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SWR2 Musikstunde
Jazz across the border (5/ 16)
Von Günther Huesmann
Sendung:
Redaktion:
Samstag, 07. Mai 2016 9.05 – 10.00 Uhr
Martin Roth
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SWR2 Musikstunde: Jazz across the border
SWR2, 07. Mai 2016
09-05-10.00 Uhr
Manuskript: Günther Huesmann
Redaktion: Martin Roth
Mit Günther Huesmann, guten Morgen! Willkommen zu Jazz across the border.
Heute mit lateinamerikanischen Sounds von Gato Barbieri, Manuel Valera, Aruan
Ortiz und Alfredo Rodriguez. Außerdem machen wir einen Abstecher in den
Nahen Osten, wo der israelische Bassist Omer Avital Brücken zur Musik Marokkos
und Jemens schlägt. Unsere Reise durch die aktuelle Szene des World Jazz
beginnt aber in New Orleans.
Signet SWR2 Musikstunde
„Black Atlantic“ nennt Paul Gilroy in einem Essay die durch die afrikanische
Diaspora entstandenen hybriden Musikstile. Ein ganz zentraler Ort für diese
Vermischung unterschiedlicher Stile war die Stadt am Mississippi, New Orleans.
Für Millionen durch die Sklaverei von Afrika nach Amerika verschleppter
Menschen wurde die Musik zu einer Kraft des Überlebenswillens und des
Widerstandes. Zum Triumph der Seele über das Unglück, und zu einer Heimat.
„Musik is My Home – Act One“ heißt die nächste CD. Für dieses Album haben sich
die aus Elfenbeinküste stammende und in Frankreich lebende Schlagzeugerin
Anne Paceo und der französische Saxofonist Phillipe Imbert auf den Weg
gemacht und haben mit Spielern aus dem kulturellen Schmelztiegel New Orleans
zusammengearbeitet. Gemeinsam feiern sie mit überschwänglicher Energie
Blues, Cajun, Zydeco und Mardi Gras aus einer aufgeklärten Jazzperspektive.
1) MLK Blues
Komponist: Raphael Imbert
Interpret: Raphael Imbert & Co
Label: Jazz Village JV 570090
CD: Music Is My Home Act 1
Track 1, 4:05
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Der “MLK Blues”, der Saxofonist Phillipe Imbert und die afro-französische
Schlagzeugerin Anne Paceo im Ausstausch mit Musikern aus New Orleans.
Rudolfo Stroeter ist so etwas wie der Bass-Anker der Jazzszene von Sao Paolo, ein
wichtiger Netzwerker. Anfang 2015 tourte er mit der Band der Sängerin Joyce
durch Europa. Die letzten drei Tage verbrachte man in Kopenhagen. Es regnete
unterbrochen. Der dänische Freund, den Stroeter besuchte, war im Arbeitsstress,
hatte außer einer schnellen Umarmung nur wenig Zeit für Stroeter.
Immerhin drückte er dem Bassisten sechs CDs der dänischen Plattenfirma Stunt in
die Hand. Die hatte Stroeter schon längst vergessen, als er zurück in Brasilien
ankam. Erst beim Öffnen des Tourkoffers kamen sie ihm wieder in den Sinn. Aber
selbst dann dauerte es noch Wochen bis Stroeter hinein hörte in ein Album des
Tenorsaxofonisten Harry Allen – und war begeistert.
Beim nächsten Auftritt der Joyce-Band in New York wurde deshalb ein
Aufnahmetermin mit dem us-amerikanischen Jazzer perfekt gemacht. Mit dabei
Stroeters brasilianische Kollegen aus der Band von Joyce: Helio Alves am Klavier
und der legendäre Bossa-Nova-Schlagezuger Tony Moreno.
Die Brasilianer und Harry Allen verstanden sich auf Anhieb so gut, dass alle 11
Tracks des Albums “Something About Jobim” in einem oder zwei Takes
entstanden sind. „Meist waren es sogar first takes“, sagt Rudolfo Stroeter.
