taz.die tageszeitung

Feiertag: Heute mit Kulturprogramm für Berlin
16 Seiten taz.plan mit dem neuen Cartoon „Die letzten 17 Tage der Plüm“
AUSGABE BERLIN | NR. 11010 | 18. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MITTWOCH/DONNERSTAG, 4./5. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Jetzt amtlich:
Opposition ist Mist
URTEIL Linke wollen mehr Rechte, scheitern aber in Karlsruhe ▶ Seite 6
Rente soll
selbst­ändiger
werden
Grüne
fordern, dass auch
Freiberufler einzahlen
VORSCHLAG
BERLIN dpa | Die Grünen wollen
rund 2,3 Millionen Selbständige
verpflichtend in die gesetzliche
Rentenversicherung aufnehmen. Betroffen sein sollen Selbständige, die weder in der gesetzlichen Rentenversicherung
pflichtversichert sind noch einem beruflichen Altersversorgungswerk angehören. Dadurch
soll das Rentenniveau bis zum
Jahr 2040 bei 43 Prozent stabilisiert werden und der Rentenbeitrag nicht über 22,9 Prozent
steigen. Dafür warben die Grünen-Fraktionsvize Kerstin Andreae und der Grünen-Rentenexperte Markus Kurth am Dienstag in Berlin.
▶ Schwerpunkt SEITE 3
KINO Auf Tuchfühlung
zur Realität: „Triple 9“
mit Kate Winslet als
Mafiapatin ▶ SEITE 16
KOHLE Weltweit Demos
für den Ausstieg ▶ SEITE 2
BALKAN Nur wenige
kommen durch: Die
neue Fluchtroute über
Bulgarien ▶ SEITE 4
BERLIN Da brummt der
Bär: Autobahn durch
Friedrichshain ▶ SEITE 21
Merkel ohne
Schaum
Fotos oben: dpa, Katharina Greve;
Kanzlerin
will auf AfD-Erfolge
sachlich reagieren
KURSDEBATTE
ERLAUBT
Keine Sorge,
liebe Grüne!
BERLIN rtr | Bundeskanzlerin An-
Ihr könnt auch nach dem Karlsruher Urteil weitermachen wie
bisher:
Auch zusammen sind sie schwach: die Fraktionschefs Dietmar Bartsch (Linke) und Anton Hofreiter (Grüne). Für eine Normenkontrollklage ist weiterhin
ein Quorum von mindestens 25 Prozent der Abgeordneten nötig, Linke und Grüne kommen aber nur auf etwa 20 Foto: Metodi Popow/imago
KOMMENTAR VON CHRISTIAN RATH ZUR GESCHEITERTEN VERFASSUNGSKLAGE
TAZ MUSS SEI N
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D
Zu viel an die AfD gedacht
emokratie – das ist mehr als die Herrschaft der Mehrheit. Niemand hat öfter daran erinnert als das Bundesverfassungsgericht. Demokratie erfordert auch
einen lebendigen außerparlamentarischen
Prozess und den offenen Schlagabtausch im
Parlament. Minderheiten müssen sich offen artikulieren und die Mehrheit kontrollieren können.
Die Kontrolle der Mehrheit ist aber nicht
so einfach, wenn eine Große Koalition regiert, die im Bundestag 80 Prozent der Sitze
besetzt. Denn viele Minderheitenrechte
können laut Grundgesetz nur Abgeordnetengruppen geltend machen, die mehr als
ein Viertel der Sitze innehaben. Bei einer
Großen Koalition laufen solche Garantien
offensichtlich leer.
Daran wollte das Bundesverfassungsgericht nun aber erstaunlicherweise nichts
ändern – und wies die Klage der Linksfraktion zurück. Karlsruhe postuliert zwar einen
Grundsatz der „effektiven Opposition“, tut
dann aber nichts dafür, um die Effizienz
auch einer zahlenmäßig schwachen Opposition zu sichern.
