Aufbau des fahrlässigen1 Erfolgsdeliktes2

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Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben
Sommersemester 2009
Vorlesung Einführung in das Strafrecht (Strafrecht Allgemeiner Teil) / Skizze 21
Aufbau des fahrlässigen1 Erfolgsdeliktes2 (Begehungsdelikt)3
{nach h.M.4}
1) Tatbestand
a) Verursachung5 des tatbestandlichen Erfolges6
b) objektive Fahrlässigkeit7
aa) Sorgfaltspflichtverletzung (= Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen8 9 Sorgfalt10; Maßstab: Welche Anforderungen hat ein besonnener und gewissenhafter Mensch
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Strafbar nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung, § 15 StGB. Merke: Mangels vorsätzlicher Tatbegehung sind sowohl TB-Irrtum und Versuch als auch Mittäterschaft (str.!) und Teilnahme (beachte aber § 11 II StGB: also z.B. §§ 315c I Nr. 1a, III Nr. 1, 26 möglich) ausgeschlossen!
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Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten (z.B. § 163 StGB: fahrlässig "falsch schwören"; ferner § 316
II StGB) entfällt die Prüfung des zuzurechnenden Erfolges.
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Beim fahrlässigen Unterlassungsdelikt (merke: Außerachtlassen der verkehrserforderlichen Sorgfalt als solches = Teil des Unrechts des fahrlässigen Begehungsdeliktes!) bezieht sich die Sorgfaltswidrigkeit auf die unterlassene Rettungshandlung (Nichterkennen der Gefahr bzw. der Rettungsmöglichkeit bzw. der die Garantenstellung begründenden Umstände).
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Literatur: Heinrich, AT II, Rn. 972-1061; Krey, AT II, Rn. 527-553; Wessels/Beulke, Rn. 655693; Baumann/Weber/Mitsch, § 22 (zT abweichend im Aufbau); Kühl, § 17; Roxin, AT I, § 24 (zT
abweichend im Aufbau); zu Einzelfragen vgl. auch Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, §
15 Rn. 105 ff. (zu Fahrlässigkeitsproblemen in einzelnen Lebensbereichen [zB Produkthaftung/Arzthaftung/ Sporthaftung]: ebd., Rn. 206 ff.).
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Bestimmung nach der Äquivalenztheorie; deshalb auch "Vorverlagerung" des Unrechtsvorwurfes
(sog. Übernahmefahrlässigkeit) möglich.
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Also Verletzung (z.B. §§ 222, 230 StGB) oder Gefährdung eines Rechtsguts (z.B. § 315c I, III Nr.
1 und 2).
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Bei der Fahrlässigkeit werden zwei Erscheinungsformen unterschieden (für Fallbearbeitung irrelevant!): Bewusste (Täter hält TB-Verwirklichung für möglich, vertraut aber pflichtwidrig auf ihr
Ausbleiben; insoweit Abgrenzung zum dolus eventualis geboten; hierzu ggf. wiederholen: Wessels/Beulke, AT, Rn. 216 ff.) und unbewusste (Täter erkennt Möglichkeit der TB-Verwirklichung
nicht) Fahrlässigkeit. Ferner mitunter "Leichtfertigkeit" gefordert (z.B. § 251 StGB): Diese entspricht in etwa der groben Fahrlässigkeit des Zivilrechts (also: Außerachtlassung der gebotenen
Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße bei evidenter Vorhersehbarkeit).
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Begrenzung des Sorgfaltsmaßstabes durch den sog. Vertrauensgrundsatz (namentlich im Straßenverkehr): Jeder Beteiligte an einem gefahrenträchtigen Vorgang darf sich grundsätzlich darauf verlassen, dass auch die anderen Beteiligten jeweils die Sorgfaltsanforderungen einhalten.
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Fraglich, ob Sorgfaltsmaßstab herabgesetzt ist bei konsentierter Fremdgefährdung (z.B. Mitfahrt
mit erkannt trunkenem Pkw-Führer).
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Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes als Abwägungsprodukt zwischen der Handlungsfreiheit des
Täters (sowie ggf. des Allgemeininteresses an Vornahme der Tätigkeit) einerseits, den Rechtsgüterschutzinteressen des Opfers andererseits: Fehlen spezielle Rechtsnormen (sog. Sondernormen, z.B.
StVO) oder im jeweils einschlägigen Verkehrskreis allgemein anerkannte Verhaltensmaßstäbe (z.B.
DIN- oder VDE-Vorschriften; lex artis), so liegt ein Sorgfaltsverstoß dann vor, wenn der Täter das
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aus dem Verkehrskreis des Täters11 in dessen sozialer Rolle in der konkreten Situation12
zu erfüllen, u eine Rechtsgutsverletzung zu vermeiden?)
bb) objektive Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges (sowie des Kausalverlaufes
in seinen wesentlichen Zügen)13
c) objektive Zurechnung des Erfolges, d.h.
aa) Pflichtwidrigkeitszusammenhang (= tatbestandliche Relevanz der Sorgfalts
pflichtverletzung)14 15
bb) Schutzzweckzusammenhang16
cc) Ausschluss der objektiven Zurechnung nach allgemeinen Kriterien17 (u.a.18 bei
fahrlässiger Ermöglichung19 einer freiverantwortlichen Selbstschädigung)
Rechtswidrigkeit20
- grds. entsprechend zum vorsätzlichen Erfolgsdelikt21
erlaubte Risiko überschritten hat (bestimmt insb. nach Schadenswahrscheinlichkeit und drohender
Schadensintensität).
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Sonderwissen des Täters ist jeweils zu berücksichtigen (ob auch Sonderkönnen: str.).
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Also Bestimmung des Maßstabes ex ante unter Abstellen auf Durchschnittsanforderungen (s. aber
auch Fn. 11).
