Inhalt - MPIfG

Inhalt
Dank ........................................................................................................... 9
Kapitel 1
Einleitung ................................................................................................. 11
Kapitel 2
Theorien der Fertilität, Kontexteffekte und regionale
Unterschiede der Geburtenraten ............................................................ 23
2.1 Unter welchen Bedingungen erfolgt die Entscheidung für Kinder?
Handlungstheorien und -modelle der Fertilität ................................... 23
2.2 Sozialstruktur- und Strukturstudien als Erklärungen regional
unterschiedlicher Fertilitätsraten ........................................................ 31
2.3 Milieu- und Lebensstilstudien als Erklärungen regional
unterschiedlicher Fertilitätsraten ........................................................ 35
2.4 Die Untersuchung regional unterschiedlicher Geburtenraten
mit dem Konzept sozialer Milieus ...................................................... 41
2.5 Der nationale Kontext und regionale soziale Milieus .......................... 49
2.6 Erkenntnismöglichkeiten aus einer Milieustudie zu regionalen
Unterschieden der Fertilitätsraten ....................................................... 53
6
Inhalt
Kapitel 3
Mixed-Methods-Analyse ........................................................................... 57
3.1 Fallauswahl zweier westdeutscher Landkreise in einer
quantitativen Analyse ......................................................................... 58
3.2 Qualitative Analyse ............................................................................. 70
Kapitel 4
Waldshut und Fürth im Profil ................................................................ 79
4.1 Strukturelle Lage und soziale Bevölkerungs­zusammensetzung ............ 79
4.1.1 Räumliche Lage und strukturelle Merkmale ............................. 79
4.1.2 Wirtschaftliche Situation .......................................................... 80
4.1.3Kinderbetreuungsangebot ........................................................ 88
4.1.4 Sozialstruktur der Bevölkerung ................................................. 90
4.1.5 Politische Situation ................................................................ 103
4.1.6Zusammenfassung .................................................................. 107
4.2 Die Gemeindeebene ......................................................................... 108
4.2.1Waldshut ................................................................................ 110
4.2.2Fürth ...................................................................................... 115
Kapitel 5
Die sozialen Milieus .............................................................................. 121
5.1 Das modernisierte soziale Milieu ...................................................... 123
5.1.1 Die räumliche Gestalt der Gemeinde ..................................... 123
5.1.2 Familienleben und Familienformen ........................................ 125
5.1.3Vereinsleben ........................................................................... 131
5.1.4 Soziales Klima und Akteure .................................................... 134
5.1.5 Milieuabhängige Ausgestaltung öffentlicher
Kinderbetreuungsangebote ..................................................... 140
5.1.6 Familienleitbild des modernisierten sozialen Milieus .............. 145
5.1.7 Historische Entstehungsbedingungen des Familienleitbilds .... 148
5.1.8 Die Stabilität des Familienleitbilds: Soziale Mechanismen ...... 153
5.1.9Zusammenfassung .................................................................. 155
Inhalt
7
5.2 Das traditionale soziale Milieu .......................................................... 156
5.2.1 Die räumliche Gestalt der Gemeinde .................................... 156
5.2.2 Familienleben und Familienformen ........................................ 162
5.2.3Vereinsleben ........................................................................... 166
5.2.4 Soziales Klima und Akteure .................................................... 169
5.2.5 Milieuabhängige Ausgestaltung öffentlicher
Kinderbetreuungsangebote ..................................................... 177
5.2.6 Familienleitbild des traditionalen sozialen Milieus .................. 183
5.2.7 Historische Entstehungsbedingungen des Familienleitbilds .... 185
5.2.8 Die Stabilität des Familienleitbilds: Soziale Mechanismen ...... 189
5.2.9Zusammenfassung .................................................................. 190
Kapitel 6
Vergleich, Typologisierung und Interpretation ............................... 193
6.1 Vergleichende Beschreibung der Charakteristika beider Milieus:
Unterschiede und Gemeinsamkeiten ................................................ 194
6.1.1 Familienleitbilder des modernisierten und des traditionalen
sozialen Milieus ..................................................................... 199
6.1.2 Wirkungsweisen sozialer Milieus ............................................ 201
6.2 Milieuunterschiede und unterschiedliche regionale Fertilitätsraten .... 204
Kapitel 7
Ausblick ........................................................................................ 213
7.1 Die Interpretation der Situation: Regional unterschiedliche
Fertilitätsraten und die Relevanz sozialer Milieus .............................. 214
7.2 Übertragbarkeit der betrachteten Zusammenhänge auf regional
und international unterschiedliche Fertilitätsraten ............................ 217
7.3 Eigene Bewertung und Diskussion möglicher familienpolitischer
Maßnahmen ..................................................................................... 219
7.4Forschungsbeitrag ............................................................................. 220
7.5Forschungsbedarf ............................................................................. 223
8
Inhalt
Anhang ................................................................................................... 227
A
Quantitative Fallauswahl .................................................................. 227
A-1 Der Datensatz INKAR 2011 .................................................. 227
A-2 Lineare Regression .................................................................. 227
A-3Matching ............................................................................... 228
A-4 Waldshut: Deskriptive Statistiken ........................................... 237
A-5 Fürth: Deskriptive Statistiken ................................................. 238
B
Das modernisierte soziale Milieu ...................................................... 242
C
Das traditionale soziale Milieu .......................................................... 246
Abbildungen ............................................................................................. 249
Tabellen .................................................................................................... 251
Interviews ................................................................................................. 253
Literatur ................................................................................................... 255
Dank
Seit geraumer Zeit ist die Geburtenentwicklung Thema öffentlicher Debatten
in Deutschland. In diesen Debatten geht es nicht nur um den Fakt der zunehmenden Alterung der Bevölkerung oder die Zukunft der Sozialsysteme. Verschiedenste politische und gesellschaftliche Lager ringen um Meinungshoheiten
und die richtige Interpretation von Gründen und Folgen dieser Entwicklung.
