Situation (Auszug)

Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
Empirische Befunde zu den
Entscheidungsprozessen von Hinweisgebern
Dr. Nico Herold
Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie
Prof. Dr. Ralf Kölbel
Phänomen

Definition in Anlehnung an h.A.
-
[Near/Miceli, JBE 1985, 1 (4)]
Aufdeckung illegaler, unmoralischer oder illegitimer Praktiken
durch
(ehemalige)
Mitarbeiter/Personen
mit
privilegiertem
Informationszugang
gegenüber diesbezüglich potenziell beseitigungsfähigen Parteien
außerhalb des regulären Dienstwegs
 Whistleblowing-Formen:
• Intern:
z.B. Ombudsleute, WB-Hotline  Compliance  „regulierte
Selbstregulierung“
• Extern:
z.B. StA, Medien  „public private partnership“
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#2
Interessen
 Interessenparteien
•
•
Missstandsbehaftete Organisation (Unternehmen, Behörden etc.)

Corporate/Occupational Crime

jedenfalls Verhinderung externen Whistleblowings
Missstandsverantwortliche Personen

•
Kontrollinstanzen (Strafverfolgungs- und/oder Aufsichtsbehörden)

•
Positionserhalt, Verantwortungsvermeidung
Verbesserung der Ermittlungssituation durch externe Whistleblower
Öffentlichkeit/Medien  Aufdeckung, Debattengenerierung etc.
 Konkurrenzverhältnis um Insiderwissen und (Erst-)Bearbeitungshoheit (Bsp. USA)
•
Insider ?
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#3
Forschungsprojekt
 DFG-Forschungsprojekt:
•
28 qualitative Interviews (M: 21, W: 07) + ggf. Akten/Dokumente

Leitfadengestützt, offen

16 x Gesundheitsbereich
(Prof./Chefärzte, Pharmafirmen, Leistungserbringer, Praxisärzte/Personal)
12 x Diverse
(ÖD/Forschung/freie Wirtschaft)
•
10 x Annahmestelle (§ 197 a SGB V, LKA, Ombudsanwälte)
Länge: 01:25 - 04:21 Std.

Transkripte > 5000 Seiten
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#4
Handlungsimpuls/Kontext-Modell
(subjektives Modell)

Subjektiv empfundene Handlungsveranlassung
(= Handlungsdruck + -richtung) individuelle Wahrnehmung + interpretative
Verarbeitung des situativen Kontextes
„Und…ich bin da auch schon, weil ich so aufgeregt war, bin ich mitm Taxi hingefahren
und wieder mitm Taxi zurückgefahren, weil………am ganzen Leib gezittert, ich meine
wenn kurz der Amtsarzt vor der Tür steht und will Sie zwangseinweisen…[…] ich bin
dann direkt danach, hab ich mir ein Taxi gerufen und bin dann direkt auf die Polizei
gefahren, nächste Schweinerei versuchen, ne?“ (DPM0086)

