Goethes Faust, Zusammenfassung, Interpretationsansätze, Lesehilfen

Winfried Lintzen
Goethes Faust
Zusammenfassung, Interpretationsansätze, Lesehilfen
Übersicht:
(1) Inhaltsangabe .......................................................................................... 2
(2) Um welche Lebensprobleme geht es im Faust? ...................................... 4
(3) Faust und Margarete ................................................................................ 7
(4) Faustische Verblendung (Faust und die Sorge) ........................................ 9
(5) Vom Nutzen des Dramas für das Leben ................................................... 10
(6) Faust lesen: warum es schwer ist und was es einfacher macht. ............... 11
Anm. 1 Warum Verse?............................................................................................13
Anm. 2 Warum Patchwork?....................................................................................15
Anm. 3 Zusammenhang von Erleben und Denken.................................................17
Anm. 4 Erläuterung zu Wittgensteins Sprachphilosophie.......................................17
Weiterführende Hinweise .......................................................................................18
1
(1) Inhaltsangabe
Goethe bringt in seinem "Faust" das Tragische und das unfreiwillig Komische des Menschen
gleichermaßen “auf den Punkt”:

Der Teufel wirft Gott vor, uns nach einem schlecht durchdachten Plan erschaffen zu haben.
Gott widerspricht: Er habe uns gut ausgestattet, wir bräuchten ihn gar nicht, wir würden den
rechten Weg alleine finden, selbst dann, wenn der Teufel versuchen würde, uns in die Irre zu
führen. Sie wetten. Als Versuchskaninchen wird ein gewisser Dr. Faust ausgewählt...

Das Drama beginnt mit Fausts midlife-crisis, in der ihm ein Teufelspakt gerade recht
kommt.

Der Teufel unterzieht Faust einer Anti-Aging-Therapie. In der folgenden Liebesgeschichte
gerät Faust in typisch männliche Konflikte zwischen Nähewünschen und Bindungsängsten
und macht Versprechungen, die ihm nicht gemeint sind.

Als Margarete schwanger ist, läßt Faust sie sitzen, obwohl er weiß, was das in Margaretes
Welt bedeutet... – Aus panischer Angst vor Mobbing bringt Margarete nach der Geburt ihr
Kind um. Dafür wird sie hingerichtet.

Margarete ist tot, Faust macht Karriere: Er begründet eine New-Economy, deren
Fadenscheinigkeit zwar geahnt, aber wegen des großen Geldsegens von allen ignoriert wird.

Dann versteigt Faust sich so hoffnungslos in eine virtuelle Realität von dem Top-Modell
Helena, dass Mephisto Rat suchen muß bei einer vom Fachidioten Wagner geschaffenen
künstlichen Intelligenz: Homunkulus. Homunkulus ist ein lebendes Wikipedia, lebensfähig
aber nur im Reagenzglas. Das nervt ihn total: er will da unbedingt raus.
2

Doch zunächst schleppt er den komatösen Faust auf eine Mega-Party mit, wo Faust eine
Chance hat, sein virtuelles Top-Model in echt zu treffen: in der griechischen Walpurgisnacht.
Mephisto, der ausländerfeindlich ist, sträubt sich, bis Homunkulus ihm Sextourismus in
Aussicht stellt.

Auf der Party zerschlägt Homunkulus auf Rat eines Meergeists sein Reagenzglas und löst
sich ins Meer auf, um noch mal ganz von vorne mit dem Entstehen anzufangen.

Faust kriegt seine Chance, Helena anzumachen, und hat – dank Mephistos
Inszenierungskünsten – damit auch Erfolg.

Den hochbegabten Sohn, der dieser Verbindung entspringt (Euphorion), benutzen die Eltern
um ihr persönliches „Arkadien“ zu inszenieren: ihren Traum von der heilen Familie.

Euphorion versucht, sich durch Delinquenz aus diesem Klammergriff zu befreien: Weil es
ihn nervt, daß alle ihn so toll finden, will er ein Mädchen vergewaltigen, schafft es aber
nicht. Dann will er in einen Heiligen Krieg ziehen, verunglückt aber aus Leichtsinn schon
beim Aufbruch tödlich. – Nach seinem Tod zeigt sich, dass die Ehe ohne den Sohn keinen
Bestand hat..

Die Welt stürzt wegen des Zusammenbruchs von Fausts New-Economy zunehmend ins
Chaos. Faust mischt bei dem daraus entstehenden Krieg eifrig mit, um als Kriegsgewinnler
seine nächste Vision realisieren zu können: er will die Menschheit mit einem
Landgewinnungsprojekt beglücken.

Finanziert durch Piraterie schreitet die Landgewinnung mit unheimlicher Geschwindigkeit
voran. Doch Faust ist ganz absorbiert von dem Ärger über Einheimische, die sich seinen
Umsiedlungsplänen widersetzen. Faust beauftragt Mephisto. Der erledigt das mit seinen
Schergen auf eine Weise, die die Urbevölkerung nicht überlebt.
3

Als Faust der Brandgeruch in die Nase steigt, kriegt er Schuldgefühle. Es gelingt ihm, die
daraus sich entwickelnde Depression abzuwehren, indem er sich erneut in eine Fantasiewelt
versteigt: in die Vision von seinem neuen Land. Das macht ihn blind für das, was wirklich
vor sich geht: während er noch von freiem Volk auf freiem Grunde träumt, haben die
Mächtigen das neue Land längst für ihre Zwecke verplant.

