taz.die tageszeitung

Tschernobyl: Der GAU im Kopf
Wie lebt es sich 30 Jahre nach der Atomkatastrophe? ▶ 4 Seite Beilage der taz.akademie
NEIN
AUSGABE BERLIN | NR. 11003 | 17. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
DIGITALMÜLL Tausen-
de Philippiner säubern
täglich das Internet.
Der Regisseur Moritz
Riesewieck hat bei ihnen
recherchiert ▶ SEITE 13
SARRAZIN Das neue
Buch des Immer-nochSPDlers liest sich wie
das AfD-Grundsatzprogramm ▶ SEITE 14
DIENSTAG, 26. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
VERGEWALTIGUNG Frauenverbände lehnen die geplante Reform des Sexualstrafrechts ab. In einem
offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel fordern sie eine klare „Nein heißt Nein“Regelung im Gesetz. Ohne diese sei das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frauen nicht
geschützt, denn zahlreiche Übergriffe blieben straflos ▶ SEITE 3
BERLIN Schüler finden
kiffen cool, trinken aber
wie ihre Eltern ▶ SEITE 21
Fotos oben: avenue images
VERBOTEN
Guten Tag,
Bodo Ramelow!
Ihnen gehen also bestimmte
Verhaltensweisen von Antifas
gegen den Strich. So sehr, dass
sie nicht nur lauthals schimpfen, „es kotzt mich an, wie
arrogant ihr seid!“ Nein, Sie
lassen sich dabei auch noch filmen. Und twittern Sachen wie:
„Ein Arschloch bleibt ein Arschloch bleibt ein Arschloch.“ Wissen Sie was, Herr Ramelow?
verboten findet solche Verbalausfälle gar nicht gut. Wie soll
man denn über so was Witze
machen? Hier lesen schließlich auch Kinder mit. ver­boten
steht eher auf praktischen
­Antifaschismus. Und fordert
­einen Schutzzaun rund um
Österreich.
Obama liest Europa die Leviten
BLICK VON AUSSEN
Der US-Präsident warnt vor Aufbau neuer Barrieren. Vereintes Europa sei eine große Errungenschaft
HANNOVER dpa/afp/taz | US-
Präsident Barack Obama ruft
die zerstrittenen Europäer eindringlich zur Einigkeit auf und
nimmt sie bei der Krisenbewältigung stärker in die Pflicht.
„Ein vereintes Europa, früher
ein Traum weniger, ist jetzt
eine Hoffnung der vielen und
eine Notwendigkeit für uns alle“,
sagte er bei seinem Deutschlandbesuch am Montag in einer Grundsatzrede in Hannover. Die von einer möglichen
Abspaltung Großbritanniens
und durch heftigen Streit über
die Aufnahme von Flüchtlingen
Obama bei seiner Rede in Hannover Foto: Carolyn Kaster/ap
bedrohte Europäische Union sei
„eine der größten politischen
Errungenschaften der Neuzeit“.
Ein geeintes Europa sei entscheidend für die Weltordnung.
„Ihr seid die Erben eines
Kampfes um die Freiheit“, rief
er den Verbündeten zu. „Das
sind sie, die Europäer: Vereint
in der Vielfalt, gesteuert von
den ­Idealen, die der Welt vorangegangen sind. Sie sind stärker, wenn sie zusammenstehen,
als wenn sie alleine sind.“
Er warnte vor dem Aufbau
neuer Barrieren wegen der
Flüchtlingskrise. Die europäi-
sche Idee müsse gegen EU-Skeptiker verteidigt werden. „Vielleicht braucht man jemanden
von außen, der Sie daran erinnert, was Sie Fantastisches erreicht haben.“
„Es sagt viel aus, wenn ein
amerikanischer Präsident die
Europäer daran erinnern muss,
was sie an einem geeinten Europa haben“, sagte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan
Weil (SPD) nach der Rede. „Aber
er hat ganz und gar recht: Ein
geeintes Europa ist gut für die
ganze Welt.“
▶ Schwerpunkt SEITE 2
TAZ MUSS SEI N
Die tageszeitung wird ermöglicht
durch 15.781 GenossInnen, die
in die Pressevielfalt investieren.
