Autor: Peter Leuten Der Vergleich ist gewagt: Was hat eine gigantische Tunnelbohrmaschine von bis zu 400 Metern Länge und einem Gewicht von 2.700 Tonnen mit einem Tier gemeinsam, das kaum über die Ausmaße eines Bleistifts hinaus kommt – einem Wurm gar, der sich nach menschlichen Maßstäben zudem als übler Schädling erweist? Nun, der Wurm, der eigentlich eine Muschel ist zeigt sich letztlich als wahrer Dickbrettbohrer und lehrte von der Antike bis zum Mittelalter vielen Seefahrern das Fürchten. War der Wurm in ihren Schiffen erst einmal drin, war alles zu spät. Dickbrett bohrer Bohren, was das Zeug hält A ls die Arbeiter auf Turner’s Shipyard in der San Francisco Bay bemerken, dass der Boden unter ihnen zu Schwanken beginnt, denken sie zuerst an ein Erdbeben. The Big One, welches die Metropole kurz nach der Jahrhundertwende verwüstet hatte, lag gerade einmal 15 Jahre zurück und war den meisten Menschen noch in wacher Erinnerung. Doch anders als bei einem Beben ist der Spuk nicht nach wenigen Sekunden vorbei: Der hölzerne Pier beginnt mit einem anfänglichen Knarren in Richtung der Bucht zu kippen, mit lautem Getöse bricht einer der mächti- gen Stützpfeiler nach dem anderen. Gerüste, Kisten, Maschinenteile rutschen der aufgewühlten gischtgekrönten See entgegen. Krachend versinkt schließlich auch der große Kran in den Fluten. In den letzten Monaten des Jahres 1920 versinken reihenweise Bootsanleger, ankernde Schiffe und Fabrikationsanlagen in der Bucht; allesamt Bauten, die auf Holzpfählen in der Bucht stehen. Beinahe wöchentlich wird ein neuer Verlust gemeldet. Der Küstenstreifen der San Francisco Bay bietet ein Bild wie nach einem verheerenden Wirbelsturm. Die Stadtväter sind ratlos und stellen ein Expertenteam zusammen, das diesem rätselhafte Phänomen auf den Grund gehen soll; Ingenieure, Holzspezialisten, Chemiker und Biologen. Es dauert nicht lange, bis die Ursache dieser fatalen Häufung von Zusammenbrüchen fest steht: Der dem Wasser ausgesetzte Teil von Balken und Stützpfeilern sieht an den Bruchstellen aus, wie ein Schweizer Käse und ist von Hunderten Gängen durchzogen, die mit einer spröden weißen Kalkschicht ausgekleidet sind. Die Stämme sind so weich, dass man ohne Mühe ein Messer hineinstechen kann. Die San Francisco Bay wird heimge- sucht von der schlimmsten Massenvermehrung von Schiffsbohrwürmern, auch bekannt unter dem Namen Teredo Novalis. Teredo und seine zahlreichen Verwandten sind knapp fingerdicke wurmartige Wesen, die in etwa die Länge eines Bleistifts erreichen. Doch obwohl sie dem ersten Augenschein nach das Aussehen eines Wurms zeigen, zählen sie gattungsmäßig zu den Muscheln. Die Muschelschalen indessen sind im Laufe der Evolution zu zwei scharfen, kleinen Platten degeneriert, die am Vorderende sitzen. Damit arbeitet sich das Tier Millimeter um Millimeter ins Holz. Freilich hat unser Schiffsbohrwurm nichts mit Wegebau zu tun; er beschränkt sich auf existenzielle Interessen: auf die Besetzung eines Lebensraumes und darauf, satt zu werden. Das Tier ernährt sich nahezu vollständig von den Zellulosebestandteilen des abgeraspelten Holzes. Der Wurm, der eine Muschel ist Das Leben der merkwürdigen Muschel beginnt als Massenveranstaltung: Im Sommer stoßen die Elterntiere in Abständen von wenigen Wochen schubweise Wolken von Larven ins Wasser aus. Nach der Befruchtung treiben diese Larven bis zu 3 Wochen zu Millionen frei im Wasser und setzen sich dann mithilfe konnte als damals größte Tunnelbohrmaschine der Welt mit einem Bohrkopfdurchmesser von 14,20 Metern auftrumpfen. Einige Jahre später bohrten sich die noch größeren S 317 und S 318, ebenfalls