taz.die tageszeitung

Verboten: Vagina-Kunst in Japan
Geldstrafe für Megumi Igarashi wegen Zurschaustellung von Genitalien ▶ Seite 2
AUSGABE BERLIN | NR. 11015 | 19. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MITTWOCH, 11. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Ein Toter bei
Messerangriff
in Bayern
Der Islam
gehört
zum
Ländle
AUSLESE „Egal in
welchem Medium“:
Die neue Grimme-PreisChefin Lucia Eskes über
Reformen bei der Suche
nach Highlights ▶ SEITE 17
NATUR Umwelt-Weise:
Täter soll
„Allah“ gerufen haben,
aber kein Islamist sein
VERWIRRUNG
GRAFING dpa/taz | Nach einer
tödlichen Messerattacke am
S-Bahnhof Grafing bei München
ist das Motiv zunächst unklar
geblieben. Die Polizei ging von
einem Einzeltäter ohne Bezüge
zu islamistischen Terrornetzwerken aus. Bei seinen Angriffen auf vier Männer am Dienstagmorgen hatte der 27-Jährige
allerdings laut Zeugenaussagen
„Allahu akbar“ („Allah ist groß“)
und „Ihr Ungläubigen, ihr müsst
sterben“ gerufen. Der aus Hessen stammende Täter habe jedoch einen wirren Eindruck
gemacht, die Aufklärung sei
schwierig, erklärte die Polizei.
▶ Inland SEITE 6
BADEN-WÜRTTEMBERG Grüne
Deutschland muss
­wilder werden ▶ SEITE 4
schlagen Muhterem Aras
als Landtagspräsidentin
vor. Damit wird sie heute
wohl die erste Muslimin in
diesem Staatsamt ▶ SEITE 3
BILDUNG Mehr Trans-
parenz an Unis ▶ SEITE 18
BERLIN Radler gegen
Autofahrer ▶ SEITE 21
Sieg für
Asiens Trump
Kritik an grün-schwarzer
Haltung zum Freihandel
▶ SEITE 8, 12
Fotos: Grimme-Institut und Megumi
Igarashi/6d745.com
40 Prozent:
Rechtspopulist Rodrigo
Duterte wird Präsident
PHILIPPINEN
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
MANILA/BERLIN afp/taz | Der
umstrittene
Rechtspopulist
und Sprücheklopfer Rodrigo
Duterte, den Kritiker mit Donald Trump vergleichen, hat die
Präsidentschaftswahl auf den
Philippinen mit knapp 40 Prozent der Stimmen gewonnen.
Der Zweitplatzierte Mar Roxas
räumte seine Niederlage ein. Er
nehme das Amt mit „äußerster
Demut“ an, sagte der 71-jährige
Duterte. Zugleich bekräftigte er
sein Versprechen, hart gegen
Drogen, Kriminalität und Korruption vorzugehen. Seine Botschaft an korrupte Polizisten
laute: „Entweder du tötest mich
oder ich töte dich.“ Menschenrechtsaktivisten hatten gewarnt,
unter Duterte drohe eine Rückkehr zur Diktatur.
▶ Ausland SEITE 10
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
Erstaunliche Erkenntnisse aus
Bayern: Wie die Polizei nach
einer tödlichen Messerattacke
auf Geflüchtete vor einer Asylbewerberunterkunft mitteilte, habe der Mörder zwar laut
Zeugenaussagen während der
Tat „Heil Hitler“ gerufen und
bei der Vernehmung verkündet, er wolle Undeutsche töten. Trotzdem gebe es bisher
keinerlei Hinweise auf einen
rechtsextremen Hintergrund.
„Ich bin aus der Mitte. Die Mitte ist vielfältig, die Gesellschaft ist vielfältig“: Muhterem Aras, in der Türkei geborene Schwäbin Foto: 7aktuell/ imago
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30619
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KOMMENTAR VON TOBIAS SCHULZE ZU URSULA VON DER LEYENS FORDERUNG NACH PERSONALAUFSTOCKUNG
D
Mehr Soldaten? Weniger Einsätze!
ie Bundeswehr ist überlastet, da
hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) durchaus recht. Wenn Schiffsbesatzungen die
Hälfte des Jahres auf hoher See verbringen, Soldaten zwischen Einsätzen keine
angemessenen Pausen erhalten und
Bundeswehrkrankenhäusern die Pfleger ausgehen, muss die Verteidigungsministerin handeln. Falsch wäre es aber,
wenn sie im Kampf gegen die Überlastung nur noch an der einen Stellschraube
– mehr Personal – dreht und darüber die
andere Stellschraube – weniger Aufgaben
– vergisst.
