselbewohner wäre das nicht so einfach. Ob der Abschied von Isabell die internationale Politik in Bewegung bringt? LEILA VAN RINSUM Der Tag DON N ERSTAG, 12. MAI 2016 ner Versicherung über ein PreisVergleichs-Portal im Internet müssen Verbraucher nach Einschätzung des Münchner Landgerichts nicht in jedem Fall so intensiv beraten werden wie bei einem persönlichen Gespräch mit einem Makler. Das Ausfüllen der erforderlichen Abfragemasken im Internet erfordere gewisse geistige Fähigkeiten, so das Gericht. Man könne also davon ausgehen, dass der Verbraucher „nicht nur Bahnhof“ verstehe und gar nicht wisse, was für einen Vertrag er abschließe. Der Bundesverband Deutscher Versicherungskaufleute sieht das anders: Er hat Check24 verklagt, weil er dem Portal vorwirft, die Verbraucher nicht ausreichend zu beraten. Vielen Kunden sei zum Beispiel der Unterschied zwischen Hausrat- und Haftpflichtversicherung nicht klar. In einem anderen Punkt des Prozesses zeichnet sich aber eine Niederlage für Check24 ab: Das Portal muss die Verbraucher aus Sicht der Richterin deutlicher als bisher informieren, dass es als Makler tätig ist und Provisionen für VersicherungsAbschlüsse kassiert. (dpa) JAKARTA | Ein Jahr nach der welt- weit verurteilten Hinrichtung zahlreicher Ausländer wegen Rauschgiftdelikten steht in Indonesien eine neue Hinrichtungswelle bevor. Die Vorbereitungen laufen seit Tagen, wie die Polizei berichtet. Auf der Liste stünden zehn Ausländer und fünf Indonesier, sagte ein Polizeisprecher der Jakarta Post. Es handelt sich um vier Chinesen, einen Pakistaner, zwei Nigerianer, zwei Senegalesen und einen Simbabwer. Indonesien zählt zu den Ländern mit den strengsten Drogengesetzen weltweit. (dpa) GROSSES KI NO Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscarkandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de Gleicher Lohn nach 9 Monaten ARBEIT Nach langem Streit hat sich die Koalition auf einen Gesetzentwurf zum Kampf gegen den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen geeinigt. Was steht drin? taz intern Preis für Bleyl Henning Bleyl, Bremer taz-Redakteur, erhält den ersten Preis in der Kategorie Print des Alternativen Medienpreises 2016. Ausgezeichnet werden seine Recherchen zur verdrängten NSGeschichte des Logistik-Konzerns Kühne + Nagel: Die Spedition transportierte den kompletten Inhalt von rund 70.000 Wohnungen deportierter jüdischer Familien zur weiteren „Verwertung“, etwa auf „Judenauktionen“. Der Preis wird am 13. Mai durch die Nürnberger Medienakademie verliehen. Zu den Unterstützern zählen unter anderen die Stadt und die Friedrich-Ebert-Stiftung. Koalition will Flexi-Rente Mehr Rentner sollen arbeiten, wünscht sich die Koalition. Deshalb sollen sie künftig mehr hinzuverdienen dürfen ALTER BERLIN taz | Am Mittwoch be- Als Streikbrecherinnen dürfen die Zimmermädchen künftig nicht mehr eingesetzt werden Foto: Daniel Pilar/laif AUS BERLIN GARETH JOSWIG Union und SPD haben sich nach monatelangem Streit auf einen Gesetzentwurf gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen geeinigt. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sprach von einem „Durchbruch“ und „klaren Regeln für Arbeitgeber und Arbeitnehmer“. Das Problem Betriebe können mittels dauerhafter Leiharbeit und Missbrauch von Werkverträgen die Löhne senken. Außerdem kritisieren Gewerkschaften wie der DGB schon länger, dass ArbeitgerberInnen so die Schutz- und Mitbestimmungsrechte von regulär Beschäftigten umgehen. Nach amtlichen Zahlen gibt es rund eine Million LeiharbeiterInnen in Deutschland. Außerdem nimmt der Missbrauch von Werkverträgen zu: Laut