Waffengeschäfte: Weltweiter Boom Aufrüsten in Zeiten des Terrors ▶ LMd Seite 1 AUSGABE BERLIN | NR. 11017 | 19. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ FREITAG, 13. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,80 AUSLAND | € 2,50 DEUTSCHLAND Rock ’n’ Roll vor dem Reichstag PROTEST Spektakulär und selbstbewusst: Behinderte mit und ohne Rollstühle demonstrieren vor dem Reichstag gegen Mängel im neuen Gleichstellungsgesetz. Was die Regierung plant und was die Kritiker fordern ▶ SEITE 3 THE GHOST Im Manga- Style für Deutschland: Die ESC-Kandidatin Jamie-Lee ▶ SEITE 13 DA DA DA Nachruf auf Trio-Trommler Peter Behrens ▶ SEITE 16 CHINA Wie die Folgen der Kulturrevolution heute noch zu spüren sind ▶ SEITE 4, 12 HERTHA Die nackte Wahrheit ▶ SEITE 23 Foto: dpa VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Eilmeldung: Der Papst erwägt die Zulassung von Frauen zum Diakonat! verboten weiß zwar nicht, was das ist, ahnt aber nichts Gutes. Denn irgendwas wird ihnen wohl erlaubt. Und das in der katholischen Kirche. Die Folgen sind nicht auszudenken. Am Ende werden die Frauen noch gleichberechtigt. Und das im christlichen Abendland! Wer hat dem Papst nur diesen Unsinn eingeredet, wer hat für diese populistische neue Bewegung im Vatikan gesorgt? Ach so, ja klar. Natürlich: Stern-Schwesterle Laura Himmelreich. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.828 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 50619 4 195915 702500 Neue Ziele: Dafür kämpfen behinderte Menschen in Berlin, manche ketten sich nächtelang an. Unrealistisch? So wie einst die DDR-Demo-Forderung „Visafrei bis Hawaii“ Foto: Björn Kietzmann KOMMENTAR VON GEREON ASMUTH ÜBER BARRIEREFREIHEIT UND DIE GLEICHSTELLUNG VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNG Man wird behindert E s gibt Dinge, die machen einen rasend. Bordsteinkanten zum Beispiel. Oder diese pittoresken Treppenstufen vor nahezu jedem Altbau. Als Fußgänger hüpft man ja gern darüber weg. Aber man muss nicht einmal versuchen, sich in die Lage eines Rollstuhlfahrers, einer Blinden hineinzuversetzen – das klappt eh nicht. Es reicht schon, eineN von ihnen im Alltag zu begleiten, schon kocht man vor Wut. Denn plötzlich tun sich überall Hürden auf. Die Stufe vor der Lieblingskneipe. Die Treppe in den Kinosaal. Die zugeparkte Bordsteinabsenkung. Der Weg hoch in die eigene Wohnung. Man wird: behindert. Nicht weil man seine Körperteile nicht so benutzen kann wie andere. Sondern weil sich an viel zu vielen Orten viel zu wenig Gedanken darüber gemacht wurden, wie Behinderte sich dort bewegen sollen. Das ist letztlich nicht überraschend, denn das mit dem Hineinversetzen in die Rolle des Rollifahrers – siehe oben – ist schwer. Und selbst wenn ein Nichtbehinderter alle möglichen Wünsche des Rollstuhlfahrers beachtet, vergisst er doch die speziellen Bedürfnisse der Tauben, Blinden, Amputierten, Spastiker. Genau deshalb braucht es ein Teilhabegesetz, das in aller Radikalität Vorgaben macht. Nicht nur, wie derzeit geplant, für Behörden, Schulen, Bahnhöfe, sondern gerade auch für privat errichtete Häuser und für alle neuen Geschäfte. Man muss und kann nicht jeden Altbau umrüsten. Doch jede neu angelegte Stufe, jede zu schmale Tür, jede vergessene Behindertentoilette bedeutet mindestens 50 weitere Jahre ein unüberwindbares Hindernis. Und davon gibt es wahrlich genug. Ja, das ist mit Kosten verbunden. Ja, es überrascht wenig, dass Die größte Barriere ist immer noch das Brett vorm Kopf der Politiker Glyphosat vergiftet Koalition ACKERGIFT Union für Zulassung, SPD dagegen. Damit ist EU-Mehrheit unsicher BERLIN taz | Kurz vor der ent- scheidenden EU-Abstimmung über das umstrittene Pflanzengift Glyphosat gibt es in der Bundesregierung offenen Streit über das deutsche Votum. SPDUmweltministerin Barbara Hendricks kündigte am Donnerstag überraschend an, die sozialde- mokratischen Minister würden „einer Verlängerung für die Zulassung von Glyphosat nicht zustimmen“. Damit müsse sich Deutschland nächste Woche im EU-Ausschuss beim Votum über die Verlängerung der GlyphosatZulassung enthalten, heißt es im Umweltministerium. Eine Mehrheit für das Pflanzengift ist unsicher. Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) reagierte verärgert auf die Ankündigung. „Zuverlässiges und belastbares Regierungshandeln sieht anders aus“, sagte er. MKR ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 Privatinvestoren jammern. Ja, vielleicht kann man da über finanzielle Unterstützung durch den Staat nachdenken. Aber wirklich hilfreich ist nur eins: ein Teilhabegesetz, das barrierefreies Bauen als Normalzustand festschreibt. Schließlich kann es spätestens im Alter jeden von uns auch persönlich betreffen. Und wer unbedingt dennoch Barrieren bauen will, kann sich das dann ja gesondert genehmigen lassen. Die größte Barriere in Deutschland ist leider immer noch das Brett vorm Kopf der verantwortlichen Politiker. Aber man muss die Dinge positiv sehen: Nimmt man das Brett erst mal ab, wird daraus schnell eine Rampe. Transparenz? Nö GIPFEL Berlin „blockiert“ Kampf gegen Korruption BERLIN taz | Deutsche Organisa- tionen kritisieren, dass die Bundesregierung beim globalen Antikorruptionsgipfel in London am Donnerstag als Bremser aufgetreten sei. „Deutschland blockiert weiterhin eine globale Lösung“, so die Lobbygruppe One. Der britische Premierminister David Cameron kündigte auf dem Gipfel an, Großbritannien werde als erstes Land ausländische Firmen, die Eigentum erwerben wollen, zur Offenlegung ihrer Besitzverhältnisse zwingen. Offshore-Firmen müssen D.J. dies bislang nicht. ▶ Ausland SEITE 10 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG NACH RUF Schwerpunkt FREITAG, 13. MAI 2016 NACH RICHTEN UMWELTMI N ISTERI N H EN DRICKS FRAUEN IM DIAKONAT Dienstwagen fällt beim Umweltschutz durch Papst will Zulassung von Frauen prüfen BERLIN | Die deutsche Umwelt- Menschenrechtsanwalt Michael Ratner, 1943–2016 Foto: reuters Anwalt gegen die Mächtigen D rei US-Präsidenten hat er verklagt, Julian Assange und Wikileaks hat er verteidigt, für die Gefangenen von Guantánamo erreichte er 2004 das bahnbrechende Urteil des obersten US-Gerichtshofs, dass auch sie ein Anrecht auf gerichtliche Haftprüfung haben. Am Mittwoch ist der Menschenrechtsanwalt Michael Ratner mit 72 an Krebs gestorben. Seit viereinhalb Jahrzehnten war Ratner eine feste Größe der US-amerikanischen und der internationalen Menschenrechtsszene. 1971, nach seinem Jura-Abschluss an der Columbia University, schloss er sich als junger Anwalt dem Center for Constitutional Rights an, das er später über viele Jahre leiten sollte und das auch dank seines Engagements zu einer der wichtigsten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen der USA wurde. 2007 half er in Berlin bei der Gründung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), dem er als Vorstandsvorsitzender bis zum Schluss verbunden blieb. ECCHR-Chef Wolfgang Kaleck lernte Ratner 2004 kennen, als sie beide an der Klage gegen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen der Folter in Abu Ghraib arbeiteten. In Ratner fand Kaleck einen „Kampfgenossen und Freund,“ der nie die Bodenhaftung verloren habe. Der Völkerrechtsprofessor und frühere UN-Sonderberichterstatter für Folter, Manfred Nowak, erinnert sich an Ratner als „große Inspiration, ungewöhnlichen Menschenrechtsverteidiger und liebenswerten, bescheidenen Menschen“. Lotte Leicht, EU-Direktorin von Human Rights Watch, trauert um „unseren Mentor, Mitstreiter und moralischen Giganten.