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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Mit neuen Büchern von Hans Kundnani, Robert Misik, Sahra
Wagenknecht, Yanis Varoufakis, Franco Berardi, Srecko Horvat,
Marcel Fratzscher, Christian Jakob, Ruben Pfizenmaier
Sendung: Sonntag, 24. April 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Produktion: SWR 2016
Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck, 207 Seiten, 18,95 Euro
Rezension: Jochen Rack
Kapitalismuskritische Bücher:
Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns
das glücklich machen?
Aufbau Verlag, 224 Seiten, 16,95 Euro
Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten.
Campus Verlag, 292 Seiten, 19,95 Euro
Yanis Varoufakis, Franco ' Bifo' Berardi, Srecko Horvat u.a.: Europa kaputt? Für das
Ende der Alternativlosigkeit.
Übersetzung: Daniel Fastner
Matthes & Seitz, 110 Seiten, 8,00 Euro
Rezension: Stefan Berkholz
Marcel Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird
Hanser Verlag, 264 Seiten, 19,90 Euro
Gespräch mit Caspar Dohmen
Christian Jakob: Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren
verändern
Christoph Links Verlag, 256 Seiten, 18,00 Euro
Rezension: Conrad Lay
Ruben Pfizenmaier u.a. (Hg.): Auf dem Markt der Experten. Zwischen Überforderung
und Vielfalt
Illustrationen von Malte Grabsch.
Edition Büchergilde, 208 Seiten, 18,95 Euro
Gespräch mit Ruben Pfizenmaier
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke
Von Jochen Rack
Autor:
Die deutsche Frage beschäftigte Europa von der Gründung des deutschen Reiches 1871 bis zur
Teilung des Landes nach dem zweiten Weltkrieg. Gemeint ist damit das Problem, dass
Deutschland, wie der Politologe Hans Kundnami in seinem Buch „German Power“ schreibt, zu
groß war für ein internationales System der Balance of Power, aber gleichzeitig zu klein, um
Hegemonie auszuüben. Die großen Linien der deutschen Geschichte bis 1945 waren demnach
bestimmt von deutschen Einkreisungsängsten wie einem daraus resultierenden aggressiven
Nationalismus, der zu den bekannten Katastrophen des ersten und zweiten Weltkriegs führte. Der
sog. deutsche Sonderweg war danach scheinbar vorbei, denn die neu gegründete Bundesrepublik
kam endlich auf ihrem „langen Weg nach Westen“ an – Kundnami zitiert zustimmend den
Historiker Heinrich August Winkler. Deutschland wurde zu einer liberalen Demokratie und einer
„Zivilmacht“, die sich im Rahmen der entstehenden Europäischen Union als nicht-militärischer
Handelsstaat und den Holocaust als moralische Verantwortung begriff.
Wie aber veränderte sich dieses westlich und mulilateral orientierte Land nach der
Wiedervereinigung, als es zur stärksten Volkswirtschaft in Europa wurde und die politischen
Selbstverständlichkeiten der Nachkriegspolitik nicht mehr galten? Das ist die spannende Frage, die
Hans Kundnami in seinem ebenso spannend zu lesenden Buch abhandelt. Zwar blieb Deutschland
entgegen mancher Ängste, die Franzosen und Briten angesichts der Wiedervereinigung hegten,
westlich orientiert und durch die Schaffung einer Gemeinschaftswährung noch enger der
europäischen Integration verbunden, doch gleichzeitig kehrte sich die deutsche Außenpolitik von
ihrem idealistischen, auf Frieden orientierten Ansatz ab und war auch bereit, zu militärischer
Intervention im Ausland. Kundnami ruft noch einmal die Debatten in Erinnerung, die unter der
rotgrünen Regierung angesichts der Balkankriege geführt wurden. Während für den damaligen
Außenminister Joschka Fischer die Erinnerung an den Holocaust zur moralischen Verpflichtung
wurde, in den Krieg im Kosovo einzugreifen und einen Völkermord zu verhindern, habe
Bundeskanzler Gerhard Schröder den Kriegseinsatz aus einer neuen deutschen Normalität heraus
verstanden.
