Orbán bei Kohl: Das wäre doch nicht nötig gewesen Der Besuch des ungarischen Maurermeisters beim Altkanzler in Oggersheim ▶ Seite 14 AUSGABE BERLIN | NR. 10998 | 16. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 20. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Antiterroreinsatz im braunen Untergrund SACHSEN Der Zugriff: Spezialeinheiten der Bundespolizei nehmen fünf mutmaßliche UMZIEHEN Die Kino- „Kommune“ mit Trine Dyrholm – ist so viel Privates noch politisch? ▶ SEITE 16 Mitglieder der rechtsextremen „Gruppe Freital“ fest – wegen Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung, die gewalttätig Flüchtlinge und Linke angreift ▶ SEITE 2 UMDENKEN Was wäre, wenn wir aus Deutschland fliehen müssten? Fragt Marlene Halser und fordert: Macht die Grenzen auf! ▶ SEITE 12 BERLIN Hertha im Pokalfinale: ein Traum ▶ SEITE 21 Fotos oben: dpa Guten Tag, meine Damen und Herren! Der Flüchtlingsaustausch mit der Türkei läuft weiter wie am Schnürchen. Wie verabredet, werden von Europa abgewiesene Bootsflüchtlinge zurück in die Türkei gebracht. Im Gegenzug dürfen von der türkischen Regierung ausgewählte ARDKorrespondenten endlich Unten durch: „In unserer Stadt ist kein Platz für extremistische Straftäter“, sagt Freitals Bürgermeister Uwe Rumberg (CDU) Foto: Sebastian Willnow/imago KOMMENTAR VON GEORG LÖWISCH ÜBER DIE FESTNAHME MUTMASSLICHER RECHTSTERRORISTEN IN FREITAL heim nach Deutschland. TAZ MUSS SEI N 30616 4 190254 801600 Storch legt nach – und empört Zentralrat der Muslime VERBALATTACKEN BERLIN taz/dpa | Die AfD be- kräftigt trotz heftiger Kritik ihren Anti-Islam-Kurs. „Die größte Bedrohung für Demokratie und Freiheit geht heute vom politischen Islam aus“, sagte AfD-Vize Beatrix von Storch der Neuen Osnabrücker Zeitung. Der religionspolitische Sprecher der CDU, Franz Josef Jung, warf der AfD vor, sie begebe sich „geistig auf eine Stufe mit religiösen und politischen Extremisten, zu deren Programm Unfrieden und Chaos gehören“. Der Chef des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, äußerte erneut einen AfD-Nazi-Vergleich: „Ausdrücke der AfD-Oberen, wie ,Der Islam ist ein Fremdkörper‘ erinnern an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte.“ ▶ Schwerpunkt SEITE 3 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 EU vor Libyen VERBOTEN Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.765 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune AfD gegen Islam D Herrn Frank sei Dank ie Demokratie hat einen neuen Frontmann. Es ist der Generalbundesanwalt, Peter Frank, 47, seit einem halben Jahr im Amt. Frank hat am Dienstag die Spezialeinheit GSG 9 nach Sachsen geschickt. Er ließ vier Männer und eine Frau festnehmen und beantragte Haftbefehl wegen Gründung einer rechtsterroristischen Vereinigung, der „Gruppe Freital“. Endlich hat einer verstanden: In Freital agieren nicht besorgte Bürger, sondern besorgte Terroristen. Das Verhältnis von Franks Behörde zur lebendigen, freiheitlichen Demokratie ist keine Erfolgsstory. In den Gründungsjahren verbargen die Männer in Karlsruhe ihre Nazivergangenheit. Später hielt die Behörde RAF-Terror und linke Emanzipationsbewegung nicht auseinander und ermöglichte Polizeieinsätze als Politikersatz. Dass sich die Bundesanwaltschaft in der Demokratie immer noch nicht trittsicher bewegt, sahen wir im Sommer, als Franks Vorgänger wegen Landesverrats gegen Journalisten des Blogs netzpolitik.org ermittelte. Nun erkennt der neue Generalbundesanwalt, wie eine Gruppe, die sich „Bürgerwehr“ nennt, die Demokratie wegsprengen und wegmobben will. Er sieht, dass Terrorismus immer auch eine Kommunikationsstrategie ist. Die Taten sollen über das Opfer hinaus Wirkung entfalten. Terroristen wollen zeigen, dass sie mächtig genug sind, bestimmte, politisch