Wien beschliesst Notstandsregelung

Leitartikel: Die heutige Debatte zur Verkehrspolitik ignoriert die Veränderungen von morgen Seite 17
Neuö Zürcör Zäitung
NZZ – INTERNATIONALE AUSGABE
Freitag, 29. April 2016 V Nr. 99 V 237. Jg.
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Wien beschliesst
Notstandsregelung
Tsipras stösst
auf taube Ohren
Griechenland-Gespräche stocken
Ht. Brüssel V Jüngst aufgekommene
Verschärfung des Asylrechts und Zaun am Brenner
MERET BAUMANN, WIEN
Österreichs Parlament hat am Mittwoch
nach hitziger Debatte eine weitere umstrittene Asylrechtsverschärfung verabschiedet. Diese hat zum einen eine Erschwerung des Familiennachzugs zum
Inhalt, der vorläufig Aufgenommenen
künftig erst nach einer Wartefrist von
drei Jahren möglich ist. Gleiches gilt für
anerkannte Flüchtlinge, sofern sie ihren
Antrag nicht innert dreier Monate nach
Gewährung des Asylstatus stellen. Zum
anderen wird das Asylrecht grundsätzlich nur noch auf drei Jahre befristet gewährt. Gilt die Situation im Herkunftsland danach als verbessert, wird dieses
wieder aufgehoben.
Am kontroversesten ist aber eine
Notstandsregelung, mit der das Ziel verfolgt wird, die im Januar beschlossene
Obergrenze von 37 500 Asylsuchenden
im laufenden Jahr einzuhalten. Die
Regierung erhält damit die Möglichkeit,
per Verordnung das Recht auf ein Asylverfahren in Österreich faktisch aufzuheben, wenn sie die öffentliche Ordnung
und die innere Sicherheit im Land bedroht sieht. Flüchtlinge sollen dann an
der Grenze zurückgewiesen werden, es
sei denn, sie verfügen über enge Angehörige in Österreich, oder ihnen droht
im Nachbarland eine unmenschliche
Behandlung. Ob die Voraussetzungen
für ein Verfahren in Österreich gegeben
sind, soll künftig in Schnellverfahren an
der Grenze geprüft werden. Dazu wird
derzeit an verschiedenen Übergängen
ein «Grenzmanagement» nach dem
Vorbild von Spielfeld errichtet.
Zerreissprobe für die SPÖ
PD
Die Regierung begründet die drastische
Einschränkung des Asylrechts, die an
das insbesondere aus Wien einst scharf
kritisierte ungarische Vorgehen erinnert,
mit den fast 90 000 Gesuchen, die im
letzten Jahr verzeichnet worden sind.
Proportional zur Bevölkerung ist dies im
europäischen Vergleich ein Spitzenwert.
Eine ähnlich hohe Zahl wäre für das
KÖNIGLICHER HIRNSCHADEN
Heinrich VIII. hat zu
oft an Ritterturnieren
teilgenommen,
glauben amerikanische
Forscher SEITE 20
Land nicht verkraftbar, argumentiert die
Regierung. Die Gesetzesrevision ist dennoch sehr umstritten, die oppositionellen
Grünen halten sie etwa für verfassungswidrig und sprechen von einem «rechtsstaatlichen Dammbruch». Die Vorlage
war allerdings auf der Basis zweier juristischer Gutachten entstanden, nachdem
diese eine absolute Obergrenze für
rechtlich unmöglich bezeichnet hatten.
Gleichwohl gibt es auch innerhalb der
Regierungskoalition Kritik an der Vorlage. Vier Abgeordnete der SPÖ stimmten gegen das Paket, was angesichts der
üblicherweise strengen Fraktionsdisziplin in Österreich ungewöhnlich ist. Es
zeigt, wie sehr der radikal vollzogene und
vom konservativen Koalitionspartner
ÖVP betriebene Schwenk der Regierung
in der Flüchtlingspolitik die Sozialdemokraten vor eine Zerreissprobe stellt – gerade nach dem miserablen Abschneiden
ihres Kandidaten bei der Bundespräsidentenwahl am Sonntag.
Notstand nicht klar definiert
Nach der scharfen Kritik von Opposition und NGO in der sehr kurz gehaltenen Vernehmlassung befristete die Regierungsmehrheit die allfälligen Notstandsmassnahmen auf sechs Monate
mit dreimaliger Verlängerungsmöglichkeit. Offen bleibt, wie die Gefährdung
der öffentlichen Ordnung exakt definiert wird. Der neue Innenminister
Wolfgang Sobotka nannte am Dienstagabend gegenüber dem ORF die ohnehin
sehr angespannte Situation auf dem
Arbeitsmarkt sowie die Kriminalitätsstatistik als Hinweise. Gegenwärtig sieht
er den Notstand jedoch nicht gegeben,
obwohl täglich im Schnitt deutlich mehr
als 100 Asylgesuche verzeichnet werden
und die Obergrenze so bereits im Spätsommer erreicht wäre.
Derweil hat die Tiroler Landespolizei
das geplante «Grenzmanagement» am
Brenner präsentiert, dem wirtschaftlich
bedeutendsten Alpenübergang. Demnach soll es drei Kontrollpunkte auf der
Autobahn und einen auf der Landstrasse geben, zudem wird ein fast 400
Meter langer Zaun errichtet. Rigide
Grenzkontrollen soll es aber nur geben,
wenn Rom ankommende Asylsuchende
zu Tausenden nach Norden durchwinkt
und damit an der Grenze eine mit dem
letzten Herbst vergleichbare Situation
eintritt, so Sobotka sinngemäss.
