Was ist der Mensch?

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Wolfgang Weller
Was ist der Mensch ?
Betrachtungen und Analysen
zum menschlichen Sein
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Wolfgang Weller
Was ist der Mensch?
Betrachtungen und Analysen
zum menschlichen Sein
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Impressum:
Copyright: © 2016 Wolfgang Weller
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978 – 3 – 7418 – 0658 – 2.
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Inhalt
Wodurch unterscheidet sich der Mensch vom Tierreich?
Die Besonderheiten des Menschen
Welcher Art sind die Beziehungen zwischen Menschen?
Über den Umgang der Menschen miteinander
Was bedeutet Zeit im Leben der Menschen?
Die Zeit – ein schillerndes Phänomen
Welche Rolle spielt das Geld im Leben der Menschen?
Das Geld – ein schwer fassbarer Begriff
Wann ist der Mensch glücklich?
Vom Glück des Menschen als herausgehobener Zustand
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Vorwort
Was ist der Mensch? – welch ein großartiges Thema!
Seit Jahrhunderten haben sich Philosophen, Anthropologen, Biologen, Mediziner, Psychologen und
viele Vertreter anderer Disziplinen dieser Frage gewidmet und dazu wesentliches aus der Sicht ihrer
jeweiligen Fachgebiete beigetragen. Auch der Autor – keiner dieser Professionen zugehörig – hat sich
seit langem mit diesem Thema beschäftigt, und versucht, zunächst zur eigenen Klarheit, Antworten
darauf zu finden und daher intensiver darüber nachgedacht. Dabei folgte er der Empfehlung, dass der
beste Weg, seine Gedanken zu ordnen, darin besteht, darüber zu schreiben. Somit entstand über einen
längeren Zeitraum hinweg eine größere Anzahl von Essays, die Themen des menschlichen Seins
unterschiedlicher Art gewidmet waren. Unter diesen wurde eine Auswahl von 5 Beiträgen getroffen,
die erweitert wurden und im vorliegenden Band präsentiert werden sollen. Die Titel der einzelnen
Kapitel wurden jeweils in Frageform angegeben, um der zugrunde liegenden Neugier Ausdruck zu
verleihen. Bei der Abhandlung der einzelnen Themen wurde versucht, nicht nur die positiven, sondern
auch die negativen Seiten der jeweiligen Angelegenheit zu beleuchten. Es erübrigt sich fast darauf
hinzuweisen, dass mit den Ausführungen die eingangs gestellte Frage bei weitem nicht erschöpfend
behandelt werden konnte. Vielleicht aber bieten die Beiträge dem Leser einen interessanten Stoff und
möglicherweise auch Anregungen, selbst ein wenig darüber nachzudenken.
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Ein schönes Ja,
ein schönes Nein,
nur geschwind!
Soll mir willkommen sein.
Wodurch unterscheidet sich der Mensch vom Tierreich?
Die Besonderheiten des Menschen
Problemstellung
Menschen sind – so könnte man zunächst sagen – natürliche Wesen biologischer Herkunft, deren
Lebensfunktionen, wie bei anderen Tierarten auch, biologisch determiniert sind. Was also sind dann
wohl die Besonderheiten, die den Menschen über seine Mitgeschöpfe im Tierreich hinaus erheben?
Die Beantwortung dieser Frage verlangt trennscharfe Kriterien, die eine derart grundsätzliche
Unterscheidung ermöglichen. Diesem Problem müssen wir uns also zunächst widmen, und es ist zu
vermuten, dass die Fahndung danach nicht gerade einfach sein wird.
Gewiss hat es in der Vergangenheit nicht an Bemühungen gefehlt, eine Abgrenzung der Gattung Mensch
vom „Rest“ der Lebewesen auf unserer Erde zu bestimmen. Schauen wir also zunächst auf das, was
dazu bisher vorliegt, und unterziehen diese Vorschläge einer kritischen Analyse. Anschließend werden
wir weitere, vom Autor vorgeschlagene Kriterien in Betracht ziehen.
Tauglichkeit bisher verwendeter Kriterien
In der zurückliegenden Zeit hat man aufeinanderfolgend verschiedene Merkmale herangezogen, um den
Unterschied zwischen den Gattungen der Menschen und der Fülle der Wesen des Tierreiches zu
verdeutlichen, wie die folgende Aufstellung zeigt:
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Da der Mensch, wie die Wesen der gesamten Tierwelt, gleichermaßen evolutionsbiologischen
Prozessen entstammen, kann man zunächst untersuchen, ob sich aus der gemeinschaftlichen
biologischen Herkunft Merkmale finden lassen, welche die besondere Rolle des Menschen
erklären können.
