lesen - Dominik Osswald

Fokus
Ablagerung der Sedimente im Ur-Meer Tethys
Basel
Lugano
UR-AFRIKA
UR-MEER TETHYS
Sedimente und Sockel werden zu Alpen und Jura aufgefaltet und umgewandelt
E
ON
Hart und standfest. Trat
länger auf als erwartet.
95%
Eisten
MADERANERTAL
E
ON
SZ
NG
GA
ER
ÜB
SO NDIERSTO LLEN
Medelser Granit
Gips
700m
DolomitAnhydrit
(trocken)
SB
4.2
SO NDIE RBO HRU NGE N (SB )
URSEREN-GARVERA-ZONE
Chloritphyllit
450 m
Weich, blätterig und druckhaft.
Reich an Chlorit und daher für
Wiederverwertung als Baustoff
sehr ungeeignet.
GOT THARD - BASISTU NNEL
0%
35 km
35,5 km
300 m
chen auf die Fortsetzung des Gesteinskörpers im Untergund
schliessen. Dann ist es hilfreich,
wenn man bereits Informationen
aus der Tiefe hat, etwa vom Bau
benachbarter Bauwerke wie dem
Gotthard-Strassentunnel oder diverser Kraftwerkstollen. Liegen
dann immer noch zu spärliche Informationen vor, so können Sondierbohrungen hilfreich sein. Bei
der Vorerkundung wurden deren
76 in den Boden getrieben.
180/57
Gr
as
Geologe
tein)
Ges
PioraZone
Gesteinsflächen –
Fenster in den
Untergrund
1500 m
Erstfelder-Gneis
AAR-MASSIV
1300 m
Gneis
PENNINISCHE GNEISZONE
Das schwimmende Gebirge
S
Gesteinsfläche
Störung
36 km
2
Sie galt lange als die grosse Problemzone, weist das
Gestein doch mehr Eigenschaften einer Flüssigkeit
denn eines Feststoffes auf.
Der zuckerkörnige Dolomit
ist an der Oberfläche gut
aufgeschlossen, eine
schneeweisse Doline im Val
Piora lässt vermuten, dass
das eigenartige, wassergesättigte Gestein wie eine
Suppe im Berg sitzt. Man
Im anstehenden Gestein
findet man Flächen, etwa
bei Schichtwechsel oder durch
Schieferung. Diese können eingemessen werden. Hier fällt das Gestein
nach Süden ein (180°) und der Einfallswinkel beträgt 57°, man schreibt: 180/57.
So weiss man, wie das Gestein im 3D-Raum
liegt und kann es in diesem Fall bis aufs Tunnelniveau projizieren. Geologen suchen daher immer
nach diesen «Fenstern», wo anstehendes Gestein
nicht von Geröll oder Vegetation bedeckt ist.
hatte bereits Erfahrungen
gemacht mit dem Durchbohren davon: So brauchte
man beim Bau eines nahegelegenen Kraftwerkstollens für die Bewältigung
einer 400 Meter langen
Strecke über 5 Jahre.
Doch die Geologen
waren sich lange Zeit uneinig, wie gross der Tiefgang
der Piora-Zone tatsächlich
ist. Würde sie 1500 Meter
runterreichen bis auf das
Niveau des Basistunnels?
Um diese Frage zu beantworten, wurde ein Sondierstollen von Faido kommend
auf dem Niveau von 800 m
ü. M. bis an die Piora-Zone
herangebohrt. Als man vorsichtig mit dünnem Durchmesser hineinbohrte,
schoss das Gemisch aus
Wasser und Dolomitsand nur so heraus (Sondierbohrung 1.2). Eine weitere, ansteigende Bohrung
konnte dann durch den
ganzen Körper getrieben
werden (Sondierbohrung
1.3). Zum Vorschein kam
nebst dem zuckerkörnigen
Dolomit auch gefärbtes
Wasser, das man in einem
früheren Färbversuch an
der Oberfläche eingegossen hatte – das sprach für
das Vorhandensein eines
Karstsystems, und das wiederum dafür, dass sich das
heikle Wasser-Sand-Gemisch durch die Felsspalten theoretisch bis auf
das Tunnelniveau rund
400 Meter tiefer fortsetzen
könnte. Doch dann wurde
vom Sondierstollen die
Bohrung 4.2 angesetzt –
und sie brachte die Erlösung. Ab dem Niveau von
600 m ü.M. förderte sie
nämlich trockenes und
stabiles Dolomit-AnhydritGestein zutage. Damit war
klar, dass die Piora-Zone
nicht das erwartete
«Piéce de Résistance»
werden würde.