“ Reed Brody, Anwalt von Human Rights Watch USA, sagt: „Von der Verteidigung von Bürgerrechten in den USA über die Verteidigung zentralamerikanischer Revolutionen gegen die USA, von der Vertretung HIV-positiver Haitianer, die in den frühen 90ern in Guantánamo festgehalten wurden, bis zur Verteidigung der dort gefangenen Muslime zehn Jahre später, von den Klagen gegen ausländische Folterer in den USA bis zu Anklagen von US-Folterern im Ausland – Michael Ratner war immer instinktiv am richtigen Ort, kämpfte den richtigen Kampf.“ BERND PICKERT ministerin ist im Dienstwagen nicht gerade klimafreundlich unterwegs: Von den Bundesministern nutzt Barbara Hendricks das Auto mit dem höchsten CO2-Ausstoß. Den letzten Platz im diesjährigen Dienstwagen-Check der Deutschen Umwelthilfe teilt sie sich mit zwei SPD-Parteikollegen, Justizminister Heiko Maas und Familienministerin Manuela Schwesig. Vor einem Jahr hatte Hendricks noch den ersten Platz belegt – ihr neues Auto stößt aber mehr CO2 aus, zudem haben viele Kollegen sich sparsamere Wagen zugelegt. Hendricks werde bald einen anderen Dienstwagen anschaffen, sagte ein Sprecher. Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) steht dagegen ganz gut da: Er wird im Wagen mit dem zweitgeringsten CO2-Ausstoß gefahren, nur Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) ist noch sparsamer unterwegs. Die Umwelthilfe hat für ihren am Mittwoch in Berlin vorgestellten Vergleich insgesamt 231 Politiker zu ihren Dienstwagen befragt. Eine „grüne Karte“ für klimaverträgliche Fahrzeuge bekam kein Bundesminister. (dpa) VATIKANSTADT | Papst Franzis- kus erwägt die Zulassung von Frauen zum Diakonat. Er sei zur Einsetzung einer Kommission bereit, die diese Möglichkeit prüfen soll, antwortete der Papst gestern nach Journalistenangaben bei einem Gespräch mit Ordensvertreterinnen auf die entsprechende Frage einer Teilnehmerin. Der Sprecher des Papstes wollte die Äußerungen des katholischen Kirchenoberhaupts zunächst nicht bestätigen. Diakone stehen in der katholischen Hierarchie eine Stufe unter dem Priester. (afp) L AUT ODER LEISE? Etablierte Musiker, frische Jungbands, Pop-Diskurse sowie Interviews mit SängerInnen und Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik Konzerte Kritiken Klänge www.taz.de Nicht alle Handys im Schrank NSU-AFFÄRE Der Verfassungsschutz findet überraschend Mobiltelefon eines Topspitzels, dem NSU-Kontakte vorgeworfen werden. NSU-Ausschuss im Bundestag ist empört wechsel im Sommer 2015 soll das Handy gefunden worden sein – bei der fünften Durchsuchung des Schranks. Warum erst da? Der Verfassungsschutz lässt dies offen. Er teilte am Donnerstag nur mit: Das Handy sei nur „sehr kurz“ genutzt worden. Die Auswertung liege nun beim BKA. Das war’s. Die Abgeordneten im NSUAusschuss besänftigt das nicht. Der Vorsitzende Clemens Binninger (CDU) nannte den Vorgang „unverständlich angesichts der Bedeutung und der Emilia Smechowski ist für ihren Beitrag „Ich bin wer, den du nicht siehst“, erschienen in der taz.am wochenende, mit dem DeutschPolnischen Tadeusz-MazowieckiJournalistenpreis 2016 ausgezeichnet worden. Smechowski, die in Polen geboren wurde und später mit ihren Eltern nach Deutschland auswanderte, beschreibe in dem Essay die Schwierigkeiten der Integration von Zuwandern am Beispiel ihrer eigenen Familie und gebe damit „einen tiefen Einblick in ihre eigenen Erfahrungen, Gefühle und Zweifel“, heißt es in der Begründung der Jury. Wir gratulieren. Knapp entwischt NSU-Trio geriet laut Zschäpe nach Untertauchen in Polizeikontrolle – und