Zumal es problemlos möglich wäre,
die Zahl der Auslandseinsätze zu senken,
trotz Fluchtkrise, Terror und Bürgerkriegen. Die Bundesregierung müsste dafür
noch nicht mal die neuen Mandate infrage stellen. Es würde schon reichen,
alte Missionen zu überprüfen, auszusetzen oder zu beenden. Entsprechende
Vorschläge hat die SPD bereits vorgelegt.
Da wäre zum Beispiel der Anti-Piraterie-Kampf am Horn von Afrika. Seit 2008
patrouilliert die deutsche Marine vor der
somalischen Küste, um Handelsschiffe
zu schützen. Donnerstag wird der Bundestag das Mandat für bis zu 600 Soldaten verlängern. Seit Februar 2014 haben
Piraten keinen Frachter mehr angegriffen. Auf den Handelsschiffen sind jetzt
private Sicherheitskräfte im Einsatz.
Dem gegenüber stehen kleinere Missionen. Mit gerade mal vier Soldaten beteiligt sich die Bundeswehr an einem UNEinsatz in der Westsahara, mit jeweils bis
zu 50 Soldaten an Einsätzen im Südsudan und im Sudan. Für jede dieser Missionen, egal wie klein, fällt in Deutschland zusätzlicher Unterstützungsaufwand an. Würde sich die Bundeswehr auf
einen dieser Kleinsteinsätze konzentrie-
Es würde schon reichen,
alte Missionen zu über­
prüfen oder zu beenden
ren, während sie andere abgäbe, könnte
sie also ebenfalls einsparen.
Damit allein wäre die Überlastung der
Bundeswehr noch nicht beseitigt. Die
Personalnot könnte man so aber zumindest lindern. Und das auch noch kurzfristig: Aus Auslandseinsätzen kann sich das
deutsche Militär innerhalb weniger Monate zurückziehen, während für neue
Einheiten viel Vorlauf nötig ist. Dazu
braucht das Ministerium erst Geld für
neue Stellen, dann geeignete Bewerber
– und am Ende Jahre für die Ausbildung.
Zumindest für den Moment ändert von
der Leyens Ankündigung für ihre Soldaten also gar nichts.
Der Tag SEITE 2
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
FLÜCHTLI NGSUNTERKÜN FTE
ALEPPO
Weiterhin hohe Zahl von Angriffen
Regime verlängert
Feuerpause
BERLIN | In den ersten drei Mona-
Zu Geldstrafe verurteilt: Künstlerin
Megumi Igarashi Foto: privat
Kämpferin
für die Vagina
A
uf einem grünen Hügel
thront eine Kapelle. Blühende Büsche umrahmen die Szenerie. In der Mitte
aber ist der Rasen aufgerissen.
Die braune Erde legt sich in Falten. Erst auf den zweiten Blick
ist zu erkennen, dass unter den
kleinen Figürchen in blauen
Schul­
uniformen ein Abdruck
der Scheide der Künstlerin liegt,
die dieses Diorama geschaffen
hat. „The Art of Vagina“ nennt
die Japanerin Megumi Igarashi
ihre Kunst – und stößt damit an
die Grenze der Offenheit der japanischen Gesellschaft. Die Zurschaustellung von Genitalien ist
in Japan verboten. Das Tokioter Bezirksgericht hat Igarashi
am Montag zu einer Geldstrafe
von 400.000 Yen, umgerechnet
knapp 3.300 Euro, verurteilt.
Die 44-Jährige will in Berufung gehen. Ihre Kunst ist eine
Kritik an einer Gesellschaft, in
der die Pornoindustrie trotz der
strikten Zensurgesetze boomt,
in der sie aber in Fernsehshows
nicht das Wort Manko, japanisch für Muschi, sagen dürfe.
