1 Freitag, 06.05.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jörg Lengersdorf Sechs vielversprechende junge Solisten Édouard Lalo Concertante Works for Violin, Cello & Piano Soloists of the Queen Elisabeth Music Chapel Liège Royal Philharmonic Jean-Jacques Kantorow ALPHA CLASSICS 376001419233 Aufregend unerhört Ludwig van Beethoven Octet • Rondino • Quintet Il Gardellino Marcel Ponseele Arthur Schoonderwoerd passacaille 5 425004 140166 Traumbesetzung Dvořák • Schumann Piano Concertos Stephen Hough City of Birmingham Symphony Orchestra Andris Nelsons hyperion CDA68099 Verletzlich fragiler Ton French Resonance Gabriel Pierné, Louis Vierne, Gabriel Fauré Elsa Grether, violin François Dumont, piano FUGA LIBERA FUG 728 Neue Entdeckungen in unbekanntem Repertoire Jan van Gilse Piano Concerto „Drei Tanzskizzen“ Variations on a Saint-Nicolas Song Oliver Triendl Netherlands Symphony Orchestra David Porcelijn CPO 777 934-2 Alter Wein in neuen Schläuchen The Sound of Shakespeare The Hilliard Ensemble • The Musicians of Swanne Alley • Emma Kirkby ERATO 825646479047 Prohoska wunderbar, Wainright nölig-larmoyant Rufus Wainright Take All My Loves 9 Shakespeare Sonnets DG 479 5508 2 Signet SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs … herzlich willkommen, Jörg Lengersdorf am Mikrofon. 2014 war schon ein Shakespeare-Jahr, wegen dessen 450. Geburtstages. Inzwischen zeichnet sich ab: Auch 2016 wirft sich die weltweite Kulturindustrie ziemlich ungebremst in den großen Shakespeare-Gedenksessel – Stichwort 400. Todestag. Es gibt einen Shakespeare-Devotionalienmarkt, und der möge 2016 brummen, das hofft auch die Tonträgerindustrie. Zwei CD-Produktionen zum Thema Shakespeare liegen bei mir auf dem Tisch, wir hören am Ende der Sendung hinein. Vorher gibt es Musik von Jan van Gilse, Gabriel Pierné, Antonin Dvořák, und Ludwig van Beethoven. Das Folgende ist aber erst einmal Musik aus einer ganzen Box, die sich mit dem Komponisten Édouard Lalo beschäftigt. Der Komponist Édouard Lalo ist zwar nur für wenige Werke wirklich berühmt geworden, aber er hat durchaus Spuren in der Populärkultur hinterlassen. Vielleicht werden einige Hörer sich zwischendurch beim nächsten Stück fragen: Nanu, woher kenne ich das? Nun: Die Titelmusik des 1962er Kinoklassikers „Lawrence von Arabien“ ist doch ziemlich hörbar beeinflusst durch Lalos Klavierkonzert von 1889. Édouard Lalo: Klavierkonzert f-Moll, Allegro 1:55 Der 28-jährige Pianist Nathanael Gouin ist einer der vielen durchweg jungen Solisten, die auf einer neuen CD-Box des Labels ALPHA die konzertanten Werke von Édouard Lalo eingespielt haben. Lalo war ein französischer Komponist. Viele Werke Lalos haben dennoch unverkennbar spanisches Folklorekolorit. Lalos Familie hatte durchaus einen beeindruckenden spanischen Stammbaum, diese glorreiche iberische Familientradition hätte allerdings beinahe verhindert, dass Lalo überhaupt Musiker wurde. Schon in Zeiten Karls V. hatte die Familie Lalo wichtige Militärs und Offiziere bei Hofe gestellt, im 16. Jahrhundert hatte sich ein Vorfahr im spanischen Auftrag in Flandern angesiedelt. Jahrhundertelang hatte das Geschlecht Soldaten hervorgebracht, bis Édouard Lalo beruflich aus der Art schlug und Künstler werden wollte. Früh verdingte sich Lalo als Bratscher und Geiger in einem Streichquartett, nachdem er sich gegen den Willen des militärisch geprägten Vaters am Pariser Konservatorium eingeschrieben hatte. Sein Durchbruch als Komponist