Idomeni: Lesen lernen an der Grenze Das Flüchtlingslager wird zum Dorf – mit provisorischen Schulen ▶ Seite 5 AUSGABE BERLIN | NR. 11005 | 17. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 28. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND r e d ä r r h a F Staat trägt r ü f ie Endlagerrisiko H EUTE I N DER TAZ m ä r P o r u ERKENNTNIS Daniel E l l u N ATOMMÜLLENTSORGUNG Finanzkommission einig, Konzerne kritisch BERLIN taz | Die Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls soll künftig beim Staat liegen, auch das Risiko von Kostensteigerungen trägt der Steuerzahler. Im Gegenzug zahlen die AKW-Betreiber die dafür gebildeten Rückstellungen von 17 Milliarden Euro zuzüglich einem Risikoaufschlag von 6 Milliarden Euro an einen staatlichen Fonds. Darauf hat sich die von der Regierung eingesetzte Finanzkommission am Mittwoch geeinigt. Die AKWBetreiber halten den Aufschlag für zu hoch; angesichts des einstimmigen Votums der Kommission scheint eine Änderung aber kaum möglich. Atomkraftgegner und die Linkspartei kritisierten die Einigung als schlechten Deal für die Steuerzahler. ▶ Schwerpunkt SEITE 2 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 Brühl sei Dank: Der Film „Colonia Dignidad“ führt zum Eingeständnis deutscher Fehler ▶ SEITE 13 ERÖFFNUNG Prozess gegen rechte Terrorgruppe „Oldschool Society“ ▶ SEITE 4 ERNENNUNG Job für Volker Beck ▶ SEITE 6, 14 BERLIN Hello again, Lenin-Kopf! ▶ SEITE 21 Fotos oben: Palma/Majestic; dpa VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! VERKEHRT Wer ein Elektroauto kauft, erhält künftig 2.000 Euro vom Staat – egal woher der Strom stammt. Sogar HybridFahrer bekommen 1.500 Euro spendiert. Wer sich komplett schadstofffrei bewegt, geht hingegen leer aus ▶ SEITE 3 Schäuble-Mann wird BND-Chef verboten freut sich sehr, dass die Finanzierung der Atommüll-Endlagerung geklärt ist. Schön, dass alle zusammenarbeiten und ihr Bestes tun. Damit wäre das mit dem Lager für den Scheiß-Atommüll also auch geklärt. Fehlt nur noch Vergelt’s Gott: FahrradfahrerInnen kriegen von Verkehrsminister Dobrindt nix, dürfen aber staatliche E-Auto-Prämien mitbezahlen Foto: Karsten Thielker ein Ort. KOMMENTAR VON MANFRED KRIENER ZUR PRÄMIE FÜR ELEKTRO- UND HYBRIDAUTOS TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.781 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40617 4 190254 801600 BERLIN afp Der Wechsel an der Spitze des Bundesnachrichtendienstes ist offiziell: Der bisherige BND-Präsident Gerhard Schindler wird zum 1. Juli von dem bisherigen Abteilungsleiter im Bundesfinanzministerium, Bruno Kahl, abgelöst, wie Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) am Mittwoch mitteilte. Quer durch alle Parteien wurde die Erwartung geäußert, dass mit dem Wechsel auch Reformen beim Bundesnachrichtendienst geben wird. Der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses, Patrick Sensburg (CDU) erklärte: „Wir brauchen beim BND einen Neuanfang.“ ▶ Inland SEITE 6 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 J ahrelang hat die Politik der Versuchung widerstanden, für Elektro autos eine Kaufprämie zu spendieren. Zu groß waren die Probleme der Branche mit kleinen Reichweiten und großen Preisen, mit dem Mangel an Ladestationen und dem Mut, die Autos wirklich kleiner und leichter zu machen. Stattdessen erinnerten die Batteriefahrzeuge an die Anfänge des Elektroautos Ende des 19. Jahrhunderts, als der Autojournalist Baudry de Saunier erkannte: „Leider ist die Capazität der Elemente eine sehr geringe, die Batterien liefern trotz großen Volumens und Gewichts sehr wenig und bloß für kurze Zeit elektrischen Strom. Auch sind die Kosten sehr hoch.