Geschichte als Geschäftsmodell

Gießener Allgemeine vom 27.04.2016
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33
Kreis Gießen
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Kreisredaktion
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Tageszeitung
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Geschichte als Geschäftsmodell
Dunkel, schmutzig, voller Gewalt: So ist die landläufige Vorstellung vom Mittelalter. Andrej
Pfeiffer-Perkuhn sieht das anders: »Der mittelalterliche Mensch ist uns gar nicht so fern«, findet
er. Über dieses Thema kann er stundenlang reden. Und das tut er auch. Zum Beispiel am
kommenden Wochenende auf dem Historischen Markt in Lich. Dort will der Gründer einer Firma
namens »Geschichtsfenster« zeigen, wie das Mittelalter wirklich war.
Von Ulla Sommerlad Schon als Kind
war Pfeiffer-Perkuhn von Geschichte
fasziniert. Eine Zeit lang sei er in der
Mittelalter-Szene unterwegs gewesen,
erzählt er. Doch irgendwann vermisste
er die historische Genauigkeit. So kam
er zur Living History, jener besonderen
Form der Geschichtsvermittlung, bei der
die Alltagswelt früherer Zeiten so exakt
wie möglich auf der Grundlage historischer Quellen nachempfunden wird.
»Die Mittelaltermärkte betonen das
Fremde, den Traum vom einfachen
Leben«, sagt der Mann aus Münzenberg. Er hingegen will die mittelalterlichen Menschen näher an uns ranholen
und zeigen, dass »alles auch mit uns zu
tun hat«.
Das geht seiner Erfahrung nach am
besten über Repliken, Alltagsgegenstände, die der 42-Jährige auf Grundlage alter Bilder von Handwerkern
anfertigen lässt. »Ich mag diese Sachkultur«, sagt er. Und er lebt auch darin.
Die Vorlage für sein Küchenschränkchen daheim zum Beispiel fand er auf
einem spätmittelalterlichen Gemälde der
Verkündigung der Maria. Und weil die
Gottesmutter in spe auf solchen Bildern
gerne in ihrer häuslichen Umgebung
dargestellt wird, hängt im Hintergrund
eben ein Wandkästchen. Es hat übrigens eine Handtuchstange, man stelle
sich das einmal vor. Pfeiffer-Perkuhn ist
überzeugt: »Wer sich Gedanken über
Handtuchstangen macht, ist nicht primiWörter:
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tiv. Und wer die Marienstiftskirche baut,
lebt daheim nicht im Dreck.« So viel
zum Thema dunkles Mittelalter.
Gelernt hat Pfeiffer-Perkuhn ursprünglich mal Baustoffhändler. Doch in dieser Branche war nichts zu finden, als er
mit seiner Frau, einer Lehrerin, nach
Münzenberg zog. So wurde er Hausmann und kümmerte sich um die Tochter. Dass er sein Hobby zum Beruf
machen sollte, ahnte er damals nicht.
Das ergab sich eher durch Zufall, durch
einen Besuch auf dem Historischen
Markt in Lich 2009. Bei einer Bücherausstellung in der Marienstiftskirche
ergaben sich Kontakte zum Kirchenvorstand, ein Jahr später schlüpfte er bei
einem ähnlichen Anlass in die Rolle
eines Buchdruckers. Als 2011 zur 500Jahr-Feier der Kirche historische Darsteller gesucht wurden, war PfeifferPerkuhn zur Stelle. Mit anderen LivingHistory-Enthusiasten erweckte er rund
um das Gotteshaus einen mittelalterlichen Markt zum Leben. Das war der
Anfang. Seither ist er mit dem
»Geschichtsfenster«, das er um diese
Zeit gründete, jedes Jahr in Lich präsent.
Auftraggeberin ist die Stadt, die zuvor
schon lange nach Wegen gesucht hatte,
den Historischen Markt wieder »historischer« zu machen.
Probleme, Mitstreiter für die zwei Tage
zu finden, hat Pfeiffer-Perkuhn nicht.
Lich sei bei anderen Darstellern sehr
beliebt, weil das Publikum so interes-
siert sei. Die Leute dürfen die gezeigten
Gegenstände anfassen, ausprobieren und
fragen, fragen, fragen. »Wenn sie sich
darauf einlassen, bleiben sie sehr
lange«, berichtet der Organisator. Es
gebe aber auch welche, die Spektakel
und Tan- deradei vermissen. »Die fragen dann immer: Wo ist denn hier der
richtige Mittelaltermarkt?«
Veranstaltungen wie die in Lich sind nur
ein Arbeitsbereich des »Geschichtsfensters«. Pfeiffer-Perkuhn, der mittlerweile an der Fern-Uni Hagen
Geschichte studiert hat, bietet auch
Erlebnisführungen an und geht mit seinem mobilen Museum in Schulen und
Kindergärten. Er berät Museen bei der
Beschaffung von Repliken, in seinem
Archiv hat er 62 000 Bilder aus dem 15.
Jahrhundert gespeichert, die er für Veröffentlichungen zur Verfügung stellt.
Teile seiner Ausrüstung kann man für
Fotoshootings oder Partys mieten. Und
wer Bedarf an einem spätmittelalterlichen Kämpfer in vollem Harnisch hat,
der sollte »Rent-a-Ritter« in Erwägung
ziehen.
Ob man davon leben kann? »Eine Vollzeitjob ist das nicht, vor allem nicht im
Winter«, sagt Pfeiffer-Perkuhn. Aber ein
schöner Nebenverdienst sei das
»Geschichtsfenster« allemal. »Vor allem
einer, der Spaß macht.«
Infos: www. geschichtsfenster.de