AAR-MASSIV
Aaregranit
Hart und standfest
85–100%
AAR-MASSIV
Erstfelder-Gneise
Hart und standfest
95%
Kanton Graubünden
Piz Vatgira
Kt. Graubünden
Kanton Tessin
Pizzo dell’Uomo
Wiederverwertung als
Zuschlag von Beton
Paré di Scutt
VAL TERMINE
Südportal
Bodio
Alp Tgom
1
VORDERRHEINTAL
Campello
Tengia
ÖFITAL
Monti Co
m ü.M.
5 km
10 km
AAR-MASSIV
CLAVANIEVZONE
40 m
Jeder Meter eine Pionierleistung
1500
Cavagnago
1000
URSERENGARVERA-ZONE
GOTTHARD-MASSIV
35 km
40 km
PIORA-ZONE
45 km
50 km
55 km
Gotthard-Basistunnel
Eisenbahntunnel
Erstfeld
Strassentunnel
URI
HLR
10 km
30 m
AU
M
Bohrkopf
10 m
0 m Höhe über Tunnelboden
57 km
PENNINISCHE GNEISZONE
Stecken geblieben!
20 m
Tunnelbohrmaschine (TBM)
TAVETSCHER
ZWISCHENMASSIV
30 km
300
0
15 km
HO
Tief im Berg stellt man fest: Die Geologen waren weitsichtig.
Fast alles wird so angetroffen, wie es Hunderte Meter weiter oben
vorausgesagt wurde, als Proben genommen und Schieferungsflächen eingemessen wurden. Doch es wäre nicht die Natur, wenn
es keine Überraschungen gegeben hätte: Am 18. Juni 2005 bleibt
die Tunnelbohrmaschine bei Kilometer 15 stecken.
25 km
20 km
2500
2000
2
460
0 km
Faido
600m
REUSSTAL
0
60–100%
814,63 m ü.M.
SB 1.2
Medelser Granit
1600 m
Etzliberg
1500
1000
Zuckerkörniger
Dolomit
(wassergesättigt)
GOTTHARD-MASSIV
Chrüzlistock
Nordportal
Erstfeld
PIORA-ZONE
SB 1
.3
Doch nicht immer lassen die oberflächlich beobachteten Schieferflä-
s
se
(lo
öll
r
Ge
Stärker tektonisch beansprucht
als der Granitgneis, dadurch
mehr gelängte Minerale.
SZ
NG
1000 m
it
UR-AFRIKA
Kanton Uri
2000
85–100%
Lagiger Granitgneis
76 Sondierbohrungen
für mehr Informationen
1400 m
Hart und standfest, mit
teilweise grossen Feldspäten
(sehr langsame Abkühlung).
PENNINISCHE GNEISZONE
an
Gr
Verkürzung
150 –200 km
ALPEN
2500 m ü.M.
Körnig, wassergesättigt.
Problematisch zu durchbohren.
re
Aa
Lugano
Granitgneis
0%
0%
erstes, grobes Profil gezeichnet.
Die Alpen sind die Knautschzone
der Kollision Afrikas und Europas.
Typischerweise fallen die Schieferflächen und die geologischen
Wechsel am Gotthard steil ein. Die
Projektion auf Tunnelniveau war
dadurch meistens präzis.
1
PENNINISCHE GNEISZONE
Trocken und weitgehend stabil. Wenig quellend.
Zuckerdolomit
0%
°
Vor ca. 25 Mio. Jahren
SOCKEL (URGESTEIN)
Anhydrit-Dolomit-Marmor
PIORA-ZONE
In Störzonen zermürbtes
Material. Wenig
standfest, druckhaft
(kann Bohrkopf
verklemmen).