Die Familie ist längst keine Privatsache mehr. Rollenbilder von Frauen und
Männern werden zunehmend hinterfragt und der Begriff der Familie steht zur
Debatte. In diesen Diskussionen um die adäquate Interpretation der Hintergründe der niedrigen Geburtenzahlen überraschte mich eine Feststellung: In
manchen deutschen Landkreisen ist die Geburtenzahl so hoch, wie man es nur
von den geburtenstarken Ländern Schweden und Island kennt. Die Einordnung
Deutschlands als Niedrigfertilitätsland schien zu wanken.
Je eingehender ich nach Antworten für dieses Phänomen suchte, umso mehr
Fragen ergaben sich: Warum hat die kürzlich erfolgte Einführung eines erweiterten Anspruchs auf Kindertagesbetreuung oder des Elterngeldes nicht überall den erwarteten positiven Effekt oder wird in unterschiedlichem Ausmaß in
Anspruch genommen? Warum werden in manchen Landkreisen mehr Kinder
geboren, als man es anhand der Zahl der angebotenen Kindergartenplätze oder
der regional guten wirtschaftlichen Lage vermuten könnte?
Unter den vielen Gründen für diese Ungereimtheiten wurde ich insbesondere aufmerksam auf einen Aspekt: regionalkulturelle Gegebenheiten. In der Literatur bestehen seit Längerem Vermutungen, dass die soziale Umgebung und damit auch das historische kulturelle Erbe eine entscheidende Rolle für die Höhe
regionaler Geburtenzahlen spielt. Wie genau, war bislang jedoch ungeklärt,
ebenso, wie dieser Einfluss mit den bekannten Faktoren, etwa dem Kinderbetreuungsangebot, interagiert. In meiner Dissertation habe ich mir deswegen die
Aufgabe gestellt, diesen Vermutungen durch eine Kombination quantitativer
Analysen, qualitativer Forschung, beispielsweise in Form von Interviews in verschiedenen sozialen Umgebungen, und durch das Studium regionalhistorischer
Quellen nachzugehen.
10
Dank
Die Möglichkeit, diesen innovativen Weg gehen zu dürfen, verdanke ich
ganz wesentlich der wissenschaftlichen Neugierde, Offenheit und Ermunterung
meines Betreuers, Wolfgang Streeck, dem ich für seine konstruktiven Kommentare und die kritische Begleitung meiner Dissertation zu großem Dank verpflichtet bin. Diese Offenheit und Neugierde habe ich auch immer wieder durch
Kollegen und Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung
(MPIfG) erfahren dürfen. Die anregenden Diskussionen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen haben mir immer neue Einblicke gewährt und mich ermahnt, nicht zu vergessen, in welchem
gesamtgesellschaftlichen Kontext die von mir beobachteten Entwicklungen geschehen. Ebenso bedanke ich mich herzlich bei meinem Zweitgutachter Karsten
Hank, der stets ein offenes Ohr hatte und mir mit hilfreichen Kommentaren
und aufmunternden Worten immer wieder zur Seite stand.
Mein herzlicher Dank für ihre stets guten Ideen, hilfreichen Kommentare
und aufbauenden Worte gilt auch meinen Kollegen Timur Ergen, Lukas Haffert,
Sebastian Kohl und Daniel Mertens, die zur selben Zeit ähnliche Herausforderungen beim Verfassen ihrer Dissertationen zu meistern hatten. Armin Schäfer
danke ich für interessante Diskussionen, gute Ideen, konstruktive Kritik und
emotionale Unterstützung. Sara Weckemann und Annina Assmann haben mir
viele inhaltliche Anregungen gegeben und in produktiven Diskussionen neue
Einsichten vermittelt. Sarah Berens hat mich immer wieder inhaltlich unterstützt und motiviert. Auch ihr gilt mein besonderer Dank. Zuletzt hat mir die
unermüdliche Arbeit der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am MPIfG dabei geholfen, so manche Hürde leichter zu überwinden und
einige Hürden nicht einmal bemerken zu müssen. Vielen herzlichen Dank!
Mein größter Dank gebührt Daniel Hargesheimer, der mich liebevoll durch
alle Phasen dieser Dissertation begleitet hat, mit dem ich stets meine Fragen und
Zweifel erörtern konnte und der mir immer unterstützend und aufmunternd zur
Seite stand. Ihm und meiner Familie ist dieses Buch gewidmet.
Köln, im Januar 2016
Barbara Elisabeth Fulda
Kapitel 1
Einleitung
»Die Bevölkerungspyramide in der Bundesrepublik Deutschland steht auf dem
Kopf« (Deutscher Bundestag 2002: 12). Den nationalen öffentlichen Diskurs
in Deutschland über die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme prägen wesentlich die seit Jahrzehnten sinkenden Geburtenraten, oft verbunden mit
dem Hinweis auf die negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und die sozialen
Sicherungssysteme (siehe Abbildung 1-1). Deutschland wird im Vergleich zu
anderen westlichen Industrieländern wie Schweden oder Frankreich als Niedrigfertilitätsland betrachtet (zum Beispiel Bujard et al. 2012). Diese Einordnung
hat auch die Forschung zum demografischen Wandel in den letzten Dekaden
beeinflusst. Vor dem Hintergrund eines starken Geburtenrückgangs und einer
steigenden Lebenserwartung in Deutschland konzentriert sich ein Großteil der
Forschungsarbeiten auf den nationalen Kontext und länderübergreifende Vergleiche der Determinanten dieser Entwicklung.
