Verboten: Vagina-Kunst in Japan Geldstrafe für Megumi Igarashi wegen Zurschaustellung von Genitalien ▶ Seite 2 AUSGABE BERLIN | NR. 11015 | 19. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 11. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Ein Toter bei Messerangriff in Bayern Der Islam gehört zum Ländle AUSLESE „Egal in welchem Medium“: Die neue Grimme-PreisChefin Lucia Eskes über Reformen bei der Suche nach Highlights ▶ SEITE 17 NATUR Umwelt-Weise: Täter soll „Allah“ gerufen haben, aber kein Islamist sein VERWIRRUNG GRAFING dpa/taz | Nach einer tödlichen Messerattacke am S-Bahnhof Grafing bei München ist das Motiv zunächst unklar geblieben. Die Polizei ging von einem Einzeltäter ohne Bezüge zu islamistischen Terrornetzwerken aus. Bei seinen Angriffen auf vier Männer am Dienstagmorgen hatte der 27-Jährige allerdings laut Zeugenaussagen „Allahu akbar“ („Allah ist groß“) und „Ihr Ungläubigen, ihr müsst sterben“ gerufen. Der aus Hessen stammende Täter habe jedoch einen wirren Eindruck gemacht, die Aufklärung sei schwierig, erklärte die Polizei. ▶ Inland SEITE 6 BADEN-WÜRTTEMBERG Grüne Deutschland muss wilder werden ▶ SEITE 4 schlagen Muhterem Aras als Landtagspräsidentin vor. Damit wird sie heute wohl die erste Muslimin in diesem Staatsamt ▶ SEITE 3 BILDUNG Mehr Trans- parenz an Unis ▶ SEITE 18 BERLIN Radler gegen Autofahrer ▶ SEITE 21 Sieg für Asiens Trump Kritik an grün-schwarzer Haltung zum Freihandel ▶ SEITE 8, 12 Fotos: Grimme-Institut und Megumi Igarashi/6d745.com 40 Prozent: Rechtspopulist Rodrigo Duterte wird Präsident PHILIPPINEN VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! MANILA/BERLIN afp/taz | Der umstrittene Rechtspopulist und Sprücheklopfer Rodrigo Duterte, den Kritiker mit Donald Trump vergleichen, hat die Präsidentschaftswahl auf den Philippinen mit knapp 40 Prozent der Stimmen gewonnen. Der Zweitplatzierte Mar Roxas räumte seine Niederlage ein. Er nehme das Amt mit „äußerster Demut“ an, sagte der 71-jährige Duterte. Zugleich bekräftigte er sein Versprechen, hart gegen Drogen, Kriminalität und Korruption vorzugehen. Seine Botschaft an korrupte Polizisten laute: „Entweder du tötest mich oder ich töte dich.“ Menschenrechtsaktivisten hatten gewarnt, unter Duterte drohe eine Rückkehr zur Diktatur. ▶ Ausland SEITE 10 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 Erstaunliche Erkenntnisse aus Bayern: Wie die Polizei nach einer tödlichen Messerattacke auf Geflüchtete vor einer Asylbewerberunterkunft mitteilte, habe der Mörder zwar laut Zeugenaussagen während der Tat „Heil Hitler“ gerufen und bei der Vernehmung verkündet, er wolle Undeutsche töten. Trotzdem gebe es bisher keinerlei Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund. „Ich bin aus der Mitte. Die Mitte ist vielfältig, die Gesellschaft ist vielfältig“: Muhterem Aras, in der Türkei geborene Schwäbin Foto: 7aktuell/ imago TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.828 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30619 4 190254 801600 KOMMENTAR VON TOBIAS SCHULZE ZU URSULA VON DER LEYENS FORDERUNG NACH PERSONALAUFSTOCKUNG D Mehr Soldaten? Weniger Einsätze! ie Bundeswehr ist überlastet, da hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) durchaus recht. Wenn Schiffsbesatzungen die Hälfte des