Zitator:
Deutschland… hatte zwar damit begonnen, militärische Gewalt bereitwilliger als früher
einzusetzen, aber das war jeweils in einem multilateralen Rahmen geschehen und diente
insbesondere dazu, humanitäre Katastrophen zu verhindern. () Während sich in Deutschland
einige, vor allem Linke, mit dem neuen Interventionismus der deutschen Außenpolitik schwer
taten, begrüßten ihn die NATO-Verbündeten und die europäischen Partner. Kurz: Zwar schien
Deutschland am Ende der 1990er Jahre eine „andere Republik“ geworden zu sein, doch
gleichzeitig hatte es den Anschein, als sei es fester als je zuvor in den Westen eingebunden.
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Autor:
Allerdings, das zeigt Kundnami im folgenden, habe sich in den Nullerjahren angesichts der
Weigerung Schröders, am amerikanischen Irakkrieg teilzunehmen, etwas wie ein eigener
„deutscher Weg“ in der Außenpolitik herausgebildet. Die Orientierung an den USA, die lange für
die deutsche Politik leitend war, wurde geschwächt zugunsten einer stärkeren Orientierung an
Europa. Deutschland stand an der Seite Frankreichs gegen Amerika. Interessanterweise bringt
Kundnami diesen „Bruch mit der bisherigen deutschen Außenpolitik“ in Zusammenhang mit einer
gesellschaftlichen Debatte in Deutschland, in der die Erinnerung an deutsches Leid und deutsche
Opfer durch die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte während des zweiten Weltkrieges
der Täter-Erinnerung an den Holocaust zur Seite trat:
Zitator:
Diese kollektiven Erinnerungen an Deutsche als Opfer – insbesondere bei der Bombardierung
Dresdens im Februar 1945 – trugen zum Widerstand gegen den von den USA angeführten Krieg
im Irak bei und verstärkten ihn noch.
Autor:
In der Berliner Republik wurde neben Auschwitz auch Dresden zu einem Pol kollektiver
Erinnerung, und aus diesem veränderten Nationalbewusstsein habe auch Egon Bahr - der in
Kundnamis Buch eine herausragende Rolle spielt und ausführlich zitiert wird - eine Normalisierung
der deutschen Außenpolitik gefordert: Deutschland sei keine Bedrohung mehr für die Welt und
könne daher aus einer neuen Souveränität heraus seine nationalen Interessen mit derselben
Selbstverständlichkeit vertreten wie andere Nationen. Diese Position, die Kundnami als „linken
Nationalismus“ bezeichnet, habe Deutschland dann auch in Gegensatz zu den USA gebracht.
Zudem habe eine neue Stärke der deutschen Wirtschaft – das Thema verhandelt Kundnami in
einem eigenen Kapitel seines Buches – den Weg zu einer neuen politischen Souveränität
unterstützt. Spätestens an diesem Punkt seiner Argumentation wird Kundnamis Darstellung der
neuen „German Power“ explizit wertend. Schröders Agenda 2010, die zum Sinken der
Arbeitslosigkeit und einer Stärkung der Exportindustrie führte, sei erkauft worden durch eine
extreme Lohnzurückhaltung, d.h. durch sinkende Reallöhne, und habe damit das wirtschaftliche
Ungleichgewicht zu anderen europäischen Ländern, verstärkt. Der deutsche
Handelsbilanzüberschuss sei zudem in ausländische Schrottanleihen geflossen und habe so zur
Finanzkrise 2008 beigetragen. Eine „exportgetriebene Außenpolitik“ habe Deutschland zu einem
bloßen Handelsstaat gemacht und seine „Zivilmacht-Identität“ geschwächt; rechtsstaatliche Werte
gegenüber China oder Saudi-Arabien, auch die Orientierung am Holocaust sei nicht länger die
wesentliche Leitlinie deutscher Außenpolitik. Die Fixierung auf das Ökonomische und das
exportabhängige deutsche Erfolgsmodell hätten dann in der Eurokrise ihre destruktiven Wirkungen
gezeigt. Die Deutschen, so Kundnami …
3
Zitator:
waren der Ansicht, die Krise sei schlicht durch mangelnde Haushaltsdisziplin in den Defizitländern
verursacht worden und nicht durch die Interaktion von Ländern der Eurozone im Rahmen einer
schlecht konstruierten Gemeinschaftswährung. () Sie erkannten nicht, () dass Überschüsse ein Teil
des Problems makroökonomischer Ungleichgewichte waren. () Deutschland verlangte, die
Defizitländer in Europa müssten „wettbewerbsfähiger“ werden, sah jedoch nicht ein, dass
Deutschland selbst, als logische Folge, weniger wettbewerbsfähig werden musste.