Berauscht von der Großartigkeit seiner Vision kann Faust sich dann vorstellen, was er in
seiner mitlife-crisis gewettet hat, sich nie vorstellen zu können: den Augenblick zum
Verweilen aufzufordern. Damit fällt seine Seele Mephisto anheim.

Doch die Muttergottes macht den Zockern einen Strich durch die Rechnung: Sie schickt
Jünglingsengel los, die mit einer Kombination aus Messdiener-Ernst und StricherbubenVerruchtheit den Teufel so aufgeilen, daß er die Seele kurz aus den Augen läßt...
Nachdem Goethe auf diese Weise Testosteron gesteuerte Lebensformen als Verlierer auf der ganzen
Linie entlarvt hat, schließt er mit den Worten: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“.
Die Gesamtaufführungsdauer des Stückes beträgt bis zu 20 Stunden. Erst durch das Fernsehen
wissen wir, was Goethes Faust wirklich ist: Eine Serie! Viele Folgen in zwei Staffeln..
(2) Um welche Lebensprobleme geht es im Faust?
Es geht im „Faust“ um die Verzweiflung über das Ungenügende und Beschränkte unserer Existenz:

Ein 50 jähriger Mann wird wütend: Er hat sich sein Leben lang um Erkenntnis bemüht,
umfassender und radikaler als alle anderen, doch sein Fazit ist: Auf die uns Menschen
wirklich bewegenden Fragen gibt es keine glaubwürdigen Antworten: auf die Fragen
danach, welchen Anfang und welche Zukunft das Universum hat, warum es überhaupt
Leben gibt, was nach dem Tod kommt und welchen Sinn das Dasein hat. Nichts davon
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können wir erkennen, alle Theorien, alle Interpretationen und Weltbilder sind nur
Gedankenspielerei, "Schauspiel".

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu
verändern“ – dieser Satz könnte von Faust stammen, der das Wort „Logos“ aus dem neuen
Testament lieber mit „Tat“ als mit „Sinn“ übersetzt. Doch auf die Tat, die menschliche
Gestaltungsmacht, kommt er erst später wieder zurück.

Zu dem Zeitpunkt, als Mephisto ihm den Pakt anbietet, geht es Faust um einen Beweis:
Wenn das Streben nach Daseinserkenntnis zum Scheitern verurteilt ist, dann ist auch das
Leben selbst nichts wert. - Wie kommt Faust darauf? Wieso erlebt er die menschliche
Existenz so, daß nur die Daseinserkenntnis ihr Wert und Würde verleiht?

Faust spaltet die menschliche Existenz in zwei Teile: Außer dem Erkenntnisstreben gibt es
für ihn im Leben nichts als animalischen Lebensvollzug, der sich erschöpft in Ruhm-,
Macht- und Besitzstreben, Liebesleben und Familiengründung. All das ist auf die banale
Formel zu bringen: Vermeiden von Schmerz und Genuß von Lust. Das ist ein Kreisen in der
vorgegebenen animalischen Ausstattung des Menschen, die wir nicht selbst wählen oder
gestalten können. Den Forderungen der Natur genüge tun, sich brav zufriedengeben mit
dem, was wir an Naturgegebenheit hinnehmen müssen: das ist für Faust eine
Selbstentwürdigung. Und jeder Genuß, jeder Wunsch nach Verweilen des Augenblicks ist
für ihn ein solches billiges Sich-zufrieden-geben mit der Befriedigung eines Bedürfnisses,
ein Sich-zufrieden-geben mit dem Lohn, den die Natur uns gewährt, wenn wir brav erfüllen,
was sie uns Menschen an Aufgaben in Form animalischer Bedürfnisse auferlegt hat. Das
erlebt Faust als knechtisch. Das kann er prinzipiell nicht mit der Vorstellung eines
gelungenen, erfüllten Lebens in Verbindung bringen, selbst wenn ein Mensch alles, aber
auch wirklich alles erleben und bewältigen würde, was es im Leben an Freude und Leid,
Erfolg und Mißerfolg geben kann.

Faust erlebt das Menschsein so, daß Menschen eigentlich befähigt sein müßten, sich aus
ihrem tierhaft beschränkten Kreis von Naturgegebenheit erheben zu können. Faust findet,
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Menschen müßten eine "freie Kraft" sein, die "durch die Adern der Natur" fließt und
"schaffend" "Götterleben" genießt. Deshalb will Faust beweisen, daß das menschliche Leben
wegen des Widerspruchs von Göttlichkeit und Animalität nur scheitern kann, selbst wenn
man in die Lage versetzt wird, alle Glücksmöglichkeiten der menschlichen Existenz
ausschöpfen zu können. Und er will beweisen, daß ein Mensch, der all dieses verstanden
hat, sich von keinem höchsten Glück der Welt mehr bestechen läßt, zu so einer Existenzform
"Ja" zu sagen, und einen Augenblick höchsten "natürlichen" Glücks zum Verweilen
aufzufordern.

Dieser grundsätzliche Zweifel am Leben ist „frevelhaft“: er intendiert, was uns Menschen
nicht zukommt: einen Standpunkt außerhalb des Menschseins einzunehmen und die
menschliche Existenz von da aus zu bewerten.

