160416_Märchen_Suppendesign

Suppendesign – Ein Märchen
Es war einmal in einem fernen Land in einer fernen Zeit ein großer Forschling, der sich seines
Lebens freute. Es war zu einer Zeit, da sich die Nebel der Wissenschaft erst wenig gelichtet hatten
und obschon es den Angehörigen des Märchenlandes fern lag, von solch komplexen Dingen wie
‚Konstruktivismus‘ und ‚sozialer Konstruktion‘ zu sprechen, so empfanden sie doch sehr wohl, dass
der Nebel der Wissenschaft sich nach den eigenen Stimmungen richtete. Gaben sie sich den
zuweilen düsteren Stimmungen der Romantik hin, so schien ihnen auch der Nebel von einer
undurchdringlichen Schönheit, immer jedoch wenn ihnen ein neuer Gedanke kam, so erhellte sich
die Umgebung durch den Gedankenblitz und manches Mal ging die Sonne auf.
Nun gab es einige Wesen des Märchenlandes, die im Zeichen des Nebels geboren waren. Diese
Wesen waren geprägt durch eine kindliche Freude über jede Wetterveränderung, sie erlangten
Intuition in der Vorhersage des Wetters und dennoch zeigte sich ihre Ehrfurcht vor dem Nebel in
einem beständigen Staunen. Dieses Staunen konnte zuweilen auch umschlagen in leichte
Melancholie, wenn sich der Nebel zu sehr verdichtete.
Der große Forschling gehörte zu diesen Wesen. Schon schnell hatte er erkannt, welche
Ähnlichkeiten zwischen seiner Mittagssuppe und dem Nebel bestanden. Es scheint im Übrigen so
als sei diese Erkenntnis bis in die heutige Zeit erhalten geblieben, denn so erklärt es sich, warum
die Menschen heute von „Suppe“ sprechen, wenn sie Nebel meinen. Der große Forschling
versuchte also, etwas über die Beschaffenheit des Nebels der Wissenschaft zu erfahren, indem er
seine Suppe selbst zubereitete. Dabei legte er besonderen Wert auf die Schnittstellen der Zutaten:
„Wissen Sie, selbstverständlich kann ich eine Suppe einfach zubereiten, aber es macht eben einen
Unterschied, ob ich das Gemüse einfach nur zerteile, oder ob ich genau darauf achte, an welcher
Stelle ich schneide und was für ein Werkzeug ich benutze. Ich kann mein Messer zwischendurch
säubern oder ich kann den Saft einer Frucht mit dem nächsten Schnitt auf der Oberfläche einer
anderen Frucht verteilen“ erklärte er mit großer Begeisterung. Durch dieses Design der
Schnittstellen verändert sich der Geschmack der Suppe erheblich. Denn wie ja heute leider in
Vergessenheit geraten ist, sind Gemüse und Früchte multiple Persönlichkeiten. Sie haben mehrere
Stimmen, die jedoch nach Innen liegen. Die Gestaltung der Schnittstellen bringt demnach
unterschiedliche Stimmen in den Vordergrund. Welchen Ausnahmezustand das bei dem Gemüse
hervorruft, lässt sich lebhaft vergegenwärtigen, wenn man sich vorstellt, man hätte jahrelang
leidglich Selbstgespräche mit den unterschiedlichen Facetten der eigenen Persönlichkeit geführt
und hätte nun die Möglichkeit mit anderen Personen zu sprechen. Entsprechend ist das Geschrei
groß, wenn die Schnittstellen in der Suppe die Möglichkeit zur Kommunikation eröffnen.
„Hier, sehen Sie?“, sagte der große Forschling und öffnete, um sein Anliegen zu demonstrieren,
einen herkömmlichen Suppentopf. Und tatsächlich: Sofort schlug einem das Geschrei entgegen!
„Ich mag keine Paprika!“ schrie wütend die garstige Stimme eines kleinen Stückes Walnuss, welche
offensichtlich an einer ungünstigen Stelle zerteilt worden war. „Dumme Nüsse haben in einer
Suppe erst recht nix verloren!“ schallte es aus einer anderen Ecke des Kessels und es war nicht
ganz auszumachen, ob die Stimme zu einem Stück Lauch gehörte oder ob sie einer Karotte zu zu
ordnen war. „Ich mag nicht mehr!“ jammerte heulend eine traurige Kartoffelstimme. Bei diesem
Geschrei vergeht einem der Appetit. Geschmack aber ist nichts anderes als das Belauschen eines
harmonischen Gespräches“, erklärte der große Forschling. „Es muss also zumindest eine
kontrollierte Disharmonie in der Zusammenstellung der Zutaten vorherrschen. Schmecken und
somit auch Kochen sind daher ganz eindeutig relationale Prozesse. Ich würde sogar so weit gehen,
dass selbst das Einsammeln der Früchte im Zeichen des Schnittstellendesigns geschehen sollte.