ausgewählte Ziele zu treffen. Dass sie sogar Beifall bekommen. Und dass der Staat schwach ist. Die Tat wird dann zum Fanal, ein Wort, das ursprünglich Fackel bedeutet. Das Verhältnis der Behörde zur lebendigen Demokratie war lange keine Erfolgsstory Die Fackel leuchtete ziemlich grell in Freital. Die Opfer – Flüchtlinge, linke Jugendliche, Politiker – fanden kaum Unterstützung. Im März meldete der Bürgermeister, in Freital herrsche ein friedliches Klima. Sachsens Staatsanwälte ermittelten zwar, bestritten jedoch, dass es sich um eine terroristische Vereinigung handelte. Frank setzt etwas dagegen. Er selbst formulierte kürzlich den Begriff dafür: ein Gegenfanal. Es wirkt. Stunden nach den Festnahmen beeilte sich Freitals Bürgermeister zu erklären, Gefahren für die Demokratie müsse begegnet werden. Sächsische Minister überboten sich mit Hinweisen, die Aktion des Bundesanwalts stehe in einer Reihe mit Ermittlungen der Landesbehörden. Putzig. Man könnte denken, es handle sich doch um eine blöde, braune Dorfposse. Doch Frank sei Dank dominiert nun eine andere Botschaft. Freital liegt nicht irgendwo. Sondern in der Bundesrepublik Deutschland. LUXEMBURG dpa | Nach dem EU-Beschluss zu möglichen Einsätzen im Bürgerkriegsland Libyen hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor zu großen Erwartungen gewarnt: „Grundvoraussetzung für die Ausweitung der MittelmeerMission ist eine Einladung der libyschen Regierung in die territorialen Gewässer.“ Diese liege noch nicht vor. Auch die EU brauche noch Zeit für die Vorbereitungen. Unklar ist beispielsweise, wann die neue libysche Einheitsregierung juristisch handlungsfähig ist. Ziel der EU ist es, die illegale Migration über das Mittelmeer einzudämmen. ▶ Ausland SEITE 10 Zwanziger besiegt Katar DÜSSELDORF dpa | Theo Zwan- ziger durfte Katar als „Krebsgeschwür des Weltfußballs“ bezeichnen. Der frühere DFB-Präsident errang am Dienstag vor dem Düsseldorfer Landgericht einen Sieg im Rechtsstreit mit dem Fußballverband von Katar. Zwar sei die Bezeichnung „Krebsgeschwür“ eine massiv herabwürdigende Beleidigung, Zwanziger habe damit aber die Vergabe der Fußball-WM 2022 an Katar kritisiert. Diese Kritik habe im Vordergrund gestanden, nicht die Diffamierung. Damit sei die Aussage vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt und keine Schmähkritik. ▶ Leibesübungen SEITE 19 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN FLÜCHTLI NGSLAGER AUF GRI ECH ISCH EN I NSELN SACHSEN-AN HALT Asylsuchende dürfen jetzt tagsüber raus Schwarz-rot-grüne Koalition steht ATHEN | Wegen der langsamen Ingo Zamperoni, bald wohl wieder bei den „Tagesthemen“ Foto: NDR Der neue „Erste Moderator“ W as ein Lächeln alles auslösen kann: Es war Halbzeitpause im EM-Halbfinale 2012 zwischen Deutschland und Italien. In der ARD ist das „Tagesthemen“-Zeit. Ingo Zamperoni moderierte und zitierte zum Abschluss den italienischen Dichter Dante: „Das Gesicht verrät die Stimmung des Herzens.“ Deutschland lag zu diesem Zeitpunkt 0:2 zurück. Und Zamperoni, in Wiesbaden geborener Sohn eines Italieners, lächelte. Die Bild nannte den Auftritt „frech“, die ARD-aktuell-Redaktion und Zamperoni selbst wurden mit Kritik und Beschimpfungen überhäuft. Zamperoni blieb – zumindest nach außen – ganz gelassen und kehrt demnächst wohl aus den USA zurück zu den „Tagesthemen“. Wenn zum 30. November der Vertrag von Thomas Roth ausläuft, soll Zamperoni ihn ersetzen. „Erster Moderator“ heißt dieser Posten im ARDSprech. Es gibt immer zwei davon. „Erste Moderatorin“ bleibt Caren Miosga. Zamperoni wäre die offensichtlichste Wahl. Schon 2013, als Tom Buhrow aufhörte, um Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR) zu werden, hätte er in die erste Reihe aufsteigen können. Zamperoni war