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Alessandro Ludovico
Maschinenliteratur
Vom Metawissen zur künstlichen Intelligenz
Das subtile Verhältnis zwischen Maschinen und Sprache hat schon eine recht
lange Geschichte hinter sich, doch jetzt beschleunigt es seine Evolution. Schon
kurz nach dem Bau der ersten Computer wurden abstrakte Sprachen formuliert,
um die inneren Mechanismen der Maschinen mit den von Menschen codierten
Prozessen zu verbinden. Die Mensch−Maschine−Beziehung hat sich seitdem
dramatisch weiterentwickelt, vor allem, weil diese Sprachen sowohl dazu
dienen, der Maschine Anweisungen zu geben, als auch dazu, eine Beziehung
zu ihr herzustellen. Heute haben Sprachen zweifelsohne eine Doppelrolle:
Metawissen (Sprache, die zur funktionalen Beschreibung von Prozessen
benutzt wird) und Inhalt (Sprache, die in unterschiedlichen Formen verarbeitet,
am Ende aber auf einen lesbaren Text reduziert wird). Die heutige
Digitalisierung aller Dinge durch Institutionen wie durch Privatunternehmen
bringt nach und nach beeindruckende "Korpora" hervor, die in ihrer
ätherischen digitalen Form wahre Goldminen für die Software neuronaler
Netze darstellen können. So gibt es beispielsweise noch immer kaum ein
Bewusstsein für die ausgeklügelten Strategien, die Online−Giganten
konzipieren, um hochentwickelte künstliche Intelligenzen zu schaffen und
neue Monopole bei strategischen Dienstleistungen zu erobern. Während
Google also seinen Wissenskorpus durch das Scannen und Indizieren von
Texten aus dem Online− und Printbereich konstant weiterentwickelt, ist Apple
auf ähnliche Weise damit beschäftigt, NutzerInnen durch die Erhöhung der
Glaubwürdigkeit (und Emotionalität) von Siri affektiv zu binden, während
Facebook es darauf abgesehen hat, unser Entertainment−Umfeld in einer
Weise auf uns zuzuschneiden, wie selbst enge FreundInnen es nicht könnten.
Alles basiert auf Daten, und Texte und Worte zählen im Zuge einer
sachgemäßen Kontextualisierung (einfach strukturiert und extrem
bedeutungsvoll) zu den reinsten Daten, die man verwenden kann.
Es gibt einen kleinen Bestand an "Softwareliteratur", die so gut wie keinen
wahrnehmbaren "Maschinenakzent" hat, und zwar in ziemlich
unterschiedlichen Formaten. Tweetbots (Software, die nach gewissen
Strategien algorithmisch Tweets erstellt) müssen beispielsweise sehr
synthetisch sein. Unter den literarischen Beispielen findet man
"portmanteau_bot (@portmanteau_bot)". Damit werden stündlich neue
"Portmanteau−Wörter" geschaffen, mitunter sehr interessante. ("Portmanteau"
ist eine Verschmelzung unterschiedlicher Worte/Wortteile, die von Lewis
Carroll in seinem Buch Hinter den Spiegeln erfunden wurden.) Oder das
geniale @Pentametron des Künstlers Ranjit Bhatnagar, das nach Tweets in
Form von fünfhebigen Jamben sucht, um diese dann in Paarreimen zu
retweeten. Die "menschliche Qualität" ist in diesen beiden Beispielen deutlich
zu spüren. Zwar mag eine gewisse Redundanz sie immer noch ein wenig
"distanziert" erscheinen lassen, doch die Vertrautheit mit der Struktur und auch
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die Resultate machen sie attraktiv. Wie bei jedem interessanten
Content−Stream sind wir versucht, unser Vergnügen daran mit dem nächsten
Resultat zu testen, und wenn Maschinen beteiligt sind, kann dieser Prozess
endlos dauern.
Der Ansatz von Sarah Harmon, einer Doktorandin an der University of
California, ist etwas komplexer. Ihre Software FIGURE8 schreibt keine
vollständigen Gedichte, sondern einzelne Gleichnisse, die sich auf bildliche
Sprache konzentrieren. Sie versucht, Ähnlichkeiten mit Unerwartetem zu
kombinieren und trifft ihre Wahl anhand einer Datenbank aller frei
verfügbaren Geschichten, die Harmon im Netz gefunden hat, um dann auch die
kompatiblen Eigenheiten der Elemente und die Handlungen, die diese
durchführen können, zu berücksichtigen. In diesem Fall sind die Ergebnisse
differenzierter, da die Software gelernt hat, Regeln abzuleiten und sich so
autonomer zu verhalten, indem sie beispielweise zwei oder drei Adjektive
hintereinander verwendet. Erneut ist es die Art und Weise, wie Maschinen
trainiert werden, die den Unterschied ausmacht, aber auch die verwendeten
Wissensdatenbanken.
Eine davon, das am MIT entwickelte ConceptNet, ist eine frei zugängliche, auf
Alltagswissen basierende Datenbank, die im Feld der textbasierten
Argumentation von Nutzen ist. Sie findet auch Anwendung in Definitions von
Bryan Ma, einer Installation, die aus 15 vernetzten und ConceptNet
durchsuchenden LCDs besteht. Jeder Bildschirm zeigt anscheinend zufällig
nacheinander ausgewählte Worte und beginnt mit einer neuen Abfolge, sobald
das letzte Wort auf dem Bildschirm erschienen ist. Die Beziehungen zwischen
den Worten sind semantisch, daher scheinen sie mitunter unerwartet und
können potenziell unendlich sein. Auffallend ist nur, dass das erste und das
letzte Wort immer "People" (Leute) und "Money" (Geld) sind. Sodann kreiert
die Arbeit eine konkrete Geschichte, die von menschlichen und maschinellen
Entscheidungen gestützt wird.
Man könnte meinen, Poesie sei einfacher zu handhaben als längere Texte,
obwohl sie natürlich viel dichter ist. Fiktion (wie auch Sachliteratur) ist als
literarische Form länger und "verdünnter", hat aber die gleichen schwierig zu
formalisierenden Eigenschaften, die wir wahrnehmen, wenn wir sie lesen. Eine
davon sticht besonders heraus: der Stil.
The Death of the Authors, 1941 edition. Source: publicdomainday
In The Death of the Authors
Published 2016−05−04
Original in English
Translation by Gaby Gehlen
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Contribution by Springerin
First published in Springerin 2/2016 (German version); Eurozine (English version)
© Alessandro Ludovico / Springerin
© Eurozine
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