Da käme zunächst der aufrechte Gang in Betracht, den die Menschen aber auch mit
verschiedenen Affenarten, Pinguinen und anderen Zweibeinern teilen. Dieses aufrechte Gehen
führte beim Menschen zu einer Reihe gentechnischer Veränderungen, die ihm auf seinem Weg
zur „Krone der Schöpfung“ zugutekamen. Als Unterscheidungskriterium taugt der aufrechte
Gang indessen nicht.
Betrachtet man als nächstes die infrage kommenden physischen Leistungsmerkmale, so wird
schnell klar, dass der Mensch beispielsweise hinsichtlich der Geschwindigkeit gegenüber
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Pferden, Gazellen und Raubtieren, insbesondere Geparden, schlecht abschneidet. Auch bei der
gewichtsbezogenen Kraft hapert es, wenn man beispielsweise an das Vermögen der
Blattschneiderameise denkt, die als Last ein Mehrfaches an Körpergewicht über beachtliche
Strecken ohne Hilfsmittel transportieren können. Stünden dann noch die Leistungen der
Sinnesorgane zur Disposition. Aber auch hier gibt es Fehlanzeige. Weder die Empfindlichkeit
der Augen noch des Gehörs oder des Geruchssinns von Menschen können es mit den Leistungen
der entsprechenden Organe etwa von Greifvögeln, Eulen, Hunden und anderer Tiergattungen
aufnehmen. Hinzu kommt, dass einige Gattungen im Tierreich sogar über Sinnesorgane
verfügen, von denen der Mensch nur träumen kann. Dazu sei auf die Sensoren für Magnetfelder
bei Tauben oder die Wahrnehmung extrem schwacher Wärmequellen bei Reptilien verwiesen,
um nur ganz wenige Beispiele zu nennen. Die Liste der im Tierreich anzutreffenden überlegenen
Leistungen lässt sich beliebig fortsetzen. Menschen sind manchen Tiergattungen auch deshalb
hoffnungslos unterlegen, weil sie, wie Vögel oder Insekten, ohne Hilfsmittel weder fliegen oder
den Lachsen oder Walen gleich, riesige Entfernungen schwimmend überwinden bzw. in große
Tiefen abtauchen können.
Man muss dann wohl zur Kenntnis nehmen, dass der Mensch, biologisch betrachtet, nicht
besonders gut ausgestattet ist und bestenfalls durchschnittlich abschneidet. Dennoch muss im
Moment noch offen bleiben, über welche besondere biologische Mitgift das
Menschengeschlecht verfügt, die es offenbar befähigt, von sich heraus Leistungen zu
entwickeln, die es aus dem Tierreich weit heraushebt.
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Wenden wir uns der u. a. auch von Karl Marx unterstützten These zu, nach der sich der Mensch
durch Arbeit sowie den Gebrauch von Werkzeugen von der Tierwelt unterscheidet. Bezüglich
der Arbeit treffen wir bei nicht wenigen Tierarten auf vergleichbare Leistungen, wenn man
beispielsweise an den kunstvollen Nestbau von Vögeln oder die Wasserburgen der Biber denkt.
Wiederum können bestimmte Arbeiten nur von Menschen ausgeführt werden. Man denke allein
an das Entfachen und Unterhalten des Feuers.
Der Umgang mit Werkzeugen ist ebenfalls nicht auf den Menschen beschränkt. So finden wir
den Gebrauch von Werkzeugen etwa bei bestimmten Vogelarten, welche Steine verwenden, um
Eier- oder Muschelschalen aufzuknacken, um an das leckere Innere zu gelangen. Das Werkzeug
selbst wurde in diesem Fall vorgefunden. Andere Beispiele zeigen, dass auch die Herstellung
von Werkzeugen von manchen Tieren beherrscht wird. So lässt sich beobachten, dass
Schimpansen zuerst kleine Stöckchen zuspitzen, um anschließend damit in Baumhöhlen nach
versteckten Termiten oder Ameisen zu angeln. In anderen Fällen werden Werkzeuge dadurch
hergestellt, dass aus Palmblättern schmale Streifen abgespalten werden, um mit deren Hilfe an
verborgene Insekten oder Weichtiere zu gelangen. Somit sind auch die Kategorien von Arbeit
und Werkzeuge als trennscharfe Unterscheidungsmerkmale nicht aufrecht zu erhalten.