Einflussgrößen:
Ebenen:
Person/Situation/Organisation

je Handlungsdruck steigernd/hemmend/kompensierend
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#5
Persönlichkeitsebene
1.
2.
Allgemeine Merkmale
a)
Tendenz zur vorrangigen Konsenslösung (Fairness/Aufwand: intern > extern)
b)
Hemmschwellen bei Strafverfolgungsbehörden/Medien
c)
Sensibilität bez. pers. Integrität/Interessen (Kompetenz/Sorgfalt/Karriere etc.)
d)
Persönliche Belastungs-/Frustrationstoleranz
Persönlichkeitstypen
WB-relevante Tendenzen/Idealtypen = keine typische WB-Persönlichkeit
a)
b)
c)
d)
Rational-pragmatischer Typ
Ethisch-proaktiver Typ
Defensiver bis vermeidender Typ
Durchschnittlicher Typ
(hohes WB-Potenzial 13x)
(hohes WB-Potenzial
9x)
(geringes WB-Potenzial 3x)
(mittleres WB-Potenzial 3x)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#6
Persönlichkeitstypen I
a)
Rational-pragmatischer Typ (13 Personen)
-
Hohes Selbstvertrauen + starke Karriereorientierung
-
Hohe(r) Bildungsgrad/Fachkompetenz/Erfahrung/Position = klassischer Insider
-
analytisch-reflektierende Denkweise/(Werte-)Perspektive
 erkennt effektiv systembedingte Missstände + Tragweite = objektive Probleme
 wägt ab + instrumentalisiert WB zur Problemlösung (ggf. persistent)
„Und ähm…… ..dann hab ich äh gedacht: O.K. also ähm…… ich kriege das….ähm
Problem nur dann vom Tisch…..wenn es einen…… eine..eine Inspektion gibt in O, die
ähm…..den Kern der finanziellen Vorwürfe nachvollzieht…und dokumentiert […] Wenn
diese Sache erst mal etabliert ist…..ähm dann klärt sich der Rest auch und dann werden
sie zu mir sagen: …Entschuldigung und ähm kannste dir jetzt was aussuchen und nichts für
ungut. So hatte ich mir das vorgestellt.“ (DPM0075)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#7
Persönlichkeitstypen II
b)
Ethisch-proaktiver Typ (9 Personen)
-
Hohes (moralisches/berufliches) Selbstbewusstsein, z.T. selbstgerecht
-
hohe Sensibilität für Missstände zul. eigener oder Rechtsgüter Dritter
 neigt zur Empörung  am ehesten Ethical Resister
-
idealistische Eigeninitiative
 scheut grds. nicht eine Auseinandersetzung mit Autoritäten/Strukturen
„Für mich ist das einfach ein gestörtes Rechtsempfinden…wenn ich ähm…
meine,…dass…mein Rechtsempfinden nur dann betroffen ist, wo ich betroffen
bin. […] Das ist Quatsch. […] Wenn ich sehe: da wird jemand ungerecht behandelt,
dann ist das..dann betrifft das mein Rechtsempfinden und dann mache ich auch
meine Klappe auf.“ (DPM0096)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#8
Einflussfaktoren I. –
Situation (Auszug)
1.
Art und Ausmaß des (Initial-)Missstandes (steigernd)
• Bewertung → Rechtsgutabhängig (höchstpersönlich > abstrakt)
„Ich habe da nen Unterschied…ob Menschen betroffen sind oder ob das um…reine
Gelddinge geht. Äh…in dem Moment, wo es darum geht, dass…Menschen äh
persönlich…zu einem äh…Schaden gekommen sind, ist meine persönliche
Hemmschwelle… äh…das… anzuprangern äh eine andere, als wenn es um Geld geht.
[…] Also das ist `n…da hab ich nen sehr deutlichen Unterschied.“ (DPM0068)
• Ursprungsmotiv: Beseitigung des Missstands, insb. bei eigener Betroffenheit
„Ja, mir wurde folgendes zu heiß, weil ich hab gesagt: Du verantwortest das hier mit.
Du kannst gar nichts dazu, zu diesen Schweinereien, was da offensichtlich war….die
aber schwer beweisbar sind,…weil es eben so im…so im Filz war…..Und gleichzeitig
[…] schlägt die Haftung voll durch….[…] und in dem Falle hätte ich ja alles mit
gehaftet.“ (DPM0087)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
#9
Einflussfaktoren I. –
Situation (Auszug)
2.
Reaktionen auf internes/externes Erst-/Folge-WB (steigernd)
•
Mangelnde Wirkung + Repression
 Eskalationspotenzial durch persönliche Ausrichtung (s.o.)
 ggf. Motivverschiebung/Erosion Verbundenheitsgefühl
Missstandsbeseitigung
→
Interesseposition sui generis
Verteidigungs-/Rehabilitations-/Vergeltungsmotiv
„ […] ich….glaube…man muss aufpassen, dass man an der Stelle dann nicht
überreißt…… äh ich habe immer wieder versucht den…… auf der Sachebene….korrekt
zu bleiben. Auch wenn es dann zu bestimmten Zeitpunkten……vielleicht ähm man…
geneigt war zu sagen: jetzt…..geben wir dem mal noch richtig einen mit….. Also ich habe
immer wieder versucht, noch mal zu sagen: Leute….auf das Niveau begebe ich mich
nicht. Ich…bleibe bei der Sache. [...] wenn klar ist, das ist jemand, der…..mit der Presse
zusammenarbeitet…… […] für mich war…völlig klar…beruflich…… geht es keinen
Millimeter
für
mich
mehr
weiter.“
(DPM0079)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
# 10
Einflussfaktoren II. – Situation +
Organisation (Auszug)
3.
Angst vor persönlichen Konsequenzen (hemmend)
Eigene Karriere/Haftung/Strafbarkeit etc., s.o.
„Ja, also…da war ich sehr egoistisch. Ich hab das äh….nicht nach außen getragen, weil
….mir da schon Gedanken machte, was ist mit meinen Arbeitsplatz. Das war die
äh….für mich in dem Moment […] das einzig Ausschlaggebende. Weil mir war klar,
wenn ich das mache äh…..dann ist mein Job weg….und zwar von heute auf morgen.
Und das war mir etwas zu gewagt.“ (DPM0068)
4.
Organisationsstruktur (Position/Machtzuweisung an die Beteiligten)
„[…] in….dem ganzen Gesundheitswesen, da ist so so ne Hierarchiedenken….und
sobald Sie nicht mit der Hierarchie mit äh äh spielen…..äh ähm…sind Sie im Grunde äh
Außenseiter…..nicht?......Verstehen Sie? Da braucht nur äh ähm……[…] einer zu dem
Chefarzt rufen und sagen…..Ja, wie ist der Mann? Ist der denn gut? Und dann braucht
der nur zu sagen…….äh ja, der ist sehr gut, aber der ist noch nicht reif oder da muss
nur ein Stichwort stehen…“ (DPM0086)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
# 11
Einflussfaktoren III.
– Situation (Auszug)
5.
Effektive Schutzvorschriften (hypothetisch)
 gemischte Haltungen
„[…] ich äh….sehe…… äh folgendes: dass die Mechanismen…die ablaufen, um
äh…Tippgeber…oder ähm Informanten…ähm…..zu denunzieren oder….fertig zu
machen….so subtil sind, dass sie abseits von…… ähm…..juristisch nachprüfbaren
Prozessen ablaufen […] dass ähm der Nachweis hinterher zu bringen, dass das so
ist…..kaum zu bringen ist. […] Ne? (DPM0079)
„ […] was wichtig wäre, dass der…Whistleblower Schutz kriegt im im Kündigungsrecht.
Dass nicht so was passieren kann, dass mit ner Einstweiligen mich kalt stellen…sondern
das sagen wird…horch zu…der hat ja nur…[…] Illegales aufgedeckt, aber le..auf
legalem Wege und dafür ist er geschützt in seinem Arbeitsplatz. Dafür ist die Familie
geschützt und sein Einkommen…..Und dafür haben wir vielleicht in Zukunft `n Vorstand,
der nicht korrupt ist. Verstehen Sie? […] Äh das wär`n viel wichtigerer Schutz als `n
Geld…anteilig von der Summe der Beute zu kriegen. […]“ (DPM0087)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
# 12
Einflussfaktoren III.
– Situation (Auszug)
6.
Finanzielle Anreize (hypothetisch)
 ablehnend, skeptisch bis befürwortend, gängige (Gegen-)Argumente
7.
Anonyme Whistleblowing-Systeme
 kein expliziter Effekt, gemischte Haltungen
„[…] Also ich wollte nur sagen: Ich…halte diese anonymisierten Möglichkeiten für
klug. Halte das für sehr klug, wenn man irgendwo bei einer staatlichen
Einrichtung…anonymisiert sagen kann: Da ist folgendes…vorgefallen…Guckt euch
das an…[…] ich glaube, das hätte was ändern können. Ich glaube, wenn das
äh…..wenn mir da irgendein Weg bekannt gewesen wäre. Dann…hätte ich dieses
äh……sicherlich bei den verschiedensten Dingen dort äh…gemeldet.“ (DPM0068)
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
# 13
Implikationen/Diskussion
 WB
=
von komplexer Handlungs-/Sozialdynamik/(Eigen-)
Interessenlage bestimmtes Phänomen → wenig steuerbar
Internes WB
=
genereller Vorrang  Vorteil liegt klar bei internen
Meldungsinstanzen
Externes WB
=
größtenteils induziert von Institutions/Beteiligtenreaktionen/Repressionen = „hausgemacht“
(Ausnahme ggf. extreme Missstände)
 Kriminalpolitische Konsequenzen/Anwendungsperspektiven:
 Hemmungen abbauen/Möglichkeiten bieten