einer Betriebsratsbefragung der IG Metall nutzen 69 Prozent der Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie Werkverträge. Empirische Untersuchungen der gewerkschaftsnahen HansBöckler-Stiftung ergaben zudem, dass dieser Trend auch in anderen Branchen zunimmt. Ursprünglich sind Werkverträge vorgesehen, damit Betriebe externe Arbeitsleistung wie etwa ein Handwerk oder eine IT- Dienstleistung einkaufen können. Gewerkschaften kritisieren, dass Werkvertrag-ArbeitnehmerInnen immer häufiger Arbeitsbereiche der Stammbelegschaft übernehmen. bruch. Über die Hälfte der Leiharbeiter arbeiten nur drei Monate. Das ist nicht gleiches Geld für gleiche Arbeit.“ Die Übereinkunft: Künftig sollen ArbeitgeberInnen Arbeitskräfte nicht länger als 18 Monate ausleihen dürfen. Anschließend müsste der Betrieb die ZeitarbeiterInnen übernehmen oder entlassen. Aber auch hier gibt es eine Ausnahme: ArbeitgeberInnen und Gewerkschaften sollen sich auf eine längere Leihdauer einigen können, wenn sie gleichzeitig den branchenüblichen Tarifvertrag einhalten. Die Höchstgrenze ginge in diesem Fall aus dem Tarifvertrag hervor. Equal Pay Zeitarbeiter sollen dem Gesetzentwurf zufolge grundsätzlich nach neun Monaten Anspruch auf den gleichen Lohn wie die „Klare Regeln für Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ ARBEITSMINISTERIN ANDREA NAHLES (SPD) Stammbelegschaft bekommen. Ausnahme: Steigert der Betrieb die Bezahlung von Leiharbeitern schon früher, etwa aufgrund von tariflichen Bonusvereinbarungen, muss der Lohn erst nach 15 Monaten das Niveau des Stammpersonals erreichen. Bedingung hierfür ist jedoch, dass die erste Erhöhung mindestens sechs Wochen nach Beschäftigungsbeginn stattfindet. So sollen Leiharbeitnehmer „mit kürzerer Verweildauer“ profitieren. Linke-Parteichef Bernd Riexinger kritisierte: „Der Entwurf ist kein Durchbruch, sondern Wort- Höchstgrenze für Einsatzzeit Fristregelung Die Regelung soll nicht rückwirkend gelten. Ursprünglich hatte dies der Gesetzentwurf des Arbeitsministeriums vorgesehen. Vor allem die CSU hatte dagegen protestiert. LeiharbeiterInnen steht also erst neun Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes „Equal Pay“ zu – unabhängig davon, ob sie zuvor schon länger im Betrieb gearbeitet hatten. StreikbrecherInnen Betriebe sollen LeiharbeitInnen in Zukunft nicht mehr als StreikbrecherInnen einsetzen dürfen. kräftigten Vertreter der Koalition, dass nun auch ein weiteres Vorhaben in Gesetzesform gegossen werden soll: die FlexiRente. Dahinter steckt das Prinzip, dass Arbeitnehmer zum einen ab 63 Jahren einfacher in eine Teilzeitrente übergehen können und andererseits Anreize dafür geschaffen werden, über das reguläre Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Das Ziel dieses Vorhabens: Es soll ermutigen, länger zu arbeiten, und von Frührenten abhalten. Ein Überblick: – Die Teilzeitrente ab 63 Jahren wird flexibilisiert. Bislang mussten Bezieher zwischen einer 2/3-, einer halben oder einer 1/3-Rente wählen. Künftig fallen diese Stufen weg. Rentner sollen individuell entscheiden, in welchem Verhältnis sie sich aus dem Arbeitsleben zurück ziehen. – Teilzeitrentner sollen mehr dazuverdienen können. Bestehen bleibt die Regelung, nach Laut Gesetzentwurf dürfen Zeit- der bis zu 450 Euro abschlagsarbeiter während eines Arbeits- frei sind. Neu ist, dass Einkomkampfs nicht die normalen Tä- men darüber nur noch teilweise tigkeiten der Belegschaft über- auf die Rente angerechnet wernehmen. den sollen. Vorgesehen sind 40 Prozent, bis zu einer individuWerkverträge ellen Obergrenze, die sich am Das Gesetz soll anhand von Ur- höchsten Bruttoeinkommen teilen des Bundesarbeitsge- der letzten 15 Jahre vor der Rente richts klare Kriterien zur Ab- bemisst. 