ja schon Ersatzmoderator der „Tagesthemen“. Doch man entschied sich für Thomas Roth als Buhrow-Nachfolger. Zamperonis Nachteile damals: Er war mit 39 Jahren noch recht jung, einigen vielleicht zu jung, und er kam vom Norddeutschen Rundfunk (NDR). Von den beiden „Tagesthemen“-HauptmoderatorInnen kommt aber klassischerweise immer einer vom WDR und eine vom NDR. Das war bei Ulrich Wickert (WDR) und Sabine Christiansen, Gabi Bauer, Anne Will (alle NDR) so. Das war bei Tom Buhrow (WDR) und Caren Miosga (NDR) so. Aber bei Zamperoni und Miosga war und wäre es nicht so. Also wurde Zamperoni Anfang 2014 in die klassische Warteschleife geschickt: als Korrespondent in die USA. Erst Amerika, dann Anchorman. Auf dass sich in ein paar Jahren WDR und NDR auf ihn einigen könnten. Nun scheint alles geklärt: Zamperoni soll laut Tagesspiegel sowohl der Favorit von WDR-Intendant Buhrow wie auch von NDRBoss Lutz Marmor sein. Und mit 42 Jahren dürfte er Ende dieses Jahres auch alt genug sein für JÜRN KRUSE den Job. Der Tag M IT TWOCH, 20. APRI L 2016 Bearbeitung ihrer Asylanträge dürfen Flüchtlinge auf den griechischen Ägäisinseln die Aufnahmelager jetzt tagsüber verlassen. Dies gelte dann, wenn der Bescheid länger als 25 Tage auf sich warten lasse, sagte der Sprecher des griechischen Stabes für die Flüchtlingskrise, Giorgos Kyritsis, der Athener Zeitung Ethnos. Länger als 25 Tage könne man diese Menschen nicht in den Lagern eingesperrt halten. „Die Asylsuchenden können sich nun frei auf der Insel bewegen und abends wieder in die Aufnahmelager zurückkeh- ren“, sagte Kyritsis. Sie dürfen die Insel aber nicht verlassen. Auf den Inseln befinden sich zurzeit mehr als 7.000 Flüchtlinge. In ihrer Mehrheit haben sie Asyl beantragt, oft vor mehr als 25 Tagen. Von den 2.300 von Griechenland angeforderten Asylexperten hat nach offiziellen Angaben erst etwa die Hälfte die Arbeit aufgenommen. Derweil teilte der griechische Stab für die Flüchtlingskrise in Athen am Dienstag mit, in den vergangenen 24 Stunden seien 150 neue Flüchtlinge aus der Türkei gekommen. Am Montag waren 66 gemeldet worden. (dpa) MAGDEBURG | Die bundesweit erste schwarz-rot-grüne Koalition in Sachsen-Anhalt steht. Die Parteispitzen einigten sich am Dienstagabend endgültig auf den Koalitionsvertrag und die Ressortverteilung. Das teilten die Parteichefs mit. Freitag und Samstag müssen noch Parteitage zustimmen. Am Montag könnte dann Regierungschef Reiner Haseloff (CDU) für weitere fünf Jahre an die Spitze des Landes gewählt werden. Bei der Wahl im März hatte die schwarzrote Koalition ihre Mehrheit verloren. (dpa, taz) DI E TAZ I M N ETZ MISSSTIMMUNG I N POLEN taz.de/twitter Steinmeier kontert Diktaturvorwurf taz.de/facebook WARSCHAU | Im deutsch-pol- nischen Verhältnis halten die Misstöne an. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wies am Dienstag bei seinem Besuch in Warschau den Vorwurf zurück, in Deutschland sei die Demokratie „liquidiert“ worden. Das hatte der polnische Exministerpräsident Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), in einem Interview behauptet. Steinmeier sagte, für die Behauptung, im Bundestag herrsche eine Diktatur, gebe es „keine Grundlage“. (dpa) taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Ermittler machen Ernst RECHTER TERROR Im sächsischen Freital werden fünf Neonazis verhaftet – im Auftrag der Bundesanwaltschaft. Die wirft ihnen wegen Attacken auf Asylunterkünfte rechten Terrorismus und versuchten Mord vor VON KONRAD LITSCHKO BERLIN taz | Die 200 Polizisten, darunter auch GSG9-Spezialeinheiten, kamen im Morgengrauen nach Freital. Wenig später klickten Handschellen: Die Bundesanwaltschaft ließ am Dienstag früh vier Männer und eine Frau in der sächsischen Kleinstadt festnehmen. Ihnen wird