Wenn das der Religion früher als Sünde galt, als „frevelhafte Vermessenheit“, so liegt darin
die Wahrheit, daß ein solches Beginnen leicht in Menschen- und Lebensverachtung enden
kann und dem daraus folgenden destruktiven und antisozialen Verhalten; und daß es logisch
in eine Aporie führt: die des „performativen Selbstwiderspruchs“:

Wenn ich vom Menschen nichts halte, muß ich das ja mit eben jenem menschlichen
Urteilsvermögen tun, von dem ich nichts halte. Was ist dann davon zu halten? (Die antike
griechische Philosophie brachte diesen Widerspruch auf eine anschauliche Formel: Ein
Kreter sagt: „Alle Kreter lügen.“)

Solches „frevelhafte“ Überschreiten von Grenzen und Zulassen geächteter Mittel und
Motive, wurde in der Sprache der Religion als „Teufelspakt“ verstanden. – Und Faust zögert
nur einen Augenblick, für sein großangelegtes frevelhaftes Experiment auch frevelhafte
Mittel zu nutzen: er verschreibt sich Mephisto, er verschreibt sich der Aggression und
Skrupellosigkeit – die er freilich oft wieder zurückzunehmen versucht oder vor sich selbst
verabscheut (z.B. in seinem Versuch, Margarete zu retten oder in seinem Ausruf: „Schon
wieder Krieg, der Kluge hörts nicht gern“).
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(3) Faust und Margarete

Ein Leitthema des "Faust" ist die Schwierigkeit von Verzicht. Verzicht ist Konflikt, innerer
Konflikt zwischen unvereinbaren aber gleichermaßen unverzichtbar erscheinenden Werten,
hier: zwischen Fausts Liebe zu Margarete und seinem Wunsch nach ungebundenem "Jäger
und Sammler"-Dasein, das weder zeitlich, räumlich noch sexuell Rücksicht auf einen
Beziehungsanhang nehmen muß.

Nachdem sich Faust mit Mephisto ein Erfolgsrezept für weltlichen Erfolg gesichert hat, ist
es für ihn besonders schwer, auf ein "Jagen und Sammeln" zu verzichten, bei dem er kaum
Mühen und Mißerfolge zu erwarten braucht. - Diese Konstellation zeigt schon, wie sehr
Faust seine "Experimentalanordnung" zu kurz gedacht hat: Er will Freiheit, Vielfältigkeit,
Totalität - aber dafür bräuchte er mehrere Leben! Denn auf die "inneren" Freiheiten, z.B. die
Sinnmöglichkeiten und Synergien, die aus gelingender Partnerschaft und gelingendem
Familienleben resultieren, muß Faust mit seinem Lebenskonzept verzichten, weil
Partnerschaft und Familie schon allein mindestens ein halbes Leben an Zeit beanspruchen.

Faust ist seinem Selbstverständnis nach - nicht seinem Handeln nach - Humanist: Von
Beginn an ironisiert und entwertet er den Teufel: Die Wette hat u.a. auch den Zweck, es dem
Teufel zu zeigen: ihm zu zeigen, wie sehr er gegen den Menschen ins Triviale, Beschränkte
abfällt und wie wenig er den Menschen wirklich erfassen kann. - Faust ist abgestoßen von
menschlichen Niederungen, wie er sie in Auerbachs Keller vorgeführt bekommt. - Faust ist
erschüttert über Margaretes Schicksal und riskiert alles, um sie zu retten. - Er will die
Naturkräfte den Menschen nutzbar machen und ein freies Land mit freien Bürgern schaffen.
- Er ist er erschüttert über den Ausgang der Umsiedlung von Philemon und Baucis, so sehr,
daß er sich gegen seine Schuldgefühle in seine Vision zurückziehen muß (und den Kontakt
zur Realität verliert).

Durch seine unreflektierte Streberei nach dem ganz Tollen schätzt er die Forderungen
sozialer, politischer und zwischenmenschlicher Verantwortung falsch ein: Er ist hilflos, die
Beziehung zu Margarete seinen eigenen konflikthaften Motivationen gemäß zu gestalten
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(dazu hätte er nicht mehr Nähe zulassen dürfen, als mit seinem inneren Konflikt vereinbar)
und als er merkt, daß es schiefläuft, haut er ab ins Gebirge, statt ihr zu sagen, wie es um die
Beziehung steht und Verantwortung zu übernehmen für alles, was er durch sein Ungestüm
angerichtet hat. - Er macht den verhängnisvollen Bluff Mephistos am Kaiserhof mit, ja ist
"williger Vollstrecker" von Mephistos Projekt, weil es ihm selbst zu gute kommt. - Er ist
unfähig, seinem Sohn Euphorion sein eigenes Leben zu lassen, sondern instrumentalisiert
ihn für sein Projekt "Arkadien" ("heile Familie") - Für seinen "guten Zweck", mit dem er
sich geschichtsmächtig profilieren will ("nicht in Äonen untergehen") sind ihm die
unheiligsten Mittel recht: Betrug, Bürgerkrieg, Deportation. - Durch seinen
Profilierungstrieb verliert er den Kontakt zur Realität, weil er Einwände der "Sorge"
entschieden abweist, so sehr "braucht" er es für sein Ego seine Ideen, die er so toll findet, zu
realisieren. Er ist "egozentriert", verhaftet in seiner Welt, er erfasst zu wenig, was in der
Welt der andern Menschen vorgeht.

