Anpassung heißt nicht, alles über Bord zu werfen

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Auch bei den Veranstaltungen des BundeswehrVerbands ist Hans-Dieter Lucas bisweilen
zu Gast, hier bei den vom DBwV-Bildungswerk
ausgerichteten Petersberger Gesprächen.
Anpassung heißt nicht, alles über
Bord zu werfen
Die Allianz hat sich als Pfeiler einer europäischen
Stabilitätsordnung bewährt. Sie ist ein einzigartiges
Forum des transatlantischen Zusammenhalts. Und
angesichts der Vielzahl und der Heftigkeit der weltweiten
Krisen ist dieser Zusammenhalt heute wichtiger denn je.
AUßENMINISTER FRANK-WALTER STEINMEIER
ZUM 60. JAHRESTAG DES BEITRITTS DEUTSCHLANDS ZUR NATO
W
Von Hans-Dieter Lucas
Wenige Monate vor dem Warschauer Gipfel steht
die Nato vor einer in ihrer Geschichte neuartigen,
doppelten strategischen Herausforderung: Diese
umfasst zum einen im Osten den Konflikt in
der Ostukraine, zum anderen vielfältige Sicherheitsbedrohungen an der südlichen Peripherie
des Bündnisses: Afghanistan, Syrien, Irak, das
nördliche Afrika, insbesondere Libyen, sowie die
Bedrohung durch den sogenannten „Islamischen
Staat“.
Hinzu kommen Sicherheitsherausforderungen in der weiteren Nachbarschaft, wie in der
Sahel-Zone, am Horn von Afrika oder im Jemen,
sowie transnationale Bedrohungen: Cybersicherheit und – die Attentate von Paris, Istanbul und
zuletzt Brüssel haben dies schmerzlich und dramatisch gezeigt – internationaler Terrorismus.
Nicht in all diesen Feldern ist die Nato gleichermaßen engagiert. Aber die Bündnispartner sind
von diesen Bedrohungen in der einen oder an-
DIE BUNDESWEHR | MAI 2016
deren Weise betroffen und werden sich dazu in
Warschau positionieren müssen.
Von Wales nach Warschau
Der Nato-Gipfel von Wales brachte, ausgelöst
durch das aggressive Vorgehen Russlands gegenüber der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, eine Rückbesinnung des Bündnisses auf kollektive Verteidigung als Kernaufgabe.
Wales markierte eine strategische Neuausrichtung; dieser Prozess ist jedoch angesichts des sich
weiter rasch verändernden Sicherheits-Umfelds
noch nicht abgeschlossen. In Warschau werden
schwierige Fragen zu beantworten sein: Reichen
die Fähigkeiten der Nato zur Abschreckung aus?
Wie geht es weiter mit ihrem Verhältnis zu Russland? Welchen Beitrag kann die Nato leisten, um
Herausforderungen an der südlichen Peripherie
zu bewältigen? Wie stellt sie sich auf neue Themen
wie hybride Bedrohungen und Gefahren aus dem
Cyberraum ein?
Auch wenn bis zum Gipfel noch viel Arbeit vor
uns liegt, so ist jetzt schon absehbar, dass drei Aspekte für Warschau prägend sein werden: Erstens,
Geschlossenheit der Allianz als Grundvoraussetzung, um ihre Wirksamkeit zu wahren; zweitens,
volle Umsetzung der Wales-Beschlüsse; und drittens, Anpassung an neue Herausforderungen, um
Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Nato
auch in Zukunft zu sichern.
Die Herausforderungen im Osten
Die Nato hat auf die Infragestellung der europäischen Ordnung durch Russland geschlossen und
entschlossen reagiert. Insbesondere das in Wales
beschlossene Sofortprogramm zur Erhöhung der
Reaktionsfähigkeit, der „Readiness Action Plan“
(RAP), ist mit einer deutlichen Botschaft verbunden: Die Sicherheit der Bündnisverteidigung ist
unteilbar. Wir stehen füreinander ein.