2) Tema Jazz
Komponist: Antonio Carlos Jobim
Interpret: Harry Allen
Label: Stunt STUCD 15122
CD: Something About Jobim
Track 11, 5:06
“Tema Jazz” der brasilianische Bassist Rudolfo Stroeter und der us-amerikanische
Tenorsaxofonist Harry Allen interpretierten die Komposition von Antonio Carlos
Jobim.
Wir bleiben bei einem Tenorsaxofonisten, gehen aber nach Argentinien. Sein
größter kommerzieller Erfolg war die Filmmusik zu Bernardo Bertuluccis Streifen
“Der Letzte Tango in Paris”, dem Erotik-Drama mit Marlon Brando von 1972. Aber
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auf das Etikett des “Tango Jazzers” hat sich der 1932 in Rosario geborene Gato
Barbieri nie festlegen lassen.
Am 2. April ist er im Alter von 83 Jahren gestorben. Ende der 1960er Jahre war er
eine Kraftquelle der New Yorker Avantgarde-Szene, spielte in den Free JazzBands von Don Cherry und Michael Mantler. Wenig später verließ er die totale
Abstraktion und wandte sich den Wurzeln der Musik Südamerikas zu. Barbieri
entwickelte – damals ein Novum – einen südamerikanisch inspirierten World Jazz.
Der Saxofonist plädierte für eine pan-lateinamerikanische Improvisationsmusik, in
der die ganze kulturelle Vielfalt Süd- und Mittelamerikas mitschwingt:
Bolivianisches, Brasilianisches, Argentinisches, Peruanisches und vieles andere.
Mit seinem hoch-emotionalen, rauen Saxofon-Sound, den er bis in höchste
Höhen überblasen konnte, wurde er zum leidenschaftlichen Anwalt der
südamerikanischen Jazz-Emanzipation.
Seine Botschaft: Lateinamerikanische Sounds sind hier nicht mehr exotisches,
folkloristisches Kolorit. Die Sounds der sogenannten „Dritten Welt“ haben vielmehr
das Zeug dazu, die Jazzmoderne als gleichwertige Stimmen mitzuprägen.
“Was für eine Musik spielst Du?“, wurde Barbieri einmal gefragt.“Latin? Oder
Jazz?“ Antwort Gato Barbieri: “Sowohl das eine wie das andere. Aber
hauptsächlich spiele ich meine eigene Geschichte.”
3) Bolivia
Komponist: Gato Barbieri
Interpret: Gato Barbieri
Label: BMG RCA 74321221052
CD: Bolivia
Track 3, 7:43
“Bolivia”, Gato Barbieri mit dem Titelstück seines Albums von 1973 aufgenommen
Albums übersetzte der argentinische Saxofonist die Sounds der Anden in seine
eigene Jazzsprache.
Was die Fusion lateinamerikanischer Sounds mit modernem Jazz angeht war
Barberi damals fast ganz allein. Heute ist Lateinamerika längst in den großen JazzMetropolen der Welt angekommen. Das beweist zum Beispiel die nächste
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Musikerin: Camila Meza stammt aus Santiago de Chile, seit 2009 lebt die Chilenin
in New York und bereichert dort mit ihren Sounds die Bands von Pianisten wie
Fabian Almazan und Aaron Goldberg.
Sie ist Sängerin und Gitarristin und ist in beiden Disziplinen improvisatorisch so
flexibel und einfallsreich unterwegs, dass sie ihre Gesangslinien immer wieder mit
Unisono dazu gespielten eigenen Gitarrenlinien verdoppelt. Nicht neu diese
Technik, man denke nur an George Benson, aber wie Camila Meza sie einsetzt,
das ist trotzdem sehr farbenreich und hochindividuell.
“Traces” heißt Mezas viertes Album unter eigenem Namen. Aufgenommen hat
sie es mit dem israelischen Pianisten Shai Maestro, dem Bassisten Matt Pennman
und dem Schlagzeuger Kendrick Scott.