Faust hat offenbar kaum Beziehungserfahrung. Deshalb kann er nicht nur nicht voraussehen,
was er Margarete antut, sondern nicht mal, was er in sich selbst durch die Verbindung mit
Margarete "anrichtet". Um das zu beschreiben, können moderne Konzepte aus
Neuropsychologie und Psychoanalyse genannt werden: implizites Gedächtnis, Lerntheorie,
Bindungs- und Objektbeziehungstheorie. Wir sind von der Biologie auf Beziehung
programmiert, was allein schon an der Sprachfähigkeit abzulesen ist. Beziehungen
verändern unser Gehirn. In ihrer seltsamen Sprache nennt die Psychoanalyse das
"Introjekte", verinnerlichte "Objektrepräsentanzen". Das, was wir an Glückserfahrungen mit
einem andern Menschen machen, vergessen wir nie mehr. Und sie sind unaustauschbar,
unverwechselbar, unrelativierbar, unersetzbar, wegen der Einzigartigkeit jedes einzelnen
Menschen, die das gemeinsame Erleben und das Erleben der Gemeinsamkeit prägt. Vieles
davon "sinkt" ab ins implizite Gedächtnis: ist uns bewußt gar nicht mehr verfügbar, wir
denken nicht dran, spüren es nicht, und es ist trotzdem da. - Faust verdrängt Margarete, als
er ins Gebirge geht ("Wald und Höhle") aber Mephisto "triggert" die impliziten
Gedächtnisgehalte und holt sie ihm lebendig vor Augen. - Auch später: Nach der HelenaEpisode gerät Faust beim Betrachten der Wolken in einen hypnotischen Zustand - und wer
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hat darin das letzte Wort? Nicht Helena, sondern Margarete ist diejenige, die "das Beste
seines Innern" mit sich fortträgt.
(4) Faustische Verblendung (Faust und Sorge)

Was macht Faust blind? Das Abweisen der Reflexion auf seine Einstellung und sein
Selbstverständnis, auf seine in seiner Persönlichkeit ausgebildeten Bestrebungen und deren
Ziele.

Faust muß unbedingt einen freien Grund für ein freies Volk schaffen. Er braucht das so
unbedingt für seine Identität, seinen Selbstwert und seinen Lebenssinn, daß er sich das durch
kein Nachdenken, keine "Sorge" madig machen läßt.

Doch das Abweisen der Sorge hat seinen Preis: Realitätsverlust. Faust prüft nicht, ob es sich
mit seinen Vorstellungen wirklich so verhält, wie er glaubt. So denkt er z.B. nicht darüber
nach, daß sein "neues" Land nicht wirklich frei sein kann, weil es zum Kaiserreich gehört
und der Kaiser vielleicht damit was vorhaben könnte. (Tatsächlich hat die Kirche dem
Kaiser bereits abgepresst, dort Steuern eintreiben zu dürfen. - Vorher hatte er nicht darüber
nachgedacht, wie Mephisto und seine Spießgesellen wohl vorgehen werden, wenn er ihnen
den Auftrag gibt, ein altes Ehepaar zwangsumzusiedeln.)

Das macht Faust zum tragischen Helden: Seine Leistungsbereitschaft braucht das Abweisen
der Sorge, aber mit dem Abweisen der Sorge verwandelt er das, was er intendiert und was
ihn zu seiner Heldenhaftigkeit motiviert, durch sein Tun ins Gegenteil: Statt freies Volk auf
freiem Grund gibt es Deportation, Tod und Ausbeutung.

Faust findet Helden toll. Er fragt den weisen Centauren Chiron: "Doch von den heroischen
Gestalten, wenn hast du für den Tüchtigsten gehalten?" Und Chiron, der renommierte Arzt,
der Faust für therapiebedürftig hält, macht mit Faust eine Realitätsprüfung, und benennt
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seine Alternative zum Heldenparadigma: "Im hehren Argonautenkreise war jeder brav, auf
seine eigene Weise. Und nach der Kraft die ihn beseelte, konnt er genügen, wo´s den andern
fehlte. ... Gesellig nur läßt sich Gefahr erproben...". - Wir Menschen haben gegenüber allen
anderen Lebewesen den Vorteil, daß wir uns nicht nur rudelhaft gegenseitig ergänzen
sondern auch: uns gegenseitig korrigieren können. Faust hat von Chirons Kurztherapie
leider nichts profitiert. Und so wird seine Geschichte zum Drama eines Menschen, dessen
Sinn für die Notwendigkeiten und Chancen von Sozialität mangelhaft ausgeprägt ist, dem es
an sozialer Intelligenz fehlt.
Faust und Sorge - zur Szeneninterpretation: Es spricht einiges dafür, daß Goethe mit Fausts
Blendung "instinktiv" etwas meinte wie die Folgen der Abwehr von Depression: Die
Selbstdarstellung der Sorge zeigt alle Züge des Vollbildes einer schweren klinischen Depression.
Depressionen dieser Art sind "so umschmeichelt wie verflucht" und können "betören": Kliniker
nennen das: Grübelzwänge. "Betören" ist das Stichwort: Faust spürt die Gefahr des depressiven
"Sogs" und versucht instinktiv ("unbewußt"), nicht in ihn hinein zu geraten. Auf die Frage der
Sorge, ob er sie kenne, leugnet er (obwohl er sie vor dem Pakt als einen der Faktoren benannt hatte,
die ihm das Leben madig machen.) Etwas zu leugnen bedeutet: nicht in der Lage sein, sich damit
auseinander zu setzen. Faust kann die Sorge nur resolut abweisen und glaubt wirklich, daß er so
leicht davon kommt. - Er kann damit zwar die "Finsternisse drinnen" verbannen und "im Innern"
"helles Licht" leuchten lassen - aber er verliert eine der wichtigsten Organe der Realitätsprüfung:
Das Augenlicht. Die Folge: Die Lemuren schaufeln sein Grab, aber er glaubt, es sind die Arbeiter,
die seinen Graben schaufeln. Und er will mit Magie nichts mehr zu tun haben, aber an welchen
Aufseher richtet er seine Befehle? An Mephisto. - Faust kriegt nicht mehr mit was läuft und
versteigt sich in seine Vision.
(5) Vom Nutzen des Dramas für das Leben
Goethe hat in diesem Stück Aspekte des Menschlichen und der modernen Welt auf geniale Weise
poetisch „auf den Punkt gebracht“.
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
Poesie erzeugt Erlebnisse: Goethes „Poesie“ führt uns Mensch und Moderne so anschaulich
und lebendig vor Augen, daß wir sie beispielhaft erleben d.h. nicht nur intellektuell erfassen
wie bei einem philosophischen Text.