Autor:
Eine Kritik, die in Deutschland zum Beispiel auch von dem Ökonomen Heiner Flassbeck vertreten,
aber nicht gehört wurde. Kundnami kommt hier zu dem wesentlichen Punkt seiner Argumentation:
Weil Deutschland sich aus alter „wilhelminischer Großspurigkeit“ einer Vergemeinschaftung der
Schulden und einer Abkehr von der Austeritätspolitik widersetzt und den Südländern seine Regeln
diktiert habe, sei es in Europa als Besatzungsmacht empfunden worden und habe alte
Ressentiments gegen sich geweckt. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts kehrt insofern wieder,
als sich neue europäische Koalitionen gegen ein wirtschaftlich übermächtiges Deutschland bilden.
Zitator:
Deutschland ist somit erneut ein Paradox. Es ist gleichzeitig mächtig und schwach () Es will nicht
führen und widersetzt sich einer Vergemeinschaftung der Schulden, doch gleichzeitig versucht es,
Europa nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, um es „wettbewerbsfähiger“ zu machen.
Autor:
In anderen Worten, und das ist der Clue von Kundnamis Darstellung: Deutschland befindet sich
zwar in der Rolle eines potentiellen Hegemons in Europa, aber es kann oder will diese Rolle nicht
ausfüllen, weil es die Kosten der Hegemonie nicht schultern will. Deutschlands selbstbezogenes
und kurzfristiges Denken habe für Instabilität in Europa gesorgt. Zwar habe es seine
ökonomischen Regeln in Europa durchdrücken, aber keine Normen setzen können, die in anderen
Ländern auf Zustimmung stießen. So sieht Kundnami Deutschland wieder in derselben Position
einer „geoökonomischen Halbhegemonie“ wie einst das Deutsche Reich nach 1871 und beschwört
Zitator:
die Gefahr, dass es innerhalb Europas zu einer geoökonomischen Variante der Konflikte kommt,
die 1871 auf die Reichseinigung folgten.
Autor:
Unentschieden bleibt der Autor allerdings, ob er „das Paradox der deutschen Stärke“ – wie der
Untertitel seines Buches heißt - als Folge des Versagens der politischen Klasse verstehen will oder
als Ausdruck einer objektiven wirtschaftlichen Überforderung des Landes.
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Zitator:
Deutschlands Wirtschaft () bleibt zu fragil, um die Lasten der Hegemonie zu schultern, ob nun über
Fiskaltransfers, eine Vergemeinschaftung der europäischen Schulden oder eine gemäßigte
Inflation.
Autor:
Das klingt entschuldigend und widerspricht Kundnamis Anklage einer bloß ökonomisch verkürzten
deutschen Außenpolitik.
Dennoch ist Kundnami eine großartige Analyse der neuen Rolle Deutschlands in der Welt
gelungen. In seiner durchweg gut lesbaren, klug und weitsichtig geschriebenen, durch vielfache
Quellen untermauerten Abhandlung macht er dem Leser historische, ökonomische und politische
Zusammenhänge deutlich, die auch besser verstehen lassen, warum Deutschland mit seiner
aktuellen Forderung nach europäischer Solidarität angesichts der Flüchtlingskrise bei vielen
anderen europäischen Nationen auf taube Ohren stößt. Ein wirtschaftlich potenter Halbhegemon,
der mit zugeknöpftem Geldbeutel und moralischer Überheblichkeit führen will, findet keine
Gefolgschaft.
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Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns das
glücklich machen? | Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem
Kapitalismus retten. | Yanis Varoufakis, Franco ' Bifo' Berardi, Srecko Horvat u.a.: Europa
kaputt? Für das Ende der Alternativlosigkeit.