„Ich war überrascht darüber, wie
aufgebracht die Menschen sind,
wenn sie meine Arbeit sehen“,
schreibt sie auf ihrer Homepage.
Sie will, dass die Japaner
zwangloser mit Vaginas umgehen und sie zu einem Stück Popkultur machen. Dafür hat Igarashi, die sich selbst Rokudena­
shiko, übersetzt böses Mädchen,
nennt, eine Mangafigur kreiert:
ein tropfenförmiges kleines Wesen, dessen Gesicht von wallenden pink Schamlippen umgeben ist. Die sieht niedlich aus,
nicht anstößig.
Mit der Vagina-Kunst hat die
Japanerin angefangen, weil sie
selbst nie Bilder vom Intimbereich anderer Frauen gesehen
hatte. „Ich wusste nicht, wie
eine Vagina aussehen sollte, und
dachte, meine wäre abnormal.“
Heute gibt die 44-Jährige
Kurse für Frauen, die ihren eigenen Muschi-Abdruck verzieren wollen. Und sie entwarf vor
zwei Jahren ein knallgelbes Kajak, dessen Sitzluke ihre ganz
persönliche Form hatte. Den
Bauplan verschickte sie als Datensatz für den 3-D-Drucker an
Unterstützer – und wurde daraufhin festgenommen. Nun
sprach sie die Richterin wegen
der Verbreitung „obszönen Materials“ schuldig. Die Künstlerin will das nicht akzeptieren.
Zum Gerichtstermin kam sie
mit einem Spruchband. Die Aufschrift: „Ein Körperteil ist nicht
ANDREA SCHARPEN
schuldig.“
Der Tag
M IT TWOCH, 1 1. MAI 2016
ten 2016 sind laut Innenministerium bereits 347 Attacken auf
Flüchtlingswohnheime registriert worden. Das seien mehr
als dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres
und das Zehnfache der Angriffe
zwischen Januar und März 2014,
berichtete der Berliner Tagesspiegel unter Verweis auf eine
parlamentarische Anfrage der
Linksfraktion im Bundestag. Bei
62 der Attacken konnte die Polizei Tatverdächtige ermitteln,
das waren insgesamt 117.
Die meisten Anschläge (92)
wurden in Nordrhein-Westfa-
len verübt. Es folgen Bayern mit
45 Delikten, Niedersachsen mit
40, Sachsen mit 39 und BadenWürttemberg mit 33 Attacken.
In Brandenburg und SachsenAnhalt wurden je 19 Delikte gezählt. Die wenigsten Straftaten
gab es in Hamburg und Bremen
mit je einer. Im Osten liegt das
sächsische Freital mit zehn Angriffen an der Spitze, im Westen
ist es Köln mit sechs Attacken.
Allerdings seien die Angaben
nur vorläufig, hieß es weiter. In
den Angaben des Innenministeriums fehlten zum Beispiel die
Vorfälle vom Februar in Clausnitz und Bautzen. (epd)
DAMASKUS | Kurz vor Ablauf der
Waffenruhe im nordsyrischen
Aleppo hat das Regime die Feuerpause um zwei weitere Tage
verlängert. Sie solle nun bis
Mittwoch um Mitternacht gelten, berichtete die staatliche
Nachrichtenagentur Sana am
Montagabend. Die seit Mitte
letzter Woche geltende lokale
Feuerpause wurde bereits einmal verlängert. Die USA und der
Regimeverbündete Russland
hatten sich auf die Waffenruhe
geeinigt, nachdem eine landesweit geltende Kampfpause immer brüchiger wurde. (dpa)
DI E TAZ I M N ETZ
EN ERGI EVERSORGER
taz.de/twitter
EnBW muss noch
mehr sparen
taz.de/facebook
KARLSRUHE | Deutschlands dritt-
größter Energieversorger, EnBW,
muss seinen Sparkurs verschärfen. „Der Umbruch der Energiemärkte beschleunigt sich nicht
nur, er erreicht eine neue Qualität“, sagte EnBW-Vorstandschef
Frank Mastiaux gestern auf der
Hauptversammlung. Mit dem
aktuellen Strompreis stehe das
Unternehmen an der Schwelle
der Wirtschaftlichkeit der gesamten Erzeugung. Die Aktionäre, fast vollständig die öffentliche Hand wie das Land Ba-Wü,
müssen mit einer geringeren Dividende auskommen. (dpa)
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Bundeswehr auf Wachstumskurs
MILITÄR Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will die Truppenstärke der Bundeswehr erstmals
seit dem Ende des Kalten Kriegs wieder erhöhen. Die Finanzierung des Vorhabens hängt aber noch in der Luft
AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE
Erstmals seit Ende des Kalten
Kriegs soll die Bundeswehr
wieder wachsen – zumindest
ein bisschen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen
(CDU) sagte am Dienstag, dass
die Armee bis zum Jahr 2023
rund 14.300 zusätzliche Soldaten benötige. Zunächst will die
CDU-Politikerin aber nur rund
7.000 neue Stellen schaffen. Um
den berechneten Bedarf zumindest annähernd zu decken, soll
die Bundeswehr zudem weitere
5.000 Soldaten gezielter einsetzen als bisher.
„Heute ist das Signal in
die Truppe hinein sehr klar:
Ein Vierteljahrhundert des
Schrumpfens ist vorbei. Es ist
Zeit für die Bundeswehr, wieder zu wachsen“, sagte von der
Leyen.
In den vergangenen 26 Jahren
hatte die Politik die Armee stetig verkleinert: Am Tag der Wie-
Ein Vierteljahrhundert des Schrumpfens
ist vorbei“
URSULA VON DER LEYEN
dervereinigung dienten noch
knapp 600.000 Soldaten. Bis
zur Bundeswehrreform und der
Aussetzung der Wehrpflicht im
Jahr 2011 sank die Zahl bereits
um rund zwei Drittel. Nach der
Reform schrumpfte die Bundeswehr noch weiter, die Personalobergrenze liegt seitdem bei
185.000 Soldaten.
Dass die Zahl jetzt wieder steigen soll, liegt an den veränderten Rahmenbedingungen: Die
Nato und Russland liegen im
Clinch, dazu kommen Bürgerkriege in der arabischen Welt.
Die Bundesregierung schickt die
Armee deswegen in weit mehr
Einsätze und Übungen als zum
Zeitpunkt der Reform.
Um die neuen Belastungen
abzufedern, soll die Bundeswehr auf rund 192.000 Soldaten wachsen. Sollte die Armee
in Zukunft noch mehr Aufgaben übernehmen, könnte diese
Zahl noch weiter steigen: Starre
Personalobergrenzen will von
der Leyen abschaffen. Stattdessen soll ein sogenanntes Personalboard innerhalb des Verteidigungsministeriums jährlich
den aktuellen Bedarf berechnen und die entsprechenden
Stellen beim Finanzministerium anmelden.
Schon beim Girls Day im April warb von der Leyen in Berlin für mehr Frauen bei der Truppe Foto: Kay Nietfeld/dpa
Einsätze vom Kosovo bis Afghanistan
MISSIONEN
Ob es dann tatsächlich auch
Geld für neues Personal gibt,
ist allerdings offen. Schon für
den ersten Schritt mit rund
7.000 neuen Stellen könnte es
knapp werden. Die Bundesregierung plant zwar, den Verteidigungsetat in den kommenden
Jahren zu erhöhen. Von den zusätzlichen Milliarden muss die
Bundeswehr aber auch ihr ebenfalls angekündigtes Rüstungsprogramm finanzieren. Zudem
steigen die Personalkosten wegen Tariferhöhungen auch ohne
neue Stellen.
Fraglich ist auch, ob es ausreichend geeignete Bewerber gibt.
Schon jetzt sind in der Bundeswehr rund 8.000 Stellen nicht
besetzt. Vor allem Fachkräfte
fehlen, zum Beispiel im IT-Bereich. Wegen des demografischen Wandels gibt es ohnehin
weniger potenzielle Rekruten.
Qualifizierter Nachwuchs geht
zudem lieber zu zivilen Arbeitgebern, die besser zahlen und
keine Kriege führen. Schließlich
gibt es noch Probleme in den Rekrutierungsbüros: Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) spricht von teilweise
„schwieriger telefonischer Erreichbarkeit, missverständliche Kommunikation und mangelnder Freundlichkeit“.