vom Spezialisten Herrenknecht geliefert, in Shanghai unter dem Jangtse durch. Mit gewaltigen 15,43 Metern sind sie bislang die größten Tunnelbohrmaschinen der Welt. Die Gestalt Wie die ungebetenen Knirpse im Holz sind auch die gigantischen Lindwürmer im Gestein eher kopflastig. Vorne ist da, wo sich das dicke Ende befindet. Sieht man beim Schiffsbohrwurm hier eigentlich nicht viel mehr als die aus zwei Bohrkopf eines Haftfadens am erstbesten Stück Holz fest, das sie finden können. Und schon beginnen die Knirpse zu bohren. Die kugeligen Larven verfügen nämlich bereits über die zwei kleinen Kalkschalen, mit denen sie ins Holz eindringen. Sobald hier ein erster Hohlraum entstanden ist, beginnt die Entwicklung zu einem langen Wurm, der sich tiefer und tiefer frisst. Hier fristet das Tier sein übriges rund drei Jahre währendes Leben. Der einzige Kontakt zur Außenwelt sind zwei peitschenförmige Schnorchel an der Schwanzspitze, die durch das winzige Loch in der Holzoberfläche ins Wasser ragen, welches das Tier Larve gebohrt hat. Durch diese Ein- und Ausströmöffnungen saugen die Muscheln sauerstoffreiches frisches Meerwasser und zusätzliche Nährstoffe ein. Die Natur baut Einbahnstrassen Hier liegt vielleicht der entscheidenden Unterschied zu unserem Vergleichsob- jekt: Während der Wurm sich bohrend seinen Lebensraum erschließt, dient die Tunnelbohrmaschine dazu, einen Weg durch Fels und Erdreich zu bahnen, den später Autos und Züge nutzen können. Doch am Ende überwiegen die Gemeinsamkeiten: Wie der Wurm besitzen Tunnelbohrmaschinen beispielsweise vorne ein rotierendes Schneidrad. Natürlich kann man von einem bleistiftgroßen „Wurm“ keine Wunder erwarten: Der Durchmesser der in Holz gebohrten Gänge liegt bei rund einem Zentimeter. Kein vergleich zu den Giganten, die sich zum Beispiel unter der Elbe oder dem Gotthard-Massiv hindurch bohren. Tunneldurchmesser S 108, von den Hamburgern liebevoll „TRUDE“ = „Tief runter unter die Elbe“ gennant, die Tunnelbohrmaschine, die zwischen 1997 und 2002 den vierten Elbtunnel gebohrt hat, rasiermesserscharfen Muschelschalen am Kopfende, die etwas über den eigentlichen Körper hinausragen, nimmt diesen vordersten Teil einer Tunnelbohrmaschine der Schild mitsamt Schneidrad ein. Es ist stahlröhrenartige Konstruktion, in die zahlreiche Bauteile der Maschine eingebettet sind. Zunächst einmal ist hier das Schneidrad gelagert, zudem sitzen hier die gewaltigen Antriebsmotoren, die das Schneidrad gegen alle Widerstände in Rotation versetzen. Die Herrenknecht-Maschine S 108 vereint in ihrem Schild eine Antriebsleistung von 3.400 kW, die eine brachiale Kraft entfalten: Das Schneidrad schmirgelt mit einem Drehmoment von unvorstellbaren 25.780 kNm am Gestein. Aufgaben Eine weitere Gemeinsamkeit beider Probanden ist, dass den gesamten Tunnelquerschnitt in einem Arbeitsschritt abbauen. Bei einer Tunnelbohrmaschine spricht man daher von Vollschnittmaschinen. Muschel wie Maschine müssen ergo für alle dabei anfallenden Arbeitsschritte die nötigen Einrichtungen „an Bord“ haben: Neben der eigentlichen Bohreinrichtung stellt sich bei den Dickschiffen unter Tage zum Beispiel die Aufgabe der Beseitigung des Abraums. Am Rand des Bohrkopfes angebrachte Schaufeln befördern das Gestein, welches unter der vernichtenden Wirkung des Schneidrades zu handtellergroßen Brocken zerfällt, zu- nächst ins Innere des Schildes, von wo es über Förderbänder unter dem sehr viel längeren Nachläufer dieser Giganten hindurch transportiert wird. Hier schaffen es zumeist leistungsfähigere Transportsystem wie Grubenbahnen fort. Doch selbst dann haben die am Bau beteiligten Unternehmen