Sonderausgabe: 30 Jahre nach Tschernobyl 12 Seiten über das Leben nach der Reaktorkatastrophe. Außerdem: Trauer um Prince und „Merdoğan – das Duell der Süperhelden“ AUSGABE BERLIN | NR. 11001 | 16. WOCHE | 38. JAHRGANG SONNABEND/SONNTAG, 23./24. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 3,50 AUSLAND | € 3,20 DEUTSCHLAND Tschernobyl, heute KERNSCHMELZE Eine Generation danach scheint vieles wieder normal: Auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks arbeiten Tausende Menschen, drum herum gedeiht die Natur. Über die Folgen des Super-GAUs – in der Ukraine und bei uns SEITE 2–12 Hochzeitsfeier auf der Datsche: Schenja und Julia in Slawutitsch, knapp 50 Kilometer östlich von Tschernobyl, aufgenommen im Juni 2013 Fotos: Niels Ackermann/Polaris/laif; ap (oben) G ANZEIGE eigerzähler, Strahlentabellen in fast allen Tageszeitungen, Hamsterkäufe von Konserven und die bange Frage, ob es gefährlich ist, bei Regen das Haus zu verlassen. Die Erinnerungen daran, was die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit den Menschen gemacht hat, ist wohl auch 30 Jahre nach der Havarie allen Zeitzeugen präsent. Tschernobyl war eine Zäsur. Doch was hat der Super-GAU wirklich verändert? Wir haben uns für diese Ausgabe der taz.am wochenende auf die Suche nach der Generation Tschernobyl begeben. Da ist die Bundesrepublik, die sich vom Atomstaat zum Atomausstiegsstaat gewandelt hat. Und da die Ukra ine, wo unweit der Front das größte Atomkraftwerk Europas betrieben wird. Zwei Welten, die so recht nicht zusammenpassen. Hat die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch recht, wenn sie sagt, die Welt habe den Krieg gegen Tschernobyl verloren? Oder sollen wir dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit folgen, für den auch der Wandel der Protestkultur vom Revolutionären zum Welterhaltenden dafür gesorgt hat, dass der Atomausstieg erst möglich geworden ist? Wie der Krieg gegen die Strahlung am Ort der Katastrophe geführt wird, lässt sich am Bau der neuen Schutzhülle beobachten. Das gigantische Bauwerk soll für die nächsten 100 Editorial 60616 4 190254 803208 TAZ MUSS SEIN Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.781 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Jahre die Region vor den Strahlen aus dem havarierten Reaktor schützen. Es ist ein Megaprojekt, das für uns Deutsche wichtiger erscheint als für viele Ukrainer, die versuchen, in der Nähe von Tschernobyl ein möglichst unbeschwertes Leben zu führen. Die Fotoserie des Schweizer Fotografen Niels Ackermann, aus der auch das Bild auf dieser Titelseite stammt, versucht, die Stimmung der jungen Menschen einzufangen, deren Familien vor 30 Jahren die Gegend verlassen mussten, die wir seit der Katastrophe die Todeszone nennen. Tschernobyl ist für sie zum Arbeitsplatz geworden, zur Kulisse von Badeausflügen an den großen Fluss. Die jungen Menschen dieser Generation Tschernobyl scheinen zumindest vor der Atomkraft kaum Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 Angst zu kennen – ebenso wenig wie die Arbeiter in der riesigen Atomanlage von Saporischja. Und wir? Während wir darüber nachdenken, wo das deutsche Endlager im Postatomzeitalter stehen soll, machen sich Start-ups in den USA daran, neue Kraftwerkstypen zu entwickeln, und gerieren sich als die großen Klimaschützer. Hat der deutsche Weg wirklich Modellcharakter, oder wird er zum Sonderweg? Mit Fragen dieser Art werden wir uns noch lange beschäftigen müssen. Die Erinnerung an Tschernobyl muss bei den Antworten auf diese Fragen