Jahres auf hoher See verbringen, Soldaten zwischen Einsätzen keine angemessenen Pausen erhalten und Bundeswehrkrankenhäusern die Pfleger ausgehen, muss die Verteidigungsministerin handeln. Falsch wäre es aber, wenn sie im Kampf gegen die Überlastung nur noch an der einen Stellschraube – mehr Personal – dreht und darüber die andere Stellschraube – weniger Aufgaben – vergisst. Zumal es problemlos möglich wäre, die Zahl der Auslandseinsätze zu senken, trotz Fluchtkrise, Terror und Bürgerkriegen. Die Bundesregierung müsste dafür noch nicht mal die neuen Mandate infrage stellen. Es würde schon reichen, alte Missionen zu überprüfen, auszusetzen oder zu beenden. Entsprechende Vorschläge hat die SPD bereits vorgelegt. Da wäre zum Beispiel der Anti-Piraterie-Kampf am Horn von Afrika. Seit 2008 patrouilliert die deutsche Marine vor der somalischen Küste, um Handelsschiffe zu schützen. Donnerstag wird der Bundestag das Mandat für bis zu 600 Soldaten verlängern. Seit Februar 2014 haben Piraten keinen Frachter mehr angegriffen. Auf den Handelsschiffen sind jetzt private Sicherheitskräfte im Einsatz. Dem gegenüber stehen kleinere Missionen. Mit gerade mal vier Soldaten beteiligt sich die Bundeswehr an einem UNEinsatz in der Westsahara, mit jeweils bis zu 50 Soldaten an Einsätzen im Südsudan und im Sudan. Für jede dieser Missionen, egal wie klein, fällt in Deutschland zusätzlicher Unterstützungsaufwand an. Würde sich die Bundeswehr auf einen dieser Kleinsteinsätze konzentrie- Es würde schon reichen, alte Missionen zu über prüfen oder zu beenden ren, während sie andere abgäbe, könnte sie also ebenfalls einsparen. Damit allein wäre die Überlastung der Bundeswehr noch nicht beseitigt. Die Personalnot könnte man so aber zumindest lindern. Und das auch noch kurzfristig: Aus Auslandseinsätzen kann sich das deutsche Militär innerhalb weniger Monate zurückziehen, während für neue Einheiten viel Vorlauf nötig ist. Dazu braucht das Ministerium erst Geld für neue Stellen, dann geeignete Bewerber – und am Ende Jahre für die Ausbildung. Zumindest für den Moment ändert von der Leyens Ankündigung für ihre Soldaten also gar nichts. Der Tag SEITE 2 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN FLÜCHTLI NGSUNTERKÜN FTE ALEPPO Weiterhin hohe Zahl von Angriffen Regime verlängert Feuerpause BERLIN | In den ersten drei Mona- Zu Geldstrafe verurteilt: Künstlerin Megumi Igarashi Foto: privat Kämpferin für die Vagina A uf einem grünen Hügel thront eine Kapelle. Blühende Büsche umrahmen die Szenerie. In der Mitte aber ist der Rasen aufgerissen. Die braune Erde legt sich in Falten. Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass unter den kleinen Figürchen in blauen Schul uniformen ein Abdruck der Scheide der Künstlerin liegt, die dieses Diorama geschaffen hat. „The Art of Vagina“ nennt die Japanerin Megumi Igarashi ihre Kunst – und stößt damit an die Grenze der Offenheit der japanischen Gesellschaft. Die Zurschaustellung von Genitalien ist in Japan verboten. Das Tokioter Bezirksgericht hat Igarashi am Montag zu einer Geldstrafe von 400.000 Yen, umgerechnet knapp 3.300 Euro, verurteilt. Die 44-Jährige will in Berufung gehen. Ihre Kunst ist eine Kritik an einer Gesellschaft, in der die Pornoindustrie trotz der strikten Zensurgesetze boomt, in der sie