Bei der Umsetzung des RAP haben wir seit Wales große Fortschritte gemacht. Deutschland leistet dazu einen wesentlichen Beitrag: durch unsere
gemeinsam mit den Niederlanden und Norwegen
übernommene „Pionierrolle“ bei der Aufstellung
der neuen Schnellen Eingreiftruppe (VJTF),
durch unsere rotierenden Übungs-Beiträge und
Präsenzen zu Wasser, zu Land und zu Luft im östlichen Bündnisgebiet, durch die Aufwertung des
Multinationalen Korps-Hauptquartiers Nordost
in Stettin zur Drehscheibe für alle Artikel-5-bezogenen Aktivitäten des Bündnisses im Baltikum
und in Polen. Hinzu kommt die deutsche Initiative des „Rahmennationenkonzepts“, das wir im
Rahmen des Bündnisses mit 16 Nationen zur Ent-
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Nur gemeinsam
können Nato und EU
wirksame Antworten auf
das gesamte Spektrum der
Bedrohungen geben.
HANS -DIETER LUCAS
wicklung von Fähigkeits-Clustern vorantreiben
– ein weiterer substantieller Beitrag zur Stärkung
europäischer Fähigkeiten und dadurch auch zur
transatlantischen Lastenteilung.
In Warschau wird zu entscheiden sein, welche
weiteren Konsequenzen die Nato aus dem russischen Verhalten ziehen muss. Im Grunde besteht
Einvernehmen, dass die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten gestärkt werden müssen,
denn neben dem Ukraine-Konflikt geben nicht
zuletzt die großangelegten, nicht angekündigten
Manöver („snap exercises“), eine problematische
nukleare Rhetorik und Russlands aufwachsende
Fähigkeiten, Luft- und Seeräume zu beherrschen
und so der Nato Zugänge zu verwehren (sogenannte
anti-access/area denial – A2AD), Anlass zur Sorge.
Hierauf wird die Nato eine Antwort finden
müssen, die glaubwürdige Abschreckung sicherstellt, zugleich aber im Einklang steht mit dem
defensiven Charakter der Allianz. Dabei erwarten
unsere Bündnispartner, dass Deutschland entsprechend seinem politischen und wirtschaftlichen
Gewicht zu allen fünf Kernelementen künftiger
Bündnisverteidigung substantiell beiträgt: VJTF,
Enhanced Nato Response Force, Enhanced Forward Presence in Nordosteuropa, Verstärkungskräfte und Host Nation Support.
Freilich kann die Frage nach dem Umgang mit
Russland nicht allein militärisch beantwortet werden. Seit dem sogenannten Harmel-Bericht des
Bündnisses von 1967 gehört der Doppelansatz
von Abschreckung und Verteidigung einerseits,
Entspannungspolitik und Dialog andererseits
zum Selbstverständnis der Allianz. Das erfordert,
Kommunikationskanäle mit Moskau zu nutzen.
Dazu zählt der Austausch im Nato-Russland-Rat,
für dessen Nutzung auch in schwierigen Zeiten
Deutschland sich immer wieder eingesetzt hat.
Komplexe Sicherheitslage im Süden
Die Lage im Süden stellt sich heute noch dramatischer als vor zwei Jahren in Wales dar. Nicht nur
die Flüchtlingskrise führt uns dies jeden Tag überdeutlich vor Augen. Im Süden steht die Allianz
Bedrohungen gegenüber, die mehr von nichtstaatlichen als von staatlichen Akteuren ausgehen. Ihre
Ursachen – zerfallende Staatsstrukturen, Terrorismus, Fundamentalismus – sind besonders komplex
und vielgestaltig. Der traditionelle „Werkzeugkasten“ der Nato passt nur teilweise auf diese Herausforderungen.
Dennoch ist die Nato als zentrale Sicherheitsor-
Wenigstens sprechen sie wieder miteinander: Der russische Nato-Botschafter Alexander Grushko stellt
sich der Presse nach dem Treffen am 20. April mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
ganisation gefordert, sinnvolle Beiträge zu mehr
Sicherheit auch an der südlichen Peripherie zu leisten. Welche Möglichkeiten bestehen und welche
Grenzen sich hier für die Nato stellen, wird derzeit
intensiv diskutiert. Unbestritten ist, dass der RAP
gleichermaßen für den Süden gilt. Zum Beitrag
der Allianz im Süden zählt ebenfalls die von den
Verteidigungsministern im Februar getroffene
Entscheidung, die Maritime Einsatzgruppe in der
Ägäis einzusetzen. Durch Übermittlung von Informationen an die türkische und griechische Küstenwache sowie an die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX sollen kriminelle Netzwerke
des illegalen Menschenschmuggels bekämpft werden.