immer eine Rolle spielen. Auch deshalb ist Tschernobyl gegenwärtig. Und das wird es wohl noch für Generationen bleiben. ERNHARD PÖTTER, ANDREAS RÜTTENAUER B tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 | [email protected] | [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de | twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune Das ist der Geldgipfel 2016 Was kommt nach dem Homo oeconomicus? Diskutieren Sie mit. 21. und 22. Mai 2016 Universität Witten/Herdecke Jetzt anmelden! www.glsbankstiftung.de/ geldgipfel2016 02 TAZ.AM WOCH EN EN DE Tschernobyl SON NABEN D/SON NTAG, 23./24. APRI L 2016 Helikopter warfen Tausende Tonnen Blei, Sand, Bor und Lehm zur Eindämmung des Feuers ab. Reaktor 4 Turbinenhalle Steuerstäbe Reaktorkern Der Unfall Es ist ausgerechnet ein Sicherheitstest, der zur Katastrophe führt: Am späten Abend des 25. April wollen die Techniker an Reaktor 4 des AKW Tschernobyl in der heutigen Ukraine testen, ob die Kühlpumpen für den Reaktor auch ohne externe Stromversorgung arbeiten. Damit soll der Notfall simuliert werden. Die Bedienungsmannschaft senkt um 23 Uhr Steuerstäbe in den Reaktor, um die Kettenreaktion herunterzufahren. Gleichzeitig legen sie die Not-Abschaltung lahm. Als die Leistung des Atomreaktors aber fast zum Erliegen kommt, fürchten die Techniker, der Reaktor könne instabil werden. Sie ziehen die Steuerstäbe wieder heraus. Um 1.23 Uhr hat der Meiler nur noch 12 Prozent Leistung, der Test beginnt. Doch plötzlich nimmt die Leistung sprunghaft zu. Offenbar sind nur 6 Steuerstäbe im Reaktor. Die Sicherheitsbestimmungen verlangen mindestens 30. Das Kühlwasser verdampft, als die Reaktorleistung auf das Hundertfache des Normalen springt. Brennelemente schmelzen. Um 1.24 Uhr zerreißen zwei Explosionen in den Brennelementen den Deckel des Reaktors (Abbildung I) und schleudern einen Teil des Kerns in die Umgebung. Luft dringt in das Innere und entzündet die Grafitstäbe in der Reaktorkammer (Abbildung II). Die offene Wunde der atomindustrie: die ruine von block 4 Foto: ap eine Katastrophe verändert die Welt Am 26. April 1986 explodierte das sowjetische Kernkraftwerk Tschernobyl. Seitdem steht „Atom“ weltweit für „Gefahr“. Von den Folgen des Super-GAUs hat sich die Region bis heute nicht erholt VON bernharD pÖTTer Kampf gegen Das Inferno sTrahlenDes DeUTschlanD Im Reaktor befinden sich beim Unfall etwa 190 Tonnen hochradioaktives Material. Das Feuer brennt etwa zehn Tage und trägt wie in einem Kamin radioaktive Partikel hoch in die Luft. Explosion und Feuer setzen etwa 200-mal so viel Radioaktivität frei wie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Das brennende Grafit wird erst erstickt, als 5.000 Tonnen Bor, Blei, Sand und Lehm in den Reaktor gekippt werden – aus Helikoptern und von „Liquidatoren“: Bauarbeitern und Soldaten, die mit völlig unzureichender Ausbildung, Ausrüstung und Schutzanzügen teilweise mit bloßen Händen aufräumen. Allein 1986/87 arbeiten schätzungsweise 240.000 dieser Nothelfer aus der ganzen Sowjetunion an der Unfallstelle, tragen strahlende Erde ab, schlachten verstrahlte Tiere oder ebnen verseuchte Dörfer ein. In Prypjat, 3 Kilometer vom Reaktor, steigen die Strahlenwerte auf das 250-Fache der Normaldosis. 31 Liquidatoren sterben kurz nach dem Unfall, meist an akuter Strahlenkrankheit. 