Unabhängig davon kommt
aus der Opposition Kritik an
den Plänen. „Personal fehlt in
der Bundeswehr jetzt deshalb,
weil sich Frau von der Leyen bei
jeder Gelegenheit nach vorne
drängelt, um deutsche Soldaten
in Kriegsgebiete oder in NatoManöver zu bringen“, sagte die
Linken-Abgeordnete Christine
Buchholz. Das Problem sei nicht
die Größe der Armee, sondern ihre „grundlegend
falsche Ausrichtung“.
THEMA
DES
TAGES
3.400 Soldaten sind in 16 Auslandseinsätzen. Weitere Truppen sind in Osteuropa bei Manövern unterwegs
BERLIN taz | Die Zahl der Bundes-
wehreinsätze ist in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Aktuell führt die Armee
16 Auslandseinsätze im engeren
Sinne durch, rund 3.400 Soldaten sind dabei eingesetzt. Die
größten Missionen sind noch
immer die in Afghanistan und
im Kosovo. Zuletzt kam im vergangenen Jahr der Einsatz gegen die Terrormiliz IS hinzu. 273
deutsche Soldaten liefern unter
anderem Luftbilder aus dem
Irak und Syrien an die Alliierten. Außerdem betanken Bundeswehrflugzeuge die Kampf-
jets verbündeter Staaten, die
IS-Stellungen angreifen.
Weitere Aufgaben könnten in
Nordafrika auf die Bundeswehr
zukommen: Zum einen gibt es
in der CDU Überlegungen, auch
in Libyen Aufklärungsflüge über
IS-Gebieten
durchzuführen.
Zum anderen gibt es im Verteidigungsministerium Pläne, libysche Soldaten auszubilden allerdings nicht in dem Bürgerkriegsland selbst, sondern im
relativ sicheren Tunesien. Beide
Einsätze werden aber frühestens
dann beginnen, wenn sich die
vom Westen gestützte neue Ein-
heitsregierung in Tripolis einigermaßen etabliert hat.
Neben den 16 genannten Missionen gibt es weitere Auslandseinsätze ohne offizielles Mandat. Nicht mitgezählt wird zum
Beispiel der Nato-Einsatz gegen
Schlepper und Flüchtlinge im
Ägäischen Meer. Seit zwei Monaten ist dort auch ein Bundeswehrschiff im Einsatz: Der
Gruppenversorger Bonn mit
einer Besatzung von über 200
Mann und Frau.
Ebenfalls nicht mitgezählt
werden Übungen in den östlichen Nato-Staaten. Um Russland
abzuschrecken, ist die Bundeswehr dort seit der Ukraine-Krise
aktiver als zuvor. In diesem Jahr
sind in der Region 21 Übungen
mit deutscher Beteiligung geplant, über 5.000 deutsche Soldaten werden daran teilnehmen.
Die Risiken sind in den Übungen zwar geringer als in einem
richtigen Einsatz, der Aufwand
allerdings ähnlich groß. Auf
dem Nato-Gipfel Anfang Juli in
Warschau könnte sich die Bundesregierung zudem dazu bereit erklären, künftig noch mehr
Truppen ins Baltikum zu schi-
cken. Damit würde sie Erwartungen der Bündnispartner erfüllen.
Immerhin: Eine Aufgabe darf
die Bundeswehr demnächst wieder aufgeben. Seit dem vergangenen Jahr sind viele Soldaten
in der Flüchtlingshilfe im Inland
aktiv. Sie leisten Amtshilfe und
unterstützen andere Behörden
unter anderem bei der Registrierung neu ankommender Flüchtlinge. Ab dem Sommer soll sie
sich nach dem Willen von Ursula von der Leyen aus dieser
Aufgabe wieder zurückziehen.