Von der niedrigen nationalen Fertilitätsrate, die im Jahre 2012 bei 1,38 Kindern pro Frau lag,1 auf eine regional ebenso niedrige Fertilitätsrate zu schließen,
leitet allerdings fehl: Hinter dem Durchschnittswert der deutschen Fertilitäts­
rate verbergen sich große regionale Unterschiede der Geburtenzahlen.2 Inner 1Statistisches Bundesamt, 2013: Geburtenrückgang in Deutschland von 1951 bis 2012. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. <https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Bevoelkerung/lrbev04.html> (abgerufen am 16.10.2013)
2Anstelle der altersspezifischen und ehelichen Fertilitätsrate wird in der gesamten Arbeit die
Maßzahl der allgemeinen Fertilitätsrate verwendet. Sie bezeichnet die Zahl der lebend geborenen Kinder je 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 45 Jahren (manchmal 49
Jahren):
f =
Gt 0 → t 1
Ft 0 → t 1
× 1.000
wobei: f für die allgemeine Fertilitätsrate, Gt 0 → t 1 für die Anzahl der im Zeitintervall (t 0 ,t 1)
lebend geborenen Kinder und Ft 0 → t 1 für die mittlere Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter
im Zeitintervall (t 0 , t 1) steht (Iris Hoßmann/Reiner Münz, 2013: Fertilitätsrate, allgemeine.
In: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Online-Handbuch Demografie, Glossar.
<www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/glossar.html#c1422> [abgerufen am 29.3.
2014]). Werden im Text andere Begriffe wie regional unterschiedliche Geburtenraten oder Ge-
12
Kapitel 1
Abbildung 1-1
Geburtenrückgang in Deutschland, 1951–2012
Geburten je 1.000 Einwohner
17,5
15,0
12,5
10,0
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2013: Geburtenrückgang in Deutschland von
1951 bis 2012. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. <https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Bevoelkerung/lrbev04.html>
halb beider Landesteile unterscheidet sich die Anzahl neu geborener Kinder regional deutlich: In Westdeutschland reichen die Unterschiede von 1,14 bis 1,8
Kindern pro Frau, während sie in Ostdeutschland von 1,26 bis 1,5 Kinder pro
Frau reichen.3 Darüber hinaus unterscheiden sich Ost- und Westdeutschland
burtenzahlen zur Kennzeichnung regional unterschiedlicher Fertilitätsraten verwendet, so dient
dies ausschließlich der Lesbarkeit.
3Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, 2011: INKAR, Zahlen von 2010. Berlin:
BBSR. <www.inkar.de>
Einleitung
13
hinsichtlich der verbreiteten Familienformen. Außerdem ist in Ostdeutschland, abgesehen vom globalen Trend der Anpassung des ostdeutschen an das
westdeutsche Fertilitätsniveau, ab dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung eine
starke Dynamik des Fertilitätsverhaltens zu beobachten (Basten/Huinink/Klüsener 2011; Kopp 2002). Stark und Kohler (2005) weisen angesichts dieser Unterschiede darauf hin, dass die Fertilitätsrate das aggregierte Ergebnis regional
heterogenen Fertilitätsverhaltens darstellt, dessen Unterschiede angesichts der
prominenten Besprechung der niedrigen nationalen allgemeinen Fertilitätsrate
in der öffentlichen Berichterstattung in den Hintergrund treten. Über das tatsächliche generative Verhalten der Bevölkerung könne jedoch nur eine Untersuchung regionaler Muster der Familienbildung Auskunft geben. Aufgrund der
regionalen Diversität der Geburtenraten in Deutschland spricht die Akademie
für Raumforschung und Landesplanung4 sogar von einem Mosaik von in ihrer
demografischen Entwicklung teils wachsenden, teils schrumpfenden Teilgebieten. Offensichtlich gibt es in Deutschland Regionen, in denen steigende Geburtenraten zu beobachten sind, was vor dem Hintergrund der insgesamt niedrigen
Geburtenrate überrascht. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, wie sich diese
von anderen Regionen mit niedrigen Fertilitätsraten unterscheiden und warum
regional unterschiedlich viele Kinder in Deutschland geboren werden. Offenbar
werden verschiedene Akteure, die in derselben Region leben, in ihren Handlungen ähnlich durch regionale Faktoren beeinflusst.
Regionale Unterschiede der Familienbildung werden üblicherweise durch
den Einfluss struktureller Faktoren wie unterschiedlicher Infrastrukturen5, der
unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage von Regionen oder der unterschiedlichen soziostrukturellen Zusammensetzung der Bevölkerung erklärt (Gude
2010; Hank/Kreyenfeld/Spieß 2004; Huinink/Wagner 1989). Diese Faktoren
werden in quantitativen Studien als erklärende Variablen eingesetzt und können die regionalen Unterschiede bereits zu einem Großteil erklären. Allerdings
indiziert die verbleibende unerklärte Varianz in quantitativen Analysen, dass
weitere Faktoren erklärend für diese regionale Variabilität sind. Gerade Regio­
nen, in denen eine höhere oder niedrigere Fertilitätsrate besteht, als auf Basis
der bekannten Faktoren zu erwarten wäre, stellen bisher unerklärte Fälle dar.
Angesichts dieser Evidenz verweist Hank (2003a: 95) auf den Einfluss »raumgebundener sozio-kultureller Milieus […], die sich z. B. in der Akzeptanz nicht­
4Akademie für Raumforschung und Landesplanung, 2013: Bevölkerung, Sozialstruktur, Siedlungsstruktur. <www.arl-net.de/content/bevoelkerung-sozialstruktur-siedlungsstruktur> (abgerufen am 13.10.2013)
5Mit infrastrukturellen Einflussfaktoren ist in dieser Arbeit, wenn nicht anders bezeichnet, der
regionale Versorgungsgrad mit familienpolitischen Instrumenten wie Kindertagesstätten und
-krippen oder Ganztagsschulen gemeint.
