Tschernobyl: Der GAU im Kopf Wie lebt es sich 30 Jahre nach der Atomkatastrophe? ▶ 4 Seite Beilage der taz.akademie NEIN AUSGABE BERLIN | NR. 11003 | 17. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DIGITALMÜLL Tausen- de Philippiner säubern täglich das Internet. Der Regisseur Moritz Riesewieck hat bei ihnen recherchiert ▶ SEITE 13 SARRAZIN Das neue Buch des Immer-nochSPDlers liest sich wie das AfD-Grundsatzprogramm ▶ SEITE 14 DIENSTAG, 26. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND VERGEWALTIGUNG Frauenverbände lehnen die geplante Reform des Sexualstrafrechts ab. In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel fordern sie eine klare „Nein heißt Nein“Regelung im Gesetz. Ohne diese sei das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frauen nicht geschützt, denn zahlreiche Übergriffe blieben straflos ▶ SEITE 3 BERLIN Schüler finden kiffen cool, trinken aber wie ihre Eltern ▶ SEITE 21 Fotos oben: avenue images VERBOTEN Guten Tag, Bodo Ramelow! Ihnen gehen also bestimmte Verhaltensweisen von Antifas gegen den Strich. So sehr, dass sie nicht nur lauthals schimpfen, „es kotzt mich an, wie arrogant ihr seid!“ Nein, Sie lassen sich dabei auch noch filmen. Und twittern Sachen wie: „Ein Arschloch bleibt ein Arschloch bleibt ein Arschloch.“ Wissen Sie was, Herr Ramelow? verboten findet solche Verbalausfälle gar nicht gut. Wie soll man denn über so was Witze machen? Hier lesen schließlich auch Kinder mit. verboten steht eher auf praktischen Antifaschismus. Und fordert einen Schutzzaun rund um Österreich. Obama liest Europa die Leviten BLICK VON AUSSEN Der US-Präsident warnt vor Aufbau neuer Barrieren. Vereintes Europa sei eine große Errungenschaft HANNOVER dpa/afp/taz | US- Präsident Barack Obama ruft die zerstrittenen Europäer eindringlich zur Einigkeit auf und nimmt sie bei der Krisenbewältigung stärker in die Pflicht. „Ein vereintes Europa, früher ein Traum weniger, ist jetzt eine Hoffnung der vielen und eine Notwendigkeit für uns alle“, sagte er bei seinem Deutschlandbesuch am Montag in einer Grundsatzrede in Hannover. Die von einer möglichen Abspaltung Großbritanniens und durch heftigen Streit über die Aufnahme von Flüchtlingen Obama bei seiner Rede in Hannover Foto: Carolyn Kaster/ap bedrohte Europäische Union sei „eine der größten politischen Errungenschaften der Neuzeit“. Ein geeintes Europa sei entscheidend für die Weltordnung. „Ihr seid die Erben eines Kampfes um die Freiheit“, rief er den Verbündeten zu. „Das sind sie, die Europäer: Vereint in der Vielfalt, gesteuert von den Idealen, die der Welt vorangegangen sind. Sie sind stärker, wenn sie zusammenstehen, als wenn sie alleine sind.“ Er warnte vor dem Aufbau neuer Barrieren wegen der Flüchtlingskrise. Die europäi- sche Idee müsse gegen EU-Skeptiker verteidigt werden. „Vielleicht braucht man jemanden von außen, der Sie daran erinnert, was Sie Fantastisches erreicht haben.“ „Es sagt viel aus, wenn ein amerikanischer Präsident die Europäer daran erinnern muss, was sie an einem geeinten Europa haben“, sagte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) nach der Rede. „Aber er hat ganz und gar recht: Ein geeintes Europa ist gut für die ganze Welt.