entkam FAHNDUNG Maaßen im Bilde. Dennoch meldete das Amt den Fund erst Abtauchen. Das stand am DonAnfang Mai dem Innenminisnerstag mal wieder auf dem Proterium. Noch eine Woche dau- BERLIN dpa/taz | Es hätte das gramm des Verfassungsschuterte es, bis der NSU-Ausschuss schnelle Ende der Rechtsterzes. Tags zuvor hatte das Amt roristen sein können. Wenige informiert wurde. dem NSU-UntersuchungsausDamit setzt sich das sonder- Wochen nach dem Abtauchen liche Gebaren des Verfassungs- von Beate Zschäpe, Uwe Mundschuss im Bundestag eine Blaschutz in der NSU-Affäre fort. los und Uwe Böhnhardt 1998 in mage beichten müssen: den Nur eine Woche nach Auffliegen Jena entging das Trio offenbar Fund eines Handys des früheder Terrortruppe hatte ein Mit- nur knapp einer Festnahme. ren Topspitzels „Corelli“, in eiarbeiter Akten mit Bezug zum nem Panzerschrank im eigeZschäpe ließ über ihren Annen Amt. Jener V-Mann, der Trio im Amt geschreddert. Und walt Hermann Borchert am seit Jahren ein Politikum ist, die „NSU“-CD von „Corelli“ hat- Donnerstag im Münchner NSUten erst ermittelnde BKAler in Prozess mitteilen, dass ihr Trio weil ihm eine NSU-Nähe nachgesagt wird. Und nun ist da diedem Amt gefunden. Sonderbar damals in Hannover in eine Poauch der V-Mann-Führer, in des- lizeikontrolle geriet. Sie hätten ses Telefon. In einem Schrank, sen Schrank nun das Handy lag: befürchtet, „dass wir nun verder angeblich schon viermal Im ersten NSU-Ausschuss des haftet würden“. Trotz gestohdurchsucht wurde. Bundestags hatte er ausgesagt, lenem Kennzeichen, das die Der Verfassungsschutz re„Unverständlich agierte darauf öffentlich erst dass „Corelli“ „zu keinem Zeit- Beamten „im Computer überangesichts der Bripunkt Neonazi“ gewesen sei. prüft“ hätten, konnten sie aber einmal mit: Stille. Dabei ist sanz des V-Mannes“ Allein sein Amt habe ihn in die „unbehelligt weiterfahren“. Das die Peinlichkeit damit nicht zu untergetauchte Trio wurde daSzene geschickt. Ende. Denn obwohl „Corelli“ CLEMENS BINNINGER (CDU) Richter selbst hatte zu Lebzei- mals bundesweit wegen Sprengschon länger den Bundestag, das ten einen Kontakt zum NSU be- stoffvergehen von der Polizei BKA und den eigens eingesetzten Sonderermittler Jerzy MonBrisanz des V-Mannes Corelli“. stritten. Auch Sonderermittler gesucht. Der Ausschuss will nun die kom- Jerzy Montag sah dafür keine tag (Grüne) beschäftigte, behielt Zschäpe ließ ihren Anwalt plette Kontaktliste des Handys Belege. Das Nichtauswerten der schildern, dass sie sich durch das Amt den Fund monatelang „NSU“-CD nannte er „grob regel- einen Fahndungsaufruf im für sich. Aus Schlamperei? Oder vorgelegt bekommen. Vertuschung? Klären will er auch, warum widrig“. Über den Fund des Han- Fernsehen unter Druck sahen. der Fund erst jetzt bekannt wird. dys zeigte sich Montag über- Ein Szenebekannter, in dessen Klar ist: Thomas „Corelli“ Nach taz-Informationen landete rascht. In seinem Abschlussbe- Chemnitzer Wohnung sie sich Richter diente 18 Jahre lang das Handy zunächst bei Tech- richt hatte er geschrieben, nach versteckten, habe sie gedrängt, dem Bundesverfassungsschutz nikexperten des Verfassungs- seinem Eindruck hätten ihm wieder auszuziehen. Deshalb als Topquelle, kassierte dafür schutzes. Erst im April 2016 soll alle Informationen zu „Corelli“ seien sie nach Hannover ge300.000 Euro. 1998 stand er es gelungen sein, das Telefon vorgelegen. Nun wird im Bun- fahren, um bei dem Mitangeauf einer Kontaktliste des späklagten Holger G. Unterteren NSU-Mitglieds Uwe Mund„Corelli“ zuzuordnen. Seit dem destag überlegt, ihn erschlupf zu finden. Dies los. Zudem übergab der V-Mann 21. April war auch Verfassungs- neut als Ermittler einschutzpräsident Hans-Georg zusetzen. sei aber nicht geglückt. dem Verfassungsschutz b ereits THEMA Dem Bericht von DES Zschäpe waren Fragen TAGES des Richters an sie über G. vorausgegangen. In Sicherheitskreisen hieß es, die damalige Situation sei wohl nicht mehr recherchierbar. Daten über einfache Polizeikontrollen müssten fristgerecht gelöscht werden. Für das NSU-Trio war es nicht die einzige brenzlige Situation. 