57
SEDIMENTE
(MEERESABLAGERUNGEN)
SOCKEL (URGESTEIN)
UR-EUROPA
Kakirit
Der Bau des Gotthard-Basistunnels war auch eine
Auseinandersetzung mit der
Erdgeschichte. Schon in
den 1970er-Jahren
GOTTHARD-MASSIV
begannen Geologen
Streifengneis
herauszufinden, was
Hohe Festigkeit, reich
an Quarz und Feldspat.
die Tunnelbauer
90 –100%
dereinst erwartet. Ihre PrognoWas verbirgt sich im Untergrund?
se war präzis.
Wird ein Tunnel gebaut, ist das die
drängendste Frage. Durch Beobachtungen an der Oberfläche kann
man einige Annahmen treffen. Vor
allem das «anstehende Gestein»
ist von Interesse, also Felsen, die
offensichtlich Teil eines grösseren
Komplexes sind. Dort wo sie nicht
von Geröll, Gletscher oder Vegetation bedeckt sind, bieten sie wertvolle Einblicke in den verborgenen
Untergrund. Nebst Art und Beschaffenheit kann anhand struktureller Merkmale ermittelt werden, wie das Gestein im 3-D-Raum
liegt.
In den Gotthard-Gesteinen findet man oft Schieferflächen. Sie
entstanden durch die tektonische
Bewegung während der Alpenfaltung und sind stark ausgeprägt.
Mit dem Geologenkompass lassen
sich die Flächen einmessen. Je
mehr Messungen vorliegen, desto
genauer kann die grossräumige
Lage des Gesteinkörpers erfasst
werden. Auch Störungen können
an der Oberfläche ersichtlich sein
und eingemessen werden, also
Versätze im Gesteinsverband als
Folge der tektonischen Bewegung.
Mit diesen Informationen wird ein
17
PIORA-ZONE (SONDIERBOHRUNG)
GOTTHARD-MASSIV
Vor ca. 140 Mio. Jahren
Basel
TAVETSCHER ZWISCHENMASSIV
GA
Will man Entstehung und Konstellation der Gesteine am Gotthard verstehen, so muss man weit in die
Vergangenheit zurückgehen: Vor etwa 140 Millionen
Jahren lag zwischen Ur-Afrika und Ur-Europa das Urmeer Tethys. Hier lagerten sich mächtige Kalkbänke
und Sandsteinschichten auf dem kristallinen Grundgebirge ab. Durch die von der Plattentektonik angetriebene Konvergenz der Kontinente begann sich die
Tethys vor etwa 80 Millionen Jahren zu schliessen, die
Gesteinsschichten und das Grundgebirge wurden aufeinandergeschoben und verfaltet – sie türmten sich
zum Gebirge auf. Ein Nord-Süd-Querschnitt durch
die Schweiz zeigt daher die ganze Palette der Gesteine, die einst weit auseinander lagen und bei unterschiedlichen Bedingungen gebildet wurden. Die Verkürzung durch die Alpenfaltung beträgt rund 200 Kilometer.
Doch ein solcher Versatz geht nicht spurlos an den
Gesteinen vorbei. So können Geologen anhand von
strukturellen Merkmalen und mineralischer Zusammensetzung die Geschichte eines Gesteins präzise rekonstruieren. Geraten Gesteine unter grossen Druck
und hohe Temperaturen, so werden sie umgewandelt:
Die Gesteinschemie formt sich zu neuen, für die Druckund Temperaturbedingungen typischen Mineralen.
Man redet von metamorphen Gesteinen. Am Gotthard ist diesbezüglich die «alpine Regionalmetamorphose» ein wichtiges Ereignis. Man geht davon aus,
dass vor rund 20 bis 30 Mio. Jahren vermutlich ein in
die Kruste eindringender Magma-Körper die Gesteine erhitzte, während sie durch die Alpenfaltung überschoben wurden. Das Zentrum der Hitzequelle muss
im Sopraceneri gelegen haben. Dort findet man die
hochgradigsten Gesteine mit Mineralen, die sich unter
hohem Druck und ebensolchen Temperaturen (800 °C)
bildeten , zum Beispiel Diopsid oder Granat. Dagegen
findet man im Norden bei Erstfeld Gesteine, die einen
hohen Anteil grünlicher Minerale haben, etwa Biotit
und Chlorit. Diese Minerale sind typisch für tiefe
Druck- und Temperaturbedingungen.