“ ▶ Schwerpunkt SEITE 2 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.781 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 20617 4 190254 801600 KOMMENTAR VON TOBIAS SCHULZE ÜBER OBAMAS BEKENNTNIS ZU EUROPA N Merkel-Lob auch im eigenen Interesse ach Barack Obamas Abflug bleiben zwei Bekenntnisse hängen. Erstens: Obamas Verhältnis zur Kanzlerin war manchmal distanziert, jetzt gibt er sich aber als größter Angela-Merkel-Fan jenseits der Uckermark. „Einmal mehr möchte ich sagen, wie dankbar wir für die Partnerschaft mit Angela sind. Vielen Dank, Angela!“, sagte der Präsident zum Auftakt seiner wohl letzten dienstlichen Deutschlandreise. Zweitens: Mag sein, dass trotz Euround Fluchtkrise irgendwo auf dem Kontinent noch ein paar überzeugte Europäer ausharren. Der überzeugteste Europäer scheint im Jahr 2016 aber im Weißen Haus zu residieren. „Die Ideale Europas erleuchten die Welt“, sagte Obama gestern in seiner Rede auf der Hannover Messe, dem Höhepunkt seines Besuchs. Und was steckt dahinter? Tatsächlich die pure Begeisterung? Oder obendrauf auch eine gute Portion Eigeninteresse? Obama hat schließlich mitbekommen, dass nicht nur zu Hause in den USA ein gefährlicher Rechtspopulist nach der Macht greift. Auch in Europa streben nationalistische Parteien in die Regierungen oder sind bereits dort angekommen. Selbst Deutschland bleibt davon nicht verschont und muss sich mittlerweile mit der AfD einrichten. Mit Ausnahme ihrer osteuropäischen Ableger vereint diese rechten Empor- kömmlinge eines: Außenpolitisch schielen sie eher in Richtung Moskau als in Richtung Washington. Hält ihr Aufstieg an, stehen die transatlantischen Beziehungen vor der größten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es liegt also im ureigenen amerikanischen Interesse, die verbliebenen proeuropäischen Kräfte und deren Galionsfigur Merkel zu stärken. Der überzeugteste Europäer scheint zurzeit im Weißen Haus zu sitzen Aber reichen schöne Worte dafür aus? Oder müsste Obama seiner europäischen Freundin nicht ganz praktisch helfen? Die USA haben zwar zu den aktuellen Fluchtursachen beigetragen, bisher aber nicht einmal 10.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Würde Obama zum Ende seiner Präsidentschaft nachlegen, würde er nennenswerte Kontingente nach Amerika holen, ließe der Druck auf Europa nach. Die Rechtspopulisten könnten dann tatsächlich an Schwung verlieren. Allein: Innenpolitisch könnte Obama solch ein Programm, noch dazu im Wahljahr, nur mit großer Mühe umsetzen. In diesem Punkt vereint ihn mit Angela Merkel also einiges. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DI ENSTAG, 26. APRI L 2016 Der US-Präsident in Hannover PORTRAIT Da geht’s lang: Ausgerechnet ein Amerikaner zeigt den zerstrittenen Europäern, wie wichtig ihre Union ist Obama beschwört das vereinte Europa STAATSBESUCH US-Präsident will Einsatz gegen den „Islamischen Staat“ verstärken und ruft Europäer zu höheren Beyoncé hat ihr neues Album „Lemonade“ veröffentlicht Foto: ap Die immer gewinnt O hne Zweifel ist sie eine der schillerndsten, wenn nicht die schillerndste Pop sängerin der letzten Dekade. All ihre fünf Soloalben landeten auf Platz 1 der US-Charts: Beyoncé Knowles-Carter wurde so zu einer der reichsten Musikerinnen der Welt, die mit einem der reichsten Musiker der Welt verheiratet ist, dem Rapper Shawn „Jay-Z“ Carter. Allein 2014 soll sie 440 Millionen USDollar verdient haben, ihr Mann 510 Millionen. Wenn Beyoncé ein neues Album veröffentlicht wie am Wochenende, ist das in erster Linie Werbung in eigener Sache. Denn Beyoncé ist ein Unternehmen: Neben ihren Megatourneen wirbt