vorgeworfen, sich zu einer rechtsterroristischen Gruppe zusammengeschlossen zu haben. „Ziel der Vereinigung war es, Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberunterkünfte sowie Wohnprojekte von politisch Andersdenkenden zu bege- hen“, sagte eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Hinter der Gruppe soll eine frühere, selbst ernannte „Bürgerwehr“ aus Freital stecken. Schon länger hatten die Ermittler die jetzt Festgenommenen im Visier. Bereits im November 2015 waren drei Männer verhaftet worden. Ihnen und den nun Festgenommenen, 18 bis 39 Jahre alt, werden zwei Sprengstoff- Die Linke warf den Ermittlern vor, die Lage anfangs unterschätzt zu haben anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in Freital und ein Anschlag auf das linke Wohnprojekt „Mangelwirtschaft“ in Dresden vorgeworfen. In Dresden sollen die Täter ihre Sprengsätze aus illegaler Pyrotechnik gezielt auf erleuchtete Fenster geworfen haben, einer explodierte in einer Küche. In Freital erlitt ein Flüchtling mehrere Schnittwunden durch Glassplitter einer Fensterscheibe. Die taz hatte jüngst rekonstruiert, wie sich die Gewalt in Freital über Monate hochschaukelte – und die Ermittler dies nicht verhinderten (www.taz. de/Freital). Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ermittelte Freital, Juli 2015: Neonazi am Rande einer Demo gegen Rassismus Foto: Christian Ditsch Peter Frank gegen rechten Terror STAATSSCHUTZ anfangs nur wegen Sprengstoffverstößen, wollte von Terrorismus nicht explizit sprechen. Vor einer Woche dann übernahm die Bundesanwaltschaft den Fall – und greift nun durch. Erst zum zweiten Mal nach dem NSU ermittelt sie wegen Rechtsterrorismus. Die andere Gruppe, die Oldschool Society, steht nächste Woche in München vor Gericht. Den Freitalern wirft die Bundesanwaltschaft vor, sich spätestens im Juli 2015 als Terrorzelle zusammengetan zu haben. Rädelsführer seien der 27-jährige Busfahrer Timo S. und sein Bekannter Patrick F., 24 Jahre. S., der seit Jahren in der rechtsextremen Szene aktiv ist, hatte sich zuletzt zu den Vorwürfen eingelassen. Womöglich gab das die entscheidenden Hinweise für die Bundesanwaltschaft. Schon länger hatte Generalbundesanwalt Peter Frank angekündigt, ein „Gegenfanal“ zur Gewalt gegen Flüchtlinge zu setzen, wenn dies nötig werde. Den Freitalern wirft seine Behörde nun auch versuchten Mord vor. Insgesamt beschlagnahmte die Polizei illegale Pyrotechnik in dreistelliger Zahl. Ob ihr weitere Anschläge zugerechnet werden können, werde noch ermittelt, teilte die Bundesanwaltschaft mit. So gab es auch Anschläge auf ein LinkenBüro und das Auto eines LinkenStadtrats. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach von einem „entscheidenden Schlag gegen eine regionale rechtsterroristische Struktur“. Durch den Zugriff seien weitere mögliche Anschläge verhindert worden. „Dies zeigt, dass der Staat (…) frühzeitig gegen rechtsterroristische Strukturen und Straftäter vorgeht.“ Die Linke warf den Ermittlern dagegen vor, die Lage anfangs „völlig unterschätzt“ zu haben. Nun müsse der „Ermittlungsdruck auch andernorts erhöht werden“, sagte die Innenexpertin Martina Renner. Die Aufklärungsquote bei Angriffen gegen Asylunterkünfte sei „dramatisch gering“. Freitals Bürgermeister Uwe Rumberg (CDU) nannte die Razzien „sehr positiv“: „In unserer Stadt ist kein Platz für extremistische Straftäter.