Angst vor dem Volk Wir Feiglinge

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4. MAI 2016 No 20
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Die Kunst des Redens
Wie fesselt man das Publikum?
Warum reden Frauen anders
als Männer? Wo endet Rhetorik,
und wo beginnt Propaganda?
WISSEN
»Merkel hat aus
mir einen deutschen
Ai Weiwei gemacht«
Das erste Gespräch mit
Jan Böhmermann nach seiner
Staatsaffäre Feuilleton, Seite 41
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Hochschul­entwicklung
»I have a dream«. Diesen legendären Satz hat der Bürgerrechtler Martin Luther King oft gesagt; hier fotografiert bei einer Rede am 25. März 1965 in Montgomery/Alabama. © S. F. Somerstein/Getty Images
FREIHANDELSABKOMMEN
DAS DRAMA IN SYRIEN
Angst vor dem Volk Wir Feiglinge
Merkel will TTIP im Eilverfahren durchbringen, doch wer es retten
will, sollte die Verhandlungen jetzt stoppen VON PETRA PINZLER
V
on allen Möglichkeiten, mit denen
eine Regierung auf die Veröffent‑
lichung von Geheimdokumenten
reagieren kann, ist die denkbar
schlechteste, einfach so weiterzu‑
machen wie bisher. Denn dann
breitet sich Misstrauen im Land aus, und es wächst
die Wut auf »die da oben«, die auf »uns hier
unten« schon lange nicht mehr hören.
Kaum ein internationales Abkommen ist so
um­
stritten wie die geplante transatlantische­
Frei­
handelsvereinbarung TTIP; selten stießen
Wirtschaftsverhandlungen auf eine so breite­
Ableh­nung von Linken wie Konservativen. Nun
hat Green­peace einen geheimen TTIP-Vertrags‑
entwurf enthüllt, der alle dunklen Ahnungen
übertrifft. Und wie reagiert die Bundeskanzlerin?
Angela Merkel will den Vertragsabschluss mit
den USA nun noch beschleunigen. Damit ver‑
größert sie die Vertrauenskrise, in der die Politik
ohnehin steckt.
Weltweit müsste »made in the USA-EU«
zum Qualitätssiegel werden
Erst in der vergangenen Woche hatte Merkel ge‑
meinsam mit US-Präsident Barack Obama vehe‑
ment für TTIP geworben: Das Handelsabkom‑
men werde Wohlstand bringen und auf keinen
Fall europäische Errungenschaften gefährden.
Nun ist klar: Die USA üben mehr Druck auf die
Europäer aus als bisher bekannt. Sie wollen den
Verbraucherschutz in der EU lockern; die Euro‑
päer sollen mehr Gen-Food und Hormonfleisch
kaufen; die europäischen Grenzwerte für Pesti­
zide in der Landwirtschaft sollen weniger streng
sein. Noch ist der Vertrag nicht fertig verhandelt,
noch stehen im Entwurf vor allem die Wünsche
beider Seiten. Und doch zeigt die Veröffentli‑
chung der Geheimdokumente, dass bei den Ver‑
handlungen etwas grundsätzlich falsch läuft.
Eigentlich wollen die Europäer und die Ame‑
rikaner ja das größte, modernste und weitrei‑
chendste Abkommen aller Zeiten schließen. Was
aber genau verhandelt wird, soll möglichst lange
geheim bleiben. Die Öffentlichkeit erfährt bis
heute nur bruchstückhaft, um was es geht. Selbst
Bundestagsabgeordnete dürfen Vertragsentwürfe
nur in einem speziellen Leseraum in Berlin ein‑
sehen – und hinterher nicht darüber sprechen,
was sie dort gelesen haben. Das ganze Prozedere
vermittelt nur eine Botschaft: Die Regierungen
misstrauen ihren Bürgern. Wen wundert es da,
wenn im Gegenzug die Bürger den Politikern
immer weniger trauen?
Dabei liegt die Stärke westlicher Demokra‑
tien doch in Offenheit und Diskussion. Bei je‑
dem Gesetz, das durchs Parlament geht, wird in
der Regel ein Entwurf formuliert, über den man
streiten kann – und soll. Der Entwurf wird ver‑
öffentlicht; dann tauschen Befürworter und
Gegner ihre Argumente aus. Wenn alles gut
läuft, ist das fertige Gesetz besser als der Entwurf.