sie für Softdrinks, Kosmetik und ihr eigenes Parfum. Ihr Mann besitzt einen StreamingDienst (bei dem ihr neues Album exklusiv veröffentlicht wurde), eine Cognac-Marke und eine Basketballmannschaft. Die Knowles-Carters sind befreundet mit den Obamas und stehen an der Spitze einer afroamerikanischen Aufsteiger-Elite. Beyoncé stammt aus Texas. Ihr Vater, ein Musikmanager, drillte die Tochter früh zum Erfolg. Der kam mit der Girlgroup Destiny’s Child. Als die Band zerbrach, wurde Beyoncé zum Superstar: weil sie immer arbeitet, kämpft und blendend aussieht. Beyoncé kennt nur Selbstoptimierung. Die Unabhängigkeit erlangte sie, als sie 2011 ihren Vater als Manager feuerte. Das Image der starken, selbstbestimmten Frau gibt sich Be yon cé bewusst. In Interviews spricht sie über Themen wie Sexismus. Als sie 2014 bei einer Show auftrat, leuchtete als Bühnenbild „Feminist“ hinter ihr. Jüngst bekam sie Ärger mit den US-Polizeigewerkschaften, weil sie bei ihrem Superbowl-Auftritt der Black Panther gedachte und einer ihrer Songs von rechten Politikern als polizeifeindliche Ode gedeutet wurde. Im Video zu ihren neuen Album „Lemonade“ zitiert sie das umstrittene Black-Power-Idol Malcolm X. Nur beim Thema Tierrechte ist Beyoncé indifferent: Schon 2006 erntete sie für ihre Pelzmäntel Kritik. Wie zum Trotz sieht man sie im „Lemonade“Video erneut im Pelz. Selbst das deuten ihre Fans als Statement der Selbstermächtigung – weil sie sich den Pelz selbst leisten kann. Wie man es auch dreht und wendet: Beyoncé gewinnt STEPHAN SZILLUS immer. Militärausgaben auf. Die Einheit Europas nennt er „einen der größten politischen Erfolge der Moderne“ AUS HANNOVER ANDREAS WYPUTTA In einer Grundsatzrede hat USPräsident Barack Obama die Europäer zur Einigkeit aufgerufen. „Die Vereinigten Staaten und die ganze Welt brauchen ein starkes und wohlhabendes und demokratisches und vereintes Europa“, sagte Obama am Montag bei seinem Besuch der Hannover Messe. Ausdrücklich lobte Obama die Flüchtlingspolitik Angela Merkels: Die Kanzlerin habe daran erinnert, dass die Menschen „jetzt hier sind und jetzt unsere Hilfe brauchen“. Die Aufnahme der Flüchtlinge etwa aus Syrien sei nicht nur eine Aufgabe der Nachbarländer oder einer Nation, sagte der Demokrat mit Blick auf die Türkei und die Bundesrepublik durchaus selbstkritisch – in diesem Jahr wollen die USA lediglich 85.000 Flüchtlinge aufnehmen, darunter nur 10.000 Syrer. Zur Bekämpfung der Fluchtursachen sei aber auch ein verstärktes Vorgehen gegen den sogenannten Islamischen Staat nötig: Der IS sei derzeit „die größte Herausforderung für unsere Nationen“, so das Staatsoberhaupt. In Hannover kündigte der Präsident dazu die Entsendung 250 weiterer US-Soldaten nach Syrien an. Diese sollen gegen den IS kämpfende Rebellen beraten und unterstützen. Mit Blick auf die UkraineKrise verlangte Obama höhere Rüstungsausgaben: „Europa war manchmal etwas zu selbstgefällig hinsichtlich der eigenen Verteidigung.“ Zur Abschreckung Russlands drängen die Amerikaner hinter den Kulissen offenbar auch auf eine stärkere Präsenz der Bundeswehr in Osteuropa. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits am Sonntag eine Erhöhung des deutschen Verteidigungsetats angekündigt: Die Nato verlangt einen Beitrag von 2 Prozent des Bruttosozialprodukts; Deutschland kommt aktuell auf 1,2 Prozent. „Vielleicht brauchen Sie einen Außenstehenden, einen Nichteuropäer, der Ihnen sagt, was Sie in den vergangenen Jahren alles erreicht haben“, so leitete Obama seinen flammenden Appell für die Einheit Europas ein. Der IS ist „die größte Herausforderung für unsere Nationen“ BARACK OBAMA Zwar sorge die Globalisierung durch Arbeitsplatzverluste, stagnierende Löhne und steigende Ungleichheit auch in den Industriestaaten für Verunsicherung, sagte der Präsident vor Studenten. Vielleicht liege es sogar in der menschlichen Natur, sich in schwieriger Zeit „auf seinen ei- genen Stamm, seine eigene Nation“ zurückziehen zu wollen. Lösungen für das 21. Jahrhundert biete dieser Weg jedoch nicht, warnte Obama in seiner von amerikanischem Pathos getragenen, aber dennoch ergreifenden Ansprache – und erinnerte an den mörderischen Nationalismus des 20. Jahrhunderts, der auch Hannover in Asche gelegt und allein hier Zehntausende das Leben gekostet habe. Die Einheit von 500 Millionen Europäern mit 24 Sprachen sei einer der „größten politischen Erfolge der Moderne“, mahnte das US-Staatsoberhaupt die jungen Leute. Zuvor hatte der Präsident bereits in London die Briten vor dem „Brexit“ genannten Austritt aus der Europäischen Union gewarnt. Auf einen eigenen Handelsvertrag mit den USA könne Großbritannien bis zu zehn Jahre warten müssen: Das Land werde sich am „Ende der Warteschlange“ wiederfinden, warnte Obama in einem BBC-Interview. Obamas Stippvisite in der niedersächsischen Landeshauptstadt machte deutlich, wie sehr ihm an einer Stärkung Merkels gelegen ist. Die Kanzlerin sei „Freundin und Partnerin“, warb der Präsident, der bei seiner Amtsübernahme eher den pazifischen Raum im Blick hatte. Zur Aufwertung der Christdemokratin diente auch ein Fünfer-Gipfel, der den Abschluss von Obamas Hannover-Besuch bildete: Am Nachmittag trafen Präsident und Kanzlerin im Schloss Herrenhausen auf Frankreichs Staatspräsidenten François Hollande, den britischen Premierminister David Cameron und Italiens Regierungschef Mateo Renzi. Themen auch hier: die Flüchtlingspolitik, die Ukraine-Krise, die Lage in Syrien und Libyen. Eine Wir-gegen-sie-Mentalität darf keine Chance haben Die Grundsatzrede von US-Präsident Barack Obama auf der Hannover Messe in Auszügen. Obama: „Wir haben das Glück, in der friedlichsten, wohlhabendsten und fortschrittlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu leben“ IM WORTLAUT [...] „Wir glauben an die Gleichheit und die Würde jedes einzelnen Menschen. In Amerika hat heute jeder die Freiheit zu heiraten, wen er will. Wir glauben an Gerechtigkeit, daran, dass kein Kind je an einem Mückenstich sterben sollte, daran, dass niemand vor Hunger Schmerzen leiden sollte, daran, dass wir zusammen unseren Planeten und die verwundbarsten Völker vor den schlimmsten Folgen des Klimawandels bewahren können. [...] Wir haben das Glück, in der friedlichsten, wohlhabendsten und fortschrittlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu leben. [...] Auf der ganzen Welt sind wir heute toleranter – mit mehr Chancen für Frauen, für Schwule und Lesben, und wir weisen Bigotterie und Vorurteile zurück. [...] Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wann sie geboren werden wollen, und Sie wüssten nicht vorher, mit welcher Nationalität, welchem Geschlecht oder welchem wirtschaftlichen Status Sie geboren würden – Sie würden das Heute wählen, was nicht heißen soll, dass es nicht noch enormes Leid und Tragödien gibt und uns viel zu tun bleibt. [...] In all unseren Ländern, auch in den USA, versuchen noch immer viele Arbeiter und Familien, sich von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Generationen zu erholen. Und das Trauma von Millionen, die ihre Jobs und ihre Wohnungen und ihr Erspartes verloren haben, ist noch immer zu spüren. Gleichzeitig gibt es seit Jahrzehnten diese grundlegenden Trends von Globalisierung und Automatisierung, die in einigen Fällen die Löhne gedrückt haben und die Position der Arbeiter in Lohnverhandlungen geschwächt haben. Löhne und Gehälter sind in vielen entwickelten Länder stehen geblieben, während andere Kosten gestiegen sind. Ungleichheit ist größer geworden. Ein Selfie mit Präsident: Obama und seine Fans in Hannover Foto: Carolyn Kaster/ap Und für viele Leute ist das Weiterleben schwerer denn je. Das ist so in Europa, wir sehen einige dieser Trends in den USA und überall in den entwickelten Ländern. Und diese Sorgen und Nöte sind real. Sie sind legitim. Sie dürfen nicht ignoriert werden, und sie verlangen von jenen an der Macht nach Lösungen. Wenn wir diese Probleme nicht lösen, entsteht ein Vakuum, und dann sehen wir jene, die diese Ängste und Frustrationen destruktiv ausnutzen. Jene Politik, die zu überwinden das europäische Projekt einmal gegründet wurde, ist wieder da: Eine Wir-gegen-sie-Mentalität, die versucht, unsere Probleme dem Fremden anzulasten, jemandem, der nicht so aussieht wie wir und nicht so betet wie wir – ob nun Migranten oder Muslime oder wer sonst anders scheint als wir. [...] Wir stehen an einem entscheidenden Moment. [...] Wenn ein vereinigtes, friedliches, liberales, pluralistisches und marktwirtschaftliches Europa an sich selbst zweifelt, dann stellt es den in mehreren Jahrzehnten erreichten Fortschritt infrage. [...] Stattdessen machen wir jene stark, die argumentieren, dass Demokratie nicht funktionieren kann, dass Intoleranz und völkisches Denken und eine Organisation entlang ethnischer Trennlinien und Autoritarismus und Einschränkungen der Pressefreiheit angesichts der heutigen Herausforderungen das Gebot der Stunde seien. [...] Wenn ein vereinigtes, friedliches, liberales, pluralistisches und marktwirtschaftliches Europa an sich selbst zweifelt, dann stellt es den in Jahrzehnten erreichten Fortschritt infrage Ja, die europäische Einheit kann durch ihren Zwang zum Kompromiss frustrieren. [...] Ich verstehe, wie einfach es sein muss, auf Brüssel zu zeigen und sich zu beklagen. Aber denken Sie daran, dass jedes einzelne Mitglied Ihrer Union eine Demokratie ist. Das ist kein Zufall. Denken Sie daran, dass kein EULand die Waffen gegen ein anderes gerichtet hat. Das ist kein Zufall. Denken Sie daran, dass die Nato stärker ist denn je. [...] Europäer, wie Amerikaner, schätzen ihre Privatsphäre. Und viele sind skeptisch gegenüber Regierungen, die Informationen sammeln und teilen – aus gutem Grund. Die Skepsis ist gesund. [...] Aber ich will auch den jungen Leuten sagen, die ihre Privatsphäre wollen und sehr viel Zeit am Handy verbringen: Die Bedrohung durch Terrorismus ist real. Viele Jahre dachte man, dass sich Länder zwischen Wirtschaftswachstum und sozialem Einschluss entscheiden müssten. Heute kennen wir die Wahrheit: Wenn Wohlstand immer mehr auf einige wenige an der Spitze konzentriert ist, dann bedeutet das nicht nur eine moralische Herausforderung, sondern es senkt auch das Wachstumspotenzial eines Landes. Wir