60 Prozent des Eingrenzung eines normalen Ar- kommens bleiben für Teilzeitbeitsverhältnisses von einem rentner also abschlagsfrei. Erst Werkvertrag festschreiEinkommen jenseits der ben. Der Gesetzentwurf Obergrenze würden voll angerechnet, die Rente sieht zudem vor, die THEMA fällt dann weg. „VorratsverleiherlaubDES nis“ abzuschaffen. Die – Auch oberhalb der TAGES ermöglicht es den BeRegelaltersgrenze, also trieben bislang, Werkab 65 beziehungsweise vertragsnehmer im Nach67 Jahren, dürfen Rentner hinein als Leiharbeiter zu de- mehr verdienen: Arbeitende klarieren. Laut Regierung haben Rentner sollen vom Rentenversich viele Probleme der Leihar- sicherungsanteil ihrer Arbeitgebeit auf den Bereich von Werk- ber direkt profitieren, wenn sie verträgen verlagert. Gewerk- freiwillig um ihren Arbeitnehschaften kritisieren schon län- meranteil aufstocken. ger, dass Soloselbstständige – Für Arbeitgeber will die Kofaktisch abhängig beschäftigt alition dadurch einen Anreiz schaffen, Rentner zu beschäfwerden. tigen, dass sie für diese künfBetriebsräte tig keine ArbeitslosenversicheDer Arbeitgeber muss künftig rung mehr abführen müssen. die Betriebsräte über Werkver- Das spart Lohnkosten. träge informieren. Damit sollen – Reha-Maßnahmen und besie vom Unternehmen Angaben rufsbezogenen Gesundheitsüber Art und Umfang der ver- checks sollen dazu beitragen, gebenen Aufgaben sowie Ausge- dass mehr Rentner über das restaltung der Werkverträge ver- guläre Erwerbstätigenalter hinlangen können. aus arbeitsfähig bleiben. Meinung + Diskussion SEITE 12 CHRISTINA SCHMIDT Schwerpunkt Flüchtlinge DON N ERSTAG, 12. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Mitten in Afrika sind Hunderttausende auf der Flucht. In Uganda sind sie willkommen. Und das Land profitiert von ihnen AUS NAKIVALE SIMONE SCHLINDWEIN (TEXT UND FOTOS) „Hier haben wir Frieden gefunden“: Pierre Karimumujango mit seiner Familie vor ihrer Hütte in Nakivale Jede Familie bekommt von der Regierung einen Acker STADT DER FLÜCHTLINGE Uganda hat eine sehr liberale Flüchtlingspolitik. Aus dem Lager Nakivale ist längst eine Stadt geworden. Menschen aus dem Kongo, dem Südsudan oder Burundi bauen sich dort ein neues Leben auf. Die Versorgung bleibt ein Problem Uganda Viele Tutsi sind samt ihren Kühen gekommen: Viehauftrieb im Flüchtlingslager Gassen einer Kleinstadt Das Zentrum von Nakivale, wo die Lagerleitung ihre Büros hat und die Hilfsgüter und Lebensmittel verteilt werden, wirkt wie die Gassen einer Kleinstadt. Hier reihen sich Tischlereien, Schneidereien, Werkstätten, Apotheken und Läden aneinander, alle von Flüchtlingen betrieben. Viele bringen ihre Nähmaschinen, Werkbänke, Werkzeuge oder gar die Getreidemühle aus ihrer Heimat nach Nakivale. In einem Internetcafé sitzen Jugendliche von den Computern, auf dem zentralen Platz spielen junge Männer Fußball. Sport ist eine gute Beschäftigung, Traumata zu bewältigen und auch Konflikte unter den Flüchtlingen im Lager auszutragen. Gleich dahinter liegen die ruandischen und kongolesischen Schneidereien, Werkstätten, Apotheken: das Zentrum von Nakivale „Sicherheit und Würde“: UNO strebt globale Regeln für Flüchtlingspolitik an ■■Flüchtlingspolitik: Pünktlich zu einer Sondersitzung der UN-Generalversammlung zur Lage der Welt hat UN-Generalsekretär Ban Ki Moon eine globale Flüchtlingspolitik vorgeschlagen. Sein Bericht „In Safety and Dignity“ weist darauf hin, dass 2015 weltweit 244 Millionen Menschen Migranten oder Flüchtlinge waren, jedes