Von Stefan Berkholz
Autor: Griechenland ist eine Hoffnung am Horizont des Krisenkapitalismus, so lautet die Losung
von Robert Misik. Wie bitte, reibt sich der Leser verwundert die Augen? Ist das linke Experiment
Syriza nicht im Sommer vergangenen Jahres krachend gescheitert, als es die Bedingungen aus
Brüssel und Frankfurt annahm? Natürlich, sagt der 50-jährige Österreicher Misik, aber: In
Griechenland bewegt sich etwas.
O-Ton 1, Misik:
Arbeiter, die ihre Fabriken besetzt haben, die vorher pleite waren und plötzlich diese Fabriken
umrüsten. Und statt Zement biologische Reinigungsmittel produzieren und Seifen. Keine große
Sache für sich genommen. (…) Und du fährst zum Nächsten und siehst eine landwirtschaftlicheund Konsumgenossenschaft, wo die Leute biologische Lebensmittel produzieren und auch
absetzen im regionalen Kreislauf. (…) Und all das zusammen ist für mich das, was ich als eine
erstaunliche Mitmachgemeinschaftsökonomie empfunden habe, die ich dann mit diesem Begriff
„Greekonomy“ belegt habe.
Autor: „Greekonomy“ also, das meint Genossenschaften und Kooperative, so etwas wie eine
Parallelökonomie, wie Misik sagt. Der Kapitalismus in seiner jetzigen Form sei kaum zu
reformieren, meint der Autor. „Kaputtalismus“, lautet deshalb der launige Titel seines Buchs, doch
in der Unterzeile steht die Frage: „Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns das
glücklich machen“?
O-Ton 2, Misik:
Die Krise der Demokratie hat etwas Immenses mit der Krise des Kapitalismus zu tun. Nämlich dem
Kapitalismus in der Krise, wo dann die Eliten keinen Plan haben, was man tun soll und dann nur im
Emergency-Modus, im Notfallmodus, regieren. Abgesehen davon, dass das Eliten sind, die das
Volk verachten und in Wirklichkeit auch ihre Privilegien verteidigen. (…) Das ist die alltägliche
Emergency-Diktatur. Und wie man das in Griechenland gesehen hat, geht das dann natürlich noch
viel schlimmer in dieser gewissermaßen Erpressungszwangsart, wie die Eurogruppe, also dieser
Oberste Sowjet der Eurozone mit dem kleinen Griechenland und seiner Regierung umgegangen
ist.
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Autor: Im ersten Teil setzt Misik sich vor allem mit der Literatur und ökonomischen Theorien
auseinander, von Karl Marx über John Maynard Keynes bis hin zu Thomas Piketty. Dabei
beleuchtet der Autor Themen wie „Austeritätskult“, „Desaster des Finanzkapitalismus“,
„Innovationsschwäche“, „wachsende Schuldenberge“, „die inneren Widersprüche des
Kapitalismus“ und „Deutschland als Kraft der Destabilisierung in Europa“. Im letzten Teil berichtet
Misik aus eigener Anschauung über Projekte in Griechenland und Spanien, und schöpft dieses
neue Wort: „Greekonomy“.
O-Ton 3, Misik:
Das 21. Jahrhundert wird eher funktionieren wie das Internet, als Netzwerk. Jeder tut irgendwo
was. (…) Die Frage der Größe ist jetzt nicht mehr für die Produktivität so entscheidend, wo jeder
Zugang zur Hochtechnologie im Grunde hat. Und verteilst alles im Netzwerk, so wie das Internet.
Alles, was wir auf dem Handy haben, funktioniert nicht zentralistisch, sondern wie ein wirres
Netzwerk mit Knoten, das aber trotzdem effizient funktioniert.
Autor: Im Vorwort ihres neuen Buchs, „Reichtum ohne Gier“, schreibt Sahra Wagenknecht, dass
unsere Zeit „aus den Fugen“ sei und wir im Grunde spürten, „dass es so wie bisher nicht
weitergehen kann. Und wohl auch nicht wird. Die große Frage ist nur: Was kommt dann?“
O-Ton 4, Wagenknecht:
Der Kapitalismus ist keine Marktwirtschaft, sondern er drängt Märkte zurück. Große Unternehmen
beherrschen Märkte. Der Kapitalismus ist auch keine Leistungsgesellschaft. Die größten
Einkommen, die in ihm bezogen werden, das sind ja nicht die Managergehälter, das sind
leistungslose Einkommen aus purem Vermögensbesitz. Weil Menschen Milliarden Vermögen,
Betriebsvermögen erben (…) und dann die entsprechenden Erträge beziehen.