“ Im 21. Jahrhundert war das Elektroauto bisher nicht mehr als ein grüner Stroh- Die Belohnung fürs Dieselgate mann. Die Autoindustrie produziert zu 99 Prozent fossile Benziner und Diesel, stellt die Stromer aber als glitzernde Wunschmaschinen der automobilen Erneuerung ins Rampenlicht. Nahezu null Absatz, aber schicke Kisten für die Automobilsalons. Der Beweis der Zukunftsfähigkeit. Das Fehlen des Verkaufserfolgs erschien als Versagen knausriger Kunden. Und als Fehler von Schäuble, der keine Prämie rausrückt. Die Stimmung hat sich gedreht. Die Markterfolge des US-Autobauers Tesla und der chinesischen Marke BYD haben den typisch deutschen Angstreflex ausgelöst, abgehängt zu werden. Die fahren elektrisch voraus, wir dieseln hinterher. Die Neurose des Wir-verlieren-den-Anschluss wird vor allem von den Medien befeuert. Diese übersehen aber, dass die US-Firma in Schulden versinkt und ihre Autos eher Spielzeug für Reiche sind als vernünftiges Fortbewegungsmittel. Und: Elektroautos helfen nur dann Umwelt und Klima, wenn ihr Strom komplett aus erneuerbaren Energien kommt und nicht aus Braunkohle. Zukunftsfähige Elektrofahrzeuge können auch nicht die üblichen Großpanzer und Rennautos sein, die lediglich einen neuen Antrieb bekommen. Wenn schon eine Verkaufsprämie, dann bitte mit ökologischer Lenkung Jetzt also doch: saftige Subventionen für die Autoindustrie. Der es ja richtig schlecht geht, weil sie von den Umweltbrigaden übler Machenschaften überführt wurde. Dass der Zunft ausgerechnet jetzt Kaufprämien als Belohnung hinterhergeworfen werden, da sie als kriminelle Vereinigung enttarnt ist, die jahrelang vorsätzlich betrogen und manipuliert hat, das ist die eigentliche Pointe. Und wenn schon Verkaufsprämie, dann bitte mit ökologischer Lenkung. Wie das geht? Man besteuert dicke SUVs, Zwölfzylinder und andere automobile Nekrosen etwas höher und schüttet diese Mehreinnahmen kostenneutral für kleine Elektroautos aus. Dann müssen auch nicht Fußgänger und Radfahrer die Autosubvention mitbezahlen. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN SYRISCH E FLÜCHTLI NGE I N GRI ECH EN LAN D US-LUFTANGRI FF + RAMSTEI N Erste Rückführungen in die Türkei Klage von Somalier abgewiesen LESBOS | Erstmals seit Inkraft- Jürgen Trittin, grüner Kommis sions-Kovorsitzender Foto: Boness Noch einmal Konsensfinder U m starke Sprüche ist der Grüne Jürgen Trittin nie verlegen – so auch kürzlich auf einem Anti-Atom-Kongress in Zürich. Die Pläne, den Reaktor Hinkley Point in Großbritannien durch massive staatliche Garantien zu ermöglichen, nannte er da süffisant „neoliberalen Staatskommunismus“. Und im Zusammenhang mit der desolaten Lage der europäischen Nuklearfirmen wandelte er genüsslich den bekannten Satz um: „Wer nicht auf die Anti-AKW-Bewegung hört, den bestraft der Markt.