Infos unter [email protected]
oder 030 | 25 90 22 13
Aboservice: 030 | 25 90 25 90
fax 030 | 25 90 26 80
[email protected]
Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90
fax 030 | 251 06 94
[email protected]
Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22
tazShop: 030 | 25 90 21 38
Redaktion: 030 | 259 02-0
fax 030 | 251 51 30, [email protected]
taz.die tageszeitung
Postfach 610229, 10923 Berlin
taz im Internet: www.taz.de
twitter.com/tazgezwitscher
facebook.com/taz.kommune
20617
4 190254 801600
KOMMENTAR VON TOBIAS SCHULZE ÜBER OBAMAS BEKENNTNIS ZU EUROPA
N
Merkel-Lob auch im eigenen Interesse
ach Barack Obamas Abflug bleiben
zwei Bekenntnisse hängen. Erstens:
Obamas Verhältnis zur Kanzlerin
war manchmal distanziert, jetzt gibt er
sich aber als größter Angela-Merkel-Fan
jenseits der Uckermark. „Einmal mehr
möchte ich sagen, wie dankbar wir für
die Partnerschaft mit Angela sind. Vielen Dank, Angela!“, sagte der Präsident
zum Auftakt seiner wohl letzten dienstlichen Deutschlandreise.
Zweitens: Mag sein, dass trotz Euround Fluchtkrise irgendwo auf dem Kontinent noch ein paar überzeugte Europäer ausharren. Der überzeugteste Europäer scheint im Jahr 2016 aber im Weißen
Haus zu residieren. „Die Ideale Europas
erleuchten die Welt“, sagte Obama gestern in seiner Rede auf der Hannover
Messe, dem Höhepunkt seines Besuchs.
Und was steckt dahinter? Tatsächlich
die pure Begeisterung? Oder obendrauf
auch eine gute Portion Eigeninteresse?
Obama hat schließlich mitbekommen,
dass nicht nur zu Hause in den USA ein
gefährlicher Rechtspopulist nach der
Macht greift. Auch in Europa streben
nationalistische Parteien in die Regierungen oder sind bereits dort angekommen. Selbst Deutschland bleibt davon
nicht verschont und muss sich mittlerweile mit der AfD einrichten.
Mit Ausnahme ihrer osteuropäischen
Ableger vereint diese rechten Empor-
kömmlinge eines: Außenpolitisch schielen sie eher in Richtung Moskau als in
Richtung Washington. Hält ihr Aufstieg
an, stehen die transatlantischen Beziehungen vor der größten Krise seit Ende
des Zweiten Weltkriegs. Es liegt also
im ureigenen amerikanischen Interesse, die verbliebenen proeuropäischen
Kräfte und deren Galionsfigur Merkel zu
­stärken.
Der überzeugteste
Europäer scheint zurzeit
im Weißen Haus zu sitzen
Aber reichen schöne Worte dafür
aus? Oder müsste Obama seiner europäischen Freundin nicht ganz praktisch
helfen? Die USA haben zwar zu den aktuellen Fluchtursachen beigetragen, bisher aber nicht einmal 10.000 Flüchtlinge
aus Syrien aufgenommen. Würde Obama
zum Ende seiner Präsidentschaft nachlegen, würde er nennenswerte Kontingente
nach Amerika holen, ließe der Druck
auf Europa nach. Die Rechtspopulisten
könnten dann tatsächlich an Schwung
verlieren. Allein: Innenpolitisch könnte
Oba­ma solch ein Programm, noch dazu
im Wahljahr, nur mit großer Mühe umsetzen. In diesem Punkt vereint ihn mit
Angela Merkel also einiges.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
DI ENSTAG, 26. APRI L 2016
Der US-Präsident
in Hannover
PORTRAIT
Da geht’s lang: Ausgerechnet ein Amerikaner zeigt
den zerstrittenen Europäern, wie wichtig ihre Union ist
Obama beschwört das vereinte Europa
STAATSBESUCH US-Präsident will Einsatz gegen den „Islamischen Staat“ verstärken und ruft Europäer zu höheren
Beyoncé hat ihr neues Album
„Lemonade“ veröffentlicht Foto: ap
Die immer
gewinnt
O
hne Zweifel ist sie eine
der schillerndsten, wenn
nicht die schillerndste
Pop­
sängerin der letzten Dekade. All ihre fünf Soloalben landeten auf Platz 1 der US-Charts:
Beyoncé Knowles-Carter wurde
so zu einer der reichsten Musikerinnen der Welt, die mit einem der reichsten Musiker der