Das nächste Stück, “Para Volar”, ist eine Eigenkomposition von Camila Meza mit
spanischem Text. Es geht darin um den Versuch, einem verletzten Vogel wieder
das Fliegen zu ermöglichen. In der Story klappt das letztendlich nicht, aber die
Hoffnung bleibt, und der Traum vom Fliegen kommt in der Musik bis zum
Schlusston voll zur Geltung.
4) Para Volar
Komponist: Camila Meza
Interpret: Camila Meza
Label: Sunnyside SSC 1439
CD: Traces
Track 1,5:11
“Para Volar”. Die chilenische Sängerin und Gitarristin Camila Meza mit einer
Kostprobe aus ihrer brandneuen CD “Traces”.
“Tocororo” nennt der in den USA lebende kubanische Jazzpianist Alfredo
Rodriguez sein zweites Album unter eigenem Namen. Der “Tocororo” ist Kubas
Nationalvogel, ein Vogel, der nur auf dieser Insel beheimatet ist und der mit
seinem blau-rot-weißen Gefieder genau dieselben Farben hat wie die Flagge
Kubas.
„Tocororo“, schwer in Käfigen zu halten ist dieser Vogel, in Gefangenschaft stirbt
er meist – Symbol der Freiheitsliebe der kubanischen Menschen.
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Für Alfredo Rodriguez ist der Tocororo aber auch ein Symbol für musikalische
Offenheit. Vier Klassiker der kubanischen Musik und vier Eigenkompositionen
interpretiert der 30jährige Pianist auf seinem neuen, von niemand Geringerem als
Quincy Jones produzierten Album.
Betont kosmopolitisch ist die Auswahl der Gastmusiker: Der Flamenco-Sänger
Antonio Lizana aus Spanien ist mit dabei, was noch am naheliegendsten ist, aber
auch die indische Vokalistin Ganavya Doraiswamy taucht in Rodriguez„
kubanisch gefärbte Jazzwelt ein, der Oriental-Jazz-Trompeter aus dem Libanon
Ibrahim Maalouf und im Stück, das wir gleich hören, der Kameruner Elektrobassist
und Vokalist Richard Bona.
Schade nur, dass sich Rodriguez auf dieser CD meist in seinen filigranen
detailverliebten Arrangements verzettelt und darüber das Improvisieren fast
vergisst. Man hätte gerne mehr über die Spontanqualitäten dieses wunderbaren
Pianisten erfahren.
5) Ay, Mama Ines
Komponist: Eliseo Grenet
Interpret: Alfredo Rodriguez
Label: Mack Avenue MAC1109
CD: Tocororo
Track 7, 3:14
Der kubanische Pianist Alfredo Rodriguez und der Kameruner Sänger und ElektroBassist Richard Bona mit „Ay, Mama Ines“.
Aufgewachsen ist der israelische Kontrabassist Omer Avital in einem kleinen Dorf
nahe von Tel Aviv. Seine Eltern kamen als jüdisch-arabische Immigranten nach
Israel, die Mutter stammt aus Jemen, der Vater aus Marokko.
Mit 20 quittierte Omer Avital den von ihm als rassistisch empfundenen Militärdienst
und ging nach New York, wo er seitdem im Umfeld der Musiker des Jazzclubs
„Smalls“ kräftig mitmischt.
„Jazz ist meine Heimat. Diese Musik ist ein kultureller Raum, in dem Platz für jeden
Menschen ist. Und im Jazz habe ich die Möglichkeiten, meinen eigenen
kulturellen Wurzeln nachzuspüren“, sagt Avital.
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In Israel hatte er zunächst eine europäische, klassische Ausbildung gehabt,
Erfahrungen die er nicht missen möchte und die für ihn von unschätzbarem Wert
sind. Aber erst im Jazz habe er den Raum gefunden, um Kontakt zu seinen
marokkanischen und jemenitischen Wurzeln aufzunehmen. „Abutbul Music“
nennt Avital seine Musik. „Abutbul“ war sein ursprünglicher Familienname, was
locker übersetzt so viel heißt wie „Vater der Trommeln“.