Das Recht, einen Untersuchungsausschuss zu verlangen, wird von den Richtern zwar als „elementares“ Oppositionsrecht bezeichnet; wenn die Opposition zu
klein ist, hat sie dieses elementare Recht
aber offensichtlich verwirkt. Einerseits erklärt Karlsruhe, die Opposition dürfe bei
Ausübung ihrer Rechte nicht auf das „Wohlwollen der Mehrheit“ angewiesen sein.
Bei der Frage, ob eine schwache Opposition überhaupt Rechte hat, muss sie nach
dem jetzigen Urteil aber sehr wohl auf den
„Goodwill“ der Großen Koalition vertrauen.
Die Verfassungsrichter haben
ihren eigenen Prämissen
widersprochen
Die Richter betonen doch selbst, dass die
Oppositionsrechte nicht nur für die Oppositionsparteien wichtig sind, sondern für die
gesamte Gesellschaft. Die Demokratie lebe
von Wettbewerb und von der Kontrolle. So
gesehen haben die Richter sehenden Auges
ihren eigenen Prämissen widersprochen.
Und warum all diese Inkonsistenz? Warum werden Maßstäbe aufgestellt, an die
man sich selbst nicht einmal zu halten versucht? Haben die Richter zu viel an die AfD
gedacht? Wollen sie deshalb der Mehrheit
freie Hand lassen, welche Rechte sie der Opposition nach der nächsten Wahl gewährt?
Das wäre tatsächlich ein Armutszeugnis
für die Demokratie. Und das Verfassungsgericht hätte seine eigene Rolle als Integrationsorgan aufs Spiel gesetzt. Mit Hasen­
füßigkeit und einseitiger Rechtsprechung
ist der Kampf gegen die Rechtspopulisten sicher nicht zu gewinnen. Eine selbstbewusste
Demokratie braucht auch ein mutiges Verfassungsgericht.
gela Merkel hat bestritten, mit
einer Kurskorrektur der CDU auf
die Erfolge der AfD reagieren zu
wollen. Sie rief ihre Partei zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten auf. Sie glaube, „dass wir
genug gute Argumente haben,
uns mit anderen Meinungen –
auch denen der AfD – auseinanderzusetzen“, sagte Merkel. „Und
zwar ohne jeden Schaum vor
dem Mund und ohne Pauschalurteile.“ Man müsse den Menschen Schritt für Schritt sagen,
„was wollen wir“. Es gebe „keinerlei neue Strategie“.
▶ Inland SEITE 6
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
Jetzt amtlich:
Pegida hetzt
DRESDEN dpa | Pegida-Gründer
Lutz Bachmann ist wegen Volksverhetzung verurteilt worden.
Das Dresdner Amtsgericht verhängte 9.600 Euro Geldstrafe
gegen den Chef des islamfeindlichen Bündnisses. Der Richter
ließ unter Verweis auf Zeugen
keinen Zweifel daran, dass er
Bachmann für den Autor der Facebook-Kommentare hält, in denen Flüchtlinge herabgewürdigt
wurden und zum Hass gegen sie
angestachelt wurde. Bachmann
könne sich nicht auf Meinungsfreiheit berufen. „Wenn ein Gesetz verletzt wird, dann gibt es
keine Meinungsfreiheit.“ Die
Staatsanwaltschaft hatte sieben Monate Haft gefordert und
prüft, ob sie Revision einlegt.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
Polofan und
Fußballsieger
V
ichai Raksriaksorn, der
vom thailändischen Königshaus den komplizierten Beinamen Srivaddhanaprabha verpasst bekommen hat,
was so viel wie „Licht der fortschreitenden Herrlichkeit“ bedeutet, stand etwas verloren
da, als er kürzlich in der Universität von Leicester die juristische Ehrendoktorwürde überreicht bekam. Der Geschäftsmann, der im Jahr 2010 den
bis dahin wenig erfolgreichen
Fußballklub Leicester City gekauft hatte, war nun dazu angehalten, ein paar Worte des Dankes zu sagen – auf Englisch. Vichai Raksriaksorn bemühte sich
redlich, aber was er sagte, klang
wie Kauderwelsch. Er bedankte
sich wohl für die Ehre, so einen
neckischen schwarzen Hut und
eine rote Robe tragen zu dürfen.