“ Vor wenigen Wochen klang Rumberg noch anders. Da hatte er behauptet, es sei ein „Klischee“, dass es in seiner Stadt eine „nennenswerte Neonazi-Szene“ gebe. THEMA DES TAGES Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen rechte Gewalttäter, wenn diese feste Strukturen haben KARLSRUHE taz | Generalbun- desanwalt Peter Frank ist nicht der „oberste Ankläger der Republik“, auch wenn er oft so genannt wird. Für die Strafverfolgung sind in Deutschland grundsätzlich die Staatsanwaltschaften der Länder zuständig. Das gilt auch für schwerste Straftaten wie Mord und Totschlag. Der Generalbundesanwalt kann nur bei bestimmten Staatsschutzdelikten ermitteln. Manchmal ist er laut Gesetz einfach zuständig, manchmal kann er durch die Übernahme der Ermittlungen aber auch ein Zeichen setzen. Grundsätzlich zuständig ist die Bundesanwaltschaft, wenn es um terroristische Vereinigungen geht, wie jetzt bei der Gruppe Freital. Hier konnte Frank nur deshalb nicht von vornherein ermitteln, weil die sächsischen Staatsanwälte zunächst keine feste Vereinigung erkannten. Auch die im Mai 2015 ausgehobene Gruppe Old School Soci- ety gilt als rechte terroristische Vereinigung. Gegen sie hat die Bundesanwaltschaft im Januar 2016 Anklage erhoben. Am 27. April soll am Oberlandesgericht München der Prozess beginnen. Soweit es nicht um Vereinigungen geht, kann der Generalbundesanwalt die Ermittlung bei politisch motivierten Gewalttaten übernehmen, wenn er eine „besondere Bedeutung“ des Falles sieht. Peter Frank hat inzwischen klargemacht, nach welchen Kriterien er eingrei- fen will: zum einen, wenn es Tote oder Schwerverletzte gab, zum anderen bei pogromartigen Zuständen. Bei Anschlägen auf Asylheime waren diese „roten Linien“ bisher nicht überschritten worden. Frank übernahm aber das Verfahren nach der Messerattacke auf die damalige Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker im Oktober 2015. Der Täter Frank S. habe ein „Klima der Angst“ bei allen Flüchtlingshelfern erzeugen wollen. Vorige Woche hat der Prozess vor dem OLG Düsseldorf begonnen. Der Generalbundesanwalt will von solchen Signalen allerdings nur sparsamen Gebrauch machen. Erstens soll sich die Symbolik nicht abnutzen. Zweitens hat Frank nur begrenzt Personal zur Verfügung. Und schließlich kontrolliert der Bundesgerichtshof relativ streng, dass sich die Bundesanwaltschaft nicht zu sehr in die Zuständigkeiten der Länder einmischt. CHRISTIAN RATH Schwerpunkt AfD M IT TWOCH, 20. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Der Programmentwurf der Rechtspopulisten sorgt auch in der Partei für Streit. Vielen ist er nicht rechts genug Bitte ändern Zum Leitantrag wurden Hunderte Änderungsanträge gestellt. Hier die bemerkenswertesten. ■■Antrag LT17: Rainer Rösl fordert, dass die Bundesrepublik nicht als Staat, das Grundgesetz nicht als Verfassung bezeich net wird. Deutschland sei kein souveräner Staat, sondern eine Verwaltungsorganisation ohne Verfassung. ■■Antrag LT169: Gagel Klaus will eine dezentrale parallele Goldwährung einführen, welche nach dem Austritt aus dem Euro Hauptwährung wird. Sie könnte „Deutsche Goldmark“ heißen. ■■Antrag LT34: Wilko Möller for dert, die Bundespolizei mit BKA und Teilen des Zolls zu fusionie ren. Hinzu sollen das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfassungsschutzämter der Länder kommen. ■■Antrag LT922: Sven Tritschler beantragt die ersatzlose Strei chung der Entwicklungshilfe. ■■Antrag LT324: Ulrich Neymeyr will, dass es im Programm nicht „Familien“, sondern „Familien mit deutscher Staatsangehörig keit“ und nicht „Mehrkindfamili en“, sondern „Mehrkindfamilien mit deutscher Staatsangehörig keit“ heißt. Es gehe schließlich nur darum, dass zu wenig deut sche Kinder geboren werden. Schwerpunkt auf dem rechten Rand: Teilnehmer des AfD-Parteitags in Essen im Sommer 2015 Foto: Christian Thiel Patrioten gegen Konservative PARTEITAG Hunderte von Änderungsanträgen sowie drei komplette Gegenentwürfe zum jetzigen Vorschlag haben die Mitglieder eingebracht. Hinter den Kulissen werden dafür bereits die Mehrheiten organisiert VON SABINE AM ORDE BERLIN taz | Wolfgang Gedeon bringt seine Gedanken