Wenn nicht, kann das Parlament das Gesetz­
ablehnen. Oder, nach der nächsten Wahl, mit
anderen Mehrheiten ein neues schreiben.
All das war bei TTIP nicht vorgesehen.
Schlimmer noch: Wenn Details aus den Ver‑
handlungen bekannt wurden, bestätigten sie die
Ängste der Bürger, dass Standards gesenkt und
Regeln geschleift werden sollen. Widerspruch
war nicht vorgesehen. Das ist so, als wollte die
Bundesregierung das Grundgesetz ändern – und
im Parlament würde über die Details nie gespro‑
chen, weil die einen sie nicht kennen und die
anderen nicht über sie reden dürfen. Kein Wun‑
der, dass die meisten Deutschen TTIP ablehnen.
Bitter ist das, weil TTIP trotz aller Kritik eine
Chance bietet. Gerade eine Exportnation wie
Deutschland braucht offene Märkte und faire
globale Regeln. Europa und die USA könnten
diese Regeln gemeinsam ja tatsächlich viel besser
definieren als China oder Russland. Nur müss‑
ten sie strengere Regeln zum Schutz von Klima,
Umwelt, Sozialstandards und Verbraucherrech‑
ten dabei nicht als Last begreifen, sondern als
gemeinsame Vision. Sie müssten »made in the
USA-EU« zum Qualitätssiegel machen.
Unter Zeitdruck geht das nicht, jetzt weniger
denn je. Denn die Amerikaner werden auf die
Veröffentlichung des Textes eher frostig reagie‑
ren und noch weniger Zugeständnisse machen.
TTIP rettet man nicht, indem man möglichst
schnell zu Ende verhandelt, wie Angela Merkel
es will. Wer TTIP retten will, sollte die Verhand‑
lungen jetzt stoppen – und von vorn beginnen.
Unabhängig vom vermeintlichen Zeitdruck
durch die amerikanischen Präsidentschaftswah‑
len oder die nächste Bundestagswahl. Und vor
allem: ohne Angst vor den eigenen Bürgern.
Zur Geheimhaltung siehe auch Wirtschaft, S. 31
www.zeit.de/audio
Assad führt Krieg gegen Kinder und Krankenschwestern. Europa
muss sich endlich einmischen. Es gäbe einen Weg VON ANDREA BÖHM
M
anchmal verdichtet sich im
Schicksal eines Menschen das
Wesen einer Katastrophe. Das
Bild des Kinderarztes Moham­
med Wasim Maas, getötet am
27. April bei einem Luft­
angriff syrischer Kampfbomber auf ein Kranken‑
haus in Aleppo, hat einen internationalen Aufschrei
ausgelöst. Es war Augenzeugen zufolge ein ge­zielter
Angriff. Mit Maas starben mehr als fünfzig Men‑
schen – Ärzte, Krankenschwestern und Patienten.
Für einen kurzen Moment wurde deutlich, was
der »Bürgerkrieg« in Syrien im Kern ist: ein Krieg
des Regimes gegen seine Bürger.
An all jene, die jetzt die Hand zum Einwand
erheben: Nein, der IS ist nicht die tödlichste
Kriegspartei in Syrien. Das ist mit großem Ab‑
stand das Regime. Und: Ja, alle Kampfparteien
begehen Kriegsverbrechen. Aber keine bombar‑
diert und stranguliert mit solcher Systematik die
Zivilbevölkerung, wie es das Regime mit russi‑
scher und iranischer Hilfe tut. Assads Luftwaffe
attackiert gezielt Krankenhäuser, Schulen,
Marktplätze, auf denen Menschen Schlange ste‑
hen für das Wenige, was es noch zu kaufen gibt.
In manchen belagerten Städten ernähren sich Be‑
wohner von Gras und »Suppe« aus Wasser und
Gewürzen. Kinder sterben an Unterernährung,
Kranke aus Mangel an Medikamenten.
Auf den Genfer Verhandlungen ruhen
kaum noch Hoffnungen
Es ist ein Krieg, in den Europa sich endlich ein‑
mischen muss. Nicht aufseiten irgendwelcher
Rebellen. Sondern aufseiten von Syrern wie Mo‑
hammed Wasim Maas, die mit schier über‑
menschlicher Sturheit daran glauben, dass es
besser ist, zu bleiben, als (nach Europa) zu flie‑
hen. Und die an den Zielen der Proteste von
2011 festhalten: dem Ende von Repression und
Korruption – und dem Abtritt Assads.