“ Heute müsste er wohl hinzufügen: ... und den rettet am Ende die Politik. Denn nichts anderes besagt der Plan, den die von Trittin mitgeleitete Atomkommission gestern vorstellte. Die Tatsache, dass das Votum einstimmig erfolgte, zeigt, wie sehr die Kommission sich unter Erfolgsdruck sah. Dagegen konnte offenbar auch der erfahrene Grüne Trittin, der nach Regierungsübernahme unter Kanzler Gerhard Schröder ab 1998 maßgeblich am ersten Atomausstieg mitwirkte, wenig ausrichten. Vielmehr scheint er sich in der schwierigen Rolle durchaus zu gefallen. Es sei ihm erneut gelungen, „in einer einst spaltenden Frage einen Konsens zu erreichen“, sagte er sichtlich zufrieden bei der Vorstellung des Berichts. Die Berufung des heute 61-Jährigen, der politische Konflikte und Provokationen nie scheute, zugleich aber immer auch Kompromissbereitschaft zeigen konnte, kam im vergangenen Herbst durchaus überraschend. Denn obwohl er noch immer der wohl profilierteste aktive grüne Bundespolitiker ist, war es nach der Abwahl der zweiten rot-grünen Bundesregierung 2005 ruhiger um ihn geworden. Vielleicht hätte ihm jedoch schon der offizielle Name der im Oktober 2015 vom Kabinett eingesetzten Gruppe aus Politikern und Vertretern der Zivilgesellschaft (von Gewerkschaft bis Kirche) zu denken geben müssen: „Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs (KFK)“. Der Name ist insofern skurril, als dass die Kosten der Atommüllverwahrung eher Folge des Atomeinstiegs als des Atomausstiegs sind. Vielleicht konnte bei einem solchen Titel auch ein Jürgen Trittin nicht Besseres rausholen. BERNWARD JANZING Der Tag DON N ERSTAG, 28. APRI L 2016 treten des Flüchtlingspakts zwischen der EU und Ankara ist am Mittwoch eine größere Gruppe von Syrern per Flugzeug von der griechischen Insel Lesbos in die Türkei zurückgeführt worden. Die insgesamt zwölf Flüchtlinge seien freiwillig an Bord eines von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex gecharterten Flugzeugs in die türkische Hafenstadt Adana gegangen, hieß es vonseiten der Küstenwache und der Polizei. Zuvor waren bereits 374 Migranten aus anderen Staaten per Schiff in die Türkei zurückgeschickt worden. Für jeden aus Griechenland abgeschobenen Syrer soll ein Syrer aus der Türkei legal in der Europäischen Union aufgenommen werden. Die Regelung gilt zunächst für 72.000 syrische Flüchtlinge, die in der Türkei Zuflucht gesucht haben. Mit dem umstrittenen EU-Türkei-Pakt will die Europäische Union den Zustrom von Flüchtlingen drosseln und Schleppern das Handwerk legen. Der Pakt sieht vor, dass alle Menschen, die seit dem 20. März illegal nach Griechenland gelangt sind, zwangsweise in die Türkei zurückgebracht werden können. (dpa) KÖLN | Die Klage eines Soma- liers, dessen Vater 2012 bei einem Luftangriff der USA getötet wurde, gegen die Bundesrepublik ist abgewiesen worden. Die Klage sei unzulässig, urteilte das Verwaltungsgericht Köln gestern. Der Kläger, dessen Vater als Zivilist mutmaßlich durch eine unbemannte, von Ramstein aus gesteuerte US-Kampfdrohne getötet wurde, sei in dieser Sache gegen die Bundesrepublik nicht klagebefugt. Der Luftangriff der USA in Somalia könne nicht als deutscher Hoheitsakt gewertet werden, hieß es. (epd) GROSSES KI NO SPARKASSEN Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscarkandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de Konzerne lehnen Geschenk ab das Endlagerrisiko abzunehmen – mit einem Aufschlag von 6 Milliarden Euro Es waren offenbar harte Verhandlungen, in denen die Mitglieder der Atom-Finanzkommission bis zuletzt von den AKW-Betreibern unter Druck gesetzt wurden. „Wir mussten die Handys weit weg legen, um nachts