Letztlich sind die Probleme des Südens nur in
einem umfassenden Ansatz in den Griff zu bekommen. Deshalb verdient die Partnerschaftspolitik der Nato als Teil der kooperativen Sicherheit
besondere Aufmerksamkeit. Konkret geht es dabei
neben politischem Dialog auch um die Unterstützung von Ländern beim Kapazitätenaufbau im
Verteidigungs- und Sicherheitssektor oder bei der
Ausbildung, sofern sie dies wünschen und eine
solche Unterstützung in die politische Landschaft
passt.
Die Nato wird dabei umso wirksamer agieren können, je besser und enger sie mit anderen
wichtigen Akteuren, vor allem EU und Vereinte
Nationen, zusammenarbeitet. Die Debatte um
„hybride“ Bedrohung und Kriegsführung zeigt,
dass die strikte Unterscheidung zwischen zivilen
und militärischen Sicherheitsgefahren immer weniger passt. Nur gemeinsam können Nato und EU
wirksame Antworten auf das gesamte Spektrum
der Bedrohungen geben. Deshalb sollte der Warschau-Gipfel Fortschritte bei der Nato-EU-Kooperation auf den Weg bringen.
Die erneute Schwerpunktsetzung auf kollektive
Verteidigung macht Krisenmanagement als eine
der Kernaufgaben der Nato nicht obsolet. Das
zeigt sich in Afghanistan, wo die Allianz auch
in Zukunft gefordert sein wird. Die Ereignisse
in Kundus im vergangenen Jahr haben deutlich
gemacht, wie fragil Sicherheit und Entwicklung
dort noch sind. Deshalb wird der Warschau-Gipfel
über die künftige Unterstützung der Nato für Afghanistan zu entscheiden haben, einschließlich der
finanziellen Unterstützung für die afghanischen
Sicherheitskräfte.
Langfristige Anpassung
In Warschau wird es schließlich ebenso darum
gehen, die Allianz im Rahmen eines langfristigen
Anpassungsprozesses auf kommende strategische
Herausforderungen vorzubereiten und ihre Handlungsfähigkeit zu gewährleisten.
Das verlangt auch, das Bündnis personell, materiell und finanziell so auszustatten, dass es seinen
Aufgaben gerecht werden kann. In Wales haben
die Alliierten ihre Absicht erklärt, zwei Prozent
des BIP für den Verteidigungshaushalt und 20
Prozent davon in Zukunftsinvestitionen aufzuwenden sowie den „Output“ für die Nato zu steigern. Von der Zwei-Prozent-Absichtserklärung ist
Deutschland zwar noch weit entfernt. Da wir aber
fast unsere gesamte Bundeswehr in die Allianz einbringen, steht Deutschland beim „Output“-Kriterium im Vergleich mit anderen Verbündeten sehr
gut da. Bei den Investitionen sind wir ebenfalls auf
dem richtigen Weg. Und wir haben beim Verteidigungshaushalt 2016 eine überfällige Trendumkehr
vollzogen.
Anpassung des Bündnisses heißt nicht, alles
über Bord zu werfen. Das Strategische Konzept
vom Lissabon-Gipfel 2010 gilt weiterhin. Die darin enthaltenen drei Kernaufgaben der Allianz –
kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und
kooperative Sicherheit – geben uns einen verlässlichen Handlungsrahmen. Wenn es uns gelingt, die
drei Kernaufgaben, die regionale Bandbreite und
den Doppel-Ansatz im Sinne von Harmel kontinuierlich auszubalancieren, dann haben wir den
Rahmen für eine Allianz, die auch zukünftige Herausforderungen geschlossen und effektiv angehen
kann.
Dr. Hans-Dieter Lucas ist
Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im
Nordatlantikrat Brüssel.
DIE BUNDESWEHR | MAI 2016