Ein „Erlebnis“ ist immer mehr als ein Gedanke. Im Nachdenken kann ich mich an
Erlebnisse, wie z.B. Trauer, nur erinnern und ich kann höchstens versuchen aus der
Erinnerung ihre Bedeutung zu ermessen. Aber nur wenn ich Trauer aktuell verspüre, kann
ich neue „Erkenntnisse“ aus der Trauer gewinnen – z.B. darüber, wie wichtig mir ein
Mensch ist, dessen Abschied mich traurig macht. Das Erlebnis ist eine Quelle für das
Denken: ohne Erleben ist das Denken sich selbst überlassen d.h. leer oder spekulativ.
Allerdings: Denken ist die Art und Weise, wie wir den Gehalt des Erlebens zu Bewußtsein
bringen. [Anmerkung 3: Zusammenhang von Erleben und Denken]

In dem Maße, wie die wiederholte Beschäftigung mit dem Drama immer mehr vom Gehalt
dieser „poetischen Formeln“ erschließt, nimmt das „Grübeln“ darüber, was der Dichter uns
damit sagen will ab und das „Erleben“ der poetischen Bilder zu. Es ermöglicht damit ein
immer differenzierteres Bewußtsein für die Lebensprobleme in der modernen Welt und eine
immer differenziertere Auseinandersetzung damit.
(6) Goethes Faust lesen
In unserer Zeit geht das gar nicht: man will Inhalt und stößt auf Form. "Faust" liest sich nicht wie
Romane oder Mails. – Es ist wie ein Wettlauf zwischen Brei und Brot: Für den "Faust" braucht man
gute Zähne und Kaugeduld. Den Text muß man sich erschließen. Dafür kann ein Bröckchen davon
nahrhafter und wohlschmeckender werden, als die Schüsseln voller Brei, die durchschnittliche
Textkonsumenten sich täglich schnell hinter schlucken.
Was macht das Lesen so sperrig?
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
Die Sprache richtet sich nach Reim und Rhytmus. Dem muß sich die Verständlichkeit
unterordnen. [Anm. 1: Warum Verse?]

Der Text ist poetisch und informationell voraussetzungsvoll: Oft werden nicht Handlungen
und Beschreibungen dargeboten, sondern Stimmungen erzeugt und Bedeutsamkeit
erschlossen. So entstehen Passagen, die beim schnellen Lesen wie Fülltexte wirken. Da
passiert nix. - Und ständig muß man sich in Kommentaren informieren, wer das ist, der da
gerade spricht, oder wovon er eigentlich redet, sonst entgeht einem ein Stück der Pointe.
[Anm. 2: Warum Patchwork?]

Der Text besteht fast ausschließlich aus gesprochenem Wort, pur. Das Sprechverhalten wird
nicht, wie im Roman, beschrieben: "Und während er seine Zigarette ausdrückte, fügte er
hinzu...." - so werden die Leser im Roman bedient. Das Hinzufügen ist im "Faust" Sache der
Leser: Es ist weit mehr als im Roman das Vorstellungsvermögen gefordert: man muß sich
das Gelesene ständig in lebendiger Rede vorstellen, d.h.: man muß szenisch lesen. Die Leser
müssen beim Lesen alles mobilisieren, was an Schauspiel- und Regisseurstalent in ihnen
steckt.
Was erleichtert das Lesen?

Laut zu lesen, Schauspieler zu spielen.

Zeilen-Kommentare zu benutzen: Am empfehlenswertesten finde ich den Kommentar von
Albrecht Schöne.