Welt verheiratet ist, dem Rapper Shawn „Jay-Z“ Carter. Allein
2014 soll sie 440 Millionen USDollar verdient haben, ihr Mann
510 Millionen.
Wenn Beyoncé ein neues Album veröffentlicht wie am Wochenende, ist das in erster Linie
Werbung in eigener Sache. Denn
Beyoncé ist ein Unternehmen:
Neben ihren Megatourneen
wirbt sie für Softdrinks, Kosmetik und ihr eigenes Parfum. Ihr
Mann besitzt einen StreamingDienst (bei dem ihr neues Album exklusiv veröffentlicht
wurde), eine Cognac-Marke und
eine Basketballmannschaft. Die
Knowles-Carters sind befreundet mit den Obamas und stehen
an der Spitze einer afroamerikanischen Aufsteiger-Elite.
Beyoncé stammt aus Texas.
Ihr Vater, ein Musikmanager,
drillte die Tochter früh zum Erfolg. Der kam mit der Girlgroup
Destiny’s Child. Als die Band zerbrach, wurde Beyoncé zum Superstar: weil sie immer arbeitet,
kämpft und blendend aussieht.
Beyoncé kennt nur Selbstoptimierung. Die Unabhängigkeit
erlangte sie, als sie 2011 ihren
Vater als Manager feuerte.
Das Image der starken, selbstbestimmten Frau gibt sich Be­
yon­
cé bewusst. In Interviews
spricht sie über Themen wie
Sexismus. Als sie 2014 bei einer
Show auftrat, leuchtete als Bühnenbild „Feminist“ hinter ihr.
Jüngst bekam sie Ärger mit den
US-Polizeigewerkschaften, weil
sie bei ihrem Superbowl-Auftritt
der Black Panther gedachte und
einer ihrer Songs von rechten
Politikern als polizeifeindliche
Ode gedeutet wurde. Im Video
zu ihren neuen Album „Lemonade“ zitiert sie das umstrittene
Black-Power-Idol Malcolm X.
Nur beim Thema Tierrechte
ist Beyoncé indifferent: Schon
2006 erntete sie für ihre Pelzmäntel Kritik. Wie zum Trotz
sieht man sie im „Lemonade“Video erneut im Pelz. Selbst das
deuten ihre Fans als Statement
der Selbstermächtigung – weil
sie sich den Pelz selbst leisten
kann. Wie man es auch dreht
und wendet: Beyoncé gewinnt
STEPHAN SZILLUS
immer. Militärausgaben auf. Die Einheit Europas nennt er „einen der größten politischen Erfolge der Moderne“
AUS HANNOVER ANDREAS WYPUTTA
In einer Grundsatzrede hat USPräsident Barack Obama die
Europäer zur Einigkeit aufgerufen. „Die Vereinigten Staaten
und die ganze Welt brauchen ein
starkes und wohlhabendes und
demokratisches und vereintes
Europa“, sagte Obama am Montag bei seinem Besuch der Hannover Messe.
Ausdrücklich lobte Obama
die Flüchtlingspolitik Angela
Merkels: Die Kanzlerin habe daran erinnert, dass die Menschen
„jetzt hier sind und jetzt unsere
Hilfe brauchen“. Die Aufnahme
der Flüchtlinge etwa aus Syrien
sei nicht nur eine Aufgabe der
Nachbarländer oder einer Nation, sagte der Demokrat mit
Blick auf die Türkei und die Bundesrepublik durchaus selbstkritisch – in diesem Jahr wollen die
USA lediglich 85.000 Flüchtlinge aufnehmen, darunter nur
10.000 Syrer.
Zur Bekämpfung der Fluchtursachen sei aber auch ein verstärktes Vorgehen gegen den
sogenannten Islamischen Staat
nötig: Der IS sei derzeit „die
größte Herausforderung für
unsere Nationen“, so das Staatsoberhaupt. In Hannover kündigte der Präsident dazu die Entsendung 250 weiterer US-Soldaten nach Syrien an. Diese sollen
gegen den IS kämpfende Rebellen beraten und unterstützen.