Land damit aber anders umgehe. Es müssten weltweit gelten: – Achtung der Menschenrechte – globale Lastenteilung durch Umverteilung von 10 Prozent aller Flüchtlinge pro Jahr ZENTRALAFR. REP. – Sicherung der Migrationsrouten und Schutz vor Schmuggel und Deportation ■■Weltflüchtlingsgipfel: Die Vorschläge sollen als „Global Compact“ auf einem UN-Gipfel am 19. September verabschiedet werden. ■■UN-Generalversammlung: Auf der Sondersitzung am Dienstag und Mittwoch ging es um die Zunahme bewaffneter Konflikte und Folgen wie Bevölkerungsbewegungen. Vier Fünftel des weltweiten Bedarfs an humanitärer Hilfe sei auf Kriege zurückzuführen, sagte UN-Untergeneralsekretär Jan Eliasson. ■■Das Land: Uganda mit rund 40 Millionen Einwohnern gehört zu den Ländern mit der am schnellsten wachsenden Bevölkerung weltweit. Von der Ära brutaler Gewaltherrschaft unter Diktator Idi Amin (1971 bis 1979) und dem darauf folgenden Bürgerkrieg hat es sich seit der Machtergreifung des Guerillaführers Yoweri Museveni 1986 weitgehend erholt. Museveni gilt aber inzwischen als zunehmend autokratisch. Er wird am heutigen Donnerstag unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen auf seine fünfte gewählte Amtszeit vereidigt. Die Opposition erkennt seine Wiederwahl nicht an. ■■Die Region: Uganda liegt in einer instabilen Weltregion: Die Bürgerkriegsländer Südsudan und Demokratische Republik Kongo sind Nachbarn, auch die Krise in Burundi strahlt auf Uganda aus, ebenso der Dauerkonflikt in Somalia, wo Uganda mit Eingreiftruppen militärisch aktiv ist. ■■Die Flüchtlinge: Nach letzten verfügbaren Daten des UNFlüchtlingshilfswerks UNHCR waren am 1. April 525.968 Flüchtlinge und Asylsuchende in Uganda registriert. 42 Prozent kommen aus Südsudan, 38 Prozent aus Kongo, je 7 Prozent aus Burundi und Somalia. Monatlich kommen mehr als 12.000 hinzu, mit steigender Tendenz. AFRIKA SÜDSUDAN 200 km UGANDA Nakivale Kampala KENIA Mit nichts als den Kleidern am Leib war Familienvater Pierre Karimumujango mit seiner Frau und den drei Kleinkindern aus seinem Dorf in Burundi geflüchtet. Zu Fuß und mit dem Bus hat sich der Bauer bis nach Uganda durchgeschlagen, um dort Schutz zu suchen. Jetzt steht er stolz vor seiner neuen, kleinen Hütte, harkt mit Liebe seinen Kassawa-Acker. Bald wird er zum ersten Mal ernten: „Wir haben Asyl bekommen und ein Stück Land und ich bin glücklich, dass wir in Uganda Frieden gefunden haben“, sagt der 39-Jährige. So wie der Burundier Karimumujango überqueren täglich bis zu hundert verzweifelte Menschen die Grenzen, um in Uganda Schutz zu suchen. Das kleine Land in Ostafrika zählt zu einem der Länder weltweit mit einer liberalen Flüchtlingspolitik. Über eine halbe Million Menschen suchen derzeit in Uganda Schutz, so viele wie noch nie in der Geschichte des ostafrikanischen Landes. Uganda gilt als stabile Insel im krisengeschüttelten Herzen Afrikas: Im Nachbarland Kongo herrscht seit über 20 Jahren Bürgerkrieg, im nördlich gelegenen Südsudan brach 2013 der Konflikt erneut aus. In Burundi terrorisiert die Staatsmacht die Bevölkerung, über 200.000 Menschen sind geflohen, meist nach Ruanda und Tansania. Doch die Lager dort sind überfüllt – jetzt ziehen auch die Burundier weiter nach Uganda, weil sie wissen, dass sie sich dort langfristig niederlassen können. Ugandas größtes Flüchtlingslager Nakivale, gelegen im unbesiedelten Westen des Landes zwischen grünen Hügeln, wo Karimumujango sein Haus gebaut hat, wirkt mittlerweile wie eine Kleinstadt mit über 100.000 Einwohnern. Flüchtlinge der verschiedenen Nationalitäten finden sich in „Stadtteilen“ zusammen und benennen diese nach ihren Heimatstädten: „Klein-Kigali“ oder „Klein-Mogadischu“ steht auf Hinweisschildern, die durch das Lager führen. Derzeit stampfen burundische Flüchtlinge wie Karimumujango auf einem weiteren Hügel „Klein-Bujumbura“ aus dem Boden: Aus Holz und Lehm bauen sie ihre eigenen Häuser mit Strohdächern. Jede Familie bekommt von Ugandas Regierung einen Acker zugewiesen, den sie bepflanzen darf. Bis dort etwas wächst, verteilt das UN-Welternährungsprogramm monatlich Lebensmittel. 