aber in Fernsehshows nicht das Wort Manko, japanisch für Muschi, sagen dürfe. „Ich war überrascht darüber, wie aufgebracht die Menschen sind, wenn sie meine Arbeit sehen“, schreibt sie auf ihrer Homepage. Sie will, dass die Japaner zwangloser mit Vaginas umgehen und sie zu einem Stück Popkultur machen. Dafür hat Igarashi, die sich selbst Rokudena shiko, übersetzt böses Mädchen, nennt, eine Mangafigur kreiert: ein tropfenförmiges kleines Wesen, dessen Gesicht von wallenden pink Schamlippen umgeben ist. Die sieht niedlich aus, nicht anstößig. Mit der Vagina-Kunst hat die Japanerin angefangen, weil sie selbst nie Bilder vom Intimbereich anderer Frauen gesehen hatte. „Ich wusste nicht, wie eine Vagina aussehen sollte, und dachte, meine wäre abnormal.“ Heute gibt die 44-Jährige Kurse für Frauen, die ihren eigenen Muschi-Abdruck verzieren wollen. Und sie entwarf vor zwei Jahren ein knallgelbes Kajak, dessen Sitzluke ihre ganz persönliche Form hatte. Den Bauplan verschickte sie als Datensatz für den 3-D-Drucker an Unterstützer – und wurde daraufhin festgenommen. Nun sprach sie die Richterin wegen der Verbreitung „obszönen Materials“ schuldig. Die Künstlerin will das nicht akzeptieren. Zum Gerichtstermin kam sie mit einem Spruchband. Die Aufschrift: „Ein Körperteil ist nicht ANDREA SCHARPEN schuldig.“ Der Tag M IT TWOCH, 1 1. MAI 2016 ten 2016 sind laut Innenministerium bereits 347 Attacken auf Flüchtlingswohnheime registriert worden. Das seien mehr als dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres und das Zehnfache der Angriffe zwischen Januar und März 2014, berichtete der Berliner Tagesspiegel unter Verweis auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Bei 62 der Attacken konnte die Polizei Tatverdächtige ermitteln, das waren insgesamt 117. Die meisten Anschläge (92) wurden in Nordrhein-Westfa- len verübt. Es folgen Bayern mit 45 Delikten, Niedersachsen mit 40, Sachsen mit 39 und BadenWürttemberg mit 33 Attacken. In Brandenburg und SachsenAnhalt wurden je 19 Delikte gezählt. Die wenigsten Straftaten gab es in Hamburg und Bremen mit je einer. Im Osten liegt das sächsische Freital mit zehn Angriffen an der Spitze, im Westen ist es Köln mit sechs Attacken. Allerdings seien die Angaben nur vorläufig, hieß es weiter. In den Angaben des Innenministeriums fehlten zum Beispiel die Vorfälle vom Februar in Clausnitz und Bautzen. (epd) DAMASKUS | Kurz vor Ablauf der Waffenruhe im nordsyrischen Aleppo hat das Regime die Feuerpause um zwei weitere Tage verlängert. Sie solle nun bis Mittwoch um Mitternacht gelten, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Sana am Montagabend. Die seit Mitte letzter Woche geltende lokale Feuerpause wurde bereits einmal verlängert. Die USA und der Regimeverbündete Russland hatten sich auf die Waffenruhe geeinigt, nachdem eine landesweit geltende Kampfpause immer brüchiger wurde. (dpa) DI E TAZ I M N ETZ EN ERGI EVERSORGER taz.de/twitter EnBW muss noch mehr sparen taz.de/facebook KARLSRUHE | Deutschlands dritt- größter Energieversorger, EnBW, muss seinen Sparkurs verschärfen. „Der Umbruch der Energiemärkte beschleunigt sich nicht nur, er erreicht eine neue Qualität“, sagte EnBW-Vorstandschef Frank Mastiaux gestern auf der Hauptversammlung. Mit dem aktuellen Strompreis stehe das