ließ indes lange auf sich warten. Erst in seinen Vierzigern schrieb Lalo seine bis heute erfolgreichen Stücke, fast alle davon für den spanischen Geiger Pablo de Sarasate, dessen Status als Supervirtuose sicher nicht wenig zum Erfolg der Stücke beitrug. Sarasate bekam nun von Freund Lalo nicht nur Melodien auf den Leib geschneidert. Sarasate seinerseits brachte Lalo eines Tages eine Sammlung skandinavischer Volkslieder mit. Mit dem Büchlein voller norwegischer Melodien auf dem Tisch entstand die „norwegische Fantasie“. Édouard Lalo: Norwegische Fantasie (1878), Allegro 5:10 Geigerin Vladyslava Luchenko mit dem Finale der norwegischen Fantasie von Édouard Lalo, geschrieben für den spanischen Virtuosen Pablo de Sarasate. Die neue drei CD-Box des Labels ALPHA mit Musik von Édouard Lalo präsentiert immerhin zehn verschiedene Werke für Soloinstrumente und Orchester, viele dürften Klassik-Freunden unbekannt sein. Sechs verschiedene Solisten steigen für das teils extrem virtuose Repertoire in den Ring, alle zwischen 23 und 30 Jahre alt, alle auf Preisträger-Niveau internationaler Wettbewerbe, denn alle stammen aus derselben Talentschmiede, der Brüsseler Chapelle. Vor allem für 3 Geiger ist die Chapelle Musicale Reine Elisabeth in Brüssel eine Art allerheiligste Pilgerstätte. Hier findet nicht nur alle vier Jahre der wohl härteste Violinwettbewerb der Welt statt, hier in der Ruhe der Chapelle gibt es auch seit vielen Jahren eine Exzellenzinitiative, belgische Spitzenförderung für die talentiertesten Musiker weltweit. An der Chapelle können sich Musiker über ein höllisch schweres Auswahlverfahren für eine Ausbildung zum Solisten bewerben. Vom 10-jährigen Wunderkind bis zum fast fertigen internationalen Star sind hier ein paar wenige Ausnahmetalente in einer Kaderschmiede, die nicht nur normalen Unterricht bietet, sondern auch Kurse in Vermarktung und spezielles Mentaltraining an einem eigens eingerichteten „Mentally Fit Institute“. Es gibt in der Box also vielversprechende Talente zu entdecken, beispielsweise die lättische Virtuosin Elina Buksha, 26 Jahre alt, mental fit, instrumental auch. Édouard Lalo: Concerto Russe – Chants Russes 5:05 Von russischer Folklore hat Komponist Édouard Lalo sich inspirieren lassen in seinem sogenannten „Russischen Konzert“ von 1878. Das Stück fristet ein relatives Nischendasein im Konzertrepertoire, ist aber tatsächlich schon ein paarmal auf Tonträger aufgenommen worden. Die Aufnahme mit Elina Buksha, zu hören in der neuen Box, ist dabei deutlich brillanter und spielfreudiger als alle bisherigen Einspielungen. So ist das Werk passagenweise derart eindringlich ohrwurmverdächtig, dass man verstehen kann, dass der niederländische Schriftsteller Maarten t‘Hart sogar vor einigen Jahren eine Kurzgeschichte danach benannt hat: „Concerto Russe“. Sogar für Literatur-Freunde könnten sich hier also Querverbindungen auftun. Knapp 35 Euro kostet die drei CD-Box. Das ist nicht wenig, aber Freunde virtuoser Instrumentalmusik dürften sicher ihr Repertoire um einige Stücke erweitern, zumal auch kleine Miniaturen eingespielt sind, die man mit vollem Orchester garantiert nie im Konzert hört. Außerdem: die Sichtung von sechs verschiedenen jungen Solisten dürfte nicht nur Talentscouts Freude bereiten. Man kann ja schon mal tippen, wer demnächst die ganz große Karriere macht aus der Box. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. Macht dieser Mann demnächst ganz große Karriere? Die Frage war im Jahr 1792 auch noch erlaubt im Falle Ludwig van Beethovens. Der schrieb das folgende Oktett kurz vor seinem Durchbruch in Wien. Ludwig van Beethoven: Bläseroktett op. 103, Finalsatz 3:55 Das Bläserensemble „Il Gardellino“ mit Beethovens Finale aus dem Oktett op. 103. Die hohe Opusnummer täuscht. Als 22-Jähriger schon schrieb Beethoven in Bonn ein Bläseroktett für das wirklich ganz ausgezeichnete Bläserensemble des Kölner Kurfürsten Maximilian Franz. Wohl auch, weil das Hausensemble des Fürsten diese Musik so trefflich blies, war Maximilian Franz von seinem jungen Beethoven sehr angetan. Der bekam prompt für ein weiteres Mal ein Stipendium zur Reise nach Wien. Beethoven studierte dort ja zumindest sporadisch bei Joseph Haydn. Der Kölner Kurfürst betrachtete das zweite Stipendium zunächst sicher als eine Investition in die Zukunft. Er wollte Beethoven wohl langfristig als Aushängeschild und Hauskomponisten seiner Kapelle. Nur gab es da ein Missverständnis zwischen Wien und Bonn. 1793 sollte nämlich Joseph Haydn einen Beweis schicken, dass sein Schüler Beethoven unter seiner Anleitung auch wirklich Fortschritte mache. Und Haydn? Der schickte als 4 Beweis seines großartigen Unterrichts tatsächlich jenes Bläseroktett nochmal, das der Kurfürst schon kannte. Der Kurfürst reagierte verschnupft, schrieb sinngemäß zurück: Kenn ich alles schon, solche Fortschritte kriegen wir in Bonn auch selber hin – da kann der Junge gleich mal wieder zurückkommen – mit anderen Worten: Verulken kann ich mich auch selber. Das Bläserensemble „Il Gardellino“ hat fürs Label Passacaille eine CD aufgenommen mit Beethovens Bläserkammermusik aus den 1790er Jahren, den „Twen“-Jahren, in denen das Talent aus Bonn in Wien zum Meister wurde. Neu eingespielt wurde mit Pianist Arthur Schoonderwoerd auch das Quintett für Bläser und Klavier op. 16 von 1796, das einem häufiger mal in Programmen von Kammermusikfestivals begegnet. Mit einem Pianoforte historischer Klangfarbe eingespielt, klingt das Werk dann aber plötzlich ganz anders, als gewohnt. Ludwig van Beethoven: Quintett op. 16, Rondo 6:05 Das Rondo aus Beethovens Quintett für Klavier, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott op. 16, hier zu hören mit dem Ensemble Gardellino und Pianist Arthur Schoonderwoerd. Das Stück gehört nicht zu Beethovens großen Hits, ist aber durchaus beliebt, zuletzt 2014 beispielsweise auf CD erschienen mit Les Vents Français, die derzeit vielen als bestes Bläserensemble der Welt gelten. Diese Aufnahme von 2014 konnte man sicher als Referenz feiern. Aber die jüngste, gerade gehörte Einspielung mit dem Gardellino Ensemble birgt dennoch echtes Ohren-Öffner-Potenzial. Die Musiker suchen seit Jahrzehnten nach Originalklang, und die Kombination des im Vergleich zum modernen Konzertflügel geschärft und schlank klingenden Pianofortes mit den eigenartig charakteristischen Bläserfarben wirkt beim ersten Hören weit weniger gefällig, aber auch aufregend unerhörter als modernes Instrumentarium. Klavierbässe hämmern hier perkussiv und durchdringend, schnarren auch mal, melodische Passagen sind weniger parfümiert: ein altbekanntes Stück in frischeren Farben. Man muss das nicht notwendigerweise besser finden als die satten Klangbäder bisheriger Aufnahmen, eher anders. – Natürlich sind Originalklangaufnahmen im Jahr 2016 längst keine sensationelle Entdeckung mehr, aber eben immer noch gut für Überraschungen. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs auf dem Tisch. Jetzt wieder großer Konzertflügel, warmer Orchesterklang. Stephen Hough spielt Dvořáks Klavierkonzert, das orchestrale Leuchten kommt vom City of Birmingham Symphony Orchestra unter Andris Nelsons. Antonin Dvořák: Klavierkonzert op. 33, Allegro con fuoco 11:45 Wunderschön glüht es im Orchester in warmen Farben, Stephen Houghs magisch gesangliche Klavierphrasen weben sich durch die Klanglandschaft von Dvořáks Klavierkonzert, das Ganze ist so kammermusikalisch intim musiziert, dass man momentweise zu atmen vergisst. Dazwischen werden immer wieder wuchtige Akzente gesetzt, düstere Klangkulissen vor den Musikhimmel geschoben. Bei diesem Dvořák kann man wohl von einer Traumbesetzung reden. Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist derzeit am Pult so ziemlich jedes Spitzenorchesters der Welt gut gelitten. Vor zwei Jahren wurde er gehandelt als heißer Kandidat für die Berliner Rattle Nachfolge, Andris Nelsons winkte schon im Vorfeld ab – dafür sei er zu jung. Er war da tatsächlich erst 35, blieb noch kurz Chef in Birmingham, um dann doch die ganz große Karriere zu starten: Er wechselte nach Boston, ab 2018 wird er Gewandhauskapellmeister in Leipzig. Andris Nelsons gehört in jene Handvoll junger Dirigenten, über die selbst altgediente 5 Orchestermusiker in Spitzenensembles selten etwas Schlechtes sagen, und das ist wohl die höchste Auszeichnung. Dass Nelsons ungeheuer wache Begleitung in dieser Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra auf den britischen Klangzauberer und Edelvirtuosen Stephen Hough trifft, ist ein echter Glücksfall. Luxusklang mit Sternchen und jeder Menge Musizierfreude. Dvořáks Klavierkonzert ist auf der CD des Labels hyperion, dazu mit dem SchumannKonzert ein Lieblingsstück vieler Klavierfans. Das höchst informative Booklet ist dann auch getextet vom britischen Star-Cellisten Steven Isserlis, der auch als Musikschriftsteller eine gute Figur macht. Ein lohnendes Paket. SWR2 Treffpunkt Klassik, mit Neuheiten auf dem Markt. Kennen Sie eigentlich die Violinsonate von Louis Vierne? Louis Vierne: Violinsonate op. 23 4:15 „Ich wollte nicht sterben. Was für ein Hohn! Ich hatte doch meine Violinsonate nicht fertig! All meine Willenskraft konzentrierte sich auf diesen Gedanken. Das Fieber pochte, ich atmete schwach in kleinen, schnellen Stößen. Ich war im Zustand nahenden Todes. Alles drehte sich, Rhythmen in Fetzen, alptraumhaft … Doch die Idee meines Finales brüllte in meinen Ohren …“ Das schrieb 1907 der Organist und Komponist Louis Vierne über die Arbeit an seiner einzigen Violinsonate. Louis Vierne, damals 37 Jahre alt, starb übrigens nicht am Typhusfieber, er hatte noch 30 Jahre zu leben. Mit einem schweren Augenleiden war er schon zur Welt gekommen, beinahe blind, aber sein kindliches Erweckungserlebnis wurde ein Besuch in der Kirche St. Clotilde in Paris. Vierne hörte Cesar Franck an der Orgel und setzte alles daran, dessen Schüler zu werden. Mit 30 wurde Vierne Organist an Notre Dame und blieb es bis zum Tod. Häufig wurde Viernes Leben von Katastrophen heimgesucht, komplizierte Beinbrüche beendeten beinahe seine Musiklaufbahn, da er noch als 36-Jähriger die Orgelpedaltechnik völlig neu erlernen musste, zwei Söhne starben, der grüne Star raubte ihm sein letztes Augenlicht. Dennoch notierte Vierne über seine Musik: „Leiden zerstört nur das Leben. Die unsterblichen Stücke bleiben jene, welche die Freude feiern. Andere Musik wird vergessen. Wenn der Mensch singt, öffnet er sich dem Licht, für das er geboren wurde.