Wahrscheinlichkeit einer Kanalisierung erhöhen
Hauptproblem:
Interessengleichlauf/Konkurrenz/Verarbeitungspraxis
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
# 14
Literatur
1. Herold, N. (2016): Whistleblower. Entscheidungsfindung, Meldeverhalten und
kriminologische Bewertung. Nomos (im Erscheinen).
2. Kölbel, Ralf; Herold, Nico (2015): Wirtschaftskontrolle durch Whistleblowing?
Empirische Befunde zu Entscheidungsprozessen von Hinweisgebern,
in:
Neue
Kriminalpolitik 16 (4), S. 375–387.
3. Kölbel, Ralf (2013): Criminal Compliance – ein Missverständnis des Strafrechts? in:
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 125 (3), S. 499–535.
4. Herold, N. (2013): Die beamtenrechtliche Zulässigkeit des „Whistleblowing“, in:
Zeitschrift für Beamtenrecht (1-2), S. 8–14.
5. Kölbel, R.; Herold, N. (2010): Whistleblowing. Eine kriminologische Analyse aus
Anlass der aktuellen kriminalpolitischen Debatte, in: Monatsschrift für Kriminologie
und Strafrechtsreform 93, S. 425–441.
Prof. Dr. R. Kölbel; Dr. N. Herold: Organisationskontrolle durch Whistleblowing?
# 15