Meinung & Debatte, Seite 19
Hindernislauf? Schon 1958 waren Briefträger gefordert.
MAX A. WYSS / COMET PHOTO / ETH-BILDARCHIV
Streitobjekt
Briefkasten
Hauseigentümer wehren sich gegen Umplacierungen
ase. V Seit 2012 verpflichtet die Postver-
ordnung Hauseigentümer, ihren Briefkasten an der Grundstücksgrenze aufzustellen. Gemeinde für Gemeinde ver
schafft die Post dieser Forderung Nachachtung und stösst dabei zunehmend auf
Widerstand. Bei der Postkommission
gehen immer mehr Beschwerden von
Kunden ein, die sich weigern, ihren
Briefkasten umzuplacieren. Zugleich
werden Briefkästen immer weniger gefüllt, nimmt doch das Volumen an adressierten Briefen pro Jahr um ein bis zwei
Prozent ab. Die Post experimentiert daher mit neuen Beschäftigungen für die
Briefträger. So stellen sie in Gebieten
der Kantone Solothurn und Bern auch
Gemüse, Früchte, Brot und Eier in Tragtaschen bei der Haustüre oder dem
Briefkasten ab. In der Agglomeration
Bern lasen die Briefträger 2015 zweimal
jährlich bei allen Häusern die Stromzähler ab. Dies im Auftrag des Stromversorgungsunternehmens BKW.
Schweiz, Seite 30
Panorama, Seite 20
VOR DER GENERALVERSAMMLUNG
BUNDESGERICHT
Auf CS-Chef Rohner
warten unangenehme
Fragen SEITE 9
Entscheid zu Flugplatz
Dübendorf muss nicht
vors Volk SEITE 31
NEUE LINIE
HANS-ULRICH LEHMANN
Düsseldorf beweist:
U-Bahnhöfe können
chic sein SEITE 21
Retter für den EHC
Kloten mit massiven
Sparvorgaben SEITE 34
BODLUV
Der Streit um das
Luftabwehrsystem
eskaliert SEITE 27
NZZ
Österreich erhöht die Hürden
für Asylsuchende weiter.
Die Regierung erhält neu
die Möglichkeit, das Recht
auf ein Asylverfahren faktisch
aufzuheben.
MARTIN BÄUMLE
Der GLP-Präsident
will seine Partei als
gesellschaftspolitische
Avantgarde
positionieren SEITE 27
LIZENZ ENTZOGEN
Liga nimmt den
FC Biel per sofort aus
der Meisterschaft SEITE 35
Hoffnungen auf eine rasche Einigung
zwischen den Gebern und Griechenland über die nächsten Schritte zur Umsetzung des laufenden dritten Hilfsprogramms haben sich vorerst zerschlagen.
Zugleich scheiterte am Mittwoch der
Versuch des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, die Verhandlungen einmal mehr auf die höchste politische Ebene zu hieven. Tsipras hatte am
Mittwochvormittag in einem Telefongespräch den EU-Rats-Präsidenten
Donald Tusk ersucht, ein Gipfeltreffen
der Staats- und Regierungschefs einzuberufen, falls nicht innert Stunden ein
Treffen der Finanzminister der EuroStaaten (Euro-Gruppe) bestätigt werden könne.
Doch Tusk erteilte ihm eine Absage.
Er sei überzeugt, dass es für die Finanzminister noch Arbeit zu erledigen gebe,
sagte er öffentlich. Zugleich mahnte
Tusk zur Eile. Man müsse eine Situation
neuer Unsicherheit für Griechenland
vermeiden. Deshalb brauche man ein
konkretes Datum für die neue EuroGruppen-Sitzung. Er spreche nicht von
Wochen, sondern von Tagen.
Zuvor hatte der Euro-GruppenChef Jeroen Dijsselbloem ein provisorisch für Donnerstag angepeiltes Sondertreffen der Gruppe auf unbestimmte
Zeit verschoben. Es brauche mehr Zeit
für die Verhandlungen, erklärte sein
Sprecher in der Nacht auf Mittwoch.
Gemeint sind die in Athen laufenden
Gespräche zwischen den griechischen
Behörden und Vertretern der Geber
über die nächsten Spar- und Reformschritte. Eine Einigung darüber bildet
die Voraussetzung für die Auszahlung
der nächsten Tranche der Hilfskredite
des Euro-Krisenfonds ESM und die allfällige Gewährung von Schuldenerleichterungen der Europäer an Griechenland.
Schwierigkeiten machen in den Verhandlungen vor allem die «Reservemassnahmen»: Die Euro-Gruppe hat
bei ihrer jüngsten Sitzung in Amsterdam
zusätzlich zu dem seit längerem diskutierten, zwingenden Reformpaket Vorratsbeschlüsse über weitere Spar- und
Reformmassnahmen gefordert. Diese
müssten nur umgesetzt werden, falls das
obligatorische Paket zur Erreichung des
im Hilfsprogramm vorgesehenen Sparzieles für 2018 nicht genügen sollte. Hintergrund dafür sind Zweifel des Internationalen Währungsfonds (IMF), ob
die zwingenden Massnahmen reichen.
Tsipras hat aber Mühe, Vorratsbeschlüsse innenpolitisch durchzusetzen.
International, Seite 6
«Reflexe», Seite 10
-1°/14°
WETTER
Meist sonnig. Am Morgen
gebietsweise Nebelfelder.
Am Nachmittag über den
Bergen Quellwolken,
vereinzelt Schauer nicht
ausgeschlossen. SEITE 36
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