“ Nun, trotz allen musikalischen Lichtes wurde Viernes hinreißende Violinsonate dann aber eher vom Aussterben bedroht als unsterblich, ebenso wie die selten zu hörende Violinsonate seines französischen Zeitgenossen Gabriel Pierné. „Mit ruhigem, verträumten Gefühl“ – das steht über dem zweiten Satz. Gabriel Pierné: Violinsonate op. 36 5:35 Elsa Grether, Violine, und François Dumont, Klavier, musizieren den Walzer aus Gabriel Piernés Violinsonate op. 36 mit verletzlich fragilem Ton. Der morbide Schmelz des Fin de Siècle färbte 1901 noch das Stück, das zeitlich schon im neuen Jahrhundert fußte. Wer nun auf die Suche nach dieser schönen Aufnahme des Labels FUGA LIBERA geht, wird im CDLaden seines Vertrauens nicht mehr fündig. Die Produktion hat mit den Violinsonaten von Pierné und Vierne sowie zwei kleinen Miniaturen von Fauré zwar CD-Länge, ist aber auf Tonträger gar nicht mehr erhältlich, sondern nur noch im Internet als Digitaldatei herunterzuladen. Das funktioniert bei den gängigen Download-Portalen wie ITunes oder Amazon unter den Stichworten „French Resonance“ und „Fuga Libera“ oder auch über die Homepage des Labels. 6 Downloads statt Tonträger – Digital Only heißt das Konzept. Ob es dem Klassikmarkt nützt, bleibt abzuwarten. Lädt man das Paket zum Beispiel beim Anbieter Amazon herunter oder „streamt“ man bei Spotify, dann hat man keinen Zugriff auf die Begleittexte zu den einzelnen Stücken, und das ist dann doch schade bei so seltenen Edelsteinen. SWR2 Treffpunkt Klassik. Jetzt wieder eine neue CD, eine die man tatsächlich noch in ein Abspielgerät einlegen muss. Völlig unbekannte Musik des Niederländers Jan van Gilse von 1927, eine Tanzskizze aus den Roaring Twenties, „Quasi Jazz“: Jan van Gilse: Klavierkonzert „Drei Tanzskizzen“, Quasi Jazz 13:20 Oliver Triendl spielte, begleitet vom niederländischen Symphonieorchester unter David Porcelijn, Jan van Gilses Klavierkonzert von 1927, betitelt „Drei Tanzskizzen“. Ballsaal mit Kronleuchtern, ein bisschen Jazzkneipenrauch, ein wenig 20er Jahre Schlager und eine Prise Impressionismus. Das Label CPO aus Osnabrück gräbt beständig Dinge aus, die bisher noch nie aufgenommen worden sind. Die Serie zum vergessenen niederländischen Komponisten Jan van Gilse, die seit einigen Jahren aufgelegt wird, ist jetzt durch CD-Nummer vier ergänzt worden. Jägern und Sammlern dürfte der Name Jan van Gilse also möglicherweise schon bekannt vorkommen. Der 1881 in Rotterdam geborene van Gilse ging schon als 16-Jähriger mit seinen Eltern nach Deutschland, studierte in Köln beim Gürzenich Kapellmeister Franz Wüllner, später in Berlin bei Engelbert Humperdinck, bekam ein Stipendium vom Bonner Beethovenhaus und eine erste Anstellung in Bremen. Eine Karriere in Deutschland, zunächst. Den holländischen Nachbarn galt van Gilse spätestens nach dem Ersten Weltkrieg als entschieden zu deutschenfreundlich. Das war böse Ironie des Schicksals. Denn Jahre später, als van Gilse sich mit seiner gesamten Familie im Widerstand gegen die Nazis engagierte, galt er den Deutschen dann wiederum als Staatsfeind. Beide Söhne van Gilses wurden von den Nationalsozialisten ermordet, Vater van Gilse selbst war auf ständiger Flucht vor den Nazis, bevor er 1944, entkräftet und seelisch gebrochen, starb. Wie merkwürdig unterschiedlich verwurzelt van Gilses Musik sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden ist, hört man auf der neuen CD an einem sehr ohrenfälligen Stück. „Variationen über ein Nikolauslied“ heißt van Gilses vielleicht bekanntestes Werk. Als deutscher Hörer fragt man sich beim Hören sicher: nanu, holländisches Nikolauslied? Hierzulande kennt man das Thema, zu hören nach der Einleitung, unter dem Titel „Im Märzen der Bauer …“ Jan van Gilse: Variationen über ein Nikolauslied 6:55 „Da drüben kommt wieder der Dampfer aus Spanien an“, einen Text zu Ehren von St. Nikolaus singen die niederländischen Nachbarn zu jener Melodie, die man hierzulande als „Im Märzen der Bauer“ singt. Und damit findet sich auch ein echter Ohrwurm auf der CD mit Musik des niederländischen Komponisten Jan van Gilse, der 1944 in einem Krankenhaus an Krebs starb, unter falschem Namen, weil die Gestapo dem Regimekritiker auf den Fersen war. Dem Label CPO ist es quasi im Alleingang zu verdanken, dass Musik van Gilses überhaupt noch zu hören ist im 21. Jahrhundert. Auch mit der vierten CD der Reihe macht man wieder neue Entdeckungen im unbekannten Repertoire. Bei aller gefälligen Schönheit der orchestral üppigen Musik kann sich allerdings auch mal ein Gefühl der klanglichen Übersättigung 7 einstellen. Bei 60 Minuten van Gilse am Stück braucht man doch mitunter zwischendurch mal eine Pause. SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs. 2016 ist Shakespeare Jahr. Wäre doch gelacht, wenn das das nicht auch auf dem CD-Markt hörbare Spuren hinterließe. „So klang Musik zu Shakespeares Zeiten“ – unter diesem Etikett firmiert die nächste Musik. „Stingo“, der Titel des kurzen Stücks, bedeutet übersetzt: Starkbier. Anonymus (16. Jahrhundert): Stingo 2:00 Das Label ERATO hat eine drei CD-Box aufgelegt mit Musik aus Shakespeares London. 2016 ist einmal mehr ein Shakespeare-Gedenkjahr. Schon wieder, möchte man ausrufen, denn zum 400. Todestag darf wieder spekuliert werden. Shakespeare selbst hat nur 36 Stücke hinterlassen, über die ist buchstäblich alles gesagt worden. Die Shakespeare-Bibliographie „Shakespeare Quarterly“ verzeichnet trotzdem schon in normalen Zeiten 4000 neue wissenschaftliche Arbeiten zu Shakespeares Schriften pro Jahr. Man weiß inzwischen aber zum Beispiel, dass Shakespeares Werke 138.198 Kommata enthalten, 26.794 Semikola und 15.785 Fragezeichen. Aber wie viel weiß man über Shakespeare selbst, die Person? Nun: jedenfalls wenig, im Vergleich zum ungeheuren Wissensdurst, den sein Name entzündet. In Shakespeare-Gedenkjahren bringen Kultursender wieder die wie Pilze aus dem Boden sprießenden Fernsehdokumentationen, die regelmäßig mehr oder weniger plausibel darlegen, dass Shakespeare gar nicht gelebt habe, dass er in Wirklichkeit ein ganz anderer Mann war, irgendwann wird vermutlich jemand nachweisen, dass Shakespeare in Wahrheit Nachbar von Donald Duck in Entenhausen war. Und da ist es löblich, wenn man mit der neuen CD-Box zumindest tönend illustrieren kann, wie Musik auf Straßen, Plätzen und Festen geklungen haben könnte im London des ausgehenden 16. Jahrhunderts, zur Shakespeare-Zeit, wenn er denn da war. Wenn schon keine Fakten, dann wenigstens Kolorit. Robert Johnson: „The Tempest“, „Where the bee sucks“ 2:15 Den Lautenisten Robert Johnson kennt man heutzutage tatsächlich unter dem Titel „Shakespeares Lautenist“. Er hat zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Shakespeare-Text aus dem „Sturm“ vertont. „Wo die Biene saugt, saug ich, im Schoß der Primel lagere ich mich.