•
Zeitweise wurde auch versucht, den Tieren eine eigene Seele, ja ein Bewusstsein abzusprechen.
Eine solche Unterstellung erleichtert sicherlich den Abschuss von Jagdtieren und entlastet wohl
auch das Gewissen bei der Tötung der zur Fleischversorgung gehaltenen sog. Nutztiere. Diese
herabstufende Betrachtungsweise wurde sogar auf die Sklaven übertragen, um diese möglichst
unbedenklich ausbeuten zu können. Anklänge an eine solche Auffassung finden sich auch bei
rassistisch gefärbten Ideologien, welche immer mal wieder versuchen, bestimmte
Menschengruppen als minderwertig einzustufen. Heutzutage gilt die These als widerlegt, nach
der versucht wird, selbst den höheren Tierformen ein Bewusstsein abzusprechen. Auch
rassistischen Vorurteilen hat die zivilisierte Welt eine Absage erteilt.
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Nicht weit von der vorstehend betrachteten These entfernt, werden auch das Führen von Kriegen
und der Einsatz von Waffen als eine der typisch menschlichen Verhaltensweisen gesehen. Dabei
werden bewusst die Einzelkämpfe ausgeklammert, die ja bei vielen Tierarten im Sinne von
Kampfritualen etwa zur Bestimmung der Rangordnung, Revierverteidigung oder auch während
der Brunftzeit üblich sind. Auch das Führen von Kriegen im Sinne kollektiver Handlungen unter
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Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern gleicher Art findet sich nicht nur beim Menschen.
Wie Beobachtungen von Schimpansen zeigen, können in bestimmten Situationen mit Knüppeln
bewaffnete Horden dieser Tiere aufeinander losgehen, wobei auch das Töten von Artgenossen
billigend in Kauf genommen wird. Dementsprechend unterscheidet sich das menschliche
Kriegsgeschehen nur in quantitativer Hinsicht. Die Menschen sind inzwischen in der Lage, 40
Mio. Menschen in einem einzigen Krieg (hier: dem 2. Weltkrieg) zu töten. Auch bezüglich der
Waffen haben sie sich mittlerweile ein Vernichtungspotenzial geschaffen, das zur mehrfachen
Vernichtung ihrer Art (sog. Overkill) ausreicht.
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Betrachten wir nunmehr ein mögliches Kriterium der eher sanften Art, nämlich die bisher nur
dem Menschen zugeschriebene Fähigkeit zum Mitgefühl und sozialem Engagement. Wenn auch
die bei vielen Tierarten beobachtbare liebevolle Brutpflege und ebensolches Umsorgen des
Nachwuchses auf ein genetisch verwurzeltes Verhalten zur Arterhaltung zurückzuführen ist, so
findet man auch spontanes echtes Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. So zeigen Beobachtungen,
dass gewisse Säugetiere in Not geratenen Artgenossen helfend zur Seite stehen. Haben diese
aber dann ihren Normalzustand erreicht, so werden sie dann wieder als Konkurrenten
wahrgenommen. Ein besonders Beispiel für das Auftreten von Mitgefühl im Tierreich liefern
Elefanten, die um verstorbene Mitglieder ihrer Herde auf eindrucksvolle Weise trauern.
Somit erweist sich auch dieses Kriterium wiederum als wenig trennscharf, da es zu keiner klaren
Abgrenzung gegenüber dem Tierreich führt.
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Versuchen wir es diesmal mit der Kommunikation. Dabei kann es sich hier nicht um die
Kommunikation mittels Gesten der Körpersprache oder durch Bewegungsäußerungen handeln,
die zur Übermittlung einer bestimmten Botschaft eingesetzt werden, denn diese sind auch im
Tierreich weit verbreitet. Denken wir nur an das Ducken von Raubtieren als Zeichen der
Unterwürfigkeit, das Lausen bei den Affen zwecks Einschmeicheln, das Setzen von Duftmarken
zur Markierung des Reviers oder von Pfaden oder den Ringeltanz der Bienen zur Signalisierung
einer ergiebigen Nektarquelle. Vielmehr beziehen wir uns hier auf die Kommunikation durch
Lautäußerungen. Doch auch hier werden wir im Tierreich fündig. So gibt es beispielsweise den
„Gesang“ der Wale und Delfine oder den Informationsaustausch per Infraschall bei den
Elefanten. Die Grenze der lautbasierten Kommunikation zwischen dem Menschengeschlecht
und dem Tierreich liegt dann wohl nicht auf Laut- sondern auf Sprachebene. Aber solange die
Lautäußerungen gewisser Säugetiere noch nicht entziffert sind, bietet auch dieses Kriterium
keine verlässliche Grundlage.