2006 stand einmal ein Polizist vor der Tür einer Untergrundwohnung der drei in Zwickau. Er befragte Zschäpe nach einem Wasserschaden in einer Nachbarwohnung. Diese gab sich als „Lisa Dienelt“ aus. Später erschien Zschäpe mit dem heute Mitangeklagten André E. auf dem Polizeirevier, gab diesen als ihren Ehemann aus und nannte sich plötzlich „Susann E.“. Die Maskerade funktionierte dennoch: Beide gingen unbehelligt nach Hause. Wenige Monate später tötete der NSU in Heilbronn sein letztes Opfer: die Polizistin Michèle Kiesewetter. Zuvor hatte die rechte Terrorgruppe neun Migranten erschossen. Zschäpe wird im Münchner Prozess die Mittäterschaft an allen Morden vorMal nicht mit Handy, dafür mit Kamera: V-Mann „Corelli“ (rechts) bei einer Nazidemo in Magdeburg im Januar 2011 Foto: Roland Geisheimer/attenzione geworfen. KO AUS BERLIN KONRAD LITSCHKO 2005 eine CD mit dem Titel „NSU/NSDAP“ – die unausgewertet in den Regalen verstaubte. Im April 2014 verstarb der 39-Jährige plötzlich an einem unerkannten Diabetes. Nach seinem Tod fanden Ermittler gleich fünf Handys zu Richter. Nun gibt es noch ein weiteres. Sonderermittler Montag hatte nach monatelangen Recherchen im Mai 2015 seinen Abschlussbericht vorgelegt. Und kurz danach findet sich das Handy. Zufall? Nach taz-Informationen befinden sich auf dem Telefon mehrere hundert Fotos und rund 200 Kontakte, darunter etliche Neonazi-Größen. Ob darunter auch NSU-Kontaktleute sind, ist ungeklärt. Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft sagte am Donnerstag, das Telefon werde noch ausgewertet. Richter soll das Handy von Juli bis September 2012 genutzt haben – also wenige Monate nach Auffliegen des NSU. Als der V-Mann damals enttarnt wurde und eine neue Identität bekam, landete das Telefon bei „Corellis“ V-Mann-Führer im Verfassungsschutz, der ihn seit 1999 betreut hatte. Seitdem soll es unausgewertet in einem Panzerschrank gelegen haben – in einem Umschlag mit der Aufschrift „privat beschafft“. Erst bei einem Büro- taz intern Ausgezeichnet Schwerpunkt Menschen mit Behinderung FREITAG, 13. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Zwei Gesetze sollen helfen, das Leben von Behinderten zu erleichtern. Doch die Betroffenen sind nicht zufrieden. Warum? VON BARBARA DRIBBUSCH BERLIN taz | Manchmal muss man Namen nennen. KarstadtKaufhäuser etwa sind besser als ihr Ruf, weil man stufenlos hineinrollen kann und die Gänge breit genug für Rollstühle sind. Auch Dunkin’ Donuts sind fortschrittlich: In vielen Filialen gibt es Behindertenklos. Die Berliner U-Bahn ist wegen der Sprachansagen und der geriffelten weißen Bodenflächen, die vor einem Bahnsteig warnen, für Blinde gut benutzbar. Und auch für Gehbehinderte – „wenn es einen Aufzug gibt und der nicht grade kaputt ist“, sagt Antje Claaßen-Fischer. Die 47-jährige Rollstuhlfahrerin und Diplom-Sozialpädago- Zum Glück gab es ein paar Lokale mit Behindertentoiletten in der Umgebung gin hat eine aufregende Nacht hinter sich. Zusammen mit anderen Gehbehinderten hat sie sich am Reichtagufer anketten lassen. „Damit die Polizei uns nicht einfach wegfahren kann“, erklärt sie. Schließlich befand man sich innerhalb der Bannmeile und angemeldet war die Aktion auch nicht. „Ich pfeife auf euer (Spar) gesetz, echte Teilhabe jetzt“ steht auf dem Pappschild an Claaßens