Mit Blick auf die UkraineKrise verlangte Obama höhere
Rüstungsausgaben: „Europa war
manchmal etwas zu selbstgefällig hinsichtlich der eigenen Verteidigung.“ Zur Abschreckung
Russlands drängen die Amerikaner hinter den Kulissen offenbar auch auf eine stärkere Präsenz der Bundeswehr in Osteuropa. Bundeskanzlerin Angela
Merkel hatte bereits am Sonntag eine Erhöhung des deutschen Verteidigungsetats angekündigt: Die Nato verlangt einen
Beitrag von 2 Prozent des Bruttosozialprodukts; Deutschland
kommt aktuell auf 1,2 Prozent.
„Vielleicht brauchen Sie einen
Außenstehenden, einen Nichteuropäer, der Ihnen sagt, was
Sie in den vergangenen Jahren
alles erreicht haben“, so leitete
Obama seinen flammenden Appell für die Einheit Europas ein.
Der IS ist „die größte
Herausforderung
für unsere Nationen“
BARACK OBAMA
Zwar sorge die Globalisierung
durch Arbeitsplatzverluste, stagnierende Löhne und steigende
Ungleichheit auch in den Industriestaaten für Verunsicherung,
sagte der Präsident vor Studenten. Vielleicht liege es sogar in
der menschlichen Natur, sich in
schwieriger Zeit „auf seinen ei-
genen Stamm, seine eigene Nation“ zurückziehen zu wollen.
Lösungen für das 21. Jahrhundert biete dieser Weg jedoch nicht, warnte Obama in
seiner von amerikanischem
Pathos getragenen, aber dennoch ergreifenden Ansprache
– und erinnerte an den mörderischen Na­tio­nalismus des
20. Jahrhunderts, der auch Hannover in Asche gelegt und allein
hier Zehntausende das Leben
gekostet habe. Die Einheit von
500 Millionen Europäern mit
24 Sprachen sei einer der „größten politischen Erfolge der Moderne“, mahnte das US-Staatsoberhaupt die jungen Leute.
Zuvor hatte der Präsident
bereits in London die Briten
vor dem „Brexit“ genannten
Austritt aus der Europäischen
Union gewarnt. Auf einen eigenen Handelsvertrag mit den
USA könne Großbritannien bis
zu zehn Jahre warten müssen:
Das Land werde sich am „Ende
der Warteschlange“ wiederfinden, warnte Obama in einem
BBC-Interview.
Obamas Stippvisite in der
niedersächsischen
Landeshauptstadt machte deutlich,
wie sehr ihm an einer Stärkung
Merkels gelegen ist. Die Kanzlerin sei „Freundin und Partnerin“, warb der Präsident, der bei
seiner Amtsübernahme eher
den pazifischen Raum im Blick
hatte.
Zur Aufwertung der Christdemokratin diente auch ein Fünfer-Gipfel, der den Abschluss
von Obamas Hannover-Besuch
bildete: Am Nachmittag trafen Präsident und Kanzlerin
im Schloss Herrenhausen auf
Frankreichs Staatspräsidenten
François Hollande, den britischen Premierminister David
Cameron und Italiens Regierungschef Mateo Renzi. Themen
auch hier: die Flüchtlingspolitik,
die Ukraine-Krise, die Lage in Syrien und Libyen.
Eine Wir-gegen-sie-Mentalität darf keine Chance haben
Die Grundsatzrede von US-Präsident Barack Obama auf der Hannover Messe in Auszügen. Obama: „Wir haben
das Glück, in der friedlichsten, wohlhabendsten und fortschrittlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu leben“
IM WORTLAUT
[...] „Wir glauben an die Gleichheit und die Würde jedes einzelnen Menschen. In Amerika hat
heute jeder die Freiheit zu heiraten, wen er will. Wir glauben an
Gerechtigkeit, daran, dass kein
Kind je an einem Mückenstich
sterben sollte, daran, dass niemand vor Hunger Schmerzen
leiden sollte, daran, dass wir
zusammen unseren Planeten
und die verwundbarsten Völker vor den schlimmsten Folgen des Klimawandels bewahren können. [...]