Es war nicht zuletzt das Geld
des Thailänders, das den spektakulären Titelgewinn von
Leices­ter City möglich machte.
Die Mannschaft hat die etablierten Teams aus London und
Manchester hinter sich gelassen
und ist am Montag, zwei Spieltage vorm Ende der Saison, englischer Fußballmeister geworden. Seine Herrlichkeit, 59 Jahre
alt, besitzt in seiner Heimat ein
Duty-Free-Imperium namens
King Power. In fünf Flughäfen
unterhält er Läden und Restaurants, dazu kommen noch Einkaufstempel in Phuket oder Pattaya. Sein Unternehmen macht
etwa 2,5 Milliarden Euro Umsatz. Raksriaksorn beschäftigt
über 10.000 Angestellte und gilt
als einer der reichsten Thailänder. Den Vorsitz über den Klub,
die „Foxes“, teilt er sich übrigens mit seinem Sohn Aiyawatt, der ein wenig besser Englisch spricht als der Vater.
Ein großer Fußballfan war
der geschäftstüchtige Papa nie.
Er hält es eher mit dem elitären
Polo, wo Reiter mit langen Schlägern einen Ball treiben. Ihm gehört der VR Polo Club in Bangkok, und von 2008 bis 2012 war
er Präsident des Ham Polo Club
in London. Sogar Thaiboxen
mag er lieber als Fußball, aber
er weiß natürlich, dass ein Investment in der Fußballbranche zwar risikoreich, aber auch
ertragreich sein kann.
Um den Underdog Leicester
City so richtig auf Trab zu bringen, war auch ein bisschen buddhistischer Budenzauber hilfreich. Für Vichai Srivaddhanaprabha betete in Bangkok Seine
Heiligkeit Phra Prommangkalachan.
MARKUS VÖLKER
DI E TAZ I M N ETZ
FLÜCHTLI NGSLAGER
Demokratie verliert
an Zustimmung
taz.de/twitter
Malta muss an
Somalierin zahlen
BERLIN | Die große Mehrheit der
taz.de/facebook
HAMBURGER HAFENSCH LICK
UMFRAGE ZUR STAATSFORM
Helgoland protestiert gegen Ablagerung
HELGOLAND | Die Insel Helgo-
Besitzt Englands Meister-Klub:
Vichai Raksriaksorn Foto: reuters
Der Tag
M IT TWOCH /DON N ERSTAG, 4. /5. MAI 2016
land protestiert gegen die geplante Ablagerung von weiterem Baggergut aus dem Hamburger Hafen in der Nordsee.
Die Genehmigung des Kieler Umweltministeriums über
die Verklappung von bis zu
10 Millio­
nen Kubikmeter Hafenschlick verfolge der Gemeinderat „mit größter Sorge“, sagte
Bürgermeister Jörg Singer am
Montag. Das Baggergutdepot
„E3“ liege rund 15 km südlich des
Helgoländer Felswatts inmitten
schützenswerter Nationalparks.
Die Verbringung von Hafen­
schlick in Küstennähe dürfe nur
eine Notlösung sein, betonte
Singer. Jetzt sei die Regelung
bis 2021 verlängert worden. Eine
gute Luft- und Wasserqualität sei
für den Lebensraum der Insulaner und der Gäste von größtem
Wert, sagte Tourismusdirektor
Klaus Furtmeier.
Die Hamburg Port Authority hatte Ende Februar beantragt, in den kommenden fünf
Jahren bis zu 10 Millionen Kubikmeter Baggergut verbringen zu dürfen. Als Ausgleich
zahlt Hamburg einen mengenabhängigen Beitrag in die Stiftung Nationalpark zum Schutz
des Wattenmeers. (epd)
Deutschen hält die Demokratie
für die beste Staatsform – die
Zustimmung nahm aber in den
vergangenen Jahren ab. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag
des Sterns finden 88 Prozent
der Befragten die Idee der Demokratie im Vergleich zu anderen Staatsformen gut. Im Jahr
2008 waren noch 95 Prozent
dieser Meinung. In Ostdeutschland fanden vor acht Jahren
93 Prozent die Idee der Demokratie gut, jetzt sind es nur noch
81 Prozent. Im Westen sank der
Wert von 95 auf 89 Prozent. (dpa)
STRASSBURG | Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat einer jungen
Frau aus Somalia recht gegeben,
die auf Malta mehr als 16 Monate lang unter verheerenden
Umständen in einem Flüchtlingslager ausharren musste.
