SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Jazz across the border (5/ 16) Von Günther Huesmann Sendung: Redaktion: Samstag, 07. Mai 2016 9.05 – 10.00 Uhr Martin Roth Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 SWR2 Musikstunde: Jazz across the border SWR2, 07. Mai 2016 09-05-10.00 Uhr Manuskript: Günther Huesmann Redaktion: Martin Roth Mit Günther Huesmann, guten Morgen! Willkommen zu Jazz across the border. Heute mit lateinamerikanischen Sounds von Gato Barbieri, Manuel Valera, Aruan Ortiz und Alfredo Rodriguez. Außerdem machen wir einen Abstecher in den Nahen Osten, wo der israelische Bassist Omer Avital Brücken zur Musik Marokkos und Jemens schlägt. Unsere Reise durch die aktuelle Szene des World Jazz beginnt aber in New Orleans. Signet SWR2 Musikstunde „Black Atlantic“ nennt Paul Gilroy in einem Essay die durch die afrikanische Diaspora entstandenen hybriden Musikstile. Ein ganz zentraler Ort für diese Vermischung unterschiedlicher Stile war die Stadt am Mississippi, New Orleans. Für Millionen durch die Sklaverei von Afrika nach Amerika verschleppter Menschen wurde die Musik zu einer Kraft des Überlebenswillens und des Widerstandes. Zum Triumph der Seele über das Unglück, und zu einer Heimat. „Musik is My Home – Act One“ heißt die nächste CD. Für dieses Album haben sich die aus Elfenbeinküste stammende und in Frankreich lebende Schlagzeugerin Anne Paceo und der französische Saxofonist Phillipe Imbert auf den Weg gemacht und haben mit Spielern aus dem kulturellen Schmelztiegel New Orleans zusammengearbeitet. Gemeinsam feiern sie mit überschwänglicher Energie Blues, Cajun, Zydeco und Mardi Gras aus einer aufgeklärten Jazzperspektive. 1) MLK Blues Komponist: Raphael Imbert Interpret: Raphael Imbert & Co Label: Jazz Village JV 570090 CD: Music Is My Home Act 1 Track 1, 4:05 3 Der “MLK Blues”, der Saxofonist Phillipe Imbert und die afro-französische Schlagzeugerin Anne Paceo im Ausstausch mit Musikern aus New Orleans. Rudolfo Stroeter ist so etwas wie der Bass-Anker der Jazzszene von Sao Paolo, ein wichtiger Netzwerker. Anfang 2015 tourte er mit der Band der Sängerin Joyce durch Europa. Die letzten drei Tage verbrachte man in Kopenhagen. Es regnete unterbrochen. Der dänische Freund, den Stroeter besuchte, war im Arbeitsstress, hatte außer einer schnellen Umarmung nur wenig Zeit für Stroeter. Immerhin drückte er dem Bassisten sechs CDs der dänischen Plattenfirma Stunt in die Hand. Die hatte Stroeter schon längst vergessen, als er zurück in Brasilien ankam. Erst beim Öffnen des Tourkoffers kamen sie ihm wieder in den Sinn. Aber selbst dann dauerte es noch Wochen bis Stroeter hinein hörte in ein Album des Tenorsaxofonisten Harry Allen – und war begeistert. Beim nächsten Auftritt der Joyce-Band in New York wurde deshalb ein Aufnahmetermin mit dem us-amerikanischen Jazzer perfekt gemacht. Mit dabei Stroeters brasilianische Kollegen aus der Band von Joyce: Helio Alves am Klavier und der legendäre Bossa-Nova-Schlagezuger Tony Moreno. Die Brasilianer und Harry Allen verstanden sich auf Anhieb so gut, dass alle 11 Tracks des Albums “Something About Jobim” in einem oder zwei Takes entstanden sind. „Meist waren es sogar first takes“, sagt Rudolfo Stroeter. 