Skulptur des Monats Mai 2016 sh 1118 Statue der Aphrodite (sog. Hera Borghese) Original Datierung: Römische Kopie des Kopisten Aphrodisios nach einem Bronzeoriginal aus dem letzten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. Material: Marmor Fundort: Baiae am Golf von Neapel Standort: Neapel, Archäologisches Nationalmuseum, Inv. 150383 Höhe: 190 cm Abguss Herkunft: Neapel Inv.-Nr.: SH 1118 (1975-27) Material: Gips Der Statuentypus der sog. Hera Borghese, einer überlebensgrossen Statue der Aphrodite, der Göttin der Schönheit, des erotischen Reizes und der Fruchtbarkeit, war in römischer Zeit weit verbreitet. Es sind zahlreiche Kopien und Varianten erhalten, davon wurden bis auf zwei Ausnahmen alle in Italien gefunden. In ihrer Mischung aus Würde und attraktiver Zurschaustellung des weiblichen Körpers muss die repräsentative Figur dem römischen Geschmack entsprochen haben. Die Identifikation der Statue als Hera, Göttin der Ehe und Familie, trifft wohl nicht zu. In der Kunst der klassischen Zeit findet man keine Darstellungen, die Hera so offen-reizvoll zeigen wie die Göttin Borghese. Vielmehr wird heute im bronzenen Urbild jene Aphrodite erkannt, die Polyklet nach dem Sieg der Spartaner über die Athener bei Aigos Potamoi 405 v. Chr. für das Heiligtum des Apollon Amyklaios geschaffen hat (Pausanias, Beschreibung Griechenlands 3, 18, 7–9). Das Originalwerk brachte die verbreiteten Strömungen dieser Jahrzehnte zum Ausdruck, die leidvollen Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) durch die Ideale eines aphrodisischen Lebensgenusses zu kompensieren. Die Verbindung von Ra- tionalität und Sinnlichkeit zeigt die Figur in ihrer kontrapostisch konstruierten Ponderation zwischen Stand- und Spielbein, durch die sich der Oberkörper nach links verlagert, und in der Freilegung des Körpers unter dem hauchdünnen Gewand. Die Kopie sticht vor allem durch ihren zylindrischen Aufbau, den schlanken Wuchs und die Vielansichtigkeit hervor. Trotz des vollständig bedeckten Oberkörpers sind alle erotisierenden Körperteile erkennbar. Durch das hauchdünne Gewand zeichnen sich ihre Brüste, Bauchnabel und Hüftrundungen ab. Die Faltenspiele und glatten Oberflächen des Stoffes unterscheiden sich in ihrer Transparenz und Leichtigkeit von der dichten und schweren Substanz des Himations. Einige Repliken tragen ein Füllhorn im angewinkelten linken Arm und halten in der erhobenen rechten Hand ein Steuerrad. Wahrscheinlich hielt auch das Original diese Attribute, Symbole für Fruchtbarkeit und Aphrodites Herkunft aus dem Meer. Aphrodite wird jedoch oft auch ohne spezifische Attribute dargestellt und nur durch ihren reizvollen weiblichen Körper charakterisiert. Die Göttin Borghese ist eine Schöpfung des sog. Reichen Stils, der in den körperbetonten Giebelskulpturen des Parthenon vorformuliert ist (Abb. 1). Eine markante Stufe in der Geschichte der zunehmenden Enthüllung der Liebesgöttin nimmt die Aphrodite im Typus Louvre-Neapel ein. Hier ist das Gewand bis unter die linke Brust gerutscht und zeigt die Göttin barbusig (Abb. 4). Im Laufe der Zeit werden ihre aphrodisischen Reize immer stärker hervorgehoben, die Kleidung wird immer durchsichtiger bis es bei der berühmten Kultstatue des Praxiteles (sog. Knidia) zur ersten nackten Darstellung kommt (Abb. 5). Abb. 1: Aphrodite im Schoss ihrer Mutter liegend; Ostgiebel des Parthenon, 438–32 v. Chr.; London, British Museum (Original); Abguss SH 131. Die Körperformen der Göttin scheinen durch ihr wie nass am Körper liegendes Gewand durch und das Oberteil rutscht ihr keck von der Schulter. Dieses Gewandmotiv war in seiner Bildsprache so überzeugend und erfolgreich, dass es zum Kennzeichen für weibliche erotische Attraktivität und Schönheit wurde. Bedeutende Kultstatuen wie die sog. Aphrodite in den Gärten und die sog. Aphrodite auf der Schildkröte greifen das Motiv auf (Abb. 2 und 3). Abb. 4: Aphrodite (sog. Aphrodite Frèjus oder Aphrodite Louvre-Neapel); röm. Kopie nach griech. Vorbild um 420/400 v. Chr.; Paris, Louvre (Original); Abguss SH 160. Abb. 5: Aphrodite von Knidos; röm. Kopie nach griech. Vorbild um 350/330 v. Chr.; Rom, Vatikanische Museen (Original); Abguss SH 1561. Carolin Scheidel Abb. 2: Aphrodite in den Gärten; röm. Kopie nach griech. Vorbild um 430/420 v. Chr.; Paris, Louvre. Abb. 3: Aphrodite auf der Schildkröte; röm. Kopie nach griech. Vorbild um 430/420 v. Chr.; Berlin, Antikensammlung (Original); Abguss SH 586 . Auswahl an Literatur: • • • • • A. Borbein, Die griechische Statue des 4. Jahrhunderts vor Christus, Jahrbuch des Deutschen archäologischen Instituts 88, 1973, 43–212 Ch. Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse aus Baiae. Griechische Bronzestatuen in Abgüssen römischer Zeit (1985) 88–94 A. Delivorrias, Der statuarische Typus der sogenannten Hera Borghese, in: H. Beck – P. C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen (1993) 221–252 K. Stemmer (Hrsg.), In den Gärten der Aphrodite. Ausstellungskatalog Berlin (2001) 81–97 K. Schoch, Die doppelte Aphrodite – alt und neu bei griechischen Kultbildern (2009)
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