Autor: „Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“, so lautet der Untertitel. Wagenknecht spricht
vom Wirtschaftsfeudalismus des 21. Jahrhunderts, in dem das eine Prozent der Reichen – wie im
18. Jahrhundert oder auch bereits im Mittelalter - die Wirtschaft beherrscht, die Politik bestimmt,
die Gesetze schafft, die Welt verwüstet und Angst und Armut sät. Dagegen fordert sie eine neue
Wirtschaftsordnung. Eigentum dürfe nur noch durch eigene Arbeit entstehen, leistungslose
Einkommen sollten der Vergangenheit angehören.
O-Ton 5, Wagenknecht:
Und deswegen glaube ich, Unternehmen sollten sinnvollerweise nicht externen Eigentümern
gehören, die gar nicht im Unternehmen sind, egal ob das jetzt Finanzinvestoren sind oder
Erbendynastien. Sondern Unternehmen sollten sich selbst gehören und der Gesamtbelegschaft.
Und dafür gibt es Beispiele, dass das sehr gut funktioniert.
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Autor: Wagenknecht analysiert die weltweite Monopolisierung und sie erkundet den
Eigentumsbegriff, der über die Jahrhunderte unterschiedlich bewertet wurde. Sie erläutert
Funktionsweisen und Unternehmensstrukturen im Kapitalismus. Sie spricht von „apokalyptischen
Schreckensvisionen“ aus dem Silicon Valley, skizziert die Auswüchse der Baumarkt- und
Setzkastenkultur und den „Trend zur Entprofessionalisierung“. Und dann kommt sie auf ihr Modell
für eine neue Wirtschaftsordnung zu sprechen.
O-Ton 6, Wagenknecht:
Ich hab im Buch zum Beispiel eins genannt, die älteste Unternehmensträgerstiftung, die CarlZeiss-Stiftung. Und heute gibt es viele Stiftungsunternehmen. Die haben keine externen
Eigentümer mehr. Da kann man auch nicht Erträge rausziehen, sondern die machen Gewinn, um
diesen Gewinn zu thesaurieren, also wieder anzulegen, zu investieren, und entwickeln sich in der
Regel auch besser als Unternehmen, wo irgendein Hedgefonds dem Management im Nacken sitzt
und sagt, ihr müsst aber kurzfristig mindestens 15% Eigenkapitalrendite machen. Und das ist ein
Modell, denke ich, das zeigt, in welche Richtung es geht: (…) ein Modell wie eine Stiftung. Die
Unternehmen ruhen in sich. Und die Beschäftigten haben damit natürlich als Gesamtheit die
Hoheit, über die Unternehmensentwicklung mit zu entscheiden.
Autor: Doch wie die Gier des einen Prozents überwunden werden kann, um solche
Stiftungsmodelle im großen Maßstab zu gründen, weiß Wagenknecht auch in ihrem
Fortsetzungsband von 2011, unter dem Titel: „Freiheit statt Kapitalismus“, noch nicht. Große
Hoffnungen auf Europa hat sie nicht. Im Gegensatz zu Yanis Varoufakis, dem früheren
griechischen Finanzminister. In seinem Gesprächsbändchen „Europa kaputt?“ umreißt er vage
seine Idee einer europaweiten Sammlungsbewegung für Demokratie und Freiheit. Die Eurogruppe,
erläutert Varoufakis aus eigener Anschauung, sei eine Vereinigung, die keinen Rechtsstatus habe
und deshalb auch keine Regeln kenne, wie ihm Beamte in Brüssel ausdrücklich ausrichten ließen;
sie sei keinem politischen Prozess Rechenschaft schuldig, tage hinter verschlossenen Türen und
lasse über geheime Beschlüsse abstimmen. Varoufakis möchte „Geld und Macht demokratisieren“,
wie er sagt, er möchte die Eurogruppe transparent machen, um die „menschenfeindliche,
eigentlich gescheiterte Wirtschaftspolitik“ zu überwinden. Sahra Wagenknecht hingegen möchte
den Nationalstaat stärken, denn nur in ihm seien ihrer Meinung nach überschaubare Strukturen
und eine Demokratisierung auf absehbare Zeit möglich.