Und nicht zuletzt erwächst bei diesem Geschrei ein außerordentliches Zuordnungsproblem. Denn
damit aus dem Verzehr der Suppe überhaupt noch ein positives Erlebnis werden kann, muss
selbstverständlich genau überlegt werden, in welcher Reihenfolge die einzelnen Zutaten verzerrt
werden, damit sich das Geschrei nicht weiter fortsetzen kann. Also heißt es aufgepasst: Wer schreit
hier wen an? Ganz anders beim relationalen Kochen. Hier steht der Geschmack der Suppe als
Komposition im Vordergrund. Sie müssen sich das als etwas Triadisches vorstellen! Die Gestaltung
der Schnittstellen bestimmt, welche der Stimmen der multiplen Frucht-, Gemüse und
Nusspersönlichkeiten freigelegt werden und sich miteinander unterhalten. Gelingt Ihnen eine gute
Suppe, ist es unerheblich, welche der zerteilten Früchte was zu melden hat!“ und zum Vergleich
öffnete er einen Suppenkessel, dessen Inhalt sich durch ein bewusstes Design der Schnittstellen
auswies. Hier war folgendes zu hören: „Bereits John Maynard Keynes sagte: ‚The difficulty lies not
in the new ideas, but in escaping the old ones‘“. Und: “War das wirklich Keynes? Das wundert mich
aber, dass gerade Keynes das gesagt hat.” schallte es aus dem Kessel. „Wie Sie hören können,
gerät hier die Kommunikation der Zutaten in den Vordergrund. Es ist nebensächlich, ob wir eine
Stimme der Paprika oder eine Stimme der Tomate hören!“ erklärte der große Forschling. „Natürlich
wünschen sich unsere Geschmacksohren ein wenig Abwechslung und zu viel Harmonie kann
eintönig werden. Hier ist jedoch je eine Prise Salz und Pfeffer ausreichend, um die Schnittstellen
ein wenig zu reizen.“ demonstrierte er und tatsächlich, die Stimmung im Suppenkessel veränderte
sich: „Wissen Sie, mir als Zwiebel ist immer noch nicht ganz klar, was Sie als Paprikaidentität den
ganzen Tag lang machen. Wenn ich ein Problem lösen möchte, dann delegiere ich das an eine
meiner sechs innenliegenden Häute.“ „Das fragen wir als Paprikapersönlichkeiten uns umgekehrt
genauso!“ Der große Forschling erklärte: „Hier sind die Stimmen zwar eindeutig zuzuordnen, aber
die Kommunikation leistet es (bedingt durch das Design der Schnittstellen), dass die multiplen
Persönlichkeiten
sich
nach
außen
hin
abgrenzen
und
gemeinsam
auftreten.
Das
Zuordnungsproblem hat sich also in diesem Fall erledigt. Paprika und Zwiebel treten hier in einer
Reinheit auf, die nichts mit der Heterogenität des herkömmlichen Suppenkessels gemein hat. Die
Wünsche unserer Geschmacksohren nach Abwechslung sollten uns jedoch nicht dazu tendieren
lassen, deshalb das Design der Schnittstellen zu vernachlässigen! Wenn wir Kochrezepte als
Zweige einer riesigen Entscheidungsarchitektur begreifen, dann eröffnet das ganz neue
Möglichkeiten des Kochens“ freute sich der große Forschling und verschrieb sich gemeinsam mit
seiner relationalen Kochgruppe dem Aufbau einer solchen kulinarischen Entscheidungsarchitektur.
Auf den herkömmlichen Begriff der Suppengestaltung reagierte er jedoch äußerst allergisch: “Nein,
ich gestalte meine Suppe nicht! Es handelt sich um ein Design der Schnittstellen!“
Die relationale Kochgruppe kochte mit mäßigem Erfolg, denn manche ihrer Rezepte halfen
tatsächlich dabei, auch die Nebelverhältnisse genauer zu bestimmen. Denn auch beim Nebel der
Wissenschaft handelt es sich – relational betrachtet – um eine Zusammensetzung verschiedenster
Probleme und Fragestellungen, die sich über ihre Oberflächen verbinden. Und wenn es auch
gelingen mag, einzelne Aspekte dieser Fragen unter Kontrolle zu bringen, so gelingt es doch nie
im Ganzen, denn natürlich richtet sich ja eben auch die Wahrnehmung des Nebels nach den
Stimmungen und Gefühlen und das ist nochmal ein ganz anderer Urwald als die
Geschmacksohren der Märchenwesen.
Die Phänomene des Wetters können durch die Wissenschaft daher immer nur historisch
genauestens bestimmt werden, nie jedoch im Entstehen. Aber eben dafür gibt es ja die
Geschichten und Märchen. Der große Forschling und seine Kochgruppe ließen sich jedoch nicht
beirren und wenn sie nicht gestorben sind, kochen sie noch heute.
Es ist sehr schade, dass nicht alle Geschichten des Märchenlandes erinnert werden. So kommt es,
dass die Menschen heute verlernt haben, zuzuhören. Deshalb nehmen sie allerhöchstens die
Wünsche ihrer verzogenen Geschmacksohren, nicht jedoch die Stimmen bei der Zubereitung ihrer
Nahrungsmittel wahr. Diese ganzen Streitereien, die sich dann aber im Inneren des Körpers
fortsetzen, sind einer der Gründe, warum es gerade aktuell zu immer mehr Unverträglichkeiten
und Verdauungsproblemen kommt!
Zudem ist es erstaunlich, dass gerade in der heutigen Forschung zum Design von Schnittstellen
heterogener Elemente die eigentliche Ideengeschichte in Form des Suppendesigns von den
Nachkömmlingen des großen Forschlings und weiterer im Zeichen des Wissenschaftsnebels
geborener Wesen verleugnet wird. Ganz im Gegenteil wird Suppe nur noch mit Gestaltung in
Verbindung gebracht. Als Autorin bin ich mir sicher, der große Forschling würde sich in seinem
Dasein solange um sich selbst drehen, bis er vor Schwindel umfiele, wenn er von diesen
Verzerrungen seiner Forschung erführe!!!