TOBIAS SCHULZE
Schwerpunkt
Baden-Württemberg
M IT TWOCH, 1 1. MAI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Die grün-schwarze Landesregierung steht. Kein Kabinettsmitglied
mit Migrationsgeschichte. Dafür eine muslimische Landtagschefin
AUS BERLIN GEORG LÖWISCH
Als sie neulich um die Mittagszeit durch die Stadt gelaufen ist,
hat ein Fremder sie in die Arme
geschlossen. Muhterem Aras
war vom Charlottenplatz unterwegs zum Stuttgarter Landtag, als der ältere Mann sie anhielt. „Sie sind doch Frau Aras.“
Er war griechischer Abstammung, Aras ist in der Türkei geboren. „Ich finde es toll, was sie
erreicht haben“, sagte der Mann.
„Danke.“
Ein Stück Sichtbarkeit
Aras, 50 Jahre alt und gerade mit
42,4 Prozent wiedergewählte
Grünen-Abgeordnete,
kann
mehrere solcher Erlebnisse erzählen. Sie wird erkannt in ihrer
Stadt. Damit hat sie viel erreicht.
Menschen aus Einwandererfamilien stecken in Deutschland immer noch in der politischen Bedeutungslosigkeit fest.
Wenn eine aber doch sichtbar
wird, dann bedeutet das auch
für andere ein Stück Sichtbarkeit. Insofern ist es eine kleine
Revolution, was am Dienstag
im Stuttgarter Landtag geschehen ist. Die Grünen-Fraktion
hat Aras als Landtagspräsidentin nominiert. In einer fraktionsinternen Kampfabstimmung setzte sie sich gegen die
bisherige Vize­präsidentin Brigitte Lösch durch. Als stärkste
Fraktion hat die KretschmannPartei das Vorschlagsrecht für
die Chefin des Parlaments. Am
Mittwoch kann das Parlament
Geschichte ­schreiben: Wenn es
die Muslimin aus Stuttgart in
dieses Staatsamt wählt.
Der grün-schwarzen Regierung haben deren Chefs Winfried Kretschmann und Thomas
Strobl das Label des gesellschaftlichen Zusammenhalts gegeben. Im Koalitionsvertrag heißt
es: „Den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land
wollen wir stärken.“ Aras nimmt
sie beim Wort. „Wenn wir den Zusammenhalt wollen, dann können wir mit dem Staatsamt einen Akzent setzen. Ich bin aus
der Mitte. Die Mitte ist vielfältig. Sie wird zusammenhalten.“
Sie will das Zeichen. Aber natürlich will sie auch den Karrieresprung. Denn Aras ist ehrgeizig. Den Drang nach Bildung
und Aufstieg hat ihr die Mutter
eingeschärft, die bis heute Analphabetin ist. Muhterem Aras
sagt, dass einem alle Möglichkeiten offen stehen müssen.
Wer so eine Einstellung hat,
dem muss es schief vorkom-
Ein starker Akzent: Muhterem Aras, Tochter einer Analphabetin, ist neue Landtagschefin. Hier bei der Siegesfeier des ersten Grünen-Bürgermeisters in Stuttgart, 2012 Foto: imago
Das Gesicht der Mitte
HISTORISCH Mit Muhterem Aras wird zum ersten Mal eine Muslimin Präsidentin eines Landtags
men, dass auf der grünen Kabinettsliste die Migrantenquote
gleich null ist.
Aras stammt aus dem kleinen Ort Elmaağaç nahe der Stadt
Bingöl, Ostanatolien, sie selbst
sagt heute: ein Kuhdorf. Der Vater ist zuerst nach Deutschland
gegangen, zu Thyssen nach Filderstadt. Ausgerechnet das Unternehmen, dessen Umgang
mit Gastarbeitern der Journalist
Günter Wallraff in seinem Buch
„Ganz unten“ offenlegte. Es war
der Bericht, in dem ein Millionenpublikum in den Achtzigern
den Alltag von Gastarbeitern zur
Kenntnis kam, wie die taz-Kolumnistin und Autorin Jagoda
Marinić in ihrem neu erschienen Essayband festgestellt hat.
Ein als Gastarbeiter verkleideter Deutscher erzählt den Deutschen von Migranten. Nicht einer von ihnen selbst.
„Mein Vater war bei Thyssen
zufrieden“, sagt Muhterem Aras.