Unternehmen an der Schwelle der Wirtschaftlichkeit der gesamten Erzeugung. Die Aktionäre, fast vollständig die öffentliche Hand wie das Land Ba-Wü, müssen mit einer geringeren Dividende auskommen. (dpa) taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Bundeswehr auf Wachstumskurs MILITÄR Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will die Truppenstärke der Bundeswehr erstmals seit dem Ende des Kalten Kriegs wieder erhöhen. Die Finanzierung des Vorhabens hängt aber noch in der Luft AUS BERLIN TOBIAS SCHULZE Erstmals seit Ende des Kalten Kriegs soll die Bundeswehr wieder wachsen – zumindest ein bisschen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sagte am Dienstag, dass die Armee bis zum Jahr 2023 rund 14.300 zusätzliche Soldaten benötige. Zunächst will die CDU-Politikerin aber nur rund 7.000 neue Stellen schaffen. Um den berechneten Bedarf zumindest annähernd zu decken, soll die Bundeswehr zudem weitere 5.000 Soldaten gezielter einsetzen als bisher. „Heute ist das Signal in die Truppe hinein sehr klar: Ein Vierteljahrhundert des Schrumpfens ist vorbei. Es ist Zeit für die Bundeswehr, wieder zu wachsen“, sagte von der Leyen. In den vergangenen 26 Jahren hatte die Politik die Armee stetig verkleinert: Am Tag der Wie- Ein Vierteljahrhundert des Schrumpfens ist vorbei“ URSULA VON DER LEYEN dervereinigung dienten noch knapp 600.000 Soldaten. Bis zur Bundeswehrreform und der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 sank die Zahl bereits um rund zwei Drittel. Nach der Reform schrumpfte die Bundeswehr noch weiter, die Personalobergrenze liegt seitdem bei 185.000 Soldaten. Dass die Zahl jetzt wieder steigen soll, liegt an den veränderten Rahmenbedingungen: Die Nato und Russland liegen im Clinch, dazu kommen Bürgerkriege in der arabischen Welt. Die Bundesregierung schickt die Armee deswegen in weit mehr Einsätze und Übungen als zum Zeitpunkt der Reform. Um die neuen Belastungen abzufedern, soll die Bundeswehr auf rund 192.000 Soldaten wachsen. Sollte die Armee in Zukunft noch mehr Aufgaben übernehmen, könnte diese Zahl noch weiter steigen: Starre Personalobergrenzen will von der Leyen abschaffen. Stattdessen soll ein sogenanntes Personalboard innerhalb des Verteidigungsministeriums jährlich den aktuellen Bedarf berechnen und die entsprechenden Stellen beim Finanzministerium anmelden. Schon beim Girls Day im April warb von der Leyen in Berlin für mehr Frauen bei der Truppe Foto: Kay Nietfeld/dpa Einsätze vom Kosovo bis Afghanistan MISSIONEN Ob es dann tatsächlich auch Geld für neues Personal gibt, ist allerdings offen. Schon für den ersten Schritt mit rund 7.000 neuen Stellen könnte es knapp werden. Die Bundesregierung plant zwar, den Verteidigungsetat in den kommenden Jahren zu erhöhen. Von den zusätzlichen Milliarden muss die Bundeswehr aber auch ihr ebenfalls angekündigtes Rüstungsprogramm finanzieren. Zudem steigen die Personalkosten wegen Tariferhöhungen auch ohne neue Stellen. Fraglich ist auch, ob es ausreichend geeignete Bewerber gibt. Schon jetzt sind in der Bundeswehr rund 8.000 Stellen nicht besetzt. Vor allem Fachkräfte fehlen, zum Beispiel im IT-Bereich. Wegen des demografischen Wandels gibt es ohnehin weniger potenzielle Rekruten. Qualifizierter Nachwuchs geht zudem lieber zu zivilen