Wir haben das Glück, in der
friedlichsten, wohlhabendsten
und fortschrittlichsten Epoche
der Menschheitsgeschichte zu
leben. [...] Auf der ganzen Welt
sind wir heute toleranter – mit
mehr Chancen für Frauen, für
Schwule und Lesben, und wir
weisen Bigotterie und Vorurteile
zurück. [...] Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wann sie geboren werden wollen, und Sie
wüssten nicht vorher, mit welcher Nationalität, welchem Geschlecht oder welchem wirtschaftlichen Status Sie geboren
würden – Sie würden das Heute
wählen, was nicht heißen soll,
dass es nicht noch enormes Leid
und Tragödien gibt und uns viel
zu tun bleibt. [...]
In all unseren Ländern, auch
in den USA, versuchen noch immer viele Arbeiter und Familien,
sich von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Generationen
zu erholen. Und das Trauma
von Millionen, die ihre Jobs und
ihre Wohnungen und ihr Erspartes verloren haben, ist noch immer zu spüren. Gleichzeitig gibt
es seit Jahrzehnten diese grundlegenden Trends von Globalisierung und Automatisierung,
die in einigen Fällen die Löhne
gedrückt haben und die Position der Arbeiter in Lohnverhandlungen geschwächt haben. Löhne und Gehälter sind
in vielen entwickelten Länder
stehen geblieben, während andere Kosten gestiegen sind. Ungleichheit ist größer geworden.
Ein Selfie mit Präsident: Obama und seine Fans in Hannover Foto: Carolyn Kaster/ap
Und für viele Leute ist das Weiterleben schwerer denn je.
Das ist so in Europa, wir sehen einige dieser Trends in den
USA und überall in den entwickelten Ländern. Und diese Sorgen und Nöte sind real. Sie sind
legitim. Sie dürfen nicht ignoriert werden, und sie verlangen
von jenen an der Macht nach Lösungen.
Wenn wir diese Probleme
nicht lösen, entsteht ein Vakuum, und dann sehen wir jene,
die diese Ängste und Frustrationen destruktiv ausnutzen. Jene
Politik, die zu überwinden das
europäische Projekt einmal gegründet wurde, ist wieder da:
Eine Wir-gegen-sie-Mentalität,
die versucht, unsere Probleme
dem Fremden anzulasten, jemandem, der nicht so aussieht
wie wir und nicht so betet wie
wir – ob nun Migranten oder
Muslime oder wer sonst anders
scheint als wir. [...]
Wir stehen an einem entscheidenden Moment. [...] Wenn
ein vereinigtes, friedliches, liberales, pluralistisches und marktwirtschaftliches Europa an sich
selbst zweifelt, dann stellt es
den in mehreren Jahrzehnten
erreichten Fortschritt infrage.
[...] Stattdessen machen wir jene
stark, die argumentieren, dass
Demokratie nicht funktionieren kann, dass Intoleranz und
völkisches Denken und eine Organisation entlang ethnischer
Trennlinien und Autoritarismus
und Einschränkungen der Pressefreiheit angesichts der heutigen Herausforderungen das Gebot der Stunde seien. [...]
Wenn ein vereinigtes,
friedliches, liberales,
pluralistisches und
marktwirtschaftliches Europa an sich
selbst zweifelt, dann
stellt es den in Jahrzehnten erreichten
Fortschritt infrage
Ja, die europäische Einheit
kann durch ihren Zwang zum
Kompromiss frustrieren. [...]
Ich verstehe, wie einfach es sein
muss, auf Brüssel zu zeigen und
sich zu beklagen. Aber denken
Sie daran, dass jedes einzelne
Mitglied Ihrer Union eine Demokratie ist. Das ist kein Zufall.
Denken Sie daran, dass kein EULand die Waffen gegen ein anderes gerichtet hat. Das ist kein Zufall. Denken Sie daran, dass die
Nato stärker ist denn je. [...]
Europäer, wie Amerikaner,
schätzen ihre Privatsphäre. Und
viele sind skeptisch gegenüber
Regierungen, die Informationen sammeln und teilen – aus
gutem Grund. Die Skepsis ist gesund. [...] Aber ich will auch den
jungen Leuten sagen, die ihre
Privatsphäre wollen und sehr
viel Zeit am Handy verbringen:
Die Bedrohung durch Terrorismus ist real.