14
Kapitel 1
ehelicher Lebensgemeinschaften und vorehelicher Elternschaft, oder in kollektiven Erwartungen […] voneinander unterscheiden.« Diese Aussage knüpft an
Naucks (1995) Feststellung an, dass staatliche sozialpolitische Anreize nur in
Kombination mit unterschiedlichen, in regionalen Milieus verbreiteten Leitbildern der Lebensführung wirken und somit jeweils unterschiedliche Effekte
auf die Familiengründung oder -erweiterung haben beziehungsweise zuweilen
sogar wirkungslos sein können. Nauck kritisiert in seiner Untersuchung über
regionale Milieus von Familien in Ost- und Westdeutschland die theoretischen
Annahmen bisheriger Erklärungen national unterschiedlicher Geburtenraten
als »struktur-funktionalistisch«, da sie sich eindimensional auf historische Unterschiede zwischen den politischen Systemen West- und Ostdeutschlands und
deren pfadabhängige Wirkung konzentrieren. Regionale Unterschiede im Fertilitätsverhalten in Deutschland beschränken sich, so Nauck, dagegen nicht nur
auf Ost-West-Unterschiede und damit auf den Einfluss früherer politischer und
ökonomischer Systeme. Tatsächlich bestehen innerhalb Ost- und Westdeutschlands deutlich größere Unterschiede in den Fertilitätsraten als zwischen Ostund Westdeutschland.6 Nauck weist bei der Erklärung regionaler Unterschiede
von familiärer Lebensführung deshalb auf die Wichtigkeit räumlicher sozialer
Kontexte hin.
Für andere Aspekte der Lebensführung wurde der Einfluss regionaler sozialer
Kontexte bereits nachgewiesen. Kearns und Parkinson (2001) etwa stellen einen
Einfluss sozialer Milieus auf die physische Gesundheit ihrer Mitglieder fest. Auch
das Armutsrisiko (Friedrichs 1998), das Wahlverhalten (Schäfer 2012) sowie die
Tendenz zu kriminellen Verhaltensweisen (Oberwittler 2010) werden durch den
sozialen Kontext beeinflusst. Ergänzend zu den genannten strukturellen Unterschieden könnten subnationale Fertilitätsunterschiede in Deutschland also mit
kulturellen Unterschieden umfassender erklärt werden. Angesichts dessen und
in Fortführung von Naucks Analyse regionaler sozialer Milieus wird in dieser
Arbeit die These überprüft, dass regionale soziale Milieus einen Beitrag zur Erklärung regionaler Unterschiede der Geburtenzahlen leisten. Eine hinreichende
Erklärung für diese Unterschiede kann danach nur gegeben werden, wenn nicht
6Im Westen Deutschlands wurden beispielsweise im Jahr 2008 Fertilitätsraten von unter 1,3
im Landkreis Lüneburg bis über 1,7 Kindern pro Frau im Landkreis Cloppenburg festgestellt
(Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2016: <https://www.destatis.de/onlineatlas/>
[abgerufen am 17.2.2016]). Die Fertilitätsraten in Ost- und Westdeutschland sind dagegen
im Jahr 2007 mit 1,37 Kindern pro Frau im Westen und 1,37 Kindern pro Frau im Osten
identisch (Statistisches Bundesamt, 2010: Durchschnittliche Kinderzahl je Frau sinkt 2009 leicht
auf 1,36. Pressemitteilung 414 vom 12.11.2010. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. <https://
www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2010/11/PD10_414_12641.
html> [abgerufen am 27.3.2014])
Einleitung
15
nur strukturelle regionale Bedingungen und die soziostrukturelle Zusammensetzung der Bevölkerung betrachtet werden, sondern auch deren Übersetzung
in individuelle Handlungsorientierungen, die vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit eines Individuums zu einem sozialen Handlungskontext stattfindet.7
Eine solche Erklärung verknüpft dabei sowohl unterschiedliche Vorstellungen
von Raum und Räumlichkeit als auch unterschiedliche methodische Vorgehensweisen miteinander, wie ich im Folgenden darstelle.
Um regionale Geburtenunterschiede zu erklären, wird in der demografischen
Forschung häufig auf die regionale soziostrukturelle Zusammensetzung der Bevölkerung und die regionale Struktur verwiesen. Die implizite Annahme, zumeist
unter Bezugnahme auf die familienökonomische Theorie (Becker1981), ist, dass
Individuen auf ähnliche regionale Strukturen in gleicher Weise reagieren. Somit
kann fast schon deterministisch eine bestimmte Verhaltensreaktion aus einem regionalen Einflussfaktor abgeleitet werden. Regionen, die sich in ihrer regionalen
Struktur und der soziostrukturellen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung ähneln,
sollten danach eine regional ähnlich hohe Fertilitätsrate haben. Dabei wird angenommen, dass die Fertilitätsrate das Ergebnis individueller Entscheidungen ist,
die wiederum auf individuellen Merkmalen basieren.8 Der Raum als eigenständige Größe, in dem historisch gewachsene Regionalkulturen in sozialen Praktiken
ständig reproduziert werden, und der Mensch als kulturelles Lebewesen spielen
in diesem Konzept kaum eine Rolle. Löw (2001: 224) betrachtet den Raum dagegen als »relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten«. Nicht
der Raum selbst als »physisches Substrat«, sondern »die einzelnen sozialen Güter
und Lebewesen weisen Materialität auf«, so Löw (ebd.: 229). Diese Idee von
Raum ist Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung.
Während raumungebundene Erklärungsmodelle eher Gemeinsamkeiten zwischen Regionen beleuchten, helfen nur Erklärungen, die Raum und Zeit einbeziehen, dabei, regionale Unterschiede zu erklären.9 Gerade weil sie die Rolle des
7 Auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen des methodologischen Individualismus und
Strukturalismus stellt dies eine mittlere Position dar.