2) Tema Jazz Komponist: Antonio Carlos Jobim Interpret: Harry Allen Label: Stunt STUCD 15122 CD: Something About Jobim Track 11, 5:06 “Tema Jazz” der brasilianische Bassist Rudolfo Stroeter und der us-amerikanische Tenorsaxofonist Harry Allen interpretierten die Komposition von Antonio Carlos Jobim. Wir bleiben bei einem Tenorsaxofonisten, gehen aber nach Argentinien. Sein größter kommerzieller Erfolg war die Filmmusik zu Bernardo Bertuluccis Streifen “Der Letzte Tango in Paris”, dem Erotik-Drama mit Marlon Brando von 1972. Aber 4 auf das Etikett des “Tango Jazzers” hat sich der 1932 in Rosario geborene Gato Barbieri nie festlegen lassen. Am 2. April ist er im Alter von 83 Jahren gestorben. Ende der 1960er Jahre war er eine Kraftquelle der New Yorker Avantgarde-Szene, spielte in den Free JazzBands von Don Cherry und Michael Mantler. Wenig später verließ er die totale Abstraktion und wandte sich den Wurzeln der Musik Südamerikas zu. Barbieri entwickelte – damals ein Novum – einen südamerikanisch inspirierten World Jazz. Der Saxofonist plädierte für eine pan-lateinamerikanische Improvisationsmusik, in der die ganze kulturelle Vielfalt Süd- und Mittelamerikas mitschwingt: Bolivianisches, Brasilianisches, Argentinisches, Peruanisches und vieles andere. Mit seinem hoch-emotionalen, rauen Saxofon-Sound, den er bis in höchste Höhen überblasen konnte, wurde er zum leidenschaftlichen Anwalt der südamerikanischen Jazz-Emanzipation. Seine Botschaft: Lateinamerikanische Sounds sind hier nicht mehr exotisches, folkloristisches Kolorit. Die Sounds der sogenannten „Dritten Welt“ haben vielmehr das Zeug dazu, die Jazzmoderne als gleichwertige Stimmen mitzuprägen. “Was für eine Musik spielst Du?“, wurde Barbieri einmal gefragt.“Latin? Oder Jazz?“ Antwort Gato Barbieri: “Sowohl das eine wie das andere. Aber hauptsächlich spiele ich meine eigene Geschichte.” 3) Bolivia Komponist: Gato Barbieri Interpret: Gato Barbieri Label: BMG RCA 74321221052 CD: Bolivia Track 3, 7:43 “Bolivia”, Gato Barbieri mit dem Titelstück seines Albums von 1973 aufgenommen Albums übersetzte der argentinische Saxofonist die Sounds der Anden in seine eigene Jazzsprache. Was die Fusion lateinamerikanischer Sounds mit modernem Jazz angeht war Barberi damals fast ganz allein. Heute ist Lateinamerika längst in den großen JazzMetropolen der Welt angekommen. Das beweist zum Beispiel die nächste 5 Musikerin: Camila Meza stammt aus Santiago de Chile, seit 2009 lebt die Chilenin in New York und bereichert dort mit ihren Sounds die Bands von Pianisten wie Fabian Almazan und Aaron Goldberg. Sie ist Sängerin und Gitarristin und ist in beiden Disziplinen improvisatorisch so flexibel und einfallsreich unterwegs, dass sie ihre Gesangslinien immer wieder mit Unisono dazu gespielten eigenen Gitarrenlinien verdoppelt. Nicht neu diese Technik, man denke nur an George Benson, aber wie Camila Meza sie einsetzt, das ist trotzdem sehr farbenreich und hochindividuell. “Traces” heißt Mezas viertes Album unter eigenem Namen. Aufgenommen hat sie es mit dem israelischen Pianisten Shai Maestro, dem Bassisten Matt Pennman und dem Schlagzeuger Kendrick Scott. Das nächste Stück, “Para Volar”, ist eine Eigenkomposition von Camila Meza mit spanischem Text. Es geht darin um den Versuch, einem verletzten Vogel wieder das Fliegen zu ermöglichen. In der Story klappt das letztendlich nicht, aber die Hoffnung bleibt, und der Traum vom Fliegen kommt in der Musik bis zum Schlusston voll zur Geltung. 