mal schlafen zu können“, sagte der ehemalige CDU-Politiker Ole von Beust als einer der drei Kovorsitzenden der Kommission, als am Mittwochnachmittag der Abschlussbericht der Kommission vorgelegt wurde. Das 19-köpfige Gremium mit VertreterInnen aus Politik, Wis- senschaft, Wirtschaft und Gesellschaft hatte im Auftrag des Bundeswirtschaftministeriums an einem Vorschlag gearbeitet, wie der Rückbau der Atomkraftwerke und der Endlagerung des Atommülls sicher finanziert werden kann. Dafür haben die Betreiber zwar Geld zurückgestellt (siehe unten). Doch es ist unsicher, ob diese Summe reicht; zudem bestehen Zweifel, ob die Unternehmen überhaupt noch existieren, wenn die Gelder – teils erst in vielen Jahrzehnten – benötigt werden. Trotz anfänglich großer Meinungsunterschiede einigte sich die Kommission am Ende einstimmig. Die Unternehmen sollen für den Rückbau der Atomkraftwerke zuständig bleiben, aber die Verantwortung für Z wischen- und Endlagerung des Atommülls auf den Staat übertragen. Im Gegenzug sollen sie nicht nur die dafür gebildeten Rücklagen an einen staatlichen Fonds übertragen, sondern zudem einen Aufschlag von 35 Prozent, der das Risiko von Zinsänderungen oder Kostensteigerungen abdecken soll. Über die Höhe dieses Aufschlags war bis zuletzt gestritten worden. „Das ist eine Ein teures Abenteuer ATOM II DÜSSELDORF | Die Sparkassen warnen wegen der Niedrigzinspolitik der Europäische Zentralbank vor einer neuen Finanzkrise. Durch das billige Geld der EZB würden „kaum mehr lebensfähige Banken“ künstlich am Leben gehalten, sagte Sparkassen-Chef Georg Fahrenschon. Geldhäuser könnten anstrengungslos Gewinne einfahren, wenn sie Staatsanleihen kriselnder Staaten kauften und diese an die Notenbanken weiterreichten. „Mit solchen Bedingungen wird der Keim für die nächste Finanzkrise gelegt.“ (rtr) Einbuddeln für 1 Million Jahre ATOM I Finanzkommission einigt sich darauf, den AKW-Betreibern per Staatsfonds AUS BERLIN MALTE KREUTZFELDT EZB legt Keim für neue Finanzkrise gute und faire Lösung“, sagte Ole von Beust. Auch der Kovorsitzende Jürgen Trittin, der schon als grüner Umweltminister den Atomkonsens mit der Industrie ausgehandelt hatte, zeigte sich zufrieden. „Es ist uns gelungen, das finanzielle Risiko für die Gesellschaft, das sonst immer mehr gestiegen wäre, zu verringern“, sagte er. „Vollständig vermeiden lässt es sich nicht.“ Trittin, von Beust und der dritte Vorsitzende Matthias Platzeck (SPD) rechnen aufgrund des einstimmigen Votums damit, dass die Regierung ■■Was? Die Experten der vom Bundestag eingesetzten Kommission zur Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe wollen im Sommer ihr Ergebnis vorstellen: Kriterien für ein Atommüll-Endlager in Deutschland. ■■Wie lange? Das Endlager soll eine Million Jahre überstehen. ■■Wo? Konkrete Standortvorschläge wird es nicht geben. Der hochradioaktive Atommüll soll in jedem Fall untertage in einem Bergwerk gelagert werden. ■■Aber? Sollte sich ein gefundenes Endlager am Ende doch nicht als geeignet erweisen, soll die Entscheidung rückgängig gemacht werden können. (epd) den Vorschlag unverändert umsetzt. „Im Lauf des Sommers sollte es einen Gesetzentwurf geben“, sagte Trittin. Allerdings hoffen die AKWBetreiber offenbar immer noch, besser davonzukommen als von der Kommission vorgeschlagen. In einer gemeinsamen Erklärung betonten Eon, RWE, EnBW und Vattenfall, sie