Viele Jahre dachte man, dass
sich Länder zwischen Wirtschaftswachstum und sozialem Einschluss entscheiden
müssten. Heute kennen wir die
Wahrheit: Wenn Wohlstand immer mehr auf einige wenige an
der Spitze konzentriert ist, dann
bedeutet das nicht nur eine moralische Herausforderung, sondern es senkt auch das Wachstumspotenzial eines Landes. Wir
brauchen breites Wachstum, von
dem alle etwas haben. Und wir
brauchen eine Steuerpolitik im
Sinne der arbeitenden Familien.
Ich unterstütze die europäische Einheit und den Freihandel und spüre gleichzeitig eine
tiefe Verantwortung dafür,
starke Schutzmechanismen für
Arbeiter zu garantieren – ein
vernünftiges Einkommen, das
Recht, sich zu organisieren, und
ein starkes soziales Sicherheitsnetz und eine Pflicht zu Verbraucher- und Umweltschutz. [...] Wir
müssen viele unserer Volkswirtschaften reformieren. Die Antwort kann nicht darin bestehen,
uns voneinander abzuschotten.
Übersetzung: Bernd Pickert
Schwerpunkt
Sexualstrafrecht
DI ENSTAG, 26. APRI L 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Der Bundestag bespricht am Donnerstag erstmals Heiko Maas’
Vorschlag für eine Verschärfung des Vergewaltigungsparagrafen
VON SIMONE SCHMOLLACK
BERLIN taz | Es ist ein ganz nor-
maler Abend, irgendwann 2012.
Eine Frau, schwanger mit dem
ersten Kind, wird von ihrem
Freund bedrängt: Er will mit ihr
schlafen. Sie will das aber nicht
und sagt ihm das. Auch dass sie
Schmerzen hat, wenn er in sie
eindringt. Das interessiert den
Mann nicht. Er hat Druck, und
der muss weg. Er zieht seine
Freundin vom Sofa, schiebt sie
ins Schlafzimmer und fordert
sie auf, sich auszuziehen.
Widerstandslos folgt die
Frau seinen Anweisungen. Sie
hat Angst – um ihr ungeborenes Baby, um sich selbst. Schon
öfter ist ihr Freund gewalttätig
geworden. Er hat die Schwangere geschubst, mit Gegenständen geschmissen, die Katze gequält. Während er sich jetzt an
der Frau zu schaffen macht, wiederholt sie, immer und immer
wieder, dass sie keinen Sex will.
Doch er lässt nicht von ihr ab –
und sie lässt es widerwillig geschehen.
Was ist das? Ganz klar: eine
Vergewaltigung. So empfindet
das wohl jeder.
Vergewaltigung
ist
in
Deutsch­
land strafbar. Allerdings nicht in jedem Fall. Das
Erlebnis der jungen Frau ist so
einer. Es gehört zu einer Sammlung von 107 exemplarischen
Fällen schwerer sexueller Übergriffe, die der Bundesverband
Frauenberatungsstellen und
Frauennotrufe (bff) gesammelt
hat und bei denen das Verfahren
eingestellt oder der Täter freigesprochen wurde – aufgrund der
aktuellen Rechtslage.
Nach derzeitigem Recht gilt
ungewollter Geschlechtsverkehr nur in drei Konstellationen als Vergewaltigung: Wenn
der Mann ihn mit Gewalt oder
mit bestimmten Drohungen
erzwingt. Oder wenn der Täter eine schutzlose Lage seines
Opfers ausnutzt. Es genügt also
nicht, dass eine Frau eindeutig
Nein sagt.
Das muss sich ändern, sagen Frauenrechtlerinnen. Ein
schlichtes verbales Nein zu ignorieren muss für eine Strafverfolgung ausreichen, fordern sie seit
Jahrzehnten. Jetzt wendet sich
ein Bündnis zahlreicher Frauengruppen und -verbände mit
einem offenem Brief an Kanzlerin Angela Merkel: Die Zeit ist
reif für eine große Reform des
Sexualstrafrechts.
„In einer Reihe von aktuellen Analysen und Gutachten
sind Fallgruppen aufgezeigt,
in denen Frauen klar ‚Nein‘ sagen, der Täter das übergeht und
Sollte eigentlich nicht so schwer zu verstehen sein, oder? Foto: Miguel Lopes
Frauen fordern „echte Reform“
SELBSTBESTIMMUNG Ein Bündnis aus Frauengruppen wendet sich in einem offenen Brief an Angela Merkel: Ihnen
reicht der Vorstoß des Justizministers längst nicht aus. „Nein heißt Nein“ müsse im Gesetz verankert werden
seine sexuellen Übergriffe dennoch straflos bleiben“, heißt es
in dem Brief, der am Dienstag
veröffentlicht werden soll und
der taz vorab vorliegt.