O-Ton 7, Wagenknecht:
Weil ich glaube, dass es ganz schwierig ist, europäische Institutionen zu demokratisieren.
Demokratie braucht einen gemeinsamen kulturellen Raum, der auch überschaubar ist und in dem
die Leute das Gefühl haben, sie beeinflussen die Prozesse. (…) Es gibt keine gewachsene
europäische Kultur und so was entsteht auch nicht mal eben in wenigen Jahren. Und deswegen
haben wir ein Europa (…), das im Grunde keine Demokratie, sondern eine Lobbykratie ist.
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Autor: Varoufakis hingegen verkündete Anfang Februar sein paneuropäisches Netzwerk der
Demokraten, „eine Art Bewegungspartei neuen Typs“, wie er es bezeichnet. „DiEM 25“ wurde ins
Leben gerufen, eine Abkürzung für: „Democracy in Europe Movement 2025“. Innerhalb der
nächsten neun Jahre soll es gelingen, die Politik und die Institutionen in Europa radikal
umzukrempeln, alle politischen Entscheidungen transparent zu machen, die Brüsseler
Lobbywirtschaft aufzulösen, die Sparpolitik und die neoliberale Politik für die Reichen zu
überwinden, eine soziale, freiheitliche, offene Völkergemeinschaft zu installieren. Sahra
Wagenknecht betrachtet Varoufakis‘ Sammlungsbewegung skeptisch.
O-Ton 8, Wagenknecht:
Ja, das klingt gut. (…) Ich hab da nichts dagegen. Ich glaube nur nicht, dass es so schnell
funktioniert. Yanis Varoufakis ist auch jemand, der spricht verschiedene Sprachen, der spricht
fließendes Englisch, damit fängt es ja schon mal an. Wenn man ernsthaft will, dass irgendwann
einmal – und da sehe ich wirklich längere Zeiträume – Europa so zusammenwächst, dass es eine
europäische Demokratie geben kann, dann muss jedes Kind, und zwar möglichst schon im
Kindergarten mindestens drei europäische Sprachen lernen.
Autor: In der politischen Analyse sind die drei Autoren zumeist überzeugend und klar. Doch wie
die vorherrschende neoliberale Politik konkret überwunden werden kann, was alle drei fordern,
sagen weder Robert Misik noch Sahra Wagenknecht oder Yanis Varoufakis. Sahra Wagenknecht
schöpft dabei am tiefsten und umfangreichsten, bei Robert Misik und Yanis Varoufakis sind vor
allem ihre persönlich gewonnenen Erfahrungen und Einsichten interessant. Die kritischen Stimmen
gegen den Finanzkapitalismus mehren sich zwar, doch die Machtverhältnisse verharren
unverändert. Auf die Frage, warum die Linke in einer Zeit der Entsolidarisierung und maßlosen
Gier des einen Prozent keine größere Zustimmung von deutschen Wählern bekommt, antwortet
Wagenknecht:
O-Ton 9, Wagenknecht:
Das, klar, treibt mich auch um. Weil ich finde, die andern Parteien machen eine so schlechte Politik
und haben ja auch überhaupt keine Strategien, keine wirklichen Konzepte. Das ist ja alles nur
tagespolitischer Aktionismus. (…) Und vor allem tun sie nichts, um die wachsende Ungleichheit
und das wachsende soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern oder wenigstens
einzudämmen. Natürlich muss man fragen, warum wird die Linke nicht noch viel stärker, weil sie ja
tatsächlich das attackiert, was die meisten Leute umtreibt.