Rollstuhl. Assistent Benjamin schiebt der sorgfältig geschminkten Schwarzhaarigen die Baseballmütze zurecht, um sie vor der Vormittagssonne zu schützen. Wegen einer Muskelerkrankung kann sie Arme, Beine und Kopf nicht bewegen. Am Mittwochabend waren etwa 70 Rollstuhlfahrer mit ihren Assistenten zum Demonstrieren gekommen, erzählt Claaßen. Einige gehörlose und blinde Menschen gesellten sich dazu. Ein Teil hielt die Nacht durch. Zum Glück gab es ein paar Lokale mit Behindertentoiletten in der Umgebung. Das Durchhalten hatte einen Grund: Am Donnerstag verabschiedete der Bundestag das Gesetz über die „Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes“. Dagegen richtet sich der Protest und gegen das „Bundesteilhabegesetz für Behinderte“, dessen Entwurf sich noch in der Ressortabstimmung zwischen den Ministerien befindet. Im Gleichstellungsgesetz vermissen die Behinderten Druck auf die Privatwirtschaft: „Wir fordern, dass auch die zur Bar- Berlin in einer warmen Frühlingsnacht: Protest in der Nacht zu Donnerstag am Reichtagufer Foto: Gregor Fischer/dpa Barrierefrei dazugehören TEILHABE Über Nacht haben sich AktivistInnen in Rollstühlen am Reichtagsufer angekettet. Sie fordern Barrierefreiheit in Privatbetrieben wie Restaurants oder Geschäften – und mehr öffentliches Geld für Assistenz Dabei: Jenny Bießmann (links) und Antje Claaßen-Fischer Foto: B. Dribbusch rierefreiheit verpflichtet wird“, sagt Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben und Mitinitiatorin der Protestaktion. Restaurants, Kneipen oder Ki- nos müssten auch nach Verabschiedung des Gesetzes keinen Zugang für Menschen im Rollstuhl ermöglichen. „Nicht mal bei Neu- oder Rohbauten gibt es die Verpflich- tung zur Barrierefreiheit“, sagt Claaßen. In den USA hätten Gaststätten zwar nicht die Verpflichtung, nach Geschlechtern getrennte Toiletten anzubieten – dafür müssten sie rollstuhlgeeignete Sanitärräume haben. Das würde Claaßen auch für Deutschland akzeptieren. Doch lästige Stufen, kaputte Aufzüge und fehlende Behindertentoiletten, die durch das Gesetz nicht wirklich angegangen werden, sind nur das eine Problem. Das zweite ist der „Assistenzbedarf“. Claaßen etwa braucht aufgrund ihrer Krankheit eine 24-Stunden-Assistenz. Sie arbeitet von zu Hause aus, im Telefonmarketing. Ihr Ehemann arbeitet Vollzeit als Diplom-Ingenieur. Er übernimmt die Betreuungs-Nachtschicht – doch tagsüber müssen andere, bezahlte Kräfte ran. Das kostet 8.000 Euro pro Monat. Ein großer Teil des Einkommens des Ehepaares wird auf die Kosten dafür angerechnet, beim Vermögen bleibt nur ein geringer Freibetrag. Daran verbessert das neue Gesetz wenig, im Gegenteil: Durch neue Anrechnungsmodalitäten für jene, die etwas besser verdienen, würde man pro Monat 400 Euro weniger zur Verfügung haben, klagt Claaßen. Auch Jenny Bießmann ist ernüchtert. Die 29-Jährige studiert Erziehungswissenschaften und Gender-Studies und arbeitet als Beraterin für Menschen mit Behinderungen. Sie lebt allein, braucht aufgrund einer spinalen Muskelatrophie aber eine 24-Stunden-Betreuung. Später möchte sie Vollzeit in der Beratung arbeiten. „Mir werden von meinem Einkommen dann nur ein Freibetrag in Höhe des doppelten Regelsatzes zu Hartz IV Hoffen auf den guten Willen der Privatwirtschaft HANDICAPS Die Behindertengesetze kommen aus dem Sozialministerium, sind aber auch Andrea Nahles (SPD) eigentlich zu wenig BERLIN taz | Artikel 3 des Grund- gesetzes garantiert, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Zudem hat die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, nach der Behinderte ein Anrecht haben auf Inklusion, Barrierefreiheit und ein selbstbestimmtes Leben. Dem versuchen zwei neue Gesetze gerecht zu