8Nach Sewell (2005: 14): »Social conduct, the specific features of institutions, or particular beliefs and opinions may vary widely, but these variations are seen as effectively shaped or regulated by underlying structures.«
9
Schooler (1996: 240–241) weist auf die unterschiedlichen Erklärungspotenziale sozialstruktureller Faktoren gegenüber historisch gewachsenen kulturellen Unterschieden in Erklärungen
regionaler sozialer Phänomene hin. Während ersterer Einflussfaktor eher ähnliche Handlungsmuster erklären könne, trage die Untersuchung regionalkultureller Spezifika zum Verständnis
regional unterschiedlicher Handlungsmuster bei. Zu Letzterem möchte diese Arbeit durch die
Untersuchung regionalkultureller Unterschiede beitragen. Schooler begreift beide Faktoren als
erklärend, jedoch jeweils in begrenztem Ausmaß, sodass sodass beide einen Anteil der erklärten
Varianz einnehmen: »I think of modern social structure as producing similarities in behavior
when one country is compared to another, but equally I think of historically derived cultures as
16
Kapitel 1
Raums unterschiedlich betrachten, stehen beide Herangehensweisen in einem
Spannungsverhältnis zueinander. Methodisch drückt sich das darin aus, einerseits quantitative Analysen derselben Faktoren an einer Vielzahl von Regionen
durchzuführen oder andererseits wenige Regionen mit ihren spezifischen historischen Hintergründen detailliert zu betrachten. Im vorliegenden Fall soll eine
Verschränkung beider Herangehensweisen versucht werden. Wo der quantitative
Ansatz mit seinen räumlich ungebundenen einheitlichen Erklärungsansätzen keine weiteren Erkenntnisse mehr liefert, wechselt die Perspektive zur detaillierten
qualitativen Untersuchung einzelner Regionen, um weitere Erklärungen für regionale Unterschiede von Geburtenraten zu finden. Dies ermöglicht es, zusätzlich
zur regionalen Struktur auch die jeweilige regionale Kultur zu untersuchen. Umgesetzt wird dieses Vorhaben durch die Identifikation zweier Landkreise, deren
Fertilitäts­raten in einer quantitativen Analyse nur unzureichend erklärt werden.
Diese sind Waldshut und Fürth. Während Fürth eine höhere Fertilitätsrate hat als
in der quantitativen Analyse erwartet, ist diejenige von Waldshut deutlich niedriger als erwartet. Diese Diskrepanz stellt den Ausgangspunkt der qualitativen
Analyse in beiden Landkreisen dar.
Ziel dieser Arbeit ist es, die bisher in der Forschung bestehende Konzentra­
tion auf strukturelle und sozioökonomische Einflussfaktoren zu überwinden
und um eine kulturelle Erklärung zu erweitern. Bei der Betrachtung des Zusammenspiels dieser Einflüsse werden auch Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen,
vielmehr explizit anerkannt. Ausgangspunkt ist ein Raumkonzept, das unterschiedliche geografische Räume nicht ausschließlich durch Merkmale wie Größe
und Dichte, sondern auch als soziale Kontexte definiert. Durch die Betrachtung
sozialer Regionalkontexte ist es möglich, Erklärungen für Handlungsorientierungen von Individuen zu geben, die durch die bisherigen Herangehensweisen
nicht gegeben werden können, denn: »Money or education per se does not make
children or does not inhibit any birth« (Lutz 2013: 17). Bisherige Erklärungen
regionaler Fertilitätsunterschiede fußen auf dem zeitlich-linearen Denkkonzept
der Moderne (zum Beispiel Rinderspacher 1985) und nehmen implizit die Konvergenz regionaler Fertilitätsunterschiede an. Diese Grundannahme von Modernisierungstheorien, gleichzeitig auch Grundlage vieler Arbeiten zu regionalen
Unterschieden der Fertilitätsraten, wird hier durch ein Denkmodell der Stabilität sozialer Handlungskontexte ersetzt.
producing differences in behavior in different countries. Empirically the question boils down
to the amount of variance accounted for by each of these independent variables in samples of
human behavior« (Schooler 1996: 240–241).
Einleitung
17
Den Hintergrund für die detaillierte qualitative Betrachtung beider Regionen bildet das Konzept regionaler Milieus, das bekanntlich schon Nauck (1995)
in seiner Untersuchung über regionale Unterschiede familiärer Lebensführung
in Ost- und Westdeutschland aufgreift. Nach Hradil (2006: 4) werden soziale
Milieus als »Gruppen Gleichgesinnter [verstanden], die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und
Mentalitäten aufweisen«. In der Literatur werden sie als wandelbar angenommen, sie ändern sich jedoch annahmegemäß nur langsam. Der Einfluss von Milieus ist über längere Zeit gewachsen und damit recht stabil über die Zeit. Das
Konzept eignet sich für diese Studie, da es regionale Unterschiede der Lebensführung sowohl durch sogenannte objektive Faktoren in der Sozialstruktur, die
sich regional bündeln beziehungsweise überzufällig häufig gemeinsam auftreten,
als auch durch eine kulturelle Dimension erklärt. Letztere lässt sich empirisch
anhand einer Bündelung von Werten in regionalen sozialen Milieus beobachten
(Hradil 2006: 4). Eine Analyse regionaler Milieus setzt also die Untersuchung
»subjektiver« Indikatoren wie individueller Einstellungen, Handlungspräferenzen, Normen und Werte voraus. Wo die Erklärungen regionaler Geburtenzahlen durch bekannte Indikatoren keinen Erklärungsbeitrag mehr leisten, ergänzt
sie eine Erklärung auf Basis des Konzepts sozialer Milieus. Da unabhängig von
Einkommen und Bildungsniveau seit Jahrzehnten eine zunehmende Variation
von Lebensstiltypen zu beobachten ist, eignet sich dieses Konzept auch für die
Untersuchung regional unterschiedlicher Muster der Familienbildung.10 Gleichzeitig erfasst das Konzept überindividuelle Einflüsse auf individuelles Verhalten.
Stoll (2012) weist daraufhin, dass durch die Mitgliedschaft in sozialen Milieus
erklärt werden kann, warum sich Individuen nur unter bestimmten Umständen
(zweck-)rational entscheiden.