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Wenn es den zuvor geschilderten Kriterien an Trennschärfe fehlt, dann versuchen wir es diesmal
mit der Intelligenz als bestimmendes Merkmal. Der Mensch verfügt ja gegenüber allen Wesen
des Tierreiches aufgrund seiner biologischen Mitgift über ein übergroßes Gehirn und ist somit
besonders privilegiert. Doch auch hier scheint Vorsicht geboten. Versuche mit Meeressäugern
– allen voran den Delfinen – haben gezeigt, dass diese zu beachtlichen Geistesleistungen fähig
sind und sogar abstraktes Denken vermuten lassen. Spektakulär sind auch die auf
Gedankenleistungen beruhenden Verhaltensweisen insbesondere von Krähen und
neuseeländischen Keas. Diese können nicht nur das Gefahrenpotenzial einer Situation sicher
abschätzen, etwa ob ein Jäger ein Gewehr bei sich trägt oder nicht. In Tierexperimenten wurde
nachgewiesen, dass diese Vögel auch in der Lage sind, mehrstufige Denkprozesse zu
absolvieren und dabei Schlussfolgerungen zu ziehen. In unserer „Ahnengalerie“ noch weiter
zurück schreitend haben auch Versuche mit speziellen Weichtieren (Molusken), insbesondere
den Tintenfischen, gezeigt, dass diese anscheinend abstrakt denken können, obwohl sie nicht
einmal über ein ausgeprägtes Denkorgan, wie das Gehirn, verfügen.
Einen gewissen Aufschluss über die im Tierreich anzutreffenden geistigen Fähigkeiten liefert
auch die Betrachtung der Lernfähigkeit. Hier ist nicht das Training gemeint, das beispielsweise
Hunde, Pferde und allerlei Zirkustiere zu oftmals erstaunlichen Leistungen befähigt. Training
ist bestenfalls als eine Vorstufe des Lernens zu akzeptieren. Echtes Lernen hingegen ermöglicht
eine flexible Anwendung des Gelernten, selbst wenn die betreffende Anwendungssituation
während des Lernprozesses so nie vorgekommen ist. Nicht alles, was in der Tierwelt als
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vermeintliches Lernen erscheint, ist allerdings auch als solches einzustufen. Wenn
beispielsweise Elefanten mit ihrem Nachwuchs zu bestimmten Zeiten zu weiten Reisen
aufbrechen und dabei gleichen Routen folgen, dann ist das eigentlich nichts weiter als ein
Merken (Einspeichern) und späteres Erinnern (Abrufen). Diese lebenswichtigen Informationen
erwerben bereits die Jungtiere von den erfahrenen Leittieren auf gemeinsamen Wanderungen.
Ähnliches gilt auch für die Raubtiere bezüglich des erfolgreichen Jagens, der Bewahrung der
besten Wanderwege, der Lage von Wasserstellen u.a.m. Das Besondere besteht hier darin, dass
diese Fähigkeiten nicht vererbt, sondern nach Durchlaufen eines Lernprozesses von einer
Generation zur nächsten weitergegeben werden. Dabei finden als Lernformen des Lernens
durch Nachahmung und das Erfolgslernen (trial and error learning) Anwendung. Als „Lehrer“
fungieren vorwiegend die Mütter, bei den Elefanten die erfahrenen Leitkühe (meist Tanten).
Somit erhalten wir auch hier kein brauchbares Unterscheidungskriterium zwischen der Gattung
Mensch und den Wesen des Tierreiches.
Das Ergebnis unserer Recherchen besteht gesamtheitlich somit darin, dass keines der üblicherweise
vorgeschlagenen Unterscheidungskriterien hinreichend trennscharf ist.