seien zwar grundsätzlich mit dem Vorschlag einverstanden. Aber: „Die äußerste Grenze ihrer Leistungsfähigkeit“ werde mit der „Höhe des sogenannten Risikoaufschlags allerdings überschritten“, behaupten die Unternehmen. Das sehen ihre Aktionäre offenbar anders. Die Kurse von RWE und Eon machten einen deutlichen Sprung nach oben, als die Einigung der Kommission bekannt wurde. Umweltverbände reagierten gespalten auf die Einigung. Der WWF, der in der Kommission vertreten war, erklärte, zumindest sei der Steuerzahler vor einem möglichen Totalausfall bewahrt worden. Die Anti-AtomInitiative Ausgestrahlt meint hingegen, der Vorschlag sei ein „ausgesprochen schlechtes Geschäft für alle SteuerzahlerInnen“. Meinung SEITE 12 THEMA DES TAGES Wie weit die Gelder im neuen Staatsfonds für den AKW-Müll reichen werden, steht in den Sternen FREIBURG taz | 40,1 Milliarden Euro: So viel hatten die Atomkonzerne in Deutschland zum letzten Bilanzstichtag Ende 2015 für den Abriss ihrer Reaktoren und die Entsorgung des Atommülls zurückgestellt. Nun sind die Rückstellungen aber kein Geld auf dem Konto, sondern nur eine Art vorweg verbuchter Rechnung. Sie sind folglich nur durch den Besitz des Unternehmens – etwa an Kraftwerken – werthaltig. Das heißt: Geht die Atomfirma in Konkurs, ist das Geld weg, das für die Verwahrung der Altlasten einge- plant ist. Deshalb sollen die Konzerne nun 23,34 Milliarden Euro in einen staatlichen Fonds überweisen. Die Summe ergibt sich aus dem Anteil der Rückstellungen, die für den Atommüll gebildet wurden, zuzüglich eines Risikoaufschlags von 6,14 Milliarden Euro. Allerdings: Damit kaufen sich die Konzerne von den absehbar steigenden Kosten der Atommüllverwahrung frei. Nur für den Rückbau der Reaktoren sollen die Betreiber noch selbst aufkommen. Wirtschaftsprüfer hatten 2015 in einem Gutach- ten („Stresstest“) im Auftrag des Wirtschaftsministeriums deutlich machen wollen, dass die zurückgestellten Beträge auch langfristig ausreichen. Dabei zeichnete sich aber ab, dass alle Annahmen sehr spekulativ sind: Niemand weiß ja, wie stark die Preise im Nuklearsektor steigen werden. Zudem geht die Rechnung nur auf, wenn die Beträge, die nun in einen staatlichen Fonds fließen, einigermaßen verzinst werden – was angesichts der Zinspolitik der EZB unrealistisch erscheint. Am Ende muss wohl der Steuerzahler für die strahlenden Altlasten aufkommen. Zumal Preissteigerungen bei Großprojekten an der Tagesordnung sind. Die Kosten der beiden europäischen Reaktorbaustellen Flamanville (Frankreich) und Olkiluoto (Finnland) haben sich in nur wenigen Jahren verdreifacht. Egal ob man den Kanaltunnel, die Elbphilharmonie, den Berliner Hauptbahnhof oder Flughafen nimmt: Stets lagen die Kosten deutlich über den Kalkulationen, mitunter zehnfach. Schwer zu glauben, dass das bei der Atommülllagerung anders sein sollte – zumal sie das langfristigste Projekt ist, dass es je in der Geschichte zu finanzieren galt. Mit der absehbaren Staatshaftung für sein Atomabenteuer steht Deutschland nicht alleine. In der Schweiz, in Schweden und Finnland sind die Fonds ebenfalls „deutlich unterfinanziert“, analysierte schon 2014 das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft. Auch dort geht man wohl davon aus, dass am Ende der Staat einspringt. BERNWARD JANZING Schwerpunkt Elektroautos DON N ERSTAG, 28. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Mit bis zu 4.000 Euro Prämie wollen Bundesregierung und Auto hersteller den müden Markt für die E-Fahrzeuge munter machen Vorstellung des VW Golf E. Das Fahrzeug kostet derzeit ab 34.900 Euro – macht mit Prämie 30.900. Die Reichweite beträgt laut ADAC etwa 145 Kilometer Foto: Stefan Boness/Ipon Ein elektrisierendes Geschenk SUBVENTION Insgesamt 1,6 Milliarden Euro machen Bund und Industrie locker, um den Verkauf von Elektroautos zu fördern. Bis 4.000 Euro erhält, wer ein Fahrzeug kauft – aber nur, solange der Geldvorrat reicht AUS BERLIN HANNES KOCH Da könnte so mancher den Fuß vom Gas nehmen: Möglicherweise schon ab kommenden Juni können Käufer von Elektroautos einen Zuschuss von 4.000 Euro erhalten. Das beschloss die Bundesregierung am Dienstagabend während ihres Treffens mit den Vorständen von BMW, Daimler und VW. Erwerber von Hybridfahrzeugen mit kombiniertem Benzin-Elektro-Antrieb sollen 3.000 Euro bekommen. Der Kabinettsbeschluss, mit dem das Programm startet, ist für Mai geplant. Nach achtjähriger Debatte über das Thema will die Regierung der deutschen Autoindustrie einen Anschub geben, damit diese bei den Elektroautos nicht den Anschluss an die internationale Entwicklung verliert. „Das Auto wird neu erfunden“, sagte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) am Mittwoch. Deshalb sei es eine Frage der „Industriepolitik“, dass die deutschen Unternehmen entscheidend mitmischen. Dafür hält Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) es für nötig, den Markt für stromgetriebene Autos in Deutschland schnell zu stimulieren. Die Kaufprämie soll dazu beitragen. Bisher rollen höchstens 50.000 Strom-Pkws auf hiesigen Straßen. Dank der neuen Förderung könnte ihre Zahl in den kommenden drei Jahren um 400.000 steigen. Eine Million elektrisch betriebene Fahrzeuge bis 2020 hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gar vor drei Jahren prognostiziert. Das war wohl ein wenig zu hoch gegriffen. Den Zuschuss erhalten Käufer, die ein Elektrofahrzeug zum Preis von bis zu 60.000 Euro erwerben. Teurere Luxuslimousi- nen werden von der Förderung ausgeschlossen. Die Hälfte der Prämie zahlt der Staat aus Steuermitteln, die andere Hälfte sollen die Hersteller gewähren. „Wer zuerst kommt, erhält die Prämie“, sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). „Die Kaufprämie für Elektroautos ist alles andere als nachhaltig“ CLAUDIA KEMFERT, DIW Wenn das eingeplante Geld weg ist, endet das Programm. Längstens läuft es bei 2019. Insgesamt wird die Förderung 1 Milliarde Euro aus dem Staatshaushalt kosten. 300 Millionen fließen in den Neubau von 15.000 zusätzlichen Strom- tankstellen, 100 Millionen dienen dem Kauf von E-Fahrzeugen für öffentliche Institutionen und Firmen. 600 Millionen Euro stehen aus Steuergeld für die Kaufprämie zur Verfügung. Weitere 600 Millionen – 50 Prozent der Prämie – will die Industrie dazuschießen, indem sie die Kaufpreise ihrer E-Mobile senkt. Das haben BMW, Daimler und VW zugesagt. Andere Unternehmen können sich anschließen. Den Ausgaben muss der Haushaltsausschuss des Bundestags noch zustimmen. Dort sei noch „Überzeugungsarbeit“ zu leisten, sagte Schäuble. Denn unter anderem in der Unionsfraktion fragen sich so manche, ob profitable Unternehmen wie BMW und Daimler eine neue staatliche Subvention benötigen. Auch aus anderer Richtung kommt Kritik. Die „Kaufprämie für Elektroautos ist kurzsichtig und alles andere als nachhal- tig“, sagte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Denn die Politik ist durch zu lasche Vorgaben und zu geringe Emissionsgrenzwerte mit dafür verantwortlich, dass die deutsche Autoindustrie die Zukunft verschläft.