36 Stunden nach der Kernschmelze werden auch in Deutschland, der Schweiz, Schweden und der damaligen Tschechoslowakei erhöhte Strahlenwerte gemessen. Während in der Bundesrepublik die Medien bald ausführlich über das Thema berichten, wird es in den DDR-Zeitungen nur als kleine Meldung versteckt. Die Wolke über Deutschland belastete kurzfristig Milch und Blattspinat mit radioaktivem Jod, die Messungen werden aber nur im Westen öffentlich. Die Belastung durch den radioaktiven Fall-out ist so unterschiedlich, dass sie große Unruhe auslöst und auch die empfohlenen Grenzwerte etwa bei Milch zwischen 500 und 20 Becquerel (bq) pro Liter schwankten. Heute liegt der Mittelwert bei der Jod-Belastung bei 0,1 bq. Weit größere Mengen an strahlendem Cäsium reichern sich im Boden an. Nach 30 Jahren sind bis heute davon etwa 44 Prozent der Radioaktivität zerfallen. Besonders betroffen waren und sind allerdings Waldböden im Bayerischen Wald und südlich der Donau. Auch weiterhin sind Pilze und Wildschweinfleisch aus diesen Gebieten belastet. Während die Behörden sehr zurückhaltend bei den medizinischen Folgen sind, verweisen die atomkritischen „Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs“ (IPPNW) auch auf deutsche Opfer: Die Statistiken zeigten mehr Totgeburten, Fehlbildungen bei Kindern und ein verändertes Verhältnis von Jungen und Mädchen bei Neugeborenen seit der Atomkatastrophe. abWIegeln sTaTT Warnen KranK UnD arm DUrch Tschernobyl 20 16 Die ersten Warnungen kommen aus einem anderen AKW: dem schwedischen Forsmark, 1.100 km entfernt von Tschernobyl, wo Arbeiter am 28. April bei Kontrollen radioaktive Partikel an ihrer Kleidung entdecken. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS bestätigt den Unfall erst am Abend mit einer dürren Meldung (siehe Faksimile). Die 50.000 Einwohner von Prypjat klagen nach dem Unfall über Kopfschmerzen, Übelkeit und metallischen Geschmack im Mund. Die Stadt wird erst 36 Stunden nach dem Unglück geräumt. Am 1. Mai finden überall an der freien Luft Demonstrationen zum Tag der Arbeit statt. Die Be- en nz re g r de Län erhöhte strahlendosis im Vergleich zur normalen rate, 3. mai 1986 1 1–5 mal 5–10 mal 10–20 mal 20–40 mal 40–100 mal UnTer Den WolKen hörden kontrollieren Milch und Trinkwasser in der verstrahlten Region erst später und verteilen an die Bevölkerung Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse erst vier Wochen nach dem SuperGAU. Schließlich werden die Menschen aus einer Zone von 30 Kilometern rund um den Reaktor evakuiert. 350.000 Menschen verlieren ihre Heimat. Etwa 5 Millionen leben heute noch in teilweise verstrahlten Regionen. 7 Prozent der Ukraine und 30 Prozent von Weißrusslands sind kontaminiert. Weil der Wind sich immer wieder dreht, ziehen nach dem Super-GAU mehrere Wolken von radioaktivem Cäsium und Jod aus Tschernobyl über Europa: die erste nach Norden über Polen und Skandinavien, die zweite nach Westen über die damalige Tschechoslowakei und Österreich bis Deutschland, die dritte nach Süden Richtung Rumänien, Bulgarien und Griechenland bis zur Türkei. Die Grafik zeigt die maximale Ausdehnung mit abgestuften Strahlenbelastungen: Je dunkler, desto höher die Strahlung. Etwa ein Drittel der gesamten Radioaktivität regnete über Weißrussland, Russland und der Ukraine ab, vor allem nördlich des Kraftwerks. Etwa 53 Prozent der Strahlung gingen über Skandinavien, Ost- und Mitteleuropa und dem Balkan nieder. 