gern zu Papier – und unter die Menschen. Der Mediziner, der sich selbst auch als Philosoph versteht, gab 2005 seine Praxis auf, dann schrieb er ein dreibändiges Werk über die „Christlicheuropäische Leitkultur“. Wenig später publizierte der heute 68-Jährige, der während seiner Studentenzeit Maoist war, „Der grüne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten“. Die Titel sind Programm. Als die AfD sich gründete, trat Gedeon bei, er gehört zum rechten Flügel der Partei. Inzwischen sitzt er als Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag. Die Vorlage des Bundesvorstands für ein Grundsatzprogramm, das sich die rechtspopulistische Partei bei ihrem Parteitag am übernächsten Wochenende geben will, hält der Mann vom Bodensee für „nicht geeignet“. Der 74-seitige Entwurf sei einerseits „zu ausführlich und überdetailliert“. Andererseits würden die grundsätzlichen Probleme „nicht klar dargestellt“. Also hat Gedeon einen eigenen Vorschlag eingereicht, 20 Seiten lang. Er beginnt beim griechischen Göttervater Zeus, der die phönizische Königstochter Europa raubt, und endet bei seinem Bild vom Menschen, „ein letztlich zur Göttlichkeit bestimmtes Wesen“. Dazwischen: weniger USA, mehr Russland; weniger Multikulti, mehr deutsche Leitkultur; weniger EU, mehr Deutschland; weniger „Ideologieterror“, mehr Demokratie; weniger Islam, mehr Christentum „und nicht zuletzt: viel mehr Abschiebungen und viel weniger Zuwanderung“. Von der Tendenz dürften dem fast alle in der Partei zustimmen. Gedeons Pamphlet ist einer von drei kompletten Gegenentwürfen zu dem Vorschlag, den die Programmkommission mit dem Segen des Bundesvorstands eingebracht hat. Hinzu kommen Hunderte von Änderungsanträgen, insgesamt sind sie 1.425 Seiten lang. Darunter: Nebensächliches und Abseitiges (siehe rechts), auch einige Versuche, den Entwurf in einzelnen Punkten zu liberalisieren. Die meisten Vorschläge aber wollen das Grundsatzprogramm zuspitzen. Und hinter den Kulissen werden dafür bereits die Mehrheiten organisiert. Im Entwurf der Programmkommission, der unter Federführung der Parteivizes Albrecht Glaser und Beatrix von Storch entstanden ist, heißt es gleich zu Beginn: „Wir sind Liberale und Konservative. Wir sind freie Bürger unseres Landes. Wir sind überzeugte Demokraten.“ Die mehrfach erhobene Forderung: Die Selbstbezeichnung als Liberale und Konservative soll gestrichen werden. Stattdessen soll von „selbstbewussten Pa trioten“ die Rede sein. Einen entsprechenden Änderungsantrag hat Daniel Roi gestellt, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD im Magdeburger Landtag. „Der Flügel“, in dem sich die AfD-Rechten unter der Führung von Thüringens Landeschef Björn Höcke zusammengeschlossen haben, veröffentlicht seit Montag täglich einen aus seiner Sicht unterstützenswerten Änderungsantrag zum Programmentwurf. Der erste Vorschlag: der Antrag von Roi. „Der Flügel“, seit der Abspaltung der Lucke-Anhänger im Sommer 2015 auf dem Vormarsch und durch den Wahlerfolg in Sachsen-Anhalt gestärkt, hat bereits Sympathien für einen zweiten Gegenentwurf bekundet. Der aus Niederbayern sei „eine wohltuend deutliche Positionierung“, die es verdiene, „als ernsthafte Alternative einer jungen aufbrechenden Partei wahrgenommen zu werden“. Die Niederbayern gehen in vielen Punkten über den Entwurf der Programmkommission hinaus. Am deutlichsten ist das beim Umgang mit dem Islam, der nach dem Rückgang der Flüchtlingszahlen wieder das Topthema der AfD werden dürfte. Dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, ist Konsens in der Partei. Die Programmkommission will Minarette und Muezzin- Der Gegenentwurf aus Niederbayern erklärt sogar den Islam als solchen für verfassungsfeindlich rufe verbieten und verfassungsfeindlichen Vereinen