Das Forschungsvorhaben basiert auf der Annahme, dass Individuen auch
Entscheidungen über Lebensereignisse wie die Geburt eines Kindes in Relation
zu ihrem sozialen Umfeld treffen.11 Entscheidungen werden unter Einbeziehung
10Auch in der Milieuforschung wird jedoch nicht bestritten, dass nicht ausschließlich »subjektive« Indikatoren wie Einstellungsunterschiede, sondern auch Einkommensunterschiede den
Lebensstil von Individuen insbesondere an den unteren und oberen Rändern der Einkommensbeziehungsweise Vermögensverteilung entscheidend beeinflussen.
11 Generatives Verhalten wird in dieser Arbeit als sinnhaft verstehbares Handeln betrachtet, sodass
Geburten das Ergebnis mehr oder weniger bewusster menschlicher Entscheidungen sind. Unter
den gesellschaftlichen Bedingungen einer allgemein akzeptierten Geburtenkontrolle erscheint
es plausibel, dass diese Zurechnung auch dem Selbstverständnis der meisten Handelnden entspricht, so Kaufmann (2005). Allerdings können empirisch nur tatsächlich realisierte Entscheidungen betrachtet werden, wie auch der Ausgangspunkt einer Regionalstudie die Geburtenhäufigkeit in einer Region ist. Somit wird die auf Basis einer Entscheidung realisierte Handlung
untersucht, was nicht realisiertes oder nicht realisierbares Handeln ausschließt.
18
Kapitel 1
der in sozialen Milieus verbreiteten normativen Muster und institutionalisierten
Lebensverläufe getroffen, wie Elder, Johnson und Crosnoe (2003: 8) im Folgenden beschreiben:
Social pathways are the trajectories of education and work, family and residences that are followed by individuals and groups through society. These pathways are shaped by historical forces and are often structured by social institutions. Individuals generally work out their own life
course and trajectories in relation to institutionalized pathways and normative patterns.
(Elder/Johnson/Crosnoe 2003: 8)
Das hier angewandte Milieukonzept grenzt sich von Definitionen ab, die Milieus
als räumlich ungebunden ansehen. In diesem Sinn entwirft etwa Schulze (1992)
fünf Wahlmilieus. Stattdessen wird in unserem Fall ein räumlicher Bezug sozialer Milieus angenommen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Annahme
über ihre räumliche Größe zu treffen. Soziale Milieus gelten üblicherweise als
kleinräumig verwurzelt; allerdings wurden bisher keine konkreten Vorschläge
für ihre Größe gemacht.12 Vorgeschlagen wird als räumliche Größe in unserem
Fall die Wohnumgebung von Individuen. Das soziale Umfeld in diesen kleinen
räumlichen Einheiten, in denen ein Individuum einen Großteil seiner Lebenszeit verbringt, beeinflusst Individuen auf vielfältige Weise, so die Annahme.
In dieser Arbeit wird gezeigt, dass Milieus direkt und indirekt Einfluss auf
ihre Mitglieder ausüben. Indirekt, da sich die gegebenen regionalen Bedingun­gen
für Familien, etwa die Ausgestaltung von Kinderbetreuungsangeboten, zwischen
sozialen Milieus unterscheiden. So wie sich die Ausgestaltung von Kinderbetreuungsangeboten aufgrund von regionalen Leitbildern der Familie unterscheidet,
beeinflussen Leitbilder der Familie auch die Anzahl an verfügbaren Krippenund Kindergartenplätzen.13 Einen Teil der elterlichen Betreuungsaufgaben unter
Bedingungen fortschreitender Vermarktlichung auf den Staat zu übertragen, erscheint demnach regional unterschiedlich leicht umsetzbar. Die Mitglieder eines
sozialen Milieus werden durch ihr soziales Milieu direkt beeinflusst, indem den
Leitbildern nicht entsprechendes Verhalten durch andere Milieumitglieder negativ und umgekehrt entsprechendes Verhalten positiv sanktioniert wird.
Regional verbreitete Leitbilder stellen den Bezug zwischen sozialen Milieus
und regional unterschiedlichen Aggregatmerkmalen wie einer unterschiedlich
hohen regionalen Geburtenhäufigkeit her. Der Handelnde passt sich nicht nur
12Lediglich Nonnenmacher (2007) schlägt für die Untersuchung von Kontexteffekten in Stadtteilstudien eine ideale Größe von weniger als sechs bis acht Quadratkilometern vor.
13Familienleitbilder sind normativ aufgeladene Normalitätsvorstellungen von Mutterschaft, Vaterschaft und der Lebensführung einer Familie. »Leitbilder repräsentieren für – Individuen,
Gruppen oder ganze Gesellschaften – erstrebenswerte Vorstellungen [Normalitätsvorstellungen
von Mutterschaft, Vaterschaft, Familienleben und -strukturen], an denen sich Menschen in
ihrem Handeln und ihren Entscheidungen orientieren« (Oechsle 1998: 186).
Einleitung
19
an regionale Strukturen an, sondern er orientiert sich in seinem sozialen Handeln an den Erwartungen anderer und damit an den ihn umgebenden, sozial
vorstrukturierten Situationen. Diese Erklärung widerspricht dem bereits genannten, weitverbreiteten Strukturalismus in den gängigen Erklärungen fertilen Verhaltens, der sich beispielsweise darin äußert, es als erklärbar durch die
regional unterschiedliche Anzahl an Kinderbetreuungsplätzen oder die Wirkung
sozialpolitischer Maßnahmen zu betrachten. Eine solche Sicht ignoriert, dass
einheitliche familienpolitische Maßnahmen regional unterschiedliche, zuweilen
ungewollte Folgen haben, welche sich aus dem kreativen Umgang der regionalen Akteure mit diesen Institutionen ergeben. Laut Streeck und Thelen (2009)
sind Institutionen Systeme sozialer Interaktion, die erst in der kontinuierlichen
Interaktion zwischen Akteuren definiert werden. So werden immer neue Interpretationen einer Regel entdeckt, erfunden, vorgeschlagen, zurückgewiesen oder
übergangsweise angenommen. Auch Leitbilder spielen in diesen Interpretationen eine Rolle, da sinnvolle Handlungsorientierungen von den Akteuren unter
Bezugnahme auf Leitbilder entwickelt werden und nicht allein aus regionalen
Strukturen abzuleiten sind.