11 Prozent verteilten sich über die gesamte Nordhalbkugel. In Deutschland traf es vor allem Bayern und Baden-Württemberg. Quellen: BfS, IRSN, BBC, IPPNW, BMUB, Greenpeace, Ifo-Institut, IAEO, WHO, afp taz.Grafiken: infotext-berlin.de Schon 3 bis 4 Jahre nach dem Unfall steigen die Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern besonders in Weißrussland an. Auch andere Krebserkrankungen nehmen dort zu, ebenso verschlechtert sich der allgemeine Gesundheitszustand. Das Erbgut der Strahlenopfer wird teilweise geschädigt. Von den insgesamt 600.000–830.000 „Liquidatoren“, die über die Jahre in der Region eingesetzt werden, sind nach Schätzungen bis 2005 bereits bis zu 125.000 gestorben. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Folgen durch die sowjetischen Behörden gibt es nicht. Um die Zahl der toten, behinderten oder erkrankten „Tschernobyl-Opfer“ tobt seit Jahrzehnten eine Kontroverse zwischen offiziellen Stellen wie der WHO und der IAEO und unabhängigen Medizinern wie den IPPNW. Während die IAEO nur etwa 4.000 Tote als Folge von Tschernobyl annimmt, rechnen die IPPNW mit „einigen Zehntausend bis 850.000“. Eine aktuelle Studie von Greenpeace ergab auch nach 30 Jahren teilweise hohe Strahlenwerte für Milch (100 bq), getrocknete Beeren und Pilze (bis 2.500 bq), Getreide, Heu und Holz. Seit der Unabhängigkeit hat Weißrussland etwa 19 Milliarden Dollar für die Folgen von Tschernobyl gezahlt, die Ukraine etwa 10 Milliarden. Weißrussland musste zeitweilig über 20 Prozent seines Staatshaushalts für die Bekämpfung der Krise aufbringen. Die Ukraine wendet noch heute zwischen 7 und 13 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung auf, um die Folgen von Tschernobyl zu lindern. WeITere folgen In der BRD richtet die CDU/CSU-FDP-Regierung fünf Wochen nach dem Unfall das Bundesumweltministerium ein. Die SPD beschließt im August den Atomausstieg innerhalb von 10 Jahren. Weltweiter jahrelanger Stopp bei Neubauten von Atomkraftwerken. Österreich nimmt sein fertiges AKW nicht in Betrieb. Italien steigt nach einem Referendum aus der Atomkraft aus. Tschernobyl SON NABEN D/ SON NTAG, 23./ 24. APRI L 2016 TAZ.AM WOCH EN EN DE 03 Die Fotos dieser Ausgabe ■■Der Schweizer Fotograf Niels Ackermann hat 2012 begonnen, die jüngste Stadt der Ukraine zu porträtieren. Slawutitsch, 50 Kilometer von Tschernobyl entfernt, wurde für diejenigen gebaut, die ihre verstrahlten Heimatorte nach der Reaktorkatastrophe 1986 verlassen mussten. Dabei ist Ackermann vielen jungen Menschen begegnet. Auf den folgenden Seiten präsentieren wir einen Teil seiner Bilder, die im April bei der Edition Blanc et Noir unter dem Titel „Der weiße Engel – Die Kinder von Tschernobyl sind groß geworden“ veröffentlicht worden sind. 2012 hat Ackermann seine Arbeit in Slawutitsch begonnen. Dort lernt er Julia kennen. Hier sitzt sie mit ihrem Freund Iwan in einem Boot auf einem Anhänger und lässt sich nach Hause ziehen. Die beiden waren beim Wakeboarding auf dem Dnjepr Foto: Niels Ackermann/Polaris/laif Die Cäsium-Zäsur WANDEL Früher Protest sann auf Revolution – heute sinnt er auf Erhaltung. Tschernobyl hat alles geändert VON KLAUS THEWELEIT A lso, nicht etwa, dass ich ein Spezialist in „heutige Protestkulturen“ wäre. Ich kann zum Beispiel die heutige Antifa nicht aus wirklicher Kenntnis beurteilen; kenne aber zumindest die „alte“ Protestkultur, die vortschernobylsche, ganz gut; war lange ein Teil von ihr; hörte aber, im Lauf der 70er auf, aktiv in organisierten Gruppen der „alten Protestkultur“ tätig zu sein; an der Verhinderung des Kernkraftwerks Wyhl war ich noch beteiligt, aber nicht an „vorderster Front“ wie zwischen den Jahren 1968 und 1971 im Freiburger SDS an der Uni. Von 1972–77 schrieb ich an der Dissertation; verheiratet, Hausmann und Vater; 1972 hat meine Frau unser erstes Kind geboren. Es sind hier zwei grundsätzliche Wahrnehmungen, denen ich