Vorschlag alternativer Kriterien
Wenn selbst die bisher ausschließlich dem Menschen zugebilligte Intelligenz als trennscharfes
Unterscheidungskriterium ausfällt, dann werden wir uns bei der weiteren Suche auf eine oberhalb der
biologischen Daseinsvorsorge angesiedelte Ebene begeben müssen, die Überbau genannt wird. Dort
lassen sich nach vorab geführten vorsichtigen Erkundungen durchaus Ansatzpunkte finden, die
weiterhelfen können.
Da die Urahnen des Menschen dem Tierreich entstammen, hat sich der gesellschaftliche Überbau nicht
spontan, sondern erst im Verlauf des langfristigen Prozesses der Menschwerdung entwickelt. Dafür
erhielt das Menschengeschlecht eine von der Evolution herrührende besondere biologische Mitgift in
Form des aufrechten Gangs, der erheblichen Verfeinerung der Hände einschließlich deren Motorik und
vor allem das gegenüber allen Wesen des Tierreiches wesentlich vergrößerte Gehirn, das ihn zu
erheblichen Leistungen mentaler Art befähigt. Dazu werden wir im Folgenden der Herausbildung
unterschiedlicher Phänomene nachgehen und dabei im Groben der geschichtlichen Entwicklung folgen.
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Beginnen wir mit der Entwicklungsstufe des homo sapiens (verständiger Mensch) vor etwa
160.000 Jahren, so lassen sich bereits dort die ersten Ansätze für das Entstehen von Glaube und
Religion feststellen. Diesen frühzeitlichen Menschen wurde bewusst, dass sie einer
übermächtigen Natur mit vielerlei Gefahren ausgeliefert waren, deren Erscheinungen und
Zusammenhänge ihnen ungeheuerlich erschienen. Sie fühlten sich in ihrer Existenz bedroht,
waren von wechselhaften Wetterlagen abhängig und hatten auch unterschiedlichen Jagderfolg,
um nur wenige der Unwägbarkeiten zu nennen. Hinter all dem Wechselhaften und Unbekannten
sahen sie übernatürliche Kräfte walten, denen irgendwann Götter zugeordnet wurden. Dabei
entstand eine immer zahlreicher werdende Götterwelt. Auf die geschilderte Weise mögen die
vielerlei Naturreligionen entstanden sein. In ihrer Ohnmacht versuchten die Menschen ihre
Götter gnädig zu stimmen, indem sie diese anbeteten und ihnen Opfer (manchmal sogar
Menschenopfer) darbrachten. Später wurden – die oft einzigen – Bauwerke errichtet, welche
ausschließlich der Religionsausübung dienten. Die ersten dieser religiösen Zentren entstanden
bereits im Neolithikum (5.000 – 2.000 Jahre v. Chr.), also auf der Menschheitsstufe der Jäger
und Sammler. Manche dieser religiösen Anlagen orientierten sich an kosmischen
Erscheinungen (bspw. Stonehenge im heutigen England). Mit dem Übergang von Jäger- und
Sammlergesellschaften (aneignendes Verhalten) zur Hirten – und Ackerbauerkultur
(produzierendes Verhalten) im Neolithikum entwickelten sich nicht nur komplexere
gesellschaftliche Organisationsformen, sondern es erweiterte sich auch der Wunschkatalog der
Menschen an die Götterwelt. Dabei begünstigte das Sesshaft werden den Bau von Tempeln für
die Götter.
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Ein religiöser Umsturz erfolgte zuerst im antiken Ägypten, als der Pharao Echnaton (vormals
Amenhotep IV und Gemahl der schönen Nofretete) um 1350 v. Chr., die vielfältige ägyptische
Götterwelt mit einem Schlag beseitigte und den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott für seine
Untertanen erhob. Dieser erste monotheistische Aufbruch wurde allerdings zwei Generationen
später zugunsten der alten Götterwelt wieder getilgt. Später entstanden im sog. Nahen Osten
wiederum monotheistische Religionen. Diese hatten ihre Wurzeln in der jüdischen Religion.
Die Juden nannten ihren zentralen Gott Jahwe. Später verzweigte sich der jüdische Glaube in
mehrere Richtungen. So entstand mit dem Auftreten von Jesus vor 2.000 Jahren auf jüdischer
Grundlage (Altes Testament) die christliche Religion. Etwa 600 Jahre später begründete der
Prophet Mohammed den Islam, dessen einziger Gott Allah genannt wurde. Unabhängig davon
entstanden in Indien sowie im alten China mit dem Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus
weitere große Religionen. Diese Religionen breiteten sich mit unterschiedlicher Verteilung auf
der gesamten Welt aus und wurden so zu Weltreligionen.