„Er war dort angesehen.“ 1978
holt er die Familie nach. Fünf
Kinder, drei Zimmer, 75 Quadratmeter. Muhterem geht auf
die Hauptschule, dann auf die
Wirtschaftsschule, dann aufs
Wirtschaftsgymnasium. Fürs
Studium nimmt sie einen Kredit über 60.000 Mark auf. Wenn
sie ihr Leben erzählt, bekommt
man eine Ahnung, wie viel Kraft
es gekostet hat, bis sie ihre eigene Steuerkanzlei mit zehn Angestellten hatte.
Die Familie ist alevitisch, eine
liberale Form des muslimischen
Glaubens. Aber auf dem Dorf
sind die Sitten streng. Trotzdem
dürfen Muhterem und ihre Geschwister sehr viel, vorausgesetzt, die Noten sind gut. Schullandheim, Schwimmen, Tanzkurs. Nur einen Freund darf sie
Die harte Verhandlerin
Edith Sitzmann könnte irgendwann Kretschmanns
Nachfolgerin werden. Jetzt wird sie erst mal Finanzministerin
GRÜNE
Ministerpräsidenten. Die Grüne Reala
STUTTGART taz | Manchmal kommt
Kretschmann über Umwege auf den aus Freiburg, die bei öffentlichen AuftritPunkt. Als er der Presse seine Minister ten oft nur wenig Charisma versprüht,
vorstellt, sagt er über Edith Sitzmann: hat in den Koalitionsverhandlungen gro„Mit ihr verliere ich eine ganz tolle Frak- ßes Verhandlungsgeschick bewiesen.
tionsvorsitzende.“ Und erst dann: „Aber
Dieses Talent dürfte ihr jetzt bei Budich freue mich, dass ich sie für dieses getverhandlungen in Zeiten der Haushaltsbremse zugute kommen. Nicht wewichtigste Ressort gewinnen konnte.“
Beides stimmt. Unter Grün-Rot hielt nige halten sie wegen ihres politischen
Sitzmann auch bei umstrittenen Ent- Talents auch für eine potenzielle Nachscheidungen geräuschlos die grüne Frak- folgerin, wenn Kretschmann 2021 nicht
tion zusammen – und pflegte trotzmehr antritt. Der selbst hat diese Spedem mit dem oft polternden
kulationen befeuert, als er darauf
SPD-Kollegen Claus Schmiehinwies, dass Regierungschefdel ein konstruktives ArbeitsNachfolger in Baden-Württemverhältnis. Kretschmanns
berg seit mehr als 30 Jahren immer zuvor Fraktionschefs geVerhältnis zum damaligen
worden seien. Sitzmann, nun
Finanzminister Schmid dagegen galt als zerrüttet.
im Finanzressort, könnte die
Schmids Nachfolgerin gilt
Erste sein, die mit dieser Tradition bricht. BES
dagegen als enge Vertraute des Foto: dpa
nicht haben. Als sie in der elften Klasse ihren heutigen Mann
kennen lernt, schlägt sie den Eltern vor, ihn eben gleich zu heiraten. Nach den Osterferien
kommt sie mit einem neuen Namen in die Klasse zurück.
Die grüne Stimmenkönigin
1992 ist das Jahr der rassistischen Ausschreitungen von
Rostock-Lichtenhagen. Sie geht
abends seltener auf die Straße,
sie kauft sich Pfefferspray. Du
spinnst, sagt ihr Bruder. Sie
sucht sich eine Partei, um zu
zeigen, dass dieses Land auch
ihr gehört. Die Grünen, sagt
sie heute, sind offen. Sie hätten ihre Wahllisten früh geöffnet für Leute, die anders heißen
als Schmidt und Schulze. Aber
Aras sagt trocken: „Die Grünen
sind definitiv keine Migrantenpartei.“
Das grün-schwarze Kabinett
■■Die CDU bekommt fünf Minis-
terien:
Inneres und Stellvertretender
Regierungschef: Thomas Strobl.