Malta habe damit gegen das Verbot menschenunwürdigender
Behandlung verstoßen, stellten
die Straßburger Richter gestern
fest. Die maltesische Regierung
wurde angewiesen, der Klägerin
12.000 Euro Schmerzensgeld zu
zahlen. Das Urteil ist noch nicht
rechtskräftig. (afp)
taz.de/vimeo
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Im Kohle-Protest vereint
Benzin verteuern
ENERGIE Weltweit gehen Klimaaktivisten gegen Nutzung von Kohle vor. Organisatoren
nennen Aktion „größten zivilen Ungehorsam in der Geschichte der Umweltbewegung“
VON INGO ARZT
Dienstagmorgen, 7.30 Uhr in der
Nähe des Stadt Merthyr Tydfil
in Südwales. Etwa 300 Aktivisten strömen auf die Abraumhalden von Großbritanniens
größtem Kohletagebau, legen
die gesamte Produktion lahm
und verbreiten ihre Botschaft:
Keine neuen Minen mehr im
Land, Schluss mit der Kohle im
ganzen Königreich. Ein Novum
in Großbritannien. Noch nie haben Umweltaktivisten massenweise die Kohleproduktion im
Land gestört. Die Medien des
Landes, von BBC bis Guardian,
berichten. Ziel aus Sicht der Aktivisten erreicht.
Die Aktion markiert eine
neue Qualität in der Umwelt-
bewegung. Unter dem Dach
der global vernetzen Klimaschutzorganisation 350.org finden die nächsten zwei Wochen
in 13 Ländern ähnliche Proteste
gegen die Nutzung fossiler Rohstoffe statt. In Australien sind
Demonstrationen gegen den
größten Kohlehafen der Welt in
Newcastle geplant, in den USA
geht es gegen Ölbohrungen in
Den Baggern soll’s an den Kragen gehen: Tagebau Nochten in der Lausitz Foto: Dominik Butzmann/laif
der Arktis, gegen Pipelines und
gegen Fracking. In der Türkei demonstrieren Anwohner in der
Nähe von Izmir gegen Kohle, in
Indonesien wird vor dem Präsidentenpalast in Jakarta gegen
die Kohlepläne der Regierung
demonstriert. In Deutschland
wollen AktivistInnen vom 13. bis
16. Mai die Braunkohleproduktion in der Lausitz stören.
■■Sprit und Gas: Der Bund prüft
höhere Abgaben auf Benzin,
Heizöl und Gas. Die Umweltschäden würden Verursachern
bisher nicht ausreichend in
Rechnung gestellt, heißt es in
einem Entwurf des Umweltministeriums. Deshalb werde geprüft,
„inwiefern zusätzliche Abgaben
die Nachfrage umwelt- und
klimaschonender Technologien
unterstützen können“.
■■Kohleausstieg: Der Kohleausstieg müsse „deutlich vor 2050“
stattfinden, heißt es. Bis 2030
müssten Kraftwerke ihren CO2Ausstoß halbieren. (rtr)
Damit hat Deutschland einen
neuen Exportschlager: die Massenblockade der Produktion fossiler Rohstoffe, vor allem Kohle.
In der Bundesrepublik konzentrieren sich KlimaaktivistInnen unter dem Label „Ende Gelände“ auf die Tagebaue und
setzen ihre Forderungen nach
einem Ausstieg aus der Kohle
medien­wirksam in Szene.