03 Victoria- DEM. REP. See KONGO RUANDA TANSANIA BURUNDI taz.Grafik: infotext-berlin.de Viertel, die ältesten in Nakivale. Die Häuser und Grundstücke sind massiver gebaut, viele mit Wellblechdach. Zwischen den Grundstücken wachsen Hecken. Die meisten Ruander und Kongolesen leben schon seit über 20 Jahren hier, seit dem Völkermord in Ruanda 1994 und dem daraus resultierenden Krieg im Ostkongo. Die ethnischen Konflikte sind auch in Nakivale nicht zu übersehen. Hier leben die Kongolesen und Ruander zumeist nach Ethnien getrennt: auf der einen Seite die Hutu und der anderen Straßenseite die Tutsi. Im TutsiViertel weidet eine Rinderherde auf einer Wiese. Viele Tutsi sind samt ihren Kühen nach Uganda geflohen. Sie grasen jetzt auf den Weiden rund um das Lager. „Obwohl wir eine sehr offenherzige Politik verfolgen, ist unser Problem die Versorgung der Flüchtlinge, wenn sie in Massen kommen“, gibt Flüchtlingsminister Mussa Ecweru zu. Ugandas Regierung sei bei der Erstversorgung daher auf internationale Hilfe angewiesen. Diese würde jedoch immer weniger, da auch Europa mit vielen Flüchtlingen klarkommen muss. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von der größten Flüchtlingskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die liberale Flüchtlingspolitik Ugandas kommt nicht von ungefähr. Während der 1970er und 1980er Jahre, als die Diktatoren Idi Amin und Milton Obote mit Terror regierten, waren viele Ugander selbst Flüchtlinge in den Nachbarländern. Ugandas heutiger Präsident Yoweri Museveni hat im Exil in Tansania seiner Guerillabewegung gegründet, die 1986 letztlich das Land eroberte und bis heute die Regierung stellt. Versammelte Opposition Präsident Museveni weiß also um die politische Macht dieser Willkommenspolitik: In der Regel fliehen Oppositionelle zuerst aus ihren Heimatländern und suchen bei den Nachbarn Unterschlupf. Derzeit beherbergt Uganda sämtliche Oppositionelle aus Burundi, Südsudan, Ruanda oder gar aus Somalia und Äthiopien. Darunter sind auch einst bewaffnete Rebellen, die den Krieg in ihrer Heimat verloren haben und in Uganda eine Auszeit nehmen: zum Beispiel die kongolesischen TutsiRebellen der M23 (Bewegung des 23. März), die sich im November 2013 von Kongos Armee und UNBlauhelmen geschlagen mit all ihren Waffen über die Grenze zurückzogen. Mithilfe dieser „Flüchtlinge“ zieht Museveni die Fäden weit über die Landesgrenzen hinaus. Auch Ugandas Wirtschaft profitiert: Aus den Krisenländern retten sich auch die Unternehmer und die Mittelklasse. In Ugandas Hauptstadt Kampala sieht man große Geländewagen mit burundischen oder südsudanesischen Kennzeichen. Die meisten schlagen mit ihrem ganzen Ersparten auf, um sich ein neues Leben aufzubauen: Sie mieten ein Haus, eröffnen ein Geschäft oder Restaurant, betreiben Handel mit ihren Verwandten in der Heimat. Im besten Fall zahlen sie sogar Steuern und stellen ein paar Ugander ein. „Uganda hat eine sehr offenherzige Flüchtlingspolitik und profitiert langfristig auch wirtschaftlich davon“, sagt Charly Yaxlei vom UN-Flüchtlingshilfswerk in Uganda.
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