In den Religionen finden viele Menschen auch heute noch ihre Zuflucht, schöpfen dort Kraft,
neue Hoffnung, fühlen sich geborgen und mit ihren Sorgen nicht alleingelassen. Die
zugehörigen Institutionen leisten auch eine beachtliche humanitäre Lebenshilfe, die den
wirtschaftlich Bedürftigen sowie den Opfern von Naturereignissen und Gewalt zugutekommt.
Diktatorische Regimes haben immer wieder den Versuch unternommen, den religiösen Glauben
der Menschen zu tilgen, indem sie den Atheismus zur Staatsdoktrin ausriefen. In Wahrheit ging
es wohl darum, die vorhandene Glaubensfähigkeit der Menschen auf ihre Ideologie
umzulenken. Wie bekannt, ist die mit staatlicher Macht versuchte Durchsetzung des Atheismus
jedoch ausnahmslos gescheitert, wenngleich die Nachwirkungen mancherorts (bspw. in
Tschechien) noch zu spüren sind.
Sorgen bereitet inzwischen die freiwillige Abkehr vieler Menschen von Glaube und Religion,
wie an der nicht geringen Zahl von Kirchenaustritten speziell in den christlichen Kirchen zu
erkennen ist. Dies signalisiert einen schleichenden Bedeutungsverlust der Religion. Dafür wird
neben der nicht immer zeitgemäßen Haltung der etablierten Kirchen zu drängenden Fragen, oft
mangelnden Angeboten und der dem wissenschaftlichen Fortschritt zu verdankende
Erkenntnisgewinn verantwortlich gemacht. Allerdings räumt die Wissenschaft wiederum selbst
ein, auf die echten metaphysischen Fragen nach der Herkunft und dem Sinn des Universums
und seiner Geschöpfe keine schlüssige Antwort geben zu können. Dem von manchen
Landesteilen zu beobachtenden Niedergang der Religionen steht andernorts aber auch eine
Belebung der Frömmigkeit gegenüber. Fakt ist jedenfalls, dass in den meisten Menschen ein
immanentes Bedürfnis nach Religiosität besteht, unabhängig davon, ob und wo es in einer
Glaubensrichtung seine Heimat gefunden hat. Auch beobachtet man, dass selbst sehr nüchterne
Menschen, wie gestresste Manager und Banker, ein zunehmendes spirituelles Bedürfnis
erkennen lassen, das sie auf verschiedene Weise zu befriedigen suchen. Somit können Glaube
und Religion durchaus als Unterscheidungskriterium herangezogen werden.
Dem bei den christlichen Kirchen erkennbaren Trend der Bedeutungsverminderung steht
andererseits eine Welle der Islamisierung besonders in den Kernländern dieses Glaubens
gegenüber.
Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass die Basis aller bisherigen Kulturen eine
Religion, ein bildhafter Glaube, war. Alle Ebenen, auf denen sich das Leben in den alten
Kulturen abspielte, basierten auf einer Religion. Den Religionen entstammt auch ein
Wertekanon, der die grundlegenden Regeln für eine gedeihliche gesellschaftliche Ordnung
vorgibt wie auch als Richtschnur für das Verhalten als Individuum dient, und es ist fast
verwunderlich, dass die Vorstellungen von Moral und Ethik über alle Religionen hinweg nahezu
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identisch sind. Daraus ist zu folgern, dass Religionen neben der Kunst zu den Kernpunkten jeder
(menschlichen) Kultur zählen. Somit ist Kultur als eine Art Überbegriff zu werten.
Das Ergebnis der vorstehenden Betrachtung führt somit zu der Feststellung, dass Glaube und
Religiosität ausschließlich in der menschlichen Gesellschaft tiefverwurzelt sind und im
persönlichen Leben eine mehr oder weniger bestimmende Rolle spielen. Tiere haben in den
modernen Religionen – wenn überhaupt – höchstens als schmückendes Beiwerk oder
schlimmstenfalls als Opfer ihren Platz (Ausnahme: Naturreligionen).