Das hat auch die Aktion in
England inspiriert. Von dort
waren Aktivisten im vergangenen Jahr nach Deutschland gereist und haben die Taktiken
in ihrem Land übernommen.
„Wir sind ganz klar von Ende
Gelände inspiriert“, sagt Paul,
ein englischer Aktivist. In diesem Jahr wollen weitere Gruppen aus dem Ausland in der Lausitz lernen.
Ziviler Ungehorsam weltweit
– damit will 350.org Druck auf
die Politik machen, das Weltklimaabkommen von Paris umzusetzen. „Wir sind entschlossen,
den schlimmsten Umweltverschmutzern auf diesem Planeten politisch einzuheizen“
sagt Bill McKibben, Mitgründer von 350.org.
THEMA
DES
TAGES
„Bei Gewalt hört der Spaß auf“
LAUSITZ
Wolfgang Rupieper, Vorstandsvorsitzender von „Pro Lausitzer Braunkohle“, über die geplanten Proteste in seinem Revier
taz: Herr Rupieper, wir machen
Energiewende: Wie lange kann
es noch Lausitzer Braunkohle
geben?
Wolfgang Rupieper: Das kann
momentan niemand sagen. Wir
brauchen den Strom in Deutschland und Europa. Niemand
weiß, wann es Versorgungssicherheit ohne Braunkohle gibt.
Es gibt Gaskraftwerke, die wegen Braunkohle vorm Aus stehen, und Stromüberschuss. Da
soll Kohle unersetzbar sein?
Braunkohle ist der Speicher
für erneuerbare Energien. Sie
springt ein, wenn Wind und Solar keinen Strom liefern. Momentan ist kein Gaskraftwerk
in Deutschland in Planung. Die
rechnen sich nicht und können
keine Grundversorgung sicher-
stellen. Wollen Sie, dass wir wieder Atomstrom importieren?
Sie vertauschen Ursache und
Wirkung: Die Braunkohle verhindert einen Wandel und deshalb soll sie einfach weiterbestehen?
Es geht nicht nur um Sicherheit, sondern auch um günstigen Strom für die Industrie und
die Verbraucher. Die Braunkohle
wird nicht subventioniert. Die
Steinkohle schon, die erneuerbaren Energien sowieso. Der
Braunkohlestrom ist für die
Abnehmer am günstigsten. Wir
müssen auf die Wirtschaft und
günstigen Strom für die Bürger
schauen.
Mitte Mai kommen Protestierende in Ihre Region, die sagen:
Die Alternative ist da, nennt
sich Erneuerbare. Die werden
Sie nicht mit offenen Armen
empfangen, oder?
Sicher sind die motiviert, da ist
nichts gegen einzuwenden. Es
ist doch gut, wenn man anderer Ansicht ist. Jeder kann hier in
der Lausitz seine Meinung kundtun. Es muss nur gewaltfrei bleiben. Das ist die Voraussetzung.
Der Dialog ist erwünscht. Das
sehe ich gelassen. Ist Gewalt gegen Sachen und Personen im
Spiel, dann hört der Spaß auf.
Die Protestler sagen: Wir sind
friedlich. Keine Sachbeschädigung, keine Gewalt. Das nennt
sich dann ziviler Ungehorsam.
Ziviler Ungehorsam hat seine
Grenzen. Blockaden erfüllen
auch Straftatbestände. Die Betroffenen dürfen sich nicht be-
schweren, wenn sie am Ende
vorm Richter stehen. Niemand
kann sich darauf berufen, dass
seine Gesinnung eine gute ist.
Wäre es mit Ihnen möglich,
einen Ausstieg aus der Braunkohle zu erarbeiten?
Nein. Ein Zeitpunkt kann zum
jetzigen Zeitpunkt nicht festgelegt werden. Wir müssen abwarten, was passiert, wenn 2022 der
Atomstrom wegfällt. Und Strom
macht nur ein Drittel der Energie in Deutschland aus: Im Verkehr und im Gebäudesektor
müssen wir auch umsteuern.
Braunkohle tanken wird allerdings schwer.