Eine bedeutende Eigenschaft sozialer Milieus sind somit die in ihnen verbreiteten Familienleitbilder. Diese sind für die empirisch beobachteten regionalen Unterschiede in Familienmustern relevant. Deren Muster haben sich regional als Folge des seit Langem beobachteten Trends zur Individualisierung und
Pluralisierung ausdifferenziert (Brüderl 2004). Giesel (2007: 52) geht davon aus,
dass sich dieser Trend fortsetzen wird.
Ein zentrales Ergebnis dieser Analyse beider sozialer Milieus ist, dass sich
Mitglieder desselben Milieus insbesondere in den von ihnen vertretenen Fami­
lienleitbildern ähneln. Durch den Vergleich von zwei in ihren Fertilitätsraten untypischen Landkreisen kann gezeigt werden, dass in regionalen sozialen Milieus
vorherrschende Familienleitbilder einen Einfluss darauf haben, wie viele Kinder
in diesen Landkreisen geboren werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist,
dass die tatsächlichen Fertilitätsraten der Landkreise Waldshut und Fürth von
den in einer quantitativen Analyse erwarteten Fertilitätsraten abweichen und in
ihnen gleichzeitig unterschiedliche soziale Milieus bestehen. Während das modernisierte Milieu in Fürth eine höhere Geburtenzahl kennzeichnet als aufgrund
der bisherigen Erklärungen erwartet, stellt sich der Sachverhalt im traditionalen
Milieu in Waldshut genau umgekehrt dar. Der Vergleich von Waldshut und
Fürth macht darüber hinaus deutlich, wie unterschiedlich dieselben politischen
Maßnahmen in unterschiedlichen sozialen Milieus wirken können. So sind
Kinderbetreuungsangebote vor dem Hintergrund unterschiedlicher Familienleitbilder unterschiedlich ausgestaltet. Auch werden sie von den Eltern in unterschiedlichem Ausmaß in Anspruch genommen. Eine Betrachtung der regional
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Kapitel 1
verfügbaren Anzahl an Kinderbetreuungsplätzen sagt demnach wenig über das
tatsächlich bestehende Angebot aus. Das regionale Kinderbetreuungsangebot
kann somit nur durch Einbeziehung seiner konkreten Ausgestaltung bewertet
werden.14 Dieses Ergebnis erklärt regional unterschiedliche Effekte von familienpolitischen Maßnahmen wie dem Ausbau öffentlicher Kinderbetreuungs­
angebote für Kinder unter drei Jahren (BMfSFJ 2010), der durch Bund, Länder
und Kommunen im Jahre 2008 beschlossen wurde.
Die in der demografischen Forschung verbreitete Annahme der familienökonomischen Theorie, dass individuelle Rationalität reproduktives Handeln leitet,
wird in der Arbeit (regional-)kulturell konzeptualisiert. Generatives Handeln
ist von den in sozialen Milieus verbreiteten Leitbildern beeinflusst. Diese unterscheiden sich unter anderem im akzeptierten Umfang, in dem individuelle Rationalität bei der Entscheidung für Kinder eine Rolle spielen sollte. Anders als von
der familienökonomischen Theorie angenommen, sind Präferenzen von Akteuren regionalkulturell beeinflusst und können deswegen regional unterschiedlich
sein. Die Berücksichtigung regionaler sozialer Milieus in der Erklärung regionaler Fertilitätsunterschiede verdeutlicht außerdem, dass allgemein akzeptierte Zusammenhänge wie der negative Zusammenhang von Frauenerwerbs­tätigenrate
auf die Geburtenrate nur in bestimmten sozialen Milieus gelten. Eine Pluralisierung der Lebensformen ist demnach genauso nicht per se familienfeindlich, wie
das male breadwinner model (»Ernährermodell«) nicht per se familienfreundlich
ist. Zudem wird das in der Forschung übliche einheitliche Bild des ländlichen
Raums infrage gestellt. Die Studie verdeutlicht anhand der Untersuchung von
zwei in ländlichen Regionen gelegenen sozialen Milieus, dass der ländliche
Raum in Deutschland über den bekannten Unterschied zwischen städtischen
und ländlichen Regionen hinaus regionalkulturell heterogen ist. Ländliche Regionen unterscheiden sich voneinander nicht nur hinsichtlich der soziostrukturellen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung, sondern auch hinsichtlich ihrer
Regionalkultur.
Die in der Literatur bekannte Umkehrung des Zusammenhangs von Geburtenrate und Modernisierungsgrad von Ländern (Castles 2003) lässt sich in
dieser Studie auch subnational beobachten und wird durch eine Mikrofundierung ergänzt. Wurden im traditionalen Milieu vor einigen Jahrzehnten noch
mehr Kinder als im modernisierten Milieu geboren, hat sich dies nun umgekehrt. Subnational ist zu beobachten, dass diese Umkehrung regional nur in
14Selbst bei einer vergleichbaren Anzahl an Kindergartenplätzen kann der Einfluss des sozialen
Milieus entscheidend sein, da diese Plätze nicht auf Basis eines Losverfahrens an Familien verteilt, sondern zumeist auf Basis eines sozialen Konsenses über »richtige« Familienformen vergeben werden.
