T I T E L: N AT O VOR DE M GIPF E L Foto: xxxxx 18 Auch bei den Veranstaltungen des BundeswehrVerbands ist Hans-Dieter Lucas bisweilen zu Gast, hier bei den vom DBwV-Bildungswerk ausgerichteten Petersberger Gesprächen. Anpassung heißt nicht, alles über Bord zu werfen Die Allianz hat sich als Pfeiler einer europäischen Stabilitätsordnung bewährt. Sie ist ein einzigartiges Forum des transatlantischen Zusammenhalts. Und angesichts der Vielzahl und der Heftigkeit der weltweiten Krisen ist dieser Zusammenhalt heute wichtiger denn je. AUßENMINISTER FRANK-WALTER STEINMEIER ZUM 60. JAHRESTAG DES BEITRITTS DEUTSCHLANDS ZUR NATO W Von Hans-Dieter Lucas Wenige Monate vor dem Warschauer Gipfel steht die Nato vor einer in ihrer Geschichte neuartigen, doppelten strategischen Herausforderung: Diese umfasst zum einen im Osten den Konflikt in der Ostukraine, zum anderen vielfältige Sicherheitsbedrohungen an der südlichen Peripherie des Bündnisses: Afghanistan, Syrien, Irak, das nördliche Afrika, insbesondere Libyen, sowie die Bedrohung durch den sogenannten „Islamischen Staat“. Hinzu kommen Sicherheitsherausforderungen in der weiteren Nachbarschaft, wie in der Sahel-Zone, am Horn von Afrika oder im Jemen, sowie transnationale Bedrohungen: Cybersicherheit und – die Attentate von Paris, Istanbul und zuletzt Brüssel haben dies schmerzlich und dramatisch gezeigt – internationaler Terrorismus. Nicht in all diesen Feldern ist die Nato gleichermaßen engagiert. Aber die Bündnispartner sind von diesen Bedrohungen in der einen oder an- DIE BUNDESWEHR | MAI 2016 deren Weise betroffen und werden sich dazu in Warschau positionieren müssen. Von Wales nach Warschau Der Nato-Gipfel von Wales brachte, ausgelöst durch das aggressive Vorgehen Russlands gegenüber der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, eine Rückbesinnung des Bündnisses auf kollektive Verteidigung als Kernaufgabe. Wales markierte eine strategische Neuausrichtung; dieser Prozess ist jedoch angesichts des sich weiter rasch verändernden Sicherheits-Umfelds noch nicht abgeschlossen. In Warschau werden schwierige Fragen zu beantworten sein: Reichen die Fähigkeiten der Nato zur Abschreckung aus? Wie geht es weiter mit ihrem Verhältnis zu Russland? Welchen Beitrag kann die Nato leisten, um Herausforderungen an der südlichen Peripherie zu bewältigen? Wie stellt sie sich auf neue Themen wie hybride Bedrohungen und Gefahren aus dem Cyberraum ein? Auch wenn bis zum Gipfel noch viel Arbeit vor uns liegt, so ist jetzt schon absehbar, dass drei Aspekte für Warschau prägend sein werden: Erstens, Geschlossenheit der Allianz als Grundvoraussetzung, um ihre Wirksamkeit zu wahren; zweitens, volle Umsetzung der Wales-Beschlüsse; und drittens, Anpassung an neue Herausforderungen, um Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Nato auch in Zukunft zu sichern. Die Herausforderungen im Osten Die Nato hat auf die Infragestellung der europäischen Ordnung durch Russland geschlossen und entschlossen reagiert. Insbesondere das in Wales beschlossene Sofortprogramm zur Erhöhung der Reaktionsfähigkeit, der „Readiness Action Plan“ (RAP), ist mit einer deutlichen Botschaft verbunden: Die Sicherheit der Bündnisverteidigung ist unteilbar. Wir stehen füreinander ein. Bei der Umsetzung des RAP haben wir seit Wales große Fortschritte gemacht. Deutschland leistet dazu einen wesentlichen Beitrag: durch unsere gemeinsam mit den Niederlanden und Norwegen übernommene „Pionierrolle“ bei der Aufstellung der neuen Schnellen Eingreiftruppe (VJTF), durch