Man hat sich die Braunkohle als
Sündenbock ausgesucht, weil
das einfach ist. Niemand blockiert das Kamener Kreuz, weil
Autos CO2 ausstoßen. Ich bin für
erneuerbare Energien, aber die
Probleme, die vor uns liegen,
sind noch gewaltig.
INGO ARZT
Wolfgang Rupieper
■■Jahrgang 1947, ist Richter
im Ruhestand, zuletzt war er
Amtsgerichtsdirektor in Cottbus.
Rupieper ist Vorsitzender des
Vereins Pro Lausitzer Braunkohle.
Der Verein
hat über 30
Förderer, zu
denen unter anderem auch
Vattenfall
gehört.
Foto: privat
Schwerpunkt
Rente
M IT TWOCH/DON N ERSTAG, 4. /5. MAI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Wer in Deutschland weniger als 2.000 Euro brutto verdient, muss im
Alter aufstocken. Welches Rentenkonzept schützt uns vor Armut?
Rente, Rent,
Ren, Re, R, ...
VON BARBARA DRIBBUSCH
BERLIN | Es ist ein düsterer Tag
für Millionen Beschäftigte, der
Tag, an dem sie die „Renten­
information“ bekommen, den
Brief, den die Deutsche Renten­
versicherung alljährlich an ihre
Klienten verschickt und der Aus­
kunft gibt über die zu erwar­
tende Rente, wenn man durch­
hält bis zur Altersgrenze.
„600 Euro“, sagt Anna
Karstädt, „mehr wird es nicht
werden.“ Karstädt, 53 Jahre alt
und als Altenpflegehelferin tä­
tig, ist einer der Fälle, die von Po­
litikern gerne beschworen wird,
wenn es um Altersarmut geht.
Etwas über 1.600 Euro brutto
im Monat für eine Vollzeitstelle
verdient die Pflegehelferin.
Karstädt hat als Langzeitstuden­
tin in jüngeren Jahren einige so­
zialversicherungsfreie Neben­
jobs gehabt, dann das Tierme­
dizinstudium geschmissen und
erst im Alter von über 30 Jahren
als Altenpflegehelferin angefan­
gen und ab da in die Rente ein­
gezahlt. Sie wird bis zur Rente 35
Jahre lang sozialversicherungs­
pflichtig in der Pflege gearbeitet
haben. Eine harte Arbeit.
Trotzdem erreicht Karstädt
nur den Wert von 600 Euro. Falls
sie die Beiträge aus ihrem gegen­
wärtigen Gehalt bis zum Renten­
beginn weiter entrichtet. Sowohl
die künftige Inflation als auch
die künftigen jährlichen Ren­
tensteigerungen sind in der Zahl
nicht berücksichtigt. Mit ihrer
Rente hätte Karstädt Anspruch
auf eine Aufstockung durch die
Grundsicherung, deren Niveau
derzeit im Schnitt bei 773 Euro
netto liegt. „Am Ende muss ich
also doch zum Sozialamt“, sagt
Karstädt trocken, „aber da bin
ich nicht die Einzige“.
Die
„Renteninformation“
ist zur Provokation geworden
für Millionen Beschäftigte, die
kaum mehr verdienen als 2.000
Euro brutto. Das betrifft nicht
nur schlecht bezahlte Kräfte
in der privaten Dienstleistung.
Auch Akademiker aus niedrig
dotierten Kulturberufen erfah­
ren aus der Renteninformation,
dass sie sich eigentlich sofort ei­
nen besser bezahlten Job suchen
müssten. Es sei denn, man hat
noch eine gute Betriebsrente zu
erwarten, rechnet sich ein Erbe
aus oder verfügt über einen
wohlhabenden Partner, der das
Haushaltseinkommen in mittel­
schichtige Lagen hebt.
Die Rentenschwelle zur
Grundsicherung ist politisch
heikel. Denn diese Art von
Hartz IV im Alter bekommt je­
der als eine Art staatliche Min­
destrente, auch wenn man seine
besten Jahre in der Südsee ver­
brachte, ohne jemals in die Ren­
tenkasse einzuzahlen. Dass auf
die Grundsicherung später alles
Ersparte auf der Bank angerech­
net wird, auch ein Riester-Ver­
trag, macht es zudem unattrak­
tiv, für das Alter offiziell Geld zu­
rückzulegen.