nachgehen will. Die erste: Die heutige Protestkultur geht im Kern von Erhalt aus. Regenwald erhalten, Luftqualität erhalten, Lebensräume erhalten, Wasserreservoirs; Schadstoffe begrenzen, CO2-Ausstoß begrenzen; schädliche Energien begrenzen, erneuerbare fördern. Das Zentralvorhaben lässt sich gut unter dem Etikett „Schadensbegrenzung“ und „Einleitung von Heilungsprozessen“ fassen; alle Ziele sind positiv formulierbar. Im Hintergrund dabei: die Vorstellung von einer (endlich!) vernünftig agierenden Weltregierung; einem Konsortium herausragender WissenschaftsPolitiker, das auf der Grundlage aller verfügbaren Daten, Statistiken, Hochrechnungen, Mate rial analysen der Atmosphäre und der Weltmeere, vom Erhalt des Grünbestands zu schweigen, die notwendigen Maßnahmen einleiten und durchsetzen wird – unterm Beifall der sich so vor der Globalkatastrophe zu rettenden Weltbevölkerung. Der „Protestanteil“ daran ist dabei von den Peripherien in die Machtzentren gewandert. Vom Widerstand in die Gesetzgebung. Die zweite: Die alte Protestkultur lebte primär von „Wider stand“ und von Umsturzforde rungen. „Die Revolution“ – selbst wenn man an ihre Möglichkeit für Deutschland nicht glaubte – war kein Hirngespinst; andere bis dahin größten Protestauflauf. Die dann stationierten Raketen – da sie nicht flogen – verschwanden aus dem Alltagsbewusstsein. Wo der Alltag „sonst“ einigermaßen zufriedenstellend läuft, verfallen drohende Negativa der psychischen Abspaltung. Tschernobyl aber tangierte jede/n: ein „Hyperobjekt“ im Ene dene dimpedil, Wer hat Angst vor Tschernobyl? Millirem und Becquerel, Kleine Kinder sterben schnell. Aus der Wolke Strahlt‘s heraus – Und du bist – Aus! 1987 veröffentlicht die Schriftstellerin Gudrun Pausewang ihren Jugendroman „Die Wolke“. Die Schülerin Janna-Berta irrt darin nach einem Reaktorunglück durch Deutschland. Dabei erinnert sie sich an einen Abzählreim, den ihr die Mutter beigebracht hatte. (andere Länder, andere Leute) würden sie hinbekommen; hatten sie hinbekommen. Cuba libre war ein Versprechen aus der realen Welt; politisch für hier abgerundet mit der Formel „Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll“. Was tat Tschernobyl 1986 für den Wechsel von der „alten“ zu einer „neuen“ Protestkultur? Ich würde sagen: Alles. Tschernobyl sprengte die Grenzen in mehrfacher Hinsicht. Die Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing-Raketen in der BRD waren eine Art Vorläufer. Die Drohung des Pershing-Einsatzes (mit nuklearen Sprengköpfen) tangierte viele Menschen über die üblichen Protestkreise hinaus. 300.000 Menschen machten sich 1981 auf nach Bonn zum Sinne von Timothy Morton. Hyperobjekte nennt er übergreifende Objektkonglomerate. Im „Hyperobjekt Tschernobyl“, ist nicht nur das Kernkraftwerk selber, sondern alle weiteren AKWs, dazu der gesamte Luftraum über der Erde und die FalloutGefahr für alle Länder; das „Hyperobjekt“ konstruiert sich aus all diesen Dingen und Gegebenheiten sowie aus der gemeinsamen Angst potenziell aller Menschen des Erdballs vor radioaktiver Verstrahlung. Der neue Stand: „Das kann jetzt passieren ohne nukleare Raketen und HBomben-Abwurf.“ „Das ist jetzt passiert.