“ Kemfert forderte, die niedrige Dieselsteuer auf die Höhe für Benzin anzuheben. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel erklärte, man habe die Autokonzerne ermahnt, mehr an das Gemeinwohl zu denken und sich nicht ständig gegen staatliche Umweltpolitik zur Wehr zu setzen. Die Bundesregierung hat die Subvention aus öffentlichen Mitteln beschlossen, nachdem in den vergangenen Monaten herausgekommen war, dass Autohersteller wie Volkswagen die Autokäufer und die Öffentlichkeit jahrelang mit geschönten Abgaswerten betrogen haben. Mit Strom in die Zukunft oder in die Sackgasse? VERBRAUCHERTIPPS Die Vor- und Nachteile des Elektroautos und was ich beachten muss, um die Prämie zu kassieren BERLIN taz | 4.000 Euro Prämie sind kein Pappenstil. Soll ich als umweltbewusster Bürger nun die Chance ergreifen, ein E-Auto zu kaufen? Und was muss ich dabei beachten? Wie bekomme ich die Prämie für mein neues E-Auto? Beim Kauf des Elektro- oder Hybrid-Pkw gewährt der Autohändler die eine Hälfte der Prämie, indem er 2.000 (für ein reines Elektroauto) oder 1.500 Euro (Hybrid) vom Preis abzieht. Wie sichergestellt wird, dass es sich dabei nicht nur um einen vorgetäuschten Rabatt handelt, der eine vorherige Preiserhöhung nur neutralisiert, ist noch nicht geklärt. Mit dem Kaufvertrag, der den Händleranteil der Prämie ausweist, beantrage ich dann die andere, staatliche Hälfte der Prämie beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa). Das Bafa überweist mir die 2.000 beziehungsweise 1.500 Euro auf mein Konto. Spare ich zusätzlich Kfz-Steuer? Das ist noch nicht sicher. Die Fraktionsvorstände der Union und SPD hatten das zwar beschlossen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) äußerte sich am Mittwoch jedoch zurückhaltend. Wenn ich mein neues Elektrovehikel in der Firma während der Arbeit auflade, muss ich das allerdings nicht als geldwerten Vorteil versteuern. Gibt es bald genug Stromtankstellen? Vielleicht. Ob die 15.000 neuen Ladesäulen ausreichen, von denen Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) spricht, muss sich aber erst noch zeigen. Wahrscheinlich gibt es auch dann noch gewisse Lücken im Netz der Stromtankstellen. Aber die Chance dürfte deutlich höher sein als heute, am Supermarkt, dem Fitnesscenter, dem U-Bahnhof oder der Autobahnraststätte einen Stromspender zu finden. Ein Problem werden wahrscheinlich weiterhin die eng bebauten Wohnviertel in den Städten bleiben. Man kann schlecht sein Kabel nachts aus dem fünften Stock herunter zum Auto hängen lassen. Welche E-Autos haben die Hersteller heute im Angebot? Die meisten sogenannten E-Autos haben heute noch einen Hybrid-Antrieb. Zum Beispiel der Toyota Prius. Elektro- und Benzinmotor werden dabei kombiniert. Kurze Strecken werden elektrisch zurückgelegt, bei längeren läuft der Otto-Motor. Bei reinen E-Autos gibt es bislang ein gutes Dutzend Modelle, beispielsweise den Sportwagen Tesla aus den USA, den Renault Kangoo, den Nissan Leaf, die VWs E-Golf und E-Up, einen Smart und den BMW i3. Außer bei Tesla liegt die angegebene Reichweite meist zwischen 100 