Die Sache wird noch düsterer,
wenn man die Entwicklung des
Rentenniveaus betrachtet, denn
die weist nach unten. Das Ren­
tenniveau ist das Verhältnis von
Renten zu Löhnen und es kann
rechnerisch dank der Renten­
reformen bis zum Jahre 2030
nochmal um ein Zehntel sin­
ken. Auch das dürfte die Zahl
der Grundsicherungsempfän­
ger nach oben treiben, die bis­
her bei nur 3 Prozent der Bevöl­
kerung im Rentenalter liegt.
Kein Wunder, dass die Par­
teien händeringend Strategien
suchen gegen den Rentenfrust.
Um das Rentenniveau, derzeit
03
TEST Halsbruch oder
ruhige Nächte? Welcher
Rententyp sind Sie?
BERLIN taz | Pension, gesetzliche
Rente, Betriebsrente, Grundsi­
cherung, Minijob, reicher Part­
ner oder Erbschaft: Verschie­
dene Varianten der Altersver­
sorgung entscheiden über den
Wohl- oder Unwohlstand im Al­
ter. Eine Auswahl:
Die Beneidete: Sie sind Ober­
studienrätin, verheiratet, haben
jahrelang in Vollzeit schlecht
motivierte SchülerInnen auf
dem Gymnasium ausgehalten
und deren nörgelige Eltern, und
all das bis zur Pensionsgrenze.
Nach 35 Dienstjahren können
Sie jetzt auf eine Nettopension
von 2.700 Euro hoffen. Das ist
viel, aber auch nicht superviel,
wenn der Mann an Ihrer Seite
als Selbständiger gescheitert ist.
Der Lebenskünstler: Sie sind
Musiker, Gitarre und Saxofon
und geben auch Unterricht. Sie
sind in der Künstlersozialkasse
versichert, haben Ihre Honorare
aber immer etwas herunterge­
rechnet, um Beiträge zu spa­
Hauptsache, das
Mietshaus wird nicht
modernisiert: Eine
Mieterhöhung bräche Ihnen den Hals
ren. Die Rentenauskunft hat Ih­
nen kürzlich mitgeteilt, dass Sie
nur mit 500 Euro Monatsrente
rechnen können. Ein Fall für
ergänzende Grundsicherung
im Alter. Aber Sie haben eine
Geheimwaffe: das Konto einer
höchst zuverlässigen Schwester.
Vor ein paar Jahren haben Sie
30.000 Euro geerbt, die Sie of­
fiziell längst ausgegeben ha­
ben, die Ihnen im Alter aber als
Aufstockung dienen werden. So
können Sie auch mal verreisen
und sich die teuren Keramikkro­
nen beim Zahnarzt leisten.
Wie steht’s mit der Rente? Wenn er mit einer Oberstudienrätin verbandelt ist, wird’s gehen Foto: Alexander Janetzko/Ostkreuz
Die Sorge der Vorsorge
FRUST Sind Sie auch regelmäßig ernüchtert, wenn Sie Ihre jährliche Renteninformation
bekommen? Eins ist sicher: Als Geringverdiener droht Ihnen später Altersarmut
bei 47,8 Prozent, zu halten oder
gar wieder anzuheben, könnte
man die Rentenformel wieder
ändern. Das würde höhere Bei­
träge erfordern und damit die
Jüngeren belasten. Außerdem
würden von dieser Änderung
auch gut gestellte Rentner pro­
fitieren, das muss man nicht un­
bedingt wollen.