brauchen breites Wachstum, von dem alle etwas haben. Und wir brauchen eine Steuerpolitik im Sinne der arbeitenden Familien. Ich unterstütze die europäische Einheit und den Freihandel und spüre gleichzeitig eine tiefe Verantwortung dafür, starke Schutzmechanismen für Arbeiter zu garantieren – ein vernünftiges Einkommen, das Recht, sich zu organisieren, und ein starkes soziales Sicherheitsnetz und eine Pflicht zu Verbraucher- und Umweltschutz. [...] Wir müssen viele unserer Volkswirtschaften reformieren. Die Antwort kann nicht darin bestehen, uns voneinander abzuschotten. Übersetzung: Bernd Pickert Schwerpunkt Sexualstrafrecht DI ENSTAG, 26. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Der Bundestag bespricht am Donnerstag erstmals Heiko Maas’ Vorschlag für eine Verschärfung des Vergewaltigungsparagrafen VON SIMONE SCHMOLLACK BERLIN taz | Es ist ein ganz nor- maler Abend, irgendwann 2012. Eine Frau, schwanger mit dem ersten Kind, wird von ihrem Freund bedrängt: Er will mit ihr schlafen. Sie will das aber nicht und sagt ihm das. Auch dass sie Schmerzen hat, wenn er in sie eindringt. Das interessiert den Mann nicht. Er hat Druck, und der muss weg. Er zieht seine Freundin vom Sofa, schiebt sie ins Schlafzimmer und fordert sie auf, sich auszuziehen. Widerstandslos folgt die Frau seinen Anweisungen. Sie hat Angst – um ihr ungeborenes Baby, um sich selbst. Schon öfter ist ihr Freund gewalttätig geworden. Er hat die Schwangere geschubst, mit Gegenständen geschmissen, die Katze gequält. Während er sich jetzt an der Frau zu schaffen macht, wiederholt sie, immer und immer wieder, dass sie keinen Sex will. Doch er lässt nicht von ihr ab – und sie lässt es widerwillig geschehen. Was ist das? Ganz klar: eine Vergewaltigung. So empfindet das wohl jeder. Vergewaltigung ist in Deutsch land strafbar. Allerdings nicht in jedem Fall. Das Erlebnis der jungen Frau ist so einer. Es gehört zu einer Sammlung von 107 exemplarischen Fällen schwerer sexueller Übergriffe, die der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) gesammelt hat und bei denen das Verfahren eingestellt oder der Täter freigesprochen wurde – aufgrund der aktuellen Rechtslage. Nach derzeitigem Recht gilt ungewollter Geschlechtsverkehr nur in drei Konstellationen als Vergewaltigung: Wenn der Mann ihn mit Gewalt oder mit bestimmten Drohungen erzwingt. Oder wenn der Täter eine schutzlose Lage seines Opfers ausnutzt. Es genügt also nicht, dass eine Frau eindeutig Nein sagt. Das muss sich ändern, sagen Frauenrechtlerinnen. Ein schlichtes verbales Nein zu ignorieren muss für eine Strafverfolgung ausreichen, fordern sie seit Jahrzehnten. Jetzt wendet sich ein Bündnis zahlreicher Frauengruppen und -verbände mit einem offenem Brief an Kanzlerin Angela Merkel: Die Zeit ist reif für eine große Reform des Sexualstrafrechts. „In einer Reihe von aktuellen Analysen und Gutachten sind Fallgruppen aufgezeigt, in denen Frauen klar ‚Nein‘ sagen, der Täter das übergeht und Sollte eigentlich nicht so schwer zu verstehen sein, oder? Foto: Miguel Lopes Frauen fordern „echte Reform“ SELBSTBESTIMMUNG Ein Bündnis aus Frauengruppen wendet sich in einem offenen Brief an Angela Merkel: Ihnen reicht der Vorstoß des Justizministers längst nicht aus. „Nein heißt Nein“ müsse im Gesetz verankert werden seine sexuellen Übergriffe dennoch straflos bleiben“, heißt es in dem Brief, der am Dienstag veröffentlicht werden soll und