“ Die Panikreaktionen: Hamsterkäufe von PrätschernobylKonserven, von Fertiggerichten, Bohnen, Kartoffeln, Reis, Baby- Nahrung. H-Milchverkäufe ungekannten Ausmaßes. Jodtab letten, Geigerzähler. Cäsium 137: Keine Zeitung ohne Halbwertzeit-Tabellen und Windrichtungsangaben. Nie wieder Pilze! Absehbar allerdings: die Prä tschernobyl-Vorräte würden irgendwann enden. Noch absehbarer die Halbwertzeit des Booms der Reisekataloge. Wo ist es sicher? Die Azoren? Kapverden? Patagonien? Emigration nicht vor den Nazis, sondern vor den Kernkraftverbrechern. Die große Fluchtbewegung aus den reichen Ländern blieb aber aus; die Leute kühlten ab. Und wo überhaupt stehen keine AKWs? Die territorialen Fluchtfantasien brachen schnell zusammen. Das Gegenteil war zu tun: diese Dinger selber in die Flucht zu schlagen, also abzuschalten. Und die alten Protestformen? Sahen in der Tat alt aus: Wie macht man ein Go-in gegen Kernkraftwerke. Die Arbeiter aufklären, an was für ’nem Scheiß sie da arbeiten. Mit ’ner roten Fahne in der Linken, rechte Hand mit Flugblatt und Zeigefinger, wo’s gefälligst langgeht zur atomfreien Welt. No. Die lebten zum Teil davon und wollten die Dinger behalten. Es ergab sich: Politische Lagerbildung mit festen Freund/FeindFronten, die bis dahin noch fast jede politische Protestaktion strukturiert hatten – ist lächerlich vor Atomkraftwerken. Die alte Kultur der Protestbewegungen – basierte auf Lagerbildung mit spezifischen Protestformen: Which side are you on … und kommst du (gefälligst) zur nächsten Aktion „gegen (… XXX!!!)“; denn: sind wir erst mal VIELE, sind wir erst mal ALLE (= Die ganze Erde uns und kein Stück unseren Feinden, wie Weltoberaktivist Mikis Theodorakis formulierte), dann „Wenn wir erst mal alle richtig organisiert sind im richtigen Lager“: „Ja, was dann?“ „Lauter richtige Leute auf dem richtigen Haufen werden schon das Richtige tun. Räterepublik usw.“ Bloß: nachdem langsam durchgesickert war, was die Roten Brigaden in Maos China und die Roten Khmer in Kambo dscha veranstaltet hatten, war das nicht mehr so einfach mit dem: „Werden wir dann schon sehen.“ Millionen Tote lagen da und sahen nicht mehr viel. Und nun? Die Sachlage verschob sich. Das Ding mit dem „Viele-Sein“ war nicht erledigt, die Form der Organisation dieser potenziell Vielen aber durchaus. Aus den Problemlagen Kernkraft, globale Erwärmung, CO2-Ausstoß ergibt sich nicht nur der Wunsch, es ergibt sich die Notwendigkeit, möglichst VIELE (sowohl Einzelmenschen wie Staaten) an den erstrebten Lösungen zu beteiligen; einfach weil sonst nichts passiert. Es gibt allerdings eine neue politische (nicht: ökonomische) Tendenz zurück zur Lagerbildung. Das amerikanische Militär, Putin und östliche Teile der EU arbeiten massiv daran. Aber: man kann sie mildern. Man kann sie sogar einspannen für Dinge, die deren Absichten und Plänen zuwiderlaufen. Nach Tschernobyl ist Fukushima der entscheidende Einschnitt. Fukushima hat die Auswirkungen von Tschernobyl potenziert; jedenfalls in Deutschland. Ob Kanzlerin Merkel tatsächlich zur Kernkraftgegnerin mutierte oder nicht, ist dafür belanglos. Sie kann lesen, unter anderem Umfragen unter Wählern. Diese sagten nach Fukushima, dass die deutsche Wählermenschheit auf dem Weg war, „den Grünen“ bundesweit 20 Prozent oder mehr der Stimmen zu geben; woraufhin eine Politikprofessionelle handelt: Abwahl oder sich an die Spitze „der Bewegung“ setzen. Prinzipiell waren politische Prozesse im Sinne der Protestkultur aus den Machtzentren heraus zu bewegen. Das war vorher nicht so. ■■Dies ist der Auszug eines Textes des Kulturtheoretikers Klaus Theweleit, der in voller Länge unter taz.de/theweleit zu finden ist ANZEIGE DIE GRÜNE BUNDESTAGSFRAKTION LÄDT ZU FILM UND DISKUSSION VERBRANNTE ERDE 30 JAHRE TSCHERNOBYL am 26. April, 18.45 Uhr im Sputnik-Kino am Südstern, Hasenheide 54 » gruene-bundestag.de/tschernobyl
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