Fokus
sonntagszeitung.ch | 1. Mai 2016
ER
Durch die
Erdgeschichte
gebohrt
Wie ein Teppich
zusammengeschoben
UR-EUROPA
1. Mai 2016 | sonntagszeitung.ch
ÜB
16
Schon bei Kilometer 8 kommt unerwartet hartes Gestein zum Vorschein – der Bristner Granit, eine typisch
stockförmige Intrusion, die sich den Geologen bei der
Vorerkundung verbarg, weil die Erosion sie noch nicht
freigelegt hatte. Die beiden TBM haben zu beissen,
doch sie kommen ohne grössere Probleme durch.
Sieben Kilometer später dann eine weitaus grössere Hürde: Bei KM15 ist gerade die erwartete Störzone
A13 geschafft, als hydrothermales Gestein auftritt:
Heisse Wasser haben hier gewisse Minerale im Gefüge aufgelöst und dem Gestein dadurch eine mürbe
Konsistenz verpasst. Ein typisches Phänomen im granitischen Gestein, doch bezüglich des Ortes ungefähr
so gut zu prognostizieren wie der Blitzschlag im Ge-
witter. Die in der Oströhre vorauseilende Tunnelbohrmaschine Gabi 1 bohrt sich ohne grössere Schwierigkeiten durch das mürbe Material. Anders Gabi 2
in der Weströhre – sie bleibt stecken. Ein Hohlraum
bildet sich, weil das mürbe Material auch wegen eines
Wassereinbruchs ständig nachkommt und schliesslich den Bohrkopf blockiert.
Ein halbes Jahr Pause
Während zweier Tage wird mehrfach versucht, den
Bohrkopf von Hand zu räumen und die Tunnelbohrmaschine wieder anzudrehen. Dies will trotz Mobilisierung der gesamten Antriebsleistung von 5500
PS nicht gelingen. Also versucht die Vortriebsmann-
schaft die Maschine um rund einen Meter zurückzuziehen. Dazu muss der letzte bereits eingebaute Stahlbogen wieder ausgebaut werden. Doch Gabi 2 kann
nur ein paar Zentimeter rückwärts bewegt werden.
In einem dritten Anlauf wird versucht, mit seitlichen
Nischen den Bohrkopf freizulegen. Nachfliessendes
Gestein bricht jedoch in diese Nischen ein und füllt
diese teilweise auf.
Es bleibt schliesslich nur eines übrig: Der Bohrkopf muss von vorne freigelegt werden. Dazu muss
das umgebende, lose Gestein mit Injektionen verfestigt werden. Von der benachbarten Oströhre nähert
man sich nun seitlich der blockierten Tunnelbohrmaschine, indem man einen Injektionsstollen her-
aushebt. Mit über 120 Bohrungen wird das Gebirge
vor und über Gabi 2 mit Zement und einem speziellen Gel verfestigt. Dabei gilt höchste Vorsicht, damitGabi 2 nicht versehentlich einbetoniert wird. 50 Tonnen Gel und circa 110 Tonnen Zementmischung werden eingebracht. So entsteht ein kompakter Körper
rund um den verschütteten Bohrkopf.
In der Zwischenzeit ist Gabi 1 in der Oströhre
schon weit fortgeschritten. Hinter dem Nachläufer
wird ein Querstollen zur Weströhre gebaut.
Am 23. November 2005 kann Gabi 2 schliesslich
von vorne freigelegt werden. Nach einem Stillstand
von mehr als fünf Monaten wird sie wieder angedreht.
Göschenen
Airolo
Infografik: Jürg Candrian
Recherche: Dominik Osswald
Quelle: Swisstopo und
Infocenter Alptransit Gotthard AG
Fotos: Stefano Schroeter
GRAUBÜNDEN
TESSIN
Bodio
Chiasso