Und tatsächlich geht es Omer Avital in seinen modernistisch gefärbten Fusionen
von arabischen, nordafrikanischen und hebräischen Musikstilen um eine
besondere rhythmische Energie. Avital spielt wie ein Charles Mingus des Mittleren
Ostens: mit kraftvoll von der Basis her dirigierenden Basslinien, die viel Wert legen
auf die Verführungskunst von Melodien und den Sog der tänzerischen,
tranceartigen Grooves aus Marokko, Jemen und Israel.
6) Afrik
Komponist: Omer Avital
Interpret: Omer Avital
Label: Jazz Village JV 9570114
CD: Abutbul Music
Track 3, 8:10
Der in New York lebende israelische Kontrabassist mit arabischen Wurzeln Omer
Avital. Seine Band spielte “Afrik”, einen Ausschnitt aus seinem gerade erschienen
Album „Abutbul Music”.
Da hat der kubanische Pianist Manuel Valera die Welt gerade noch mit einem
akustischen Solo-Album überrascht, und schon biegt er scharf links ab und legt
mit einem elektronischen Jazz-Rock-Album nach. Eingespielt hat er seine aktuelle
CD „Urban Landscape” auf Synthesizern aus der Flohmarktkiste des analogen
Elektronik-Zeitalters. Umgeben von Musikern, denen man New Yorker GrooveKompetenz in jeder Sekunde anhört: Nir Felder, Gitarre, John Ellis Tenorsaxofon,
John Benitez, Elektro-Bass und Kendrick Scott, Schlagzeug. „Urban Landscape“ ist
ein Album, an dem Fans der Fusion-Musik viel Freude haben werden.
In dem Stück “Gliding” allerdings erholen sich Valera und seine Band von ihren
zauberhaften funkigen musikalischen Taschenspieler-Tricks und outen sich als
Balladen-Ensemble. Mit dabei an der chromatischen Mundharmonika: Gregoire
Maret, Sohn eines Schweizers und einer aus Harlem stammenden Afro-
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Amerikanerin. Und mit seinem Solo am Schluss des Stückes beweist Gregoire
Maret, warum Herbie Hancock und George Benson ihn unbedingt in ihren Bands
haben wollen.
7) Gliding
Komponist: Manuel Valera
Interpret: Manuel Valera
Label: Destiny Records EAN 0798576809928
CD: Urban Landscapes
Track
Gregoire Maret. Der Midas der chromatischen Mundharmonika. An seinen
Lippen verwandelt sich der silberne Metallriegel in musikalisches Gold. Wir hörten
Maret in der Band des kubanischen Keyboarders Manuel Valera.
Es gibt offensichtlich nur ganz wenige Berührungspunkte zwischen der
skandinavischen und der afro-kubanischen Musik. Trotzdem arbeiten eine
norwegische Sängerin und ein afro-kubanischer Pianist erfolgreich zusammen.
Kennengelernt haben sich Grete Skarpeid und Aruan Ortiz am Rande eines
norwegischen Jazzfestivals. Dann lud der in New York lebende Kubaner die
europäische Vokalistin in den Big Apple ein, arbeitete mit ihr und arrangierte für
sie gleich auch noch ihr Debut-Album, es trägt den schlichten Titel “My Songs”.
Was den Kompositionen von Grete Skarpeid hörbar gut tut, ihnen eine zusätzliche
Dimension gibt. Denn Aruan Ortiz unterfüttert den von Singer-Songwritern
inspirierten Gesang der Norwegerin mit Rhythmen und Grooves, die spürbar von
der traditionellen Musik Kubas aus Santeria und Guaguanco herkommen. Und so
entsteht eine ebenso seltene wie einmalige Vision eines Afro-Cuban Nordic Jazz.
Wir hören jetzt den Track „Moving On“.
Und damit geht die SWR2 Musikstunde und Jazz across the border zuende. Ich
wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Vielen Dank für Interesse sagt Günther
Huesmann.
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8) Moving On
Komponist: Grete Skarpeid/arr. Aruan Ortiz
Interpret: Grete Skarpeid feat. Aruan Ortiz
Label: Neuklang NCD 4144
CD: My Songs
Track 2, 4:45