4) Para Volar Komponist: Camila Meza Interpret: Camila Meza Label: Sunnyside SSC 1439 CD: Traces Track 1,5:11 “Para Volar”. Die chilenische Sängerin und Gitarristin Camila Meza mit einer Kostprobe aus ihrer brandneuen CD “Traces”. “Tocororo” nennt der in den USA lebende kubanische Jazzpianist Alfredo Rodriguez sein zweites Album unter eigenem Namen. Der “Tocororo” ist Kubas Nationalvogel, ein Vogel, der nur auf dieser Insel beheimatet ist und der mit seinem blau-rot-weißen Gefieder genau dieselben Farben hat wie die Flagge Kubas. „Tocororo“, schwer in Käfigen zu halten ist dieser Vogel, in Gefangenschaft stirbt er meist – Symbol der Freiheitsliebe der kubanischen Menschen. 6 Für Alfredo Rodriguez ist der Tocororo aber auch ein Symbol für musikalische Offenheit. Vier Klassiker der kubanischen Musik und vier Eigenkompositionen interpretiert der 30jährige Pianist auf seinem neuen, von niemand Geringerem als Quincy Jones produzierten Album. Betont kosmopolitisch ist die Auswahl der Gastmusiker: Der Flamenco-Sänger Antonio Lizana aus Spanien ist mit dabei, was noch am naheliegendsten ist, aber auch die indische Vokalistin Ganavya Doraiswamy taucht in Rodriguez„ kubanisch gefärbte Jazzwelt ein, der Oriental-Jazz-Trompeter aus dem Libanon Ibrahim Maalouf und im Stück, das wir gleich hören, der Kameruner Elektrobassist und Vokalist Richard Bona. Schade nur, dass sich Rodriguez auf dieser CD meist in seinen filigranen detailverliebten Arrangements verzettelt und darüber das Improvisieren fast vergisst. Man hätte gerne mehr über die Spontanqualitäten dieses wunderbaren Pianisten erfahren. 5) Ay, Mama Ines Komponist: Eliseo Grenet Interpret: Alfredo Rodriguez Label: Mack Avenue MAC1109 CD: Tocororo Track 7, 3:14 Der kubanische Pianist Alfredo Rodriguez und der Kameruner Sänger und ElektroBassist Richard Bona mit „Ay, Mama Ines“. Aufgewachsen ist der israelische Kontrabassist Omer Avital in einem kleinen Dorf nahe von Tel Aviv. Seine Eltern kamen als jüdisch-arabische Immigranten nach Israel, die Mutter stammt aus Jemen, der Vater aus Marokko. Mit 20 quittierte Omer Avital den von ihm als rassistisch empfundenen Militärdienst und ging nach New York, wo er seitdem im Umfeld der Musiker des Jazzclubs „Smalls“ kräftig mitmischt. „Jazz ist meine Heimat. Diese Musik ist ein kultureller Raum, in dem Platz für jeden Menschen ist. Und im Jazz habe ich die Möglichkeiten, meinen eigenen kulturellen Wurzeln nachzuspüren“, sagt Avital. 7 In Israel hatte er zunächst eine europäische, klassische Ausbildung gehabt, Erfahrungen die er nicht missen möchte und die für ihn von unschätzbarem Wert sind. Aber erst im Jazz habe er den Raum gefunden, um Kontakt zu seinen marokkanischen und jemenitischen Wurzeln aufzunehmen. „Abutbul Music“ nennt Avital seine Musik. „Abutbul“ war sein ursprünglicher Familienname, was locker übersetzt so viel heißt wie „Vater der Trommeln“. Und tatsächlich geht es Omer Avital in seinen modernistisch gefärbten Fusionen von arabischen, nordafrikanischen und hebräischen Musikstilen um eine besondere rhythmische Energie. Avital spielt wie ein Charles Mingus des Mittleren Ostens: mit kraftvoll von der Basis her dirigierenden Basslinien, die viel Wert legen auf die Verführungskunst von Melodien und den Sog der tänzerischen, tranceartigen Grooves aus Marokko, Jemen und Israel. 