Gießener Allgemeine vom 27.04.2016 Seite: Ressort: 33 Kreis Gießen Gattung: Auflage: Rubrik: Ausgabe: Kreisredaktion Hauptausgabe Reichweite: Tageszeitung 49.911 (gedruckt) 43.469 (verkauft) 46.696 (verbreitet) 0,15 (in Mio.) Geschichte als Geschäftsmodell Dunkel, schmutzig, voller Gewalt: So ist die landläufige Vorstellung vom Mittelalter. Andrej Pfeiffer-Perkuhn sieht das anders: »Der mittelalterliche Mensch ist uns gar nicht so fern«, findet er. Über dieses Thema kann er stundenlang reden. Und das tut er auch. Zum Beispiel am kommenden Wochenende auf dem Historischen Markt in Lich. Dort will der Gründer einer Firma namens »Geschichtsfenster« zeigen, wie das Mittelalter wirklich war. Von Ulla Sommerlad Schon als Kind war Pfeiffer-Perkuhn von Geschichte fasziniert. Eine Zeit lang sei er in der Mittelalter-Szene unterwegs gewesen, erzählt er. Doch irgendwann vermisste er die historische Genauigkeit. So kam er zur Living History, jener besonderen Form der Geschichtsvermittlung, bei der die Alltagswelt früherer Zeiten so exakt wie möglich auf der Grundlage historischer Quellen nachempfunden wird. »Die Mittelaltermärkte betonen das Fremde, den Traum vom einfachen Leben«, sagt der Mann aus Münzenberg. Er hingegen will die mittelalterlichen Menschen näher an uns ranholen und zeigen, dass »alles auch mit uns zu tun hat«. Das geht seiner Erfahrung nach am besten über Repliken, Alltagsgegenstände, die der 42-Jährige auf Grundlage alter Bilder von Handwerkern anfertigen lässt. »Ich mag diese Sachkultur«, sagt er. Und er lebt auch darin. Die Vorlage für sein Küchenschränkchen daheim zum Beispiel fand er auf einem spätmittelalterlichen Gemälde der Verkündigung der Maria. Und weil die Gottesmutter in spe auf solchen Bildern gerne in ihrer häuslichen Umgebung dargestellt wird, hängt im Hintergrund eben ein Wandkästchen. Es hat übrigens eine Handtuchstange, man stelle sich das einmal vor. Pfeiffer-Perkuhn ist überzeugt: »Wer sich Gedanken über Handtuchstangen macht, ist nicht primiWörter: © 2016 PMG Presse-Monitor GmbH 621 tiv. Und wer die Marienstiftskirche baut, lebt daheim nicht im Dreck.« So viel zum Thema dunkles Mittelalter. Gelernt hat Pfeiffer-Perkuhn ursprünglich mal Baustoffhändler. Doch in dieser Branche war nichts zu finden, als er mit seiner Frau, einer Lehrerin, nach Münzenberg zog. So wurde er Hausmann und kümmerte sich um die Tochter. Dass er sein Hobby zum Beruf machen sollte, ahnte er damals nicht. Das ergab sich eher durch Zufall, durch einen Besuch auf dem Historischen Markt in Lich 2009. Bei einer Bücherausstellung in der Marienstiftskirche ergaben sich Kontakte zum Kirchenvorstand, ein Jahr später schlüpfte er bei einem ähnlichen Anlass in die Rolle eines Buchdruckers. Als 2011 zur 500Jahr-Feier der Kirche historische Darsteller gesucht wurden, war PfeifferPerkuhn zur Stelle. Mit anderen LivingHistory-Enthusiasten erweckte er rund um das Gotteshaus einen mittelalterlichen Markt zum Leben. Das war der Anfang. Seither ist er mit dem »Geschichtsfenster«, das er um diese Zeit gründete, jedes Jahr in Lich präsent. Auftraggeberin ist die Stadt, die zuvor schon lange nach Wegen gesucht hatte, den Historischen Markt wieder »historischer« zu machen. Probleme, Mitstreiter für die zwei Tage zu finden, hat Pfeiffer-Perkuhn nicht. Lich sei bei anderen Darstellern sehr beliebt, weil das Publikum so interes- siert sei. Die Leute dürfen die gezeigten Gegenstände anfassen, ausprobieren und fragen, fragen, fragen. »Wenn sie sich darauf einlassen, bleiben sie sehr lange«, berichtet der Organisator. Es gebe aber auch welche, die Spektakel und Tan- deradei vermissen. »Die fragen dann immer: Wo ist denn hier der richtige Mittelaltermarkt?« Veranstaltungen wie die in Lich sind nur ein Arbeitsbereich des »Geschichtsfensters«. Pfeiffer-Perkuhn, der mittlerweile an der Fern-Uni Hagen Geschichte studiert hat, bietet auch Erlebnisführungen an und geht mit seinem mobilen Museum in Schulen und Kindergärten. Er berät Museen bei der Beschaffung von Repliken, in seinem Archiv hat er 62 000 Bilder aus dem 15. Jahrhundert gespeichert, die er für Veröffentlichungen zur Verfügung stellt. Teile seiner Ausrüstung kann man für Fotoshootings oder Partys mieten. Und wer Bedarf an einem spätmittelalterlichen Kämpfer in vollem Harnisch hat, der sollte »Rent-a-Ritter« in Erwägung ziehen. Ob man davon leben kann? »Eine Vollzeitjob ist das nicht, vor allem nicht im Winter«, sagt Pfeiffer-Perkuhn. Aber ein schöner Nebenverdienst sei das »Geschichtsfenster« allemal. »Vor allem einer, der Spaß macht.« Infos: www. geschichtsfenster.de
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