Inszenierungen anzuschauen. - Steins Inszenierung hat den Vorteil, den ganzen Text
darzubieten. Trotz aller Verzeichnungen ist das eine vorzügliche Lesehilfe. Es ist ein
altbekanntes Phänomen: Der Text des "Faust" erscheint ungeheuer schwer verständlich.
Wenn man ihn auf der Bühne sieht, erschließt sich selbst den unvorgebildetsten Lesern
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erstaunlich viel. - Schade bloß, das Stein so einfallslos und nahezu treudoof inszeniert hat
und offenbar mit völliger Taubheit geschlagen war bezüglich monotoner Manierismen... -
Anmerkung 1: Warum Verse?
In der Prosa geht die Sprache, im Gedicht tanzt sie (1). - Der Nachteil: Verse sind oft nicht so
unmittelbar verständlich wie Prosa, weil sich die Sprache Rhythmus und Reim beugen muß. In viele
Gedichte muß man Arbeit hinein stecken um Erleben und Bedeutung heraus zu bekommen. Aber
der Aufwand ist gering im Verhältnis zum Gewinn: dem persönlichen Wachstum, das uns die
Erschließung eines Kunstwerks ermöglicht.
Denn der Vorteil der Verse ist: die unbewußten Bedeutungsdimensionen der Sprache werden
zugänglicher. Warum? Die Alltagssprache hat einen "Tunnelblick": "Die Bedeutung eines Wortes ist
sein Gebrauch in der Sprache" (Wittgenstein), d.h. sie erschöpft sich in alltäglichen
Verwendungszwecken der Sprache. [Anm. 4: Erläuterungen zu Wittgensteins Sprachphilosophie]
Alle bekannten Kulturen kennen neben dem alltäglichen Sprachgebrauch auch das "Feiern" der
Sprache (auch eine Metapher Wittgensteins), nicht nur im Erzählen von Mythen und Märchen
sondern auch "formal": Auf Balladen wurde wirklich einmal getanzt! (2) - Und auch außerhalb der
Kunst wird die Sprache "frisiert": in der Rhetorik. Und der Übergang zwischen Alltagssprache und
Rhetorik ist fließend, wie z.B. bei Redewendungen wie: "ganz oder gar nicht", "gang und gäbe"
usw...
Die Gestaltung der Sprache besteht dabei immer darin, daß das ihr innewohnende musikalische
Moment "herauspräpariert" wird: Rhythmus und Klang. (Der Klang kann durch Zusammenstellung
gleicher oder ähnlicher Vokale und Konsonanten gestaltet werden: Reim, Alliteration, Häufung
heller oder dunkler Vokale (z.B. "und verschlucke den Lockruf dunklen Schluchzens" (Rilke)). Die
Wortbedeutung kann dabei musikalisch "begleitet" oder "unterstrichen" werden, z.B. bei den
"lieblichen" Versen, mit denen die Elfen am Beginn von Faust 2 den "lieblichen" Frühling besingen.
- Ähnlich wie geballte Faust und laute Stimme den Zorn zorniger Worte unterstreichen, können
13
auch musikalische Aspekte der Sprache das "Digital" der Wortbedeutungen "analog" verstärken.
("Digital" nennen Watzlawik et al. die Wortbedeutung, weil sie mit dem Gegenstand, auf den sie
sich bezieht, genauso wenig zu tun haben muß, wie die digitale Kodierung einer ComputerOperation mit der Operation selbst: Aus dem Wort "Katze" z.B. läßt nichts auf eine Katze schließen,
sonst würde das Wort in allen Sprachen verstanden (3) "Digital" und "analog" sind Metaphern. In
den Geisteswissenschaften spricht man von "symbolischer" und "gestenvermittelter" Interaktion.) Tieren steht nur die "analoge" Kommunikation zur Verfügung: gedroht wird nicht mit Worten
sondern mit Gebärden, die ein Bild für Aggression sind, z.B. das Blecken der Zähne. Da die
"analoge" Kommunikation stammesgeschichtlich sehr alt ist, sind wir dafür "instinktiv"
sensibilisiert. Doch offenbar verfügen wir Menschen noch über weitere "analoge"
Erkenntnisweisen, und zwar, wie die Säuglingsforschung herausgefunden hat, schon ganz früh: Ab
der 3. Lebenswoche können die Kleinen einen Schnuller mit Noppen, den sie nicht gesehen haben,
visuell identifizieren, indem sie anhand des gustatorischen Sinnesreizes im Mund auf die visuelle
Erscheinung schließen. Ebenso bilden sie "amodale" und ereignisunabhängige Invarianzen, d.h. sie
orientieren sich an Erfahrungsqualitäten, die in den verschiedenen Sinnen oder Ereignissen gleich
sind: z.B. ob etwas "explosiv" oder allmählich geschieht, ob es "anstürmt" oder "tröpfelt",
"verblasst" oder "verfliegt". Das ist für Säuglinge eine der wichtigsten Operationen zur
Organisation ihrer Wahrnehmung. Dadurch, daß es eine der archaischsten und bedeutensten
Organisationsweisen unserer Erfahrung ist, können wir davon ausgehen, daß wir für solche
Erlebnisqualitäten, ohne daß es uns zu Bewusstsein kommen muß, besondern "anfällig" sind, d.h.,
daß wir selbst kleine Nuancen gut wahrnehmen und "auswerten" und "Schlüsse" daraus ziehen, die
wir in der Regel jedoch nur in Form vager Gefühlsbeimischungen "spüren" und auf die wir implizit,
d.h. ohne bewusste Intention, reagieren - z.B. indem wir ärgerlich werden und nicht wissen wieso. Paul Valery beschreibt den Effekt von Versen als "Schwingungen zwischen Klang und Sinn". Was
neuropsychologisch vermutlich passiert ist: Das "Tanzen" der Sprache aktiviert mehr Hirnareale als
die Alltagssprache und führt zur Ausschüttung zusätzlicher stimulierender Botenstoffe (4). Die
Folge: "Netzwerke" werden zugeschaltet, die von der Alltagssprache nicht aktiviert werden können.