unsere rotierenden Übungs-Beiträge und Präsenzen zu Wasser, zu Land und zu Luft im östlichen Bündnisgebiet, durch die Aufwertung des Multinationalen Korps-Hauptquartiers Nordost in Stettin zur Drehscheibe für alle Artikel-5-bezogenen Aktivitäten des Bündnisses im Baltikum und in Polen. Hinzu kommt die deutsche Initiative des „Rahmennationenkonzepts“, das wir im Rahmen des Bündnisses mit 16 Nationen zur Ent- 19 Foto: dpa T I T E L: N AT O VOR DE M GIPF E L Nur gemeinsam können Nato und EU wirksame Antworten auf das gesamte Spektrum der Bedrohungen geben. HANS -DIETER LUCAS wicklung von Fähigkeits-Clustern vorantreiben – ein weiterer substantieller Beitrag zur Stärkung europäischer Fähigkeiten und dadurch auch zur transatlantischen Lastenteilung. In Warschau wird zu entscheiden sein, welche weiteren Konsequenzen die Nato aus dem russischen Verhalten ziehen muss. Im Grunde besteht Einvernehmen, dass die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten gestärkt werden müssen, denn neben dem Ukraine-Konflikt geben nicht zuletzt die großangelegten, nicht angekündigten Manöver („snap exercises“), eine problematische nukleare Rhetorik und Russlands aufwachsende Fähigkeiten, Luft- und Seeräume zu beherrschen und so der Nato Zugänge zu verwehren (sogenannte anti-access/area denial – A2AD), Anlass zur Sorge. Hierauf wird die Nato eine Antwort finden müssen, die glaubwürdige Abschreckung sicherstellt, zugleich aber im Einklang steht mit dem defensiven Charakter der Allianz. Dabei erwarten unsere Bündnispartner, dass Deutschland entsprechend seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht zu allen fünf Kernelementen künftiger Bündnisverteidigung substantiell beiträgt: VJTF, Enhanced Nato Response Force, Enhanced Forward Presence in Nordosteuropa, Verstärkungskräfte und Host Nation Support. Freilich kann die Frage nach dem Umgang mit Russland nicht allein militärisch beantwortet werden. Seit dem sogenannten Harmel-Bericht des Bündnisses von 1967 gehört der Doppelansatz von Abschreckung und Verteidigung einerseits, Entspannungspolitik und Dialog andererseits zum Selbstverständnis der Allianz. Das erfordert, Kommunikationskanäle mit Moskau zu nutzen. Dazu zählt der Austausch im Nato-Russland-Rat, für dessen Nutzung auch in schwierigen Zeiten Deutschland sich immer wieder eingesetzt hat. Komplexe Sicherheitslage im Süden Die Lage im Süden stellt sich heute noch dramatischer als vor zwei Jahren in Wales dar. Nicht nur die Flüchtlingskrise führt uns dies jeden Tag überdeutlich vor Augen. Im Süden steht die Allianz Bedrohungen gegenüber, die mehr von nichtstaatlichen als von staatlichen Akteuren ausgehen. Ihre Ursachen – zerfallende Staatsstrukturen, Terrorismus, Fundamentalismus – sind besonders komplex und vielgestaltig. Der traditionelle „Werkzeugkasten“ der Nato passt nur teilweise auf diese Herausforderungen. Dennoch ist die Nato als zentrale Sicherheitsor- Wenigstens sprechen sie wieder miteinander: Der russische Nato-Botschafter Alexander Grushko stellt sich der Presse nach dem Treffen am 20. April mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. ganisation gefordert, sinnvolle Beiträge zu mehr Sicherheit auch an der südlichen Peripherie zu leisten. Welche Möglichkeiten bestehen und welche Grenzen sich hier für die Nato stellen, wird derzeit intensiv diskutiert. Unbestritten ist, dass der RAP gleichermaßen für den Süden gilt. Zum Beitrag der Allianz im Süden zählt ebenfalls die von den Verteidigungsministern im Februar getroffene Entscheidung, die Maritime