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Christian Jakob: Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern
Christoph Links Verlag, 256 Seiten, 18,00 Euro
Rezension: Conrad Lay
Sprecher:
Der Autor, der Taz-Journalist Christian Jakob, unterteilt sein Buch in zwei Teile: im ersten stellt er
exemplarische Flüchtlingsportraits vor, im zweiten geht er der Geschichte der Flüchtlingsinitiativen
sowie der Akteure der Flüchtlingspolitik nach. Die Flüchtlingsportraits erzählt Jakob ausschließlich
aus der Perspektive der Flüchtlinge selbst. Wie immer im Falle eines Betroffenheitsjournalismus
werden dabei Licht und Schatten deutlich: einerseits kommen die betroffenen Flüchtlinge selbst zu
Wort, andererseits erzählt der Autor eben nicht die ganze Geschichte, nicht die Perspektive der
Behörden, selten die Meinung der politischen Parteien, sondern konzentriert sich ganz auf die
subjektive Sichtweise der Geflohenen. Die meisten der vom Autor Portraitierten sind in
Flüchtlingsunterkünften in den Neuen Bundesländern untergebracht, oft sind es ehemalige NVAKasernen, irgendwo im Wald, abseits jeglicher Siedlungen. Unter diesen isolierten Bedingungen
leben sie dann viele Jahre, immer in der Erwartung, dass ihr Asylverfahren bald entschieden
werden möge. Doch das zieht sich oft jahrelang. Warum das so ist, dem geht der Autor nur
beiläufig nach: vielleicht weil die Asylbehörden unterbesetzt sind, vielleicht weil die Behörden erst
die sog. „einfachen Fälle“ behandeln, in denen eine Abschiebung ohnehin äußerst wahrscheinlich
ist. Oder weil es sich um „institutionellen Rassismus“ handelt, wie viele Flüchtlinge und ihre
deutschen Unterstützer vermuten? Jedenfalls werden die schwierigen Fälle auf die lange Bank
geschoben, und die Asylbewerber sitzen in den ehemaligen NVA-Kasernen, wo sich ihr Frust
anstaut. Migrationspolitik sei in der Vergangenheit – so Christian Jakob – vor allem „MigrationsVerhinderungs-Politik“ gewesen, das Asylrecht habe als Instrument gedient, um „die Integration
der Ankommenden zu verhindern“. Unter solchen Umständen hätten die Migranten das Asylrecht
dazu genutzt, den Behörden Phantasiegeschichten zu erzählen, um zum Ziel zu kommen. Wie z.B.
im Fall des abgelehnten Asylbewerbers Akubou Chukwudi; Christian Jakob berichtet:
Zitat 1
„Alle vier Wochen gibt die Ausländerbehörde ihm eine Duldung. Arbeiten ist verboten, acht Jahre
wird das so gehen. Polizisten bringen ihn zur nigerianischen Botschaft, die ihm einen Pass
ausstellen soll, damit er abgeschoben werden kann. Ein Irrtum, sagt Chukwudi jetzt dem
nigerianischen Konsul. Er stamme in Wahrheit aus Niger, nicht aus Nigeria. Der Konsul schickt ihn
weg. Die Ausländerbehörde lässt ihn von Polizisten bei der Botschaft von Niger vorführen. Ein
Irrtum, sagt Chukwudi dort. Er stamme aus Nigeria, nicht aus Niger. ‚Das hat sie wahnsinnig
gemacht‘, sagt Chukwudi.“
10
Sprecher:
Die Abschiebung kommt schließlich aus anderen Gründen nicht zustande, weil der Nigerianer zu
krank ist. Als er zurück ins Asylbewerberheim kommt, einem ehemaligen DDR-Ferienlager in
Peeschen, irgendwo auf der weiten Flur in Mecklenburg, sieht er, wie der Leiter der
Ausländerbehörde vor dem Heim parkt. Chukwudi nimmt ein Küchenmesser und zersticht die
Autoreifen. Christian Jakob beschreibt die Szene:
Zitat 2
„Er wolle ihm nichts tun, ruft Chukwudi durch das Fenster dem Behördenleiter zu. Aber er habe so
oft versucht, mit ihm zu reden: Darüber dass die Flüchtlinge aus Peeschen beim Arzt immer nur
Paracetamol kriegen, egal, welche Beschwerde sie haben, und dass die Ärzte sagen, jede andere
Behandlung sei zu teuer, Sozialamt und Ausländerbehörde würden nicht bezahlen. Oder darüber,
dass Peeschen so abgelegen sei, dass die Flüchtlinge für die vielen Termine auf der
Ausländerbehörde morgens nur einen einzigen Bus nehmen können und dann sieben Stunden auf
den einzigen Bus zurück warten müssen. Und nie habe der Leiter der Ausländerbehörde auf ihre
Klagen reagiert. Und jetzt soll er wenigstens ein einziges Mal fühlen, wie es ist, in Peeschen
festzusitzen.“
Sprecher:
Soweit die Schilderung des Autors. Aber ist es wirklich so, dass die Ärzte in MecklenburgVorpormmern den Asylbewerbern nur Paracetamol geben? Wird eine andere Behandlung wirklich
nicht von den Krankenkassen bezahlt? Christian Jakob klärt solche Fragen nicht, er belässt es bei
der Schilderung des Flüchtlings und hofft, dass der Leser mit dem Nigerianer Mitgefühl empfinde,
auch wenn der Reifen zersticht und in der Ausländerbehörde einen Computer vom Tisch fegt.