Justiz: Der CDU-Spitzenkandidat
für die Landtagswahl, Guido Wolf
Landwirtschaft: Peter Hauk
Kultus: Susanne Eisenmann
Wirtschaft: Nicole HoffmeisterKraut
■■Die Grünen stellen den Ministerpräsidenten und bekommen
ebenfalls fünf Ministerien:
Finanzen: Die bisherige Fraktionschefin der Grünen, Edith
Sitzmann
Soziales: Manfred Lucha
Wissenschaft: Theresia Bauer*
Umwelt: Franz Untersteller*
Verkehr: Winfried Hermann*
*(wie bisher)
Der Ehrgeiz treibt sie auch bei
den Grünen nach oben. Kreisvorstand, dann Kreischefin. Gemeinderat, dann Fraktionschefin. Landtagskandidatin, dann
bestes Ergebnis aller GrünenAbgeordneten 2011. 2016 wird
sie noch einmal grüne Stimmenkönigin. Sie kann rechnen,
kann taktieren, kann Leute auf
die Matte quatschen. Weil sie auf
ihrem Beruf aufbauen möchte,
wird sie Finanzpolitikerin. Die
Integrationsdebatte
kommt
trotzdem zu ihr. 2015 tritt sie im
Landtag einem CDU-Mann entgegen, der herumfabuliert hat,
es dürfe in Berlin ja bald nicht
mehr Weihnachtsmarkt, sondern nur noch Wintermarkt heißen. Es ist Guido Wolf, der kurz
vorher noch Landtagspräsident
war. Die Geschichte mit den
Weihnachtsmärkten
stimmt
nicht. Aras nennt Wolfs Verhal-
ten „fahrlässig, gefährlich und
verantwortungslos“Nun wird sie Guido Wolfs früheres Amt bekommen. Sie wird
nach dem Ministerpräsidentin
die wichtigste Repräsentantin
des Landes sein: Fast ganz oben.
Es ist die Rolle einer Schiedsrichterin. Sie muss mit der AfD klarkommen, über die sie sagt: „Sie
haben Tendenzen, sich an den
Rändern der Verfassung zu bewegen.“
Allein ihre Anwesenheit wird
etwas verändern. Ihre Sichtbarkeit. Wenn die AfD-Politiker
im Landtag wieder das große
Gruseln vor der unbekannten,
amorphen Masse der Muslime
inszenieren, dann wird hinter
ihnen eine Muslimin sitzen.
Muhterem Aras, eine, die ihre
Geschichte selber erzählt. Die
für vieles steht, aber vor allem
für sich.
Die Neue mit Stallgeruch
CDU Nicole Hoffmeister-Kraut wird Wirtschaftsministerin,
vorher kannte die Unternehmerin kaum jemand
auch als von Strobls CDU bestellte Kritik
STUTTGART taz | Neu im Landtag und
dann gleich ins Ministeramt. Eine sol- interpretieren kann. Der Jurist Wolf wird
che Karriere war bei Frauen in der ba- nun Justizminister – mit einem skurrilen
den-württembergischen Union lange Ressortzuschnitt: Er ist künftig nicht nur
unvorstellbar. Die ungewöhnliche grün- für Europa, sondern auch für Tourismus
schwarze Koalition macht das nun mög- zuständig. Thomas Strobl erklärte das dalich. Nicole Hoffmeister-Kraut ist 43 Jahre mit, dass „Tourismus und Europa miteialt und kam offenbar erst am Dienstag- nander zu tun“ habe.
vormittag auf die Ministerliste des kleiNicole Hoffmeister-Kraut ist dennoch
neren Koalitionspartners. Vor ihrer Kan- mehr als eine Kompromisskandidatin.
didatur für den Landtag war sie sieben Die promovierte BWLerin war bei einer
Jahre lang Kommunalpolitikerin.
internationalen Beratungsagentur
Hoffmeister-Kraut
verhinund hat als Teilhaberin eines Badert nun, dass Guido Wolf ins
linger Familienunternehmens
Wirtschaftsministerium geauch den Stallgeruch, den die
langt. Dagegen gab es auch
hiesigen Mittelständler schätzen. Strobl jedenfalls scheint
innerhalb der CDU harsche
große Stücke auf sie zu halten.
Kritik. Vor allem aber lehnten die Wirtschaftsverbände
Die örtliche Presse zitierte ihn
Wolf öffentlich ab. Was man als
damit, er traue ihr zu, „wie eine
BES
unfreundliche Einmischung oder Foto: privat Rakete“ durchzustarten.