“ Emma Kirkby und David Thomas waren gerade zu hören, begleitet vom Lautenisten Anthony Rooley. Die neue Box „The Sound of Shakespeare“ vereint auf drei CDs klangvolle Namen: Das Hilliard Ensemble, London Baroque, Paul Hillier, The Musicians of Swanne Alley – Spezialisten der britischen Alte Musik-Szene musizieren Werke von Dowland, Johnson, Morley, dazu Tänze und Straßenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts. Vielleicht hat es so in Shakespeares London ja wirklich getönt. Allein: Alle hier neu einsortierten Aufnahmen sind in anderen Zusammenstellungen schon seit etwa 20 Jahren auf dem Markt. Das ist alter Wein in neuen Schläuchen. Dagegen alleine wäre bei einem Preis von knapp 14 Euro für drei CDs auch noch nichts zu sagen. Allerdings wäre es bei einer Neuauflage guter Einspielungen unter dem Stern des Shakespeare-Gedenkjahres dann doch schön gewesen, wenn wenigstens das Booklet mehr geliefert hätte, als diskografische Angaben und Titellängen. Der dürre, kaum einseitige Begleittext auf Deutsch liefert außer Andeutungen, dass all diese Musik irgendwie Shakespeares Zeit illustriere, nun wirklich gar nichts an Informationen. 8 Dieselbe Box könnte man auch zum Jahrestag der Enthauptung Maria Stuarts herausgeben. Aber zum Thema Shakespeare ist auch noch nicht alles gesagt. Auch die Deutsche Grammophon, Hort klassischer Hochkultur, geht dieser Tage mit einem Shakespeare-Projekt auf den Markt. Das hat vordergründig direktesten Bezug zum Dichter: vertonte Sonette. Und die klingen so: Rufus Wainwright: Text Shakespeare-Sonett 10 „For Shame“ 3:10 Anna Prohaska singt Shakespeares Sonett Nummer 10 in einer Vertonung des Pop-Barden Rufus Wainwright, der schon als Singer Songwriter eine unbedingte Schwäche für die ganz große dramatische Pose hatte. Multitalent Rufus Wainwright erfindet sich gern öfter mal neu, 2015 hatte die altehrwürdige Deutsche Grammophon bereits seine erste Oper „Prima Donna“ herausgebracht, jetzt also Shakespeare-Sonette zum Shakespeare-Jahr, opulent mit vollem Orchester, Solostreichern und Band. Dass diese Musik häufig etwas muffig nach aufgeblasenem Musicalpathos klingt, geht noch in Ordnung. Shakespeares Sonette vertragen viel, auch angestaubten Plüschsound. Wo Koloratursopranistin Anna Prohaska die Vertonungen singt, tut sie das übrigens ganz wunderbar. Auch die eingestreuten Rezitationen von Sonetten, teilweise nur von Synthesizer-Geräuschen untermalt, sind originell besetzt mit Schauspielern wie „Raumschiff Enterprise“ Star William Shatner oder der legendären Inge Keller. Nervig wird es erst, wenn Mastermind Rufus Wainwright selbst zum Mikrofon greift. Da entfaltet sich dann leider eine irgendwie nölig-larmoyante Textdarbietung, die auch von der ambitionierten Ethnopopklangfolie nicht mehr ausreichend zugeschüttet wird. Quatsch mit Soße wäre noch genießbar, Soße mit Shakespeare ist es leider nicht. Rufus Wainwright: Text Shakespeare-Sonett 40 „Take All my Loves“ 0:40 Rufus Wainright singt Shakespeare. Die Musik dazu hat er selber angerührt, und er trägt dick auf – zu dick, jedenfalls für mich persönlich. Damit ist SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs zu Ende gegangen. Angaben zu allen vorgestellten CDs findet man, wie immer, im Internet unter swr2.de. Dort gibt’s die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Die Redaktion heute hatte Ines Pasz. Am Mikrofon war Jörg Lengersdorf – vielen Dank für’s Zuhören.
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