Einsatzgruppe in der Ägäis einzusetzen. Durch Übermittlung von Informationen an die türkische und griechische Küstenwache sowie an die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX sollen kriminelle Netzwerke des illegalen Menschenschmuggels bekämpft werden. Letztlich sind die Probleme des Südens nur in einem umfassenden Ansatz in den Griff zu bekommen. Deshalb verdient die Partnerschaftspolitik der Nato als Teil der kooperativen Sicherheit besondere Aufmerksamkeit. Konkret geht es dabei neben politischem Dialog auch um die Unterstützung von Ländern beim Kapazitätenaufbau im Verteidigungs- und Sicherheitssektor oder bei der Ausbildung, sofern sie dies wünschen und eine solche Unterstützung in die politische Landschaft passt. Die Nato wird dabei umso wirksamer agieren können, je besser und enger sie mit anderen wichtigen Akteuren, vor allem EU und Vereinte Nationen, zusammenarbeitet. Die Debatte um „hybride“ Bedrohung und Kriegsführung zeigt, dass die strikte Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Sicherheitsgefahren immer weniger passt. Nur gemeinsam können Nato und EU wirksame Antworten auf das gesamte Spektrum der Bedrohungen geben. Deshalb sollte der Warschau-Gipfel Fortschritte bei der Nato-EU-Kooperation auf den Weg bringen. Die erneute Schwerpunktsetzung auf kollektive Verteidigung macht Krisenmanagement als eine der Kernaufgaben der Nato nicht obsolet. Das zeigt sich in Afghanistan, wo die Allianz auch in Zukunft gefordert sein wird. Die Ereignisse in Kundus im vergangenen Jahr haben deutlich gemacht, wie fragil Sicherheit und Entwicklung dort noch sind. Deshalb wird der Warschau-Gipfel über die künftige Unterstützung der Nato für Afghanistan zu entscheiden haben, einschließlich der finanziellen Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte. Langfristige Anpassung In Warschau wird es schließlich ebenso darum gehen, die Allianz im Rahmen eines langfristigen Anpassungsprozesses auf kommende strategische Herausforderungen vorzubereiten und ihre Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Das verlangt auch, das Bündnis personell, materiell und finanziell so auszustatten, dass es seinen Aufgaben gerecht werden kann. In Wales haben die Alliierten ihre Absicht erklärt, zwei Prozent des BIP für den Verteidigungshaushalt und 20 Prozent davon in Zukunftsinvestitionen aufzuwenden sowie den „Output“ für die Nato zu steigern. Von der Zwei-Prozent-Absichtserklärung ist Deutschland zwar noch weit entfernt. Da wir aber fast unsere gesamte Bundeswehr in die Allianz einbringen, steht Deutschland beim „Output“-Kriterium im Vergleich mit anderen Verbündeten sehr gut da. Bei den Investitionen sind wir ebenfalls auf dem richtigen Weg. Und wir haben beim Verteidigungshaushalt 2016 eine überfällige Trendumkehr vollzogen. Anpassung des Bündnisses heißt nicht, alles über Bord zu werfen. Das Strategische Konzept vom Lissabon-Gipfel 2010 gilt weiterhin. Die darin enthaltenen drei Kernaufgaben der Allianz – kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit – geben uns einen verlässlichen Handlungsrahmen. Wenn es uns gelingt, die drei Kernaufgaben, die regionale Bandbreite und den Doppel-Ansatz im Sinne von Harmel kontinuierlich auszubalancieren, dann haben wir den Rahmen für eine Allianz, die auch zukünftige Herausforderungen geschlossen und effektiv angehen kann. Dr. Hans-Dieter Lucas ist Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Nordatlantikrat Brüssel. DIE BUNDESWEHR | MAI 2016
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