werden. Das am Donnerstag verabschiedete Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes soll das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das seit Mai 2002 gilt, erweitern. Laut BGG musste der Bund bisher nur bei Neubauten oder großen Um- und Erweiterungsbauten auf Barriere freiheit achten. Nun sollen auch Hindernisse in bestehenden Gebäuden angegangen werden – im öffentlichen Bereich. Die Behörden müssen verbindliche und überprüfbare Maßnahmen- und Zeitpläne zum weiteren Abbau von Barrieren in Gebäuden, die vom Bund verwaltet werden, erarbeiten. Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) räumte dazu am Donnerstag ein: „Was das vorliegende Gesetz angeht, sage ich ganz offen: Ja, auch mir fehlt im BGG der private Sektor. Den hätte ich gerne im Gesetz dabeigehabt. Das ist leider dieses Mal nicht gelungen – aber dann beim nächsten Mal!“ Nahles sagte, sie setze darauf, dass das neue BGG auch die private Wirtschaft zum „Mitmachen“ und „Nachahmen“ anrege. Der erste Entwurf des neuen Bundesteilhabegesetzes ist derzeit noch in der Phase des Abstimmung zwischen den Ministerien. Danach soll es bei der Anrechnung von eigenen Einkommen auf Kosten der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege einen Freibetrag von 260 Euro pro Monat geben, der auf die geltenden Einkommensgrenzen addiert wird. Für die Vermögen der Empfänger von Eingliederungshilfe (ohne Hilfe zur Pflege) gilt künftig ein Freibetrag von 25.000 Euro. Da viele Betroffene aber auch häusliche Assistenz und Pflegeleistungen brauchen, ändert sich für sie so gut wie nichts – denn bei der Hilfe zur Pflege gilt nach wie vor nur ein Vermögensfreibetrag von 2.600 Euro. Lebens- und Ehepartner werden in diese Anrechnungen voll mit einbezogen. Das erschwere Be- hinderten das Eingehen von Partnerschaften, kritisieren Sozialverbände. Linkspartei und Grüne rügten beide Gesetze. Die Linke bemängelte, der Regierung fehle der Mut, eine umfassende Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen umzusetzen. Die Grünen bezeichneten das Gleichstellungsgesetz als „lahme Ente“. Nach Ansicht des Deutschen Behindertenrates (DBR) erfüllt das Gleichstellungsgesetz die Erwartungen nicht, weil beim Abbau von Barrieren die Privatwirtschaft nicht in die Pflicht BD genommen werde. und der Mietkosten belassen“, sagt die energische Blondine, „ansparen kann ich auch so gut wie nichts“. Mit Claaßen, Bießmann und den anderen haben auch die 70-jährige Carola Szymanowicz und ihr Mann Hans-Joachim die Protestnacht durchgehalten. Die studierte Diplom-Ingenieurin ist von Geburt an gehörlos – und erwartet sich ebenfalls keine Verbesserungen von den neuen Gesetzen. „Wir bräuchten einen Rechtsanspruch auf ein bestimmtes Budget für Gebärdendolmetscher“, sagt die Rentnerin und aktive Sozialdemokratin. Im privaten Bereich, etwa in Banken, beim Kurs in der Volkshochschule oder im Naturschutzverein, müsste sie den selbst bezahlen. Ihr Ehemann bedauert: „So was kann man sich als Rentner kaum leisten.“ Behindert in Deutschland ■■Alter: 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland. Nahezu ein Drittel von ihnen ist 75 Jahre und älter. Knapp die Hälfte (45 Prozent) gehört der Altersgruppe zwischen 55 und 75 Jahren an, 2 Prozent sind jünger als 18. ■■Familie: Behinderte im Alter zwischen 25 und 44 Jahren sind häufiger ledig und leben öfter allein als Nichtbehinderte in dieser Altersklasse. 67 Prozent der Behinderten in dieser Altersklasse sind erwerbstätig oder suchen nach einer Tätigkeit. ■■Behinderung: Zwei von drei schwerbehinderten Menschen hatten körperliche Behinderungen, 5 Prozent waren blind oder fast blind. (bd)
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