•
Kommen wir zum nächsten Vorschlag eines weiteren Kriteriums: der Kultur und Kunst. Auch
diese gesellschaftlichen Kategorien entwickelten sich aus bescheidenen Anfängen über lange
Zeiträume hinweg und führten in den verschiedenen Regionen der Welt zu teilweise ganz
unterschiedlichen Ausprägungen.
Die Kultur ist ein komplexes Phänomen des gesellschaftlichen Überbaus. Zur Kultur zählen die
Mythen, Rituale, Gebräuche und Traditionen, die vom Menschen geschaffenen Bauwerke und
(Kultur-)Landschaften sowie technische Produkte, aber auch die Mode, Ess- und
Trinkgewohnheiten und vieles andere. Besonders herausragende Zeugnisse der Kultur sind
heute in der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO erfasst.
Ein besonderer Bestandteil der Kultur ist die Kunst. Anhand der Kunst lassen sich die
Entwicklungsgeschichte der Kultur und ihr Einfluss auf die Menschheit gut verfolgen, weshalb
wir dieser Komponente hier speziell nachgehen werden.
Das Bedürfnis nach künstlerischer Tätigkeit war beim Menschen bereits frühzeitig ausgeprägt.
Die ersten bildhaften Werke entstanden in prähistorischer Zeit auf der Grundlage der neuen
biologischen und soziologischen Ausprägung des Menschgeschlechts. Einige der frühen, aus
dem Neolithikum (5.000 – 2.000 v. Chr.) stammenden Zeugnisse haben in Höhlen oder auf
Felsplateaus in Trockengebieten die Zeiten überdauert. Die älteste und bedeutendste
Bilderhöhle findet sich in der Grotte Chauvel, deren künstlerische Gestaltung auf 31.500 Jahre
zurückdatiert wird. Weitere eindrucksvolle bildhafte Darstellungen aus paläolithischer Zeit sind
in den Höhlen von Lascaux (Frankreich, Dordogne) sowie bei Tassili-u-Ajjer und Ennedi
(marokkanische bzw. lybische Sahara) zu bewundern. In den mit Naturmitteln hergestellten
Malereien und Gravuren finden sich vorzugsweise figurale Darstellungen aus der umgebenden
Natur in teilweise abstrahierter Form. Auch die ersten plastischen Darstellungen von Figuren,
die vorwiegend Grabbeigaben entstammen, wurden bereits vor über 30.000 Jahren
(Paläolithikum) hergestellt. Besonders reichhaltig waren auch die Funde an Keramiken, welche
von den Archäologen verschiedenen Kulturen zugeordnet wurden. Die frühen Artefakte
stammen aus dem Meso- und Neolithikum (8.000 – 5.000 bzw.6.000 – 1.8000 v. Chr.) und
zeigen eine im Laufe der Zeit immer aufwändigere künstlerische Gestaltung. Aus dieser Zeit
sind uns auch die ersten Zeugnisse einer piktografischen Schrift überliefert, deren Zeichen aus
konkreten Bildelementen bestanden. Aus dieser Urform gingen später die verschiedenen
Buchstaben-Laut-Schriften hervor.
Die Ausübung von Kunst bedeutete für die Menschen eine neue und nicht mehr rein
produktbezogene Form bewusster Tätigkeit. Arbeit wird damit zu schöpferischem Wirken.
Damit einhergehend prägte sich eine Sinnlichkeit aus, bildete sich das „musikalische Ohr“, das
Schönheit und Harmonie empfindende Auge und entwickelte sich ein ästhetisches Empfinden.
Es entstanden neue geistige Bedürfnisse. Die mit der Erstellung von Abbildern erhaltenen
Zeitdokumente führten bei den Menschen zu einem neuen Umgang mit der Zeit und damit zu
einer höheren Form des Seins. Die mit der Entwicklung von Schriften gegebene Möglichkeit
der Beschreibung der Besonderheit realer Sachverhalte förderte weiterhin das abstrakte Denken
und war ebenfalls den sozialen Beziehungen zuträglich. Mit der Kunst trat somit ein neues
Element auf den Plan, das sich als von herausragender Bedeutung für die Entstehung und
Entwicklung der Menschengattung erwies, indem sie diese auf eine qualitativ höhere Stufe
Ende der Leseprobe von:
Was ist der Mensch? - Betrachtungen
und Analysen zum menschlichen Sein
Wolfgang Weller, Prof. Dr.
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