Einleitung
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Abhängigkeit des jeweiligen sozialen Milieus stattfindet. Die Studie zeigt auf,
dass sich die regionalen Akteure mehr oder weniger widersprüchlichen Anforderungen der Teilsysteme »Beruf« und »Familie« ausgesetzt sehen. Somit bietet die
in dieser Arbeit durchgeführte qualitative Untersuchung kleinräumiger regionaler Fertilitätsunterschiede in Deutschland die Möglichkeit, Mechanismen besser
zu verstehen, die den aus anderen Studien bekannten Zusammenhängen wie
der positiven Korrelation von Scheidungs- und Fertilitätsziffern (Billari/Kohler
2004) zugrunde liegen könnten. Aus den Ergebnissen kann gefolgert werden,
dass sich erstens nationale Gesellschaften und subnationale Regionen in Hinblick auf ihre historisch gewachsenen Familienkulturen unterscheiden. Zweitens schließen sich eine moderne Lebensweise und steigende Geburtenzahlen
gegenseitig nicht aus, sondern können sogar in einem positiven Zusammenhang
zueinander stehen (Streeck 2011).
Aufbau der Arbeit
Warum gibt es Regionen, in denen sich mehr Menschen für Kinder entscheiden als in anderen, trotz des überall »zunehmenden Risikos langfristiger biographischer Festlegungen« (Birg/Koch 1987: 44)? Die jeweiligen Schritte der
vorliegenden Untersuchung über regionale Unterschiede der Geburtenraten in
Deutschland und den aktuellen Einfluss sozialer Milieus sind die folgenden:
Zunächst werden im zweiten Teil der Arbeit Fertilitätstheorien und der Forschungsstand zu regionalen Geburtenunterschieden diskutiert. Ergänzend werden verschiedene Konzepte des sozialen Milieus vorgestellt und die wesentlichen
Inhalte der Literatur zu Lebensstilen in sozialen Milieus zusammengefasst. Empirische Ergebnisse zum Einfluss sozialer Milieus auf individuelle Handlungsorienteirungen und regionale soziale Phänomene werden diskutiert. Auch der
soziale und wirtschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte in Deutschland wird
beschrieben, der den Hintergrund der hier beobachteten regionalen Variation
der Fertilitätsraten bildet. Das Kapitel schließt mit den Erwartungen aus Theorie und Forschung über die Erkenntnismöglichkeiten dieser Untersuchung.
Im dritten Teil dieser Arbeit zur Mixed-Methods-Analyse wird dargestellt, wie
die Untersuchung zweier sozialer Milieus durchgeführt wurde. Zuerst wurden
in einer quantitativen Analyse zwei geeignete Landkreise innerhalb Deutschlands für eine qualitative Analyse ausgewählt. Beide süddeutschen Regionen,
der Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg und der Landkreis Fürth in
Bayern, stellen in vielen Hinsichten vergleichbare Fälle dar, so im Hinblick auf
ihre strukturellen und soziostrukturellen Merkmale. Während bisher übliche
Erklärungsfaktoren eine deutlich höhere Fertilitätsrate für Waldshut und eine
niedrigere für Fürth prognostizierten, wichen ihre tatsächlichen Fertilitätsraten
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Kapitel 1
von den Prognosen ab. Somit sind diese Fälle geeignet für eine qualitative Untersuchung ihrer regionalen sozialen Milieus. In einer Wohnumgebung innerhalb
jedes Landkreises wurden Leitfadeninterviews durchgeführt und während eines
einmonatigen Aufenthalts Beobachtungen dokumentiert. Diese Wohnumgebungen wurden anhand deskriptiver Statistiken danach ausgesucht, ob sie für
den Landkreis repräsentativ sind. Ergänzend wurden historische Quellen über
die jeweiligen Landkreise hinzugezogen, die einen Erklärungsbeitrag zu den historischen Hintergründen der Regionalkultur dieser Regionen leisten.
Im vierten Teil werden dann beide Landkreise präsentiert: Zunächst wird
ihre wirtschaftliche Situation sowie ihr struktureller Kontext, die Sozialstruktur ihrer Bevölkerung und ihre aktuelle sowie historische politische Situation
beschrieben. Um die Entstehungsbedingungen sozialer Phänomene in beiden
Landkreisen zu beleuchten, werden anschließend die Ergebnisse der qualitativen
Untersuchung in einer dichten Beschreibung beider sozialer Milieus dargestellt.
Den dichten Beschreibungen wird eine Typologie der Kerneigenschaften der sozialen Milieus an die Seite gestellt, die wesentliche Dimensionen beider sozialer
Milieus illustriert. Ein Rückblick auf einzelne Aspekte der Geschichte beider
Landkreise verdeutlicht mögliche historische Bedingungen für den jeweiligen
Charakter ihrer sozialen Milieus und der in ihnen verbreiteten Leitbilder.
Anschließend werden die gewonnenen Ergebnisse in einem eigenen Kapitel
verglichen und interpretiert. Regionale soziale Milieus sind auch Teil eines sich
ständig sozial und ökonomisch wandelnden nationalen Kontexts, in dem außerdem ein Familienleitbild den öffentlichen Diskurs dominiert. Sie reagieren
auf diese nationalen Veränderungen. Dies geschieht jedoch unterschiedlich in
Abhängigkeit von ihrer historisch gewachsenen Regionalkultur.
Abschließend werden die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst und
allgemeine Lehren aus dieser empirischen Untersuchung für die Erforschung
regionaler Fertilitätsunterschiede sowie den Einfluss sozialer Milieus gezogen.
Dabei stelle ich die Tragweite der Ergebnisse insbesondere für die demografische
Forschung dar und diskutiere die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus beiden
Fallstudien auf andere Fälle. Anschließend bewerte ich diese Ergebnisse und erläutere die Einflussmöglichkeiten familienpolitischer Maßnahmen mit Blick auf
die gewonnenen Erkenntnisse. Der Ausblick schließt mit einer Darstellung des
zukünftigen Forschungsbedarfs.