der taz vorab vorliegt. Das Schreiben zielt direkt auf einen Vorstoß von Justizminister Heiko Maas (SPD), das Sexualstrafrecht zu reformieren. Ein entsprechender Gesetzentwurf für eine Neufassung der Paragrafen 177 und 179 im Strafgesetzbuch soll am Donnerstag im Bundestag zum ersten Mal besprochen werden. So soll künftig „Grapschen“, wie es in der Silvesternacht in Köln rund 400-mal passiert ist, härter bestraft werden. Bislang galt das unerlaubte Greifen an Brust, Hintern und Genitalien nur als Beleidigung oder sexuelle Nötigung. Auch soll es künftig als Vergewaltigung angesehen werden, wenn der Täter das Opfer überrascht und sich deshalb gar nicht mehr wehren kann. Oder wenn es beispielsweise mit K.-o.-Tropfen widerstandsunfähig gemacht wird. Das reicht dem Bündnis, das der Deutsche Frauenrat initiiert hat und dem unter anderen der bff, der Juristinnenbund, die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes und verschiedene Frauenhauskoordinierungen angehören, Ein schlichtes Nein zu ignorieren muss für eine Strafverfolgung ausreichen, fordern Frauenrechtlerinnen seit Jahrzehnten nicht aus. Im offenen Brief fordern die Aktivistinnen, „sexuelle Straftaten juristisch allumfassend anzuerkennen“, wie Anja Nordmann, Geschäftsführerin des Frauenrats, es formuliert. Das heißt: Jeder sexuelle Übergriff, den eine Frau nicht will, soll verboten und strafrechtlich verfolgt werden. Im Sexualstrafrecht müssten die „Schutzlücken“, die es jetzt gibt, geschlossen werden. Jedes Jahr zeigen rund 8.000 Frauen eine Vergewaltigung an, listet das Bundesamt für Justiz (BfJ) auf. Der bff geht davon aus, dass das nur etwa 5 bis 15 Prozent aller gewaltsamen sexuellen Übergriffe sind. Die wenigsten würden strafrechtlich verfolgt, die meisten Verfahren eingestellt. Laut BfJ werden nur rund 8 Prozent der angezeigten Täter verurteilt. Das frustriert die Opfer. Sie fühlten sich nicht ausreichend ernst genommen, weiß Heike Herold, Geschäftsführerin des Vereins Frauenkoordinierung in Berlin: Nicht das Verhalten des Opfers sollte für die Strafbarkeit einer sexuellen Handlung entscheidend sein, sondern allein das Verhalten des Täters. Damit meint Herold das, was der bff in seiner Analyse kritisiert: „Täter müssen nur dann mit Strafe rechnen, wenn sich Opfer ihnen wehrhaft widersetzen.“ Die geringe Zahl von Verurteilungen entrüstet auch junge Polizistinnen und Polizisten, in deren Ausbildung Themen wie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, die vielfach mit sexueller Gewalt einhergeht, mittlerweile selbstverständlich vorkommen. Die Beamten sichern Spuren, protokollieren, nehmen Beweise auf – und erfahren später, dass das alles nicht ausgereicht hat für eine Verurteilung des Täters. „Das widerspricht dem Rechts empfinden der jungen Kolleginnen und Kollegen“, sagt Heike Lütgert, Kriminalhauptkommissarin a. D. Lütgert hat an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Bielefeld PolizeianwärterInnen im Bereich körperlicher und sexueller Gewalt ausgebildet. Wenn Maas’ Gesetzentwurf am Donnerstag im Bundestag besprochen wird, erwarten die Autorinnen des offenen Briefs eine „echte Reform des Sexualstrafrechts“, wie Anja Nordmann vom Frauenrat sagt. Sollte es im Entwurf kein „Nein heißt Nein“ geben, sollte es „besser kein neues Gesetz geben als ein mangelhaftes“. Bundestag ringt um „Nein heißt Nein“ HIN UND HER Alle bekennen sich zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung – die Koalition hat allerdings Probleme mit der Konsequenz BERLIN taz | Noch bestehen gute Chancen, das Prinzip „Nein heißt Nein“ im Strafgesetzbuch zu verankern. Bei einer Bundestagsdebatte im März bekannten sich alle Fraktionen dazu – nur verstehen sie teilweise etwas anderes darunter. Eindeutig ist die Position von Grünen und Linken. Beide Fraktionen haben eigene Gesetzentwürfe eingebracht. Danach sollen sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen des Opfers stets strafbar sein. Auch die SPD ist für „Nein heißt Nein“ und einen „lückenlosen Schutz vor sexualisierter Gewalt, betonte die Abgeordnete Mechthild Rawert. Zugleich erklärte der rechtspolitische Sprecher der SPD, Johannes Fechner, der Gesetzentwurf von Justizminister Maas sei „hervorragend“. Der Minister ist in dieser Debatte die Schwachstelle der SPD. Nachdem er anfangs gar keine Lücken im geltenden Gesetz erkennen konnte, betont er nun schon seit Monaten, „Nein heißt Nein“ wäre für das deutsche Strafrecht ein so dramatischer Paradigmenwechsel, dass eine entsprechende Änderung in dieser Wahlperiode nicht mehr möglich wäre. Er verweist dabei auf eine Expertenkommission, die eine Reform des Sexu- alstrafrechts vorbereitet, ihren Bericht aber erst im Herbst vorstellen wird. Die Vorfälle von Köln Die CDU – insbesondere ihre rechtspolitische Sprecherin Elisabeth Winkelmeier-Becker – hat Maas lange Druck gemacht. Nach den Vorfällen von Köln hat der CDU-Parteivorstand sogar beschlossen: „Für den Straftatbestand muss ein klares ‚Nein‘ des Opfers ausreichen, auch wenn nicht zugleich der Tatbestand der Gewalt oder Nötigung vorliegt.“ Das war ein klares Bekenntnis zu „Nein heißt Nein“. Einen Tag später ließ Fraktions- vize Thomas Strobl allerdings via FAZ erklären, das Ganze sei „nicht wortwörtlich zu nehmen“, man habe nur eine „griffige Formulierung“ gesucht. Ähnlich diffus argumentierte im Bundestag der CSU-Mann Alexander Hoffmann. Einerseits bekannte er sich zum Prinzip „Nein heißt Nein“. Dann aber warnte er davor, dass es bei Situationen ohne Zeugen oft zu Einstellungen und Freisprüchen kommen könnte. Die Union sei für eine gesetzliche Regelung, „die Frauen Mut macht, Anzeige zu erstatten“ – indem der übergangene Wille allein eben doch nicht genügen soll. An einem anderen Punkt wird es aber wohl sicher noch zu einer Änderung des Regierungsentwurfs kommen. So soll das überraschende Begrapschen von Frauen, etwa an der Brust oder zwischen den Beinen, strafbar werden. Bisher gab es hier zwei Probleme. Zum einen gelten Überraschungsakte nicht als sexuelle Nötigung, weil das Opfer gar keinen entgegenstehenden Willen äußern konnte. Diese Lücke will bereits der Regierungsentwurf schließen. Zum anderen sind bisher laut Gesetz aber nur sexuelle Handlungen „von einiger Erheblichkeit“ strafbar. Hier will die Koalition nun ein neues Delikt einführen, das vermutlich „tätliche sexuelle Belästigung“ heißen wird. Nach den bisherigen Diskussionen würde das Delikt mit Geldstrafe oder bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden. Zugleich müsste der Bundestag dann aber auch die Erheblichkeitsschwelle streichen. Eine konkrete Formulierung für die neue Strafvorschrift soll das Justizministerium erarbeiten, das zu dieser Nachbesserung auch grundsätzlich bereit ist. Ein entsprechender Entwurf liegt bisher aber noch nicht vor. CHRISTIAN RATH
© Copyright 2025 ExpyDoc