Das Wort wird in einen größeren Zusammenhang impliziten Wissens eingeordnet, seine Bedeutung
wird dadurch "vertieft", ohne daß wir es bereits bewußt erfassen, d.h. artikulieren können. Wir
spüren am Eindruck, den ein Vers hinterlässt, zunächst nur vage, daß die Aktivierung impliziten
14
Wissens zu höheren neuronalen "Erregungspotentialen" führt. Am einfachsten ist dieser Effekt wohl
bei Spaßversen wahrzunehmen, z.B bei Wilhelm Busch:
Einen Menschen nahmens Meier,
Schubst man vor des Hauses Tor
Und man spricht, betrunken sei er,
Selber kams ihm nicht so vor.
So mühsam es anfangs scheint: Es lohnt sich, sich Verse zu erschließen.
Nachweise
(1) Valery, Paul Über das Wesen der Poesie, in: Urbanek, Walter, Gespräche über Lyrik, Bamberg
1961
(2) Müller-Seidel, Walter, Die deutsche Ballade, Umrisse ihrer Geschichte, in: Hirschenauer, R.,
Weber, A., Wege zum Gedicht Bd.2, München und Zürich, 1968, 20f
(3) Watzlawick, P., Beavin, J., Jackson, D., Menschliche Kommunikation,, Bern 1990, 61ff
(4) Stern, Daniel, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 2007 S. 74 - 93
(5) Grawe, Klaus, Neuropsychotherapie, Göttingen 2004, 46ff
Anmerkung 2: Warum Patchwork?
-
Goethe war ein Geschichtennarr. Der Fausttext ist ein Patchwork: Ob Gott oder
Galathea, ob die Gottesmutter Maria oder die Phorkyaden, ob Persephone oder
Mephisto: Goethe montiert Figuren aus den verschiedensten Geschichten. ("Mythos" ist
ein altgriechisches Wort für "Geschichte.") Von diesen Geschichten muß man was
kennen, sonst wird der Text flach und Zusammenhänge werden nicht erfaßt. Der Epilog
hat z.B. zweifellos kabarettistische Züge (z.B. die Regieanweisung: "Mater Gloriosa:
schwebt einher"). Aber wer hinter dem Komischen nicht dasjenige sehen kann, was
dazu geführt hat, dass Menschen sich einmal solche Figuren ausgedacht und heilig
gehalten haben, der kriegt das Wesentliche nicht mit. Was kann man mit den alten
15
Geschichten und ihren Figuren anfangen? Mit der Mär von den gefallenen Engeln? Mit
Mephisto? Mit der Muttergottes und den "Müttern"? Mit dem ganzen mythologischen
Gespensterwesen von Hexen, Elfen, Gnomen, Zentauren, Lamien und Meergeistern?
-
Mephisto z.B. kann man auffassen als Personifikation menschlicher Aggression,
Triebhaftigkeit und Devianzbereitschaft. Eine solche Auffassung ist immer auch eine
Verkürzung, weil sie der Bedeutungsentfaltung der Figur enge Grenzen setzt. Dennoch
trifft sie aber auch etwas Richtiges und kann als erster, provisorischer
Kristallisationspunkt hilfreich sein bei der Orientierung in der Fülle der Aspekte und
Auffassungmöglichkeiten des bildhaften Geschehens des Dramas.
-
Erschwert wird die Verständlichkeit (vor allem in Faust 2) dadurch, daß der Zuschauer
oft einen langen Atem haben muß, bis sich die Textfülle zu einer "Gestalt" formiert.
Ähnlich wie in der Musik das Gewicht der "Gestaltbildung" in manchen Werken mehr
auf dem Einzelton liegt, wie z.B. in einer Bachfuge, in anderen dagegen die meisten
Töne nur eine klanglich-"statistische" Rolle spielen (z.B. bei Rachmaninoff): so
wechseln auch im "Faust" Passagen, in denen es auf jedes Wort ankommt mit
"redseligen" Passagen, wo mit Worten Bilder und Athmosphären erzeugt werden. - Wie
soll z.B. das Keifen eines alten Weibes (Phorkyas) anders als durch einen Wortschwall
auf die Bühne gebracht werden? Und wie soll die Versöhnlichkeit der gleichen alten
Frau anders als durch Redseligkeit dargestellt werden, wenn sie merkt, daß die jungen
Frauen sich für das interessieren, was sie zu sagen hat? Nur wenn man dieses "Bild"
erlebt (was z.B. in der Stein-Aufführung sehr gut vermittelt wird), verliert man nicht die
Orientierung, wenn Phorkyas in minutiöser Ironie den gotischen Baustil beschreibt.
-
An dieser Szene läßt sich anhand der Gestalt der Phorkyas beispielhaft zeigen, wie das
mit den "poetischen Formeln" funktioniert: Der Zuschauer weiß zwar, daß Phorkyas
keine alte Frau ist, sondern daß Mephisto sich diese Larve von den Phorkyaden
entliehen hat, der Zuschauer durchschaut auch die Strategie der Mädchen, die sich der
alten Frau nur anbiedern wollen, weil sie die Macht hat, sie zu retten; an der Oberfläche
erscheint jedoch folgende Gestalt: Eine alte Frau, die offenbar mit den
Herausforderungen der Jugend und des Alterns nicht klargekommen ist und jetzt,
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angestachelt von uneingestandener sexueller Frustration, sich in heftigsten
Schmähreden auf die jungen Frauen ergeht, wird plötzlich wohlwollend gestimmt, als
sie das Interesse der jungen Frauen an ihr wahrnimmt: sie ist plötzlich wichtig für die
Mädchen, die sich um sie scharen und ihr ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Es ist
eine "poetische Formel" dafür, wie Sinn an die Stelle von Sexualität treten kann: die
Alte partizipiert an der Jugend der Jungen, an der "Macht" der Jugend, indem sie
wichtig für sie ist, in dem sie sozusagen zur Hüterin, zur Retterin der jungen Frauen
wird. - Gleichzeitig sehen wir außerdem, wie wir zu dieser "Naturtatsache" des Lebens
in Distanz gehen können, indem wir sie für unsere Zwecke nutzen, denn beide Seiten