6) Afrik Komponist: Omer Avital Interpret: Omer Avital Label: Jazz Village JV 9570114 CD: Abutbul Music Track 3, 8:10 Der in New York lebende israelische Kontrabassist mit arabischen Wurzeln Omer Avital. Seine Band spielte “Afrik”, einen Ausschnitt aus seinem gerade erschienen Album „Abutbul Music”. Da hat der kubanische Pianist Manuel Valera die Welt gerade noch mit einem akustischen Solo-Album überrascht, und schon biegt er scharf links ab und legt mit einem elektronischen Jazz-Rock-Album nach. Eingespielt hat er seine aktuelle CD „Urban Landscape” auf Synthesizern aus der Flohmarktkiste des analogen Elektronik-Zeitalters. Umgeben von Musikern, denen man New Yorker GrooveKompetenz in jeder Sekunde anhört: Nir Felder, Gitarre, John Ellis Tenorsaxofon, John Benitez, Elektro-Bass und Kendrick Scott, Schlagzeug. „Urban Landscape“ ist ein Album, an dem Fans der Fusion-Musik viel Freude haben werden. In dem Stück “Gliding” allerdings erholen sich Valera und seine Band von ihren zauberhaften funkigen musikalischen Taschenspieler-Tricks und outen sich als Balladen-Ensemble. Mit dabei an der chromatischen Mundharmonika: Gregoire Maret, Sohn eines Schweizers und einer aus Harlem stammenden Afro- 8 Amerikanerin. Und mit seinem Solo am Schluss des Stückes beweist Gregoire Maret, warum Herbie Hancock und George Benson ihn unbedingt in ihren Bands haben wollen. 7) Gliding Komponist: Manuel Valera Interpret: Manuel Valera Label: Destiny Records EAN 0798576809928 CD: Urban Landscapes Track Gregoire Maret. Der Midas der chromatischen Mundharmonika. An seinen Lippen verwandelt sich der silberne Metallriegel in musikalisches Gold. Wir hörten Maret in der Band des kubanischen Keyboarders Manuel Valera. Es gibt offensichtlich nur ganz wenige Berührungspunkte zwischen der skandinavischen und der afro-kubanischen Musik. Trotzdem arbeiten eine norwegische Sängerin und ein afro-kubanischer Pianist erfolgreich zusammen. Kennengelernt haben sich Grete Skarpeid und Aruan Ortiz am Rande eines norwegischen Jazzfestivals. Dann lud der in New York lebende Kubaner die europäische Vokalistin in den Big Apple ein, arbeitete mit ihr und arrangierte für sie gleich auch noch ihr Debut-Album, es trägt den schlichten Titel “My Songs”. Was den Kompositionen von Grete Skarpeid hörbar gut tut, ihnen eine zusätzliche Dimension gibt. Denn Aruan Ortiz unterfüttert den von Singer-Songwritern inspirierten Gesang der Norwegerin mit Rhythmen und Grooves, die spürbar von der traditionellen Musik Kubas aus Santeria und Guaguanco herkommen. Und so entsteht eine ebenso seltene wie einmalige Vision eines Afro-Cuban Nordic Jazz. Wir hören jetzt den Track „Moving On“. Und damit geht die SWR2 Musikstunde und Jazz across the border zuende. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Vielen Dank für Interesse sagt Günther Huesmann. 9 8) Moving On Komponist: Grete Skarpeid/arr. Aruan Ortiz Interpret: Grete Skarpeid feat. Aruan Ortiz Label: Neuklang NCD 4144 CD: My Songs Track 2, 4:45
© Copyright 2024 ExpyDoc