Eine andere Variante be­
stünde darin, mehr Beitrags­
zahler in die gesetzliche Ren­
tenversicherung zu zwingen,
also Selbständige darin einzu­
gliedern, wie es Unions- und
SPD-Politiker früher schon und
jetzt auch die Grünen in einem
neuen Gutachten wieder for­
dern. Selbständige wehren sich
aber gegen den Plan, ihnen ei­
nen „Zwangsbeitrag“ zur gesetz­
lichen Rente abzuknöpfen. Die
Erleichterung wäre auch nur
kurz, denn Selbständige wer­
den auch mal Rentner und dann
Leistungsempfänger.
Die SPD favorisiert eine Stär­
kung der Betriebsrenten als zu­
sätzliche Altersvorsorge. Bun­
desarbeitsministerin Andrea
Nahles (SPD) hat unlängst ein
Gutachten erstellen lassen. Da­
nach sollen überbetriebliche
Versorgungsträger die Betriebs­
renten für kleinere Unterneh­
men verwalten können. So wer­
den Betriebsrenten dann auch
für kleinere Firmen interessant.
Neu dabei ist, dass Betriebsren­
ten auf den eventuellen späte­
ren Bezug einer ergänzenden
Grundsicherung im Alter nicht
oder nicht vollständig angerech­
net werden sollen, so das Gut­
achten. Sonst wäre auch die Mo­
tivation zur Betriebsrente für
Schmalverdiener schnell dahin.
Im Koalitionsvertrag der Bun­
Strategien der Parteien
■■Horst Seehofer (CSU) will
wie Sigmar Gabriel (SPD) das
Rentenniveau nicht wie geplant
weiter absenken.
■■Die SPD will die Betriebsrenten stärken und kleine Renten
aufstocken.
■■Die FDP will privat Erspartes
nicht voll auf die Grundsicherung
im Alter anrechnen.
■■Die Grünen wollen Selbständige in die Rentenkasse bringen.
■■Die Linke ist für 1.050 Euro
Mindestrente monatlich. (bd)
desregierung steht der Plan,
niedrige Renten zu einer „so­
lidarischen Lebensleistungs­
rente“ aufzustocken, sodass
KleinrentnerInnen später nicht
zum Sozialamt müssen. Andrea
Nahles und Sigmar Gabriel ha­
ben sich dafür ausgesprochen,
Unionspolitiker warnen. Denn
Aufstockungsrenten
werfen
automatisch die Frage auf, wie
lange man dafür gearbeitet ha­
ben soll und wie viel der Part­
ner haben darf. Woher das Geld
dafür kommen soll, ist ebenfalls
noch völlig unklar.
Anna Karstädt setzt auf ihre
Arbeitskraft oder einen schnel­
len Tod, je nach Stimmung.
„Kann gut sein, ich falle eines
Tages einfach um. Dann hätte
ich auch von einer fetten Rente
nichts mehr gehabt.“
Die Kleinrentnerin: Sie ha­
ben jahrzehntelang als Fach­
verkäuferin gearbeitet, einige
Jahre mit reduzierter Stelle we­
gen der Kinder. Ihre Scheidung
liegt schon länger zurück. Neu­
lich kam die Rentenauskunft:
Sie liegen mit 870 Euro brutto
im Alter knapp über Hartz-IVNiveau. Sie wollen sich im Alter
noch was dazuverdienen, viel­
leicht Gemüse verkaufen auf
dem Wochenmarkt. In Japan
arbeiten 80-Jährige noch als
Tankwart. Hauptsache, das alte
Mietshaus wird nicht moderni­
siert, denn eine Mieterhöhung
würde Ihnen den Hals brechen.
Der Geht-schon-Rentner: Sie
haben als Metallfacharbeiter
in mittleren Unternehmen 45
Jahre lang geackert und sind
mit 63 in Rente gegangen. Sie be­
kommen ein gesetzliches Ruhe­
geld plus Betriebsrente und so­
mit 1.500 Euro netto im Monat.
Ihre Frau hat als Verkäuferin in
Teilzeit dazuverdient. Sie hatten
mit ihrem Bruder das Häuschen
der Eltern geerbt und damals
gleich verkauft. Ihre kleine Ei­
gentumswohnung ist so gut wie
abbezahlt, da lässt sich’s ruhig
schlafen. BARBARA DRIBBUSCH