spielen sich nur etwas vor, doch jede Seite muß ihren Part überzeugend spielen, wenn
sie eine Chance haben will, daß die andere Seite ihr auf den Leim geht.
Anmerkung 3 : Zusammenhang von Erleben und Denken
Wenn wir etwas erlebt haben, versuchen wir, etwas von dem Gehalt des Erlebnisses mit unserem
Bewußtsein, d.h. mit der Sprache zu erfassen, wir versuchen, die Gefühle, die das Erlebnis
ausgelöst hat, zu artikulieren. So fragen wir uns z.B. was das Erlebte über uns selbst, über andere
Menschen, über Beziehungen zwischen zwei Menschen oder über die Welt sagt. Ein unartikuliertes
Erlebnis oder Gefühl ist für unser Bewußtsein eine black box: Wir wissen nicht, was es uns sagen
will. Wir können davon höchstens sagen, daß wir da irgend etwas gespürt haben. Fühlen und
Denken sind nicht zu trennen.
Anmerkung 4: Erläuterung zu Wittgensteins Sprachphilosophie
Vor Wittgenstein war die gängige Auffassung, daß die Wortbedeutung sich aus ihrer
Bezeichnungsfunktion ergebe, so als ob, wie Wittgenstein ulkte, den Dingen Namenstäfelchen
angeheftet würden. Wittgenstein arbeitete dagegen heraus, daß Sprache und soziale Lebensvollzüge
sich gegenseitig konstituieren, d.h.: Es war für uns nie etwas vor der Sprache, das dann durch die
Sprache nachträglich benannt wurde. Sondern unser Zusammenleben und -arbeiten ist bereits
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entwicklungsgeschichtlich durch unsere Sprachfähigkeit geprägt. Die Wortbedeutungen ergeben
sich deshalb daraus, wofür die Worte in unseren Lebensvollzügen gebraucht werden. Die Sprache
hat mehr mit den historisch sich herausgebildeten menschlichen Wünschen und Bedürfnissen zu tun
sowie den Weisen ihrer Befriedigung und den dazugehörigen Glaubensvorstellungen, als mit der
objektiven Welt. Sprache und Welterkenntnis sind nicht objektiv, sondern "Gepflogenheiten".
Weiterführende Hinweise:
(1) "Parallelgeschichten"
Goethe "erfand" die Technik der "Parallelgeschichten", der sich gegenseitig spiegelnden Gebilde.
Im zweiten Teil des Faust macht er davon systematisch Gebrauch, so sind z.B. die Geschichten von
Homunkulus und Euphorion "Parallelgeschichten" , genauso wie Teile von Mummenschanz und
Klassischer Walpurgisnacht. Goethe folgt hier instinktiv der Arbeitsweise unseres Gehirns: Es filtert
automatisch aus vielen Varianten das Invariante. Je mehr Varianten es erlebt, desto ausgeprägter
wird das "implizite", instinktive Wissen um das Invariante, das Wesentliche. Wer nur einen König
kennt, weiß nicht, was an ihm typisch für Könige ist und was nur typisch für diesen einen König.
Zum Pakt mit dem Teufel:
-
“Onkel Walters Höllenfahrt” – Kurzgeschichte von D. Seefeld
(http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2015/08/album-aus-der-jugend.pdf)
-
“Das Portrait” – Meistererzählung von N.Gogol
-
“Dr. Jekyll und Mr. Hyde” – Meistererzählung von R. Stevenson
-
“Der Flaschenteufel” – Meistererzählung von R. Stevenson (eine der raffiniertesten
Teufelsgeschichten, aber weniger zum Verständnis des Pakts als zum Verständnis von Fausts
Erlösung geeignet)
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Zu Margarete:
-
“Schmetterlinge” – phantastische Geschichte von L. Lehmann
(http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2015/10/psychjatergarn171015.pdf)
Modelle des Unfaustischen:
-
“Die Weltformel” – fiktives Interview von W. Lintzen (http://www.goethesfaust.com/wpcontent/uploads/2015/08/Microsoft-Office-Word-Dokument-neu-2.pdf)
-
“Die Revolte” – phantastische Geschichte von L. Lehmann
(http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2015/10/psychjatergarn171015.pdf)
Zu Homunkulus:
-
“Die Findelkinder” – phantastische Geschichte von L. Lehmann
(http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2015/10/psychjatergarn171015.pdf)
-
“Robotermärchen” - Science-Fiction-Geschichten von St. Lem
Zu Euphorion:
-
“Euphorions Wandlung” – “Fantasie” von D. Seefeld (http://www.goethesfaust.com/wpcontent/uploads/2016/02/fantasien-060216.pdf)
Zur Ethik des Strebens:
-
“Nachrichten über Außerirdische” und “Die optimale Kombination” – ScienceFiction-“Bagatellen” von D. Seefeld (http://www.goethesfaust.com/wpcontent/uploads/2016/02/bagatellen060216.pdf)
Zu Fausts Erlösung:
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-
“Subversion im Himmel” – “Fantasie” von D. Seefeld (http://www.goethesfaust.com/wpcontent/uploads/2016/02/fantasien-060216.pdf
(2) Weitere Szenen-Interpretationen:
Zum Pakt mit dem Teufel:
-
http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/faust_eibl.pdf
Zu Margarete:
-
http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2015/09/faust.pdf
-
http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/faust-margareteundtrauma_fricke.pdf
Zum Helena-Akt:
-
http://www.goethesfaust.com/helenaakt-kommentierende-inhaltsangabe/
Zum Epilog:
-
http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2015/10/Epilog281015.pdf
(3) Zur Philosophie L. Wittgensteins:
-
http://www.goethesfaust.com/wp-content/uploads/2016/02/witt.pdf
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