Vieles bleibt in diesen Geschichten ungesagt. Was da wirklich in dem Heim vorgegangen ist, lässt
sich kaum nachvollziehen; der Autor macht es mit seiner ausschließlichen Orientierung auf die
Sicht der Betroffenen dem Leser nicht einfach, sich eine Meinung zu bilden. Und nur weil die
Reportage süffig geschrieben ist, muss sie nicht unbedingt aufklärerisch sein. Im zweiten Teil des
Buches erzählt Christian Jakob die Geschichte der Flüchtlingsinitiativen der vergangenen zwanzig
Jahre, genauer gesagt: seit dem sog. „Asylkompromiss“ des Jahres 1993. Er berichtet, wie
Flüchtlinge aus dem Iran in ihrer Verzweiflung einen Hungerstreik begannen, dann auch das
Trinken verweigerten, schließlich sich gegenseitig die Lippen zunähten. Zitat:
Zitat 3
„Einmal mehr haben viele Beobachter den Eindruck, dass sie agieren wie Aktivisten in totalitären
Regimen, die keine Vermittlungsinstanzen kennen, keine demokratische Aushandlung nötig
haben.“
11
Sprecher:
Zum Glück verschweigt der Autor nicht, wie problematisch es ist, wenn politische Aktionsformen,
die aus einer Diktatur stammen, hierzulande angewandt werden. Auch Flüchtlingsinitiaven
bezogen gegen den Hungerstreik Stellung:
Zitat 4
„Der stellvertretende Pro-Asyl-Geschäftsführer Bernd Mesovic sagt, er könne den Zeitpunkt der
Eskalation nicht nachvollziehen. Er hatte nicht den Eindruck, das ist eine Situation, die die Ultima
Ratio erfordert‘, sagt Mesovic. Die Behörden hätten sich kooperativ gezeigt, sechs der einstmals
zehn Streikenden hätten inzwischen Aufenthaltstitel erlangt. Pro Asyl habe ‚große Probleme mit
jeder Form des Protests, die sich gegen die eigene Gesundheit richtet‘.“
Sprecher:
Die gesamte Argumentation Christian Jakobs läuft darauf hinaus, dass die zahlreichen Aktivitäten
der Flüchtlingsinitiativen zu einer politischen Liberalisierung in Deutschland geführt hätten. Aber
dann kommen dem Autor der Syrien-Krieg dazwischen und Kanzlerin Merkel mit ihrem „Wir
schaffen das“. Nun ist Integration gefragt. Wofür die Initiativen der Asylbewerber 20 Jahre lang
gekämpft hatten, ist jetzt behördliche Wirklichkeit. Plötzlich – und zum ersten Mal - lobt der Autor
Ausländerbehörden, die in der Tat inzwischen viel für die Integration der Neuankömmlinge
unternehmen.
Zitat 5
„Es ist zu hoffen, dass die schiere Masse der Flüchtlinge in der letzten Zeit die Ausländerpolitik
jetzt zur Vernunft zwingt“,
Sprecher:
kommentiert Christian Jakob. Die Koordinaten haben sich verschoben, doch damit läuft zugleich
die politische Anklage des Autors gegen eine Politik, die in erster Linie Migrationsverhinderung
war, ins Leere. Sicher haben die Flüchtlinge Deutschland verändert, wie es im Untertitel des
Buches heißt. Ob zum Besseren, wie Christian Jakob meint, ist noch nicht ausgemacht.
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