Das Schreiben zielt direkt auf
einen Vorstoß von Justizminister Heiko Maas (SPD), das Sexualstrafrecht zu reformieren. Ein
entsprechender Gesetzentwurf
für eine Neufassung der Paragrafen 177 und 179 im Strafgesetzbuch soll am Donnerstag im
Bundestag zum ersten Mal besprochen werden.
So soll künftig „Grapschen“,
wie es in der Silvesternacht in
Köln rund 400-mal passiert ist,
härter bestraft werden. Bislang
galt das unerlaubte Greifen an
Brust, Hintern und Genitalien
nur als Beleidigung oder sexuelle Nötigung. Auch soll es künftig als Vergewaltigung angesehen werden, wenn der Täter das
Opfer überrascht und sich deshalb gar nicht mehr wehren
kann. Oder wenn es beispielsweise mit K.-o.-Tropfen widerstandsunfähig gemacht wird.
Das reicht dem Bündnis, das
der Deutsche Frauenrat initiiert hat und dem unter anderen der bff, der Juristinnenbund, die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes
und verschiedene Frauenhauskoordinierungen angehören,
Ein schlichtes Nein zu
ignorieren muss für
eine Strafverfolgung
ausreichen, fordern
Frauenrechtlerinnen
seit Jahrzehnten
nicht aus. Im offenen Brief fordern die Aktivistinnen, „sexuelle Straftaten juristisch allumfassend anzuerkennen“, wie
Anja Nordmann, Geschäftsführerin des Frauenrats, es formuliert. Das heißt: Jeder sexuelle
Übergriff, den eine Frau nicht
will, soll verboten und strafrechtlich verfolgt werden. Im
Sexualstrafrecht müssten die
„Schutzlücken“, die es jetzt gibt,
geschlossen werden.
Jedes Jahr zeigen rund 8.000
Frauen eine Vergewaltigung an,
listet das Bundesamt für Justiz
(BfJ) auf. Der bff geht davon aus,
dass das nur etwa 5 bis 15 Prozent aller gewaltsamen sexuellen Übergriffe sind. Die wenigsten würden strafrechtlich
verfolgt, die meisten Verfahren
eingestellt. Laut BfJ werden nur
rund 8 Prozent der angezeigten
Täter verurteilt.
Das frustriert die Opfer. Sie
fühlten sich nicht ausreichend
ernst genommen, weiß Heike
Herold, Geschäftsführerin des
Vereins Frauenkoordinierung in
Berlin: Nicht das Verhalten des
Opfers sollte für die Strafbarkeit
einer sexuellen Handlung entscheidend sein, sondern allein
das Verhalten des Täters. Damit
meint Herold das, was der bff
in seiner Analyse kritisiert: „Täter müssen nur dann mit Strafe
rechnen, wenn sich Opfer ihnen
wehrhaft widersetzen.“
Die geringe Zahl von Verurteilungen entrüstet auch junge
Polizistinnen und Polizisten, in
deren Ausbildung Themen wie
Vergewaltigung und häusliche
Gewalt, die vielfach mit sexueller Gewalt einhergeht, mittlerweile selbstverständlich vorkommen. Die Beamten sichern
Spuren, protokollieren, nehmen
Beweise auf – und erfahren später, dass das alles nicht ausgereicht hat für eine Verurteilung
des Täters.
„Das
widerspricht
dem
Rechts­
empfinden der jungen
Kolleginnen und Kollegen“, sagt
Heike Lütgert, Kriminalhauptkommissarin a. D. Lütgert hat an
der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Bielefeld PolizeianwärterInnen im Bereich
körperlicher und sexueller Gewalt ausgebildet.
Wenn Maas’ Gesetzentwurf
am Donnerstag im Bundestag
besprochen wird, erwarten die
Autorinnen des offenen Briefs
eine „echte Reform des Sexualstrafrechts“, wie Anja Nordmann
vom Frauenrat sagt. Sollte es im
Entwurf kein „Nein heißt Nein“
geben, sollte es „besser kein
neues Gesetz geben als ein mangelhaftes“.