Arbeitgebern, die besser zahlen und keine Kriege führen. Schließlich gibt es noch Probleme in den Rekrutierungsbüros: Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) spricht von teilweise „schwieriger telefonischer Erreichbarkeit, missverständliche Kommunikation und mangelnder Freundlichkeit“. Unabhängig davon kommt aus der Opposition Kritik an den Plänen. „Personal fehlt in der Bundeswehr jetzt deshalb, weil sich Frau von der Leyen bei jeder Gelegenheit nach vorne drängelt, um deutsche Soldaten in Kriegsgebiete oder in NatoManöver zu bringen“, sagte die Linken-Abgeordnete Christine Buchholz. Das Problem sei nicht die Größe der Armee, sondern ihre „grundlegend falsche Ausrichtung“. THEMA DES TAGES 3.400 Soldaten sind in 16 Auslandseinsätzen. Weitere Truppen sind in Osteuropa bei Manövern unterwegs BERLIN taz | Die Zahl der Bundes- wehreinsätze ist in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Aktuell führt die Armee 16 Auslandseinsätze im engeren Sinne durch, rund 3.400 Soldaten sind dabei eingesetzt. Die größten Missionen sind noch immer die in Afghanistan und im Kosovo. Zuletzt kam im vergangenen Jahr der Einsatz gegen die Terrormiliz IS hinzu. 273 deutsche Soldaten liefern unter anderem Luftbilder aus dem Irak und Syrien an die Alliierten. Außerdem betanken Bundeswehrflugzeuge die Kampf- jets verbündeter Staaten, die IS-Stellungen angreifen. Weitere Aufgaben könnten in Nordafrika auf die Bundeswehr zukommen: Zum einen gibt es in der CDU Überlegungen, auch in Libyen Aufklärungsflüge über IS-Gebieten durchzuführen. Zum anderen gibt es im Verteidigungsministerium Pläne, libysche Soldaten auszubilden allerdings nicht in dem Bürgerkriegsland selbst, sondern im relativ sicheren Tunesien. Beide Einsätze werden aber frühestens dann beginnen, wenn sich die vom Westen gestützte neue Ein- heitsregierung in Tripolis einigermaßen etabliert hat. Neben den 16 genannten Missionen gibt es weitere Auslandseinsätze ohne offizielles Mandat. Nicht mitgezählt wird zum Beispiel der Nato-Einsatz gegen Schlepper und Flüchtlinge im Ägäischen Meer. Seit zwei Monaten ist dort auch ein Bundeswehrschiff im Einsatz: Der Gruppenversorger Bonn mit einer Besatzung von über 200 Mann und Frau. Ebenfalls nicht mitgezählt werden Übungen in den östlichen Nato-Staaten. Um Russland abzuschrecken, ist die Bundeswehr dort seit der Ukraine-Krise aktiver als zuvor. In diesem Jahr sind in der Region 21 Übungen mit deutscher Beteiligung geplant, über 5.000 deutsche Soldaten werden daran teilnehmen. Die Risiken sind in den Übungen zwar geringer als in einem richtigen Einsatz, der Aufwand allerdings ähnlich groß. Auf dem Nato-Gipfel Anfang Juli in Warschau könnte sich die Bundesregierung zudem dazu bereit erklären, künftig noch mehr Truppen ins Baltikum zu schi- cken. Damit würde sie Erwartungen der Bündnispartner erfüllen. Immerhin: Eine Aufgabe darf die Bundeswehr demnächst wieder aufgeben. Seit dem vergangenen Jahr sind viele Soldaten in der Flüchtlingshilfe im Inland aktiv. Sie leisten Amtshilfe und unterstützen andere Behörden unter anderem bei der Registrierung neu ankommender Flüchtlinge. Ab dem Sommer soll sie sich nach dem Willen von Ursula von der Leyen aus dieser Aufgabe wieder zurückziehen. TOBIAS SCHULZE Schwerpunkt Baden-Württemberg M IT TWOCH, 1 1. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Die grün-schwarze Landesregierung steht. Kein Kabinettsmitglied mit Migrationsgeschichte. Dafür eine muslimische Landtagschefin AUS BERLIN GEORG LÖWISCH Als sie neulich um die Mittagszeit durch die Stadt gelaufen ist, hat ein Fremder sie in die Arme geschlossen. Muhterem Aras war vom Charlottenplatz unterwegs zum Stuttgarter Landtag, als der ältere Mann sie anhielt. „Sie sind doch Frau Aras.“ Er war griechischer Abstammung, Aras ist in der Türkei geboren. „Ich finde es toll, was sie erreicht haben“, sagte der Mann. „Danke.“ Ein Stück Sichtbarkeit Aras, 50 Jahre alt und gerade mit 42,4 Prozent wiedergewählte Grünen-Abgeordnete, kann mehrere solcher Erlebnisse erzählen. Sie wird erkannt in ihrer Stadt. Damit hat sie viel erreicht. Menschen aus Einwandererfamilien stecken in Deutschland immer noch in der politischen Bedeutungslosigkeit fest. Wenn eine aber doch sichtbar wird, dann bedeutet das auch für andere ein Stück Sichtbarkeit. Insofern ist es eine kleine Revolution, was am Dienstag im Stuttgarter Landtag geschehen ist. Die Grünen-Fraktion hat Aras als Landtagspräsidentin nominiert. In einer fraktionsinternen Kampfabstimmung setzte sie sich gegen die bisherige Vizepräsidentin Brigitte Lösch durch. Als stärkste Fraktion hat die KretschmannPartei das Vorschlagsrecht für die Chefin des Parlaments. Am Mittwoch kann das Parlament Geschichte schreiben: Wenn es die Muslimin aus Stuttgart in dieses Staatsamt wählt. Der grün-schwarzen Regierung haben deren Chefs Winfried Kretschmann und Thomas Strobl das Label des gesellschaftlichen Zusammenhalts gegeben. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land wollen wir stärken.“ Aras nimmt sie beim Wort. „Wenn wir den Zusammenhalt wollen, dann können wir mit dem Staatsamt einen Akzent setzen. Ich bin aus der Mitte. Die Mitte ist vielfältig. Sie wird zusammenhalten.“ Sie will das Zeichen. Aber natürlich will sie auch den Karrieresprung. Denn Aras ist ehrgeizig. Den Drang nach Bildung und Aufstieg hat ihr die Mutter eingeschärft, die bis heute Analphabetin ist. Muhterem Aras sagt, dass einem alle Möglichkeiten offen stehen müssen. Wer so eine Einstellung hat, dem muss es schief vorkom- Ein starker Akzent: Muhterem Aras, Tochter einer Analphabetin, ist neue Landtagschefin. Hier bei der Siegesfeier des ersten Grünen-Bürgermeisters in Stuttgart, 2012 Foto: imago Das Gesicht der Mitte HISTORISCH Mit Muhterem Aras wird zum ersten Mal eine Muslimin Präsidentin eines Landtags men, dass auf der grünen Kabinettsliste die Migrantenquote gleich null ist. Aras stammt aus dem kleinen Ort Elmaağaç nahe der Stadt Bingöl, Ostanatolien, sie selbst sagt heute: ein Kuhdorf. Der Vater ist zuerst nach Deutschland gegangen, zu Thyssen nach Filderstadt. Ausgerechnet das Unternehmen, dessen Umgang mit Gastarbeitern der Journalist Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“ offenlegte. Es war der Bericht, in dem ein Millionenpublikum in den Achtzigern den Alltag von Gastarbeitern zur Kenntnis kam, wie die taz-Kolumnistin und Autorin Jagoda Marinić in ihrem neu erschienen Essayband festgestellt hat. Ein als Gastarbeiter verkleideter Deutscher erzählt den Deutschen von Migranten. Nicht einer von ihnen selbst. „Mein Vater war bei Thyssen zufrieden“, sagt Muhterem Aras. „Er war dort angesehen.