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Frage: Liegen sie so außerhalb aller Lebenserfahrung (Inadäquanz), dass man nicht damit zu
rechnen brauchte? Ggf. Berücksichtigung von Sonderwissen.
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Hat sich das rechtlich missbilligte Verhalten des Täters in tatbestandstypischer Weise im Erfolg
niedergeschlagen? Keine Zurechnung, sofern pflichtgemäßes Verhalten des Täters dieselbe Rechtsgutsverletzung herbeigeführt hätte (hierfür ist das ihm als pflichtwidrig vorgeworfene Verhalten
hinwegzudenken und durch das gebotene pflichtgemäße Verhalten zu ersetzen; darüber hinaus darf
an der Tatsituation nichts geändert, insb. kein pflichtwidriges Verhalten Dritter hinzugedacht werden), vgl. bspw. zur begrenzte Bedeutsamkeit hypothetischer Handlungsabläufe für die Kausalität und Beurteilung der
Pflichtwidrigkeit iZm der Strafbarkeit verantwortlicher Ärzte eines psychiatrischen Krankenhauses durch Gewährung
von Lockerungen, die ein untergebrachter gefährlicher Patient zur Begehung von Gewalttaten missbraucht: BGHStE 49,
1 = NJW 2004, 237.
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Bloße Risiko-Erhöhung genügt nicht (str.).
Täterverhalten führt einen Erfolg herbei, zu dessen Vermeidung die von ihm verletzte Verhaltensvorschrift aufgestellt ist.
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Zur Wiederholung: Kühl, AT, § 4 Rn. 40 ff.: Im Erfolg muss sich die vom Täter geschaffene
Ausgangsgefahr (mit-)realisieren; also keine Zurechnung des Erfolges, sofern dieser sich als Realisierung einer neuen (von einem Dritten oder dem Opfer selbst {= freiverantwortliche Selbstgefährdung} geschaffenen Gefahr darstellt, es sei denn, die spätere Gefährdung war bereits in der Erstgefährdung angelegt.
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Ferner bei Inadäquanz eines atypischen Kausalverlaufes (s. bereits Fn. 11!).
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Zusatzproblem im Bereich des unechten Unterlassungsdeliktes: Inwieweit vermag eine unter dem
Blickwinkel des Fahrlässigkeitsdeliktes straflose Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung (z.B.
Btm-Abgabe) eine Garantenpflicht aus Ingerenz zu begründen?
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Rechtfertigungsgründe schließen auch beim Fahrlässigkeitsdelikt als Unrechtsaufhebung im Einzelfall erst die Rechtswidrigkeit (und nicht bereits die Sorgfaltspflichtverletzung) aus.
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Zur Einwilligung: Str., inwieweit in der Einwilligung („Risiko-Einwilligung“) in eine Fremdgefährdung (Abgrenzung zur straflosen Mitwirkung an Selbstgefährdung erforderlich!) dann auch
eine Einwilligung in eine Verletzung liegt oder ob eine Einwilligung in die Gefährdung genügt (vgl.
Heinrich, AT II, Rn. 1020 mwN in Fn. 72; Kühl, § 17 Rn. 83 (Zusatzproblem: Sperrt § 216 StGB
die Einwilligung in eine zur Tötung führende Lebensgefährdung?); oder wird infolge der „Einwilligung“ der Sorgfaltsmaßstab herabgesetzt (so zB Krey, AT I, Rn. 634; Krey/Heinrich, BT 1, Rn.
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Schuld
- wie beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt22
- zusätzlich:
subjektive Fahrlässigkeit23
- individueller Pflichtenverstoß24
- subjektive Vorhersehbarkeit des Erfolges (und des
Kausalverlaufes)25
- ggf. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens26
124a); hierzu eingehend: Schönke/Schröder-Lenckner/Schittenhelm, Rn. 102 ff. vor § 32); zur Notwehr: War die gefährliche Handlung (auf sie und nicht auf den Erfolg kommt es insoweit an) als
solche erforderlich? Kein subjektives Rechtfertigungselement erforderlich (str.; vgl. Schönke/Schröder-Lenckner/Schittenhelm, Rn. 99 vor § 32).
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Also: Schuldfähigkeit; (potentielles) Unrechtsbewusstsein; Fehlen von Entschuldigungsgründen
[in Fallbearbeitung nur zu erwähnen, sofern Anhaltspunkte für ihr jeweiliges Fehlen!].
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Formulierungsvorschlag für Fallbearbeitung [sofern dem Sachverhalt keine abweichenden Anhaltspunkte zu entnehmen sind]: "A konnte nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten die ihm obliegende Sorgfaltspflicht erkennen und ihr folgen; Erfolg und Kausalverlauf waren für ihn erkennbar." Oder: " Für A war subjektiv vorhersehbar und vermeidbar, dass durch die objektive Sorgfaltspflichtverletzung {z.B. ein Unfall mit tödlicher Folge} bewirkt werden könnte." Oder "Von einem
subjektiven Sorgfaltsverstoß sowie individueller Vorhersehbarkeit des eingetretenen Erfolges und
auch des wesentlichen Kausalverlaufs ist auszugehen." Oder: "Der A hat auch subjektiv fahrlässig
gehandelt."
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War der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten imstande, die objektive Sorgfaltspflicht (s.o.
im objektiven TB) einzuhalten? Sofern zu verneinen: Übernahmeverschulden?
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War der Täter individuell imstande, den drohenden Schaden und den Kausalverlauf in seinen
Grundzügen zu erkennen?
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Dem Täter muss (ausnahmsweise!) die Einhaltung der Sorgfaltspflicht in ungewöhnlichem Maße
erschwert sein; allgemein zur Unzumutbarkeit: Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 23 Rn. 55 ff.