Bundestag ringt um „Nein heißt Nein“
HIN UND HER
Alle bekennen sich zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung – die Koalition hat allerdings Probleme mit der Konsequenz
BERLIN taz | Noch bestehen gute
Chancen, das Prinzip „Nein
heißt Nein“ im Strafgesetzbuch
zu verankern. Bei einer Bundestagsdebatte im März bekannten
sich alle Fraktionen dazu – nur
verstehen sie teilweise etwas anderes darunter.
Eindeutig ist die Position von
Grünen und Linken. Beide Fraktionen haben eigene Gesetzentwürfe eingebracht. Danach sollen sexuelle Handlungen gegen
den erkennbaren Willen des Opfers stets strafbar sein.
Auch die SPD ist für „Nein
heißt Nein“ und einen „lückenlosen Schutz vor sexualisierter
Gewalt, betonte die Abgeordnete
Mechthild Rawert. Zugleich erklärte der rechtspolitische Sprecher der SPD, Johannes Fechner,
der Gesetzentwurf von Justizminister Maas sei „hervorragend“.
Der Minister ist in dieser Debatte die Schwachstelle der SPD.
Nachdem er anfangs gar keine
Lücken im geltenden Gesetz erkennen konnte, betont er nun
schon seit Monaten, „Nein heißt
Nein“ wäre für das deutsche
Strafrecht ein so dramatischer
Paradigmenwechsel, dass eine
entsprechende Änderung in
dieser Wahlperiode nicht mehr
möglich wäre. Er verweist dabei auf eine Expertenkommission, die eine Reform des Sexu-
alstrafrechts vorbereitet, ihren
Bericht aber erst im Herbst vorstellen wird.
Die Vorfälle von Köln
Die CDU – insbesondere ihre
rechtspolitische Sprecherin Elisabeth Winkelmeier-Becker –
hat Maas lange Druck gemacht.
Nach den Vorfällen von Köln hat
der CDU-Parteivorstand sogar
beschlossen: „Für den Straftatbestand muss ein klares ‚Nein‘
des Opfers ausreichen, auch
wenn nicht zugleich der Tatbestand der Gewalt oder Nötigung
vorliegt.“ Das war ein klares Bekenntnis zu „Nein heißt Nein“.
Einen Tag später ließ Fraktions-
vize Thomas Strobl allerdings
via FAZ erklären, das Ganze sei
„nicht wortwörtlich zu nehmen“,
man habe nur eine „griffige Formulierung“ gesucht.
Ähnlich diffus argumentierte
im Bundestag der CSU-Mann
Alexander Hoffmann. Einerseits bekannte er sich zum Prinzip „Nein heißt Nein“. Dann aber
warnte er davor, dass es bei Situationen ohne Zeugen oft zu
Einstellungen und Freisprüchen
kommen könnte. Die Union sei
für eine gesetzliche Regelung,
„die Frauen Mut macht, Anzeige
zu erstatten“ – indem der übergangene Wille allein eben doch
nicht genügen soll.
An einem anderen Punkt
wird es aber wohl sicher noch
zu einer Änderung des Regierungsentwurfs kommen. So soll
das überraschende Begrapschen
von Frauen, etwa an der Brust
oder zwischen den Beinen, strafbar werden.
Bisher gab es hier zwei Probleme. Zum einen gelten Überraschungsakte nicht als sexuelle
Nötigung, weil das Opfer gar keinen entgegenstehenden Willen
äußern konnte. Diese Lücke will
bereits der Regierungsentwurf
schließen. Zum anderen sind
bisher laut Gesetz aber nur sexuelle Handlungen „von einiger
Erheblichkeit“ strafbar.
Hier will die Koalition nun ein
neues Delikt einführen, das vermutlich „tätliche sexuelle Belästigung“ heißen wird. Nach den
bisherigen Diskussionen würde
das Delikt mit Geldstrafe oder
bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden. Zugleich müsste
der Bundestag dann aber auch
die Erheblichkeitsschwelle streichen.
Eine konkrete Formulierung
für die neue Strafvorschrift soll
das Justizministerium erarbeiten, das zu dieser Nachbesserung auch grundsätzlich bereit
ist. Ein entsprechender Entwurf
liegt bisher aber noch nicht vor.
CHRISTIAN RATH