ein gewaltiges Problem: Beim Gotthardtunnel fraßen sich „Heidi“ und „Sissi“ durch zwei Mal fünfzig Kilometer! Gestein – samt Neben tunneln, Lüftungsschächten und Notausstiegen wurden insgesamt fast 150 Kilometer Tunnel durch das GotthardMassiv getrieben. Der hierbei anfallende Abraum reichte trotz der Weiterverwertung geeigneter Gesteins sor ten in der Betonproduktion noch locker Der längliche Laib scheidet eine kalkartige Substanz aus, die sich an der Wandung der gebohrten Gänge verfestigt. So bietet sich bei der Untersuchung zusammengebrochener hölzerner Buhnen und Dalben ein Bild von Kalkröhren durchzogener Gänge dar. Freilich gehen Tunnelbohrmaschinen hier in der Regel einen Schritt weiter: Am Ende der Maschine fügt ein weiterer Roboter bis zu 70 Zentimeter starke kreisförmige Betonsegmentbögen, die sogenannten Tübbinge, zur endgültigen Auskleidung des Tunnels zusammen. mussten für ihre bis zu eineinhalb Jahre währende Fahrt durch im Vorfeld festgelegte Teilabschnitte sämtliche für alle Eventualitäten erforderlichen Anlagenteile mit auf die Reise nehmen. Sissi und Heidi gerieten so zu zwei durchaus stämmigen Mädels mit rund 2.700 Tonnen Gewicht und 400 Metern Länge. Der Schiffsbohrwurm dagegen wird durchschnittlich nur etwa 20 cm lang. Im dänischen Isefjord fanden Holzspezialisten 1970 jedoch Exemplare mit über einem halben Meter Länge. Länge Die spannendste Gegenüberstellung bei dieser ungleichen Paarung ist natürlich die der Vortriebsleistung von Wurm und Maschine. Beim Bau des dafür aus, im Vierwaldstätter See eine Insel aufzuschütten, die nunmehr als Rückzugsraum für dort lebende Vogelarten dient. Die Muschel kennt dieses Problem nicht. Weichholzarten wie Kiefer oder Fichte bis hin zur heimischen Eiche sind für sie wahre Leckerbissen. Sie werden einfach gefressen. Eine weiterer unverzichtbarer Einrichtung ist bei den Tunnelbohrmaschinen das Gerät zum Bohren der Gesteinsanker, die beim Durchfahren von spröden brüchigen Formationen strahlenförmig in das umgebende Gestein getrieben werden müssen. Diese Anker geben der Erstsicherung den notwendigen Halt die je nach Erfordernissen aus Stahlstützbögen und Stahlmatten besteht. Diese Armierung wird in der Folge vom Spritzbetonroboter durchfahren, der diese Vorab-Auskleidung sichert. Bei den Gotthardmaschinen S 210 und S Tunnelwand Die beiden beim Bau des Gotthard-Basistunnels eingesetzten Maschinen 211 saß zwischen dem Mattenversatzgerät und dem Spritzbetonroboter konstruktionsbedingt jedoch die Vortriebsmechanik. Sie besteht aus einer Schreiteinrichtung und dem Gripper, zwei mächtigen halbkreisförmigen Platten, die von gewaltigen Hydraulikzylindern an die bereits gebohrte Tunnelwand gepresst werden und daraufhin für den notwendigen Anpressdruck des Schneidrades sorgen. Genau in diesem neuralgischen Bereich erlitt S 210 im Gotthardmassiv eine Havarie. Die Tunnelwand brach ein und begrub die Maschine unter sich. So musste S 211, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs war, kehrt machen und der Schwestermaschine zu Hilfe eilen. Spritzbeton oder Kalkschale Solche Misslichkeiten schaltet der Schiffs bohrwurm von Borne herein aus. Bohrleistung Elbtunnels fraß sich TRUDE mit 111 Schälmessern für weiches Gestein und 31 Rollenmeißeln für Hartgestein durchschnittlich 6 Meter am Tag unter der Elbe hindurch. Der Wurm hingegen schafft bei angenehmen 15 bis 25 Grad Celsius in einem halben Jahr selbst bei vergleichsweise harten Eichenstämmen nur etwa 30 Zentimeter. Bei einer Lebenserwartung von drei Jahren käme man so auf eine „Lebensleistung“ von .
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