“ 1978 holt er die Familie nach. Fünf Kinder, drei Zimmer, 75 Quadratmeter. Muhterem geht auf die Hauptschule, dann auf die Wirtschaftsschule, dann aufs Wirtschaftsgymnasium. Fürs Studium nimmt sie einen Kredit über 60.000 Mark auf. Wenn sie ihr Leben erzählt, bekommt man eine Ahnung, wie viel Kraft es gekostet hat, bis sie ihre eigene Steuerkanzlei mit zehn Angestellten hatte. Die Familie ist alevitisch, eine liberale Form des muslimischen Glaubens. Aber auf dem Dorf sind die Sitten streng. Trotzdem dürfen Muhterem und ihre Geschwister sehr viel, vorausgesetzt, die Noten sind gut. Schullandheim, Schwimmen, Tanzkurs. Nur einen Freund darf sie Die harte Verhandlerin Edith Sitzmann könnte irgendwann Kretschmanns Nachfolgerin werden. Jetzt wird sie erst mal Finanzministerin GRÜNE Ministerpräsidenten. Die Grüne Reala STUTTGART taz | Manchmal kommt Kretschmann über Umwege auf den aus Freiburg, die bei öffentlichen AuftritPunkt. Als er der Presse seine Minister ten oft nur wenig Charisma versprüht, vorstellt, sagt er über Edith Sitzmann: hat in den Koalitionsverhandlungen gro„Mit ihr verliere ich eine ganz tolle Frak- ßes Verhandlungsgeschick bewiesen. tionsvorsitzende.“ Und erst dann: „Aber Dieses Talent dürfte ihr jetzt bei Budich freue mich, dass ich sie für dieses getverhandlungen in Zeiten der Haushaltsbremse zugute kommen. Nicht wewichtigste Ressort gewinnen konnte.“ Beides stimmt. Unter Grün-Rot hielt nige halten sie wegen ihres politischen Sitzmann auch bei umstrittenen Ent- Talents auch für eine potenzielle Nachscheidungen geräuschlos die grüne Frak- folgerin, wenn Kretschmann 2021 nicht tion zusammen – und pflegte trotzmehr antritt. Der selbst hat diese Spedem mit dem oft polternden kulationen befeuert, als er darauf SPD-Kollegen Claus Schmiehinwies, dass Regierungschefdel ein konstruktives ArbeitsNachfolger in Baden-Württemverhältnis. Kretschmanns berg seit mehr als 30 Jahren immer zuvor Fraktionschefs geVerhältnis zum damaligen worden seien. Sitzmann, nun Finanzminister Schmid dagegen galt als zerrüttet. im Finanzressort, könnte die Schmids Nachfolgerin gilt Erste sein, die mit dieser Tradition bricht. BES dagegen als enge Vertraute des Foto: dpa nicht haben. Als sie in der elften Klasse ihren heutigen Mann kennen lernt, schlägt sie den Eltern vor, ihn eben gleich zu heiraten. Nach den Osterferien kommt sie mit einem neuen Namen in die Klasse zurück. Die grüne Stimmenkönigin 1992 ist das Jahr der rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Sie geht abends seltener auf die Straße, sie kauft sich Pfefferspray. Du spinnst, sagt ihr Bruder. Sie sucht sich eine Partei, um zu zeigen, dass dieses Land auch ihr gehört. Die Grünen, sagt sie heute, sind offen. Sie hätten ihre Wahllisten früh geöffnet für Leute, die anders heißen als Schmidt und Schulze. Aber Aras sagt trocken: „Die Grünen sind definitiv keine Migrantenpartei.