Fünf Jahre nach dem Beginn der Arabellio‑
nen klingt das grenzenlos naiv – vor allem in An‑
betracht der aktuellen Lage: Die im Februar be‑
gonnene Waffenruhe in Syrien ist gescheitert,
darüber können lokale Feuerpausen nicht hin‑
wegtäuschen. Auf den Genfer Verhandlungs­
prozess setzt kaum noch jemand Hoffnung.
Denn selbst wenn die Hotelzimmer für die Dele‑
gationen reserviert bleiben, ist eines klar: Baschar
al-Assad, gut aufgerüstet aus russischen Bestän‑
den, setzt auf eine militärische Lösung. Seine
Strategie: Wir bombardieren und belagern, bis
man uns in Genf gibt, was wir wollen. Das Ziel
ist Machterhalt um jeden Preis.
Bis auf Weiteres stellt sich ihm niemand in
den Weg, nicht Wladimir Putin, der es könnte,
noch Barack Obama, der es gar nicht erst ver­
suchen will, noch die Regionalmächte Saudi-­
Arabien und Iran, die ihr geostrategisches Arm‑
drücken auf dem Rücken der Syrer fortsetzen.
Bleibt ausgerechnet das von der Flüchtlings‑
krise angeschlagene Europa. Es geht hier um
Himmels willen nicht um das nächste große In‑
terventionsprojekt. Wie kontraproduktiv ein sol‑
ches sein kann, wissen wir seit dem Irakkrieg.
Aber es gibt einen Spielraum, der in den vergan‑
genen Jahren sträflich verschenkt wurde.
Die Militarisierung der Nahostpolitik hat uns
blind gemacht für jene syrischen Akteure, die
keine Kalaschnikow in der Hand halten. Dass
gerade in dem arabischen Land, in dem das Re‑
gime am brutalsten zurückschlug, demokratische
Experimente der Selbstverwaltung entstanden –
und bis heute bestehen –, ist untergegangen.
In den Wochen, in denen die Waffenruhe
weithin eingehalten wurde, gingen die Menschen
in den oppositionellen Gebieten wieder zu Tau‑
senden auf die Straße. Gegen den IS, auch gegen
islamistische Rebellen, vor allem aber gegen das
Regime. Die »Wiederauferstehung« der Protest‑
bewegung niederzuwalzen ist ein zentrales Ziel
der jetzigen Bombardements und Belagerungen.
Über zwei Dutzend Abgeordnete aus vier­
europäischen Ländern – Großbritannien, Frank‑
reich, den Niederlanden und Deutschland – haben
nun ihre Regierungen aufgefordert, die Hunger‑
ringe mit Luftbrücken zu durchbrechen, und
zwar mithilfe der Flugzeuge, die in Syrien gegen
den IS im Einsatz sind. Das ist machbar: Aus­
gerechnet Russland hat das bereits demonstriert,
mit einer Luftbrücke für die Bewohner einer vom
IS eingeschlossenen Stadt. »Die anhaltenden Be‑
lagerungen«, schreiben die Abgeordneten, »sind
eine Schande für Europa.«
Luftbrücken gegen den Hunger wären eine
erste europäische Initiative zum Schutz der Zivil‑
bevölkerung in Syrien. Und ein Zeichen an das
Regime, dass Europa nicht mehr tatenlos zusieht,
wie ein Diktator weiter Abertausende Flüchtlinge
produziert.
www.zeit.de/audio
Rauschendes
Abschiedsfest
Peter Kümmel beim
großen Jazzkonzert für
Barack Obama im
Weißen Haus
Feuilleton, Seite 43
PROMINENT IGNORIERT
Heldentod
Ein Marder hat im Europäischen
Kernforschungszentrum (CERN)
einen Kurzschluss verursacht. Die
Supermaschine schaltete sich ab.
Die Protonen dort rasen je Sekun‑
de 11 000-mal durch die 27 Kilo‑
meter lange Röhre. Der Marder,
der sein Können schon an simplen
Autos unter Beweis gestellt hatte,
suchte die größere Herausforde‑
rung. Dass er dabei den Heldentod
fand, wird in die Annalen der Mar‑
dergeschichte eingehen. GRN.
kl. Fotos: Thomas Rabsch/laif; F1online
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