und 200 Kilometern pro Batterieladung. Wobei man den Hinweis „bis zu“ ernst nehmen sollte, wenn man auf der Fahrt von Hamburg nach München nicht zwischen zwei Stromtankstellen mit leerem Akku liegenbleiben will. Heizung und Klimaanlage verkürzen die Reichweite. Die normale Ladedauer liegt oft zwischen fünf und acht Stunden – was die Fahrt in den Urlaub zu einem tagelangen Unterfangen machen kann. Die Höchstgeschwindigkeit geben die Hersteller in der Regel mit um die 130 Stundenkilometern an. Die Teslas sollen Tempo 200 schaffen. Fahren wir bald voll öko? Ein guter Teil des Stroms im deutschen Netz wird in den kommenden Jahrzehnten noch aus Braunkohle-, Steinkohle- und Atomkraftwerken stammen. Heute sind das etwa 65 Prozent – Tendenz sinkend. Etwa ab dem Jahr 2050 soll es nur noch Ökostrom geben. Erst dann fahren Stromautos klima neutral. Sind Hybrid-Fahrzeuge wirklich umweltfreundlich? Was den Energieverbrauch beim Fahren betrifft, haben sie einen gewissen Ökovorteil gegenüber Benzinern und Dieseln. Da der Elektromotor den Pkw aber nur einen Teil der Fahrzeit antreibt, hält sich der Mehrwert in Grenzen. Sind wir dank unserer E-Autos in Zukunft alle cool und chic? So könnte die Zukunft aussehen: Das Autofahren büßt seinen Hippness-Faktor ein. Wegen des Platzmangels für Stromzapfsäulen in den Innenstädten geht der Anteil der Privatwagen zurück. Gemeinschaftlich genutzte Stromfahrzeuge nehmen zu. Die kleinen, leisen, seltsam aussehenden Carsharing-Sozial-Vehikel können showmäßig nicht mit dem 911, der Corvette und einem BMW mithalten. Auto fahren ist bald so uninteressant und wertneutral wie heute U-Bahn HANNES KOCH fahren. „Benziner ins Museum“ Andreas Knie glaubt an rasches Ende der Spritschlucker ZUKUNFT taz: Fahren im Jahr 2030 mehr Elektroautos auf unseren Straßen als ölgetriebene Fahrzeuge, Herr Knie? Andreas Knie: Ja, es werden zu diesem Zeitpunkt überhaupt nur noch Fahrzeuge unterwegs sein, die im Betrieb zu 100 Prozent auf Basis regenerativer Energien angetrieben werden. In der Mehrzahl mit batterieelektrischen Antrieben, aber auch mit Brennstoffzelle ausgestattet, sowie mit Kraftstoffen, die vollständig auf Basis erneuerbarer Energien produziert werden. Die klassische Wärmekraftmaschine in diesel- oder ottomotorischer Ausprägung wird es im Jahre 2030 nur noch im Museum geben. Dann ist die Elektromobilität also die entscheidende Zukunftstechnologie im Individualverkehr? Ja. Dabei wird aber nicht nur der Antrieb ersetzt, sondern das ganze Verkehrssystem grundlegend umgebaut. Es gibt dann in den Ballungsräumen beispielsweise kaum noch Fahrzeuge wie heute im Privatbesitz einzelner Bürger oder Familien. taz: Warum werden später keine Privatfahrzeuge mehr genutzt? Weil das Fahrzeug, das man in der jeweiligen Situation braucht, besser und billiger von Verleihoder Carsharingfirmen angeboten wird. Alles, was der Mensch braucht, findet er direkt vor der Tür – für jede Gelegenheit, ob spontan oder geplant, ob beruflich oder privat, ob mit Kindern oder Sperrgepäck. Insgesamt wird damit der Verkehr viel effizienter abgewickelt. Die Gesamtzahl der Fahrzeuge dürfte erheblich abnehmen. INTERVIEW HANNES KOCH Andreas Knie ■■55, ist Verkehrswissenschaftler. Er arbeitet am InnovationszenFoto: Kumpfmüller trum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel in Berlin.
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