“ Das grün-schwarze Kabinett ■■Die CDU bekommt fünf Minis- terien: Inneres und Stellvertretender Regierungschef: Thomas Strobl. Justiz: Der CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl, Guido Wolf Landwirtschaft: Peter Hauk Kultus: Susanne Eisenmann Wirtschaft: Nicole HoffmeisterKraut ■■Die Grünen stellen den Ministerpräsidenten und bekommen ebenfalls fünf Ministerien: Finanzen: Die bisherige Fraktionschefin der Grünen, Edith Sitzmann Soziales: Manfred Lucha Wissenschaft: Theresia Bauer* Umwelt: Franz Untersteller* Verkehr: Winfried Hermann* *(wie bisher) Der Ehrgeiz treibt sie auch bei den Grünen nach oben. Kreisvorstand, dann Kreischefin. Gemeinderat, dann Fraktionschefin. Landtagskandidatin, dann bestes Ergebnis aller GrünenAbgeordneten 2011. 2016 wird sie noch einmal grüne Stimmenkönigin. Sie kann rechnen, kann taktieren, kann Leute auf die Matte quatschen. Weil sie auf ihrem Beruf aufbauen möchte, wird sie Finanzpolitikerin. Die Integrationsdebatte kommt trotzdem zu ihr. 2015 tritt sie im Landtag einem CDU-Mann entgegen, der herumfabuliert hat, es dürfe in Berlin ja bald nicht mehr Weihnachtsmarkt, sondern nur noch Wintermarkt heißen. Es ist Guido Wolf, der kurz vorher noch Landtagspräsident war. Die Geschichte mit den Weihnachtsmärkten stimmt nicht. Aras nennt Wolfs Verhal- ten „fahrlässig, gefährlich und verantwortungslos“Nun wird sie Guido Wolfs früheres Amt bekommen. Sie wird nach dem Ministerpräsidentin die wichtigste Repräsentantin des Landes sein: Fast ganz oben. Es ist die Rolle einer Schiedsrichterin. Sie muss mit der AfD klarkommen, über die sie sagt: „Sie haben Tendenzen, sich an den Rändern der Verfassung zu bewegen.“ Allein ihre Anwesenheit wird etwas verändern. Ihre Sichtbarkeit. Wenn die AfD-Politiker im Landtag wieder das große Gruseln vor der unbekannten, amorphen Masse der Muslime inszenieren, dann wird hinter ihnen eine Muslimin sitzen. Muhterem Aras, eine, die ihre Geschichte selber erzählt. Die für vieles steht, aber vor allem für sich. Die Neue mit Stallgeruch CDU Nicole Hoffmeister-Kraut wird Wirtschaftsministerin, vorher kannte die Unternehmerin kaum jemand auch als von Strobls CDU bestellte Kritik STUTTGART taz | Neu im Landtag und dann gleich ins Ministeramt. Eine sol- interpretieren kann. Der Jurist Wolf wird che Karriere war bei Frauen in der ba- nun Justizminister – mit einem skurrilen den-württembergischen Union lange Ressortzuschnitt: Er ist künftig nicht nur unvorstellbar. Die ungewöhnliche grün- für Europa, sondern auch für Tourismus schwarze Koalition macht das nun mög- zuständig. Thomas Strobl erklärte das dalich. Nicole Hoffmeister-Kraut ist 43 Jahre mit, dass „Tourismus und Europa miteialt und kam offenbar erst am Dienstag- nander zu tun“ habe. vormittag auf die Ministerliste des kleiNicole Hoffmeister-Kraut ist dennoch neren Koalitionspartners. Vor ihrer Kan- mehr als eine Kompromisskandidatin. didatur für den Landtag war sie sieben Die promovierte BWLerin war bei einer Jahre lang Kommunalpolitikerin. internationalen Beratungsagentur Hoffmeister-Kraut verhinund hat als Teilhaberin eines Badert nun, dass Guido Wolf ins linger Familienunternehmens Wirtschaftsministerium geauch den Stallgeruch, den die langt. Dagegen gab es auch hiesigen Mittelständler schätzen. Strobl jedenfalls scheint innerhalb der CDU harsche große Stücke auf sie zu halten. Kritik. Vor allem aber lehnten die Wirtschaftsverbände Die örtliche Presse zitierte ihn Wolf öffentlich ab. Was man als damit, er traue ihr zu, „wie eine BES unfreundliche Einmischung oder Foto: privat Rakete“ durchzustarten.
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