den Bau und Betrieb von Moscheen untersagen. Gebetshäuser sollen nicht mehr mit Geld aus dem Ausland gebaut oder finanziert werden dürfen. Das wäre das Aus für Ditib, den größten Moscheeverein in Deutschland. Die Imame des Vereins werden aus der Türkei entsandt und vom türkischen Staat bezahlt. Der Entwurf will Vollverschleierung verbieten und nicht nur Lehrerinnen und Dozentinnen, sondern auch Schülerinnen und Studentinnen das Kopftuch untersagen. Die Niederbayern gehen weiter: Sie erklären den Islam als solchen für verfassungsfeindlich und wollen deshalb den Bau und Betrieb von Moscheen generell verbieten. Das wäre ein schwerer Eingriff in die grundgesetzlich verbriefte Religionsfreiheit – und ist damit verfassungsfeindlich. Sie wollen zudem das Schächten von Tieren und die Beschneidung von Jungen ohne medizinische Indikation verbieten, was auch die jüdischen Riten betreffen würde. Zahlreiche Einzelanträge unterstützen diese Vorschläge. Öffentlich stellt sich ihnen bislang keiner aus der Bundesspitze entgegen. Im Gegenteil: Am Wochenende haben von Storch und ihr MitParteivize Alexander Gauland die Diskussion weiter angeheizt. Heftig umkämpft ist die sozialpolitische Ausrichtung der AfD. So heftig, dass die Sozialund Rentenpolitik im Entwurf der Programmkommission kaum, Gesundheitspolitik gar nicht vorkommen. Der Bundesvorstand will die Diskussion vertagen. Die ursprüngliche Forderung, das Arbeitslosengeld I zu privatisieren, ist im Entwurf gestrichen. Der Mindestlohn aber soll erhalten bleiben. Die Änderungsanträge gehen kreuz und quer. Da wollen manche Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wieder einführen, andere Hartz IV auf sechs Monate begrenzen und die biometischen Daten der Empfänger zentral erfassen. Es gibt Forderungen, das Renteneintrittsalter wieder zu senken und eine Mindestrente einzuführen, die private Krankenversicherung abzuschaffen und eine Bürgerversicherung sowie eine Bundeskrankenkasse einzuführen. Nimmt man die An- zahl der Anträge als Indiz, dürfte es der wirtschaftsliberale Flügel schwer haben, sich in der Sozialpolitik durchzusetzen. Umstritten ist – neben vielem anderen – auch die Außenpolitik. Grundsätzlich gilt: Mehr Nähe zu Russland, mehr Abstand zu den USA. Aber wie weit soll das gehen? Im Programmentwurf heißt es, die Mitgliedschaft in der Nato entspreche den Interessen Deutschlands, wenn sie sich auf ihre Aufgabe als Verteidigungsbündnis beschränke. Änderungsanträge wollen wahlweise Russland in die Nato aufnehmen, mit dem Nato-Austritt drohen oder ihn gleich vollziehen. Wie der Parteitag ausgeht, gilt als völlig offen. In die Stuttgarter Messe kommen keine Delegierten, sondern einfache AfD-Mitglieder, die Bundesgeschäftsstelle geht von 2.000 Teilnehmern aus. Jedes Mitglied, das sich anmeldet, kann mitreden und abstimmen. Deshalb ist der Veranstaltungsort wichtig – in Stuttgart kommen andere Mitglieder als in Magdeburg oder Bremen. Baden-Württemberg ist kein dezidiert rechter Landesverband, Landeschef Jörg Meuthen, der gemeinsam mit Frauke Petry auch Bundesvorsitzender ist, gilt sogar als wirtschaftsliberales Aushängeschild. Doch in Baden-Württemberg sind auch die Patriotische Plattform, der rechte Rand der AfD, und der Pforzheimer Kreis stark, in dem sich die radikalen Christen in der AfD zusammengeschlossen haben. Hinter vorgehaltener Hand hört man im Bundesvorstand, dass man froh sei, wenn der Entwurf der Programmkommission als Grundlage für die weitere Diskussion angenommen wird. ■■Antrag LT58: Klaus Blanck fordert: „Die AfD bekennt sich zur Institution der eingetragenen Lebenspartnerschaft.“ ■■Antrag LT944: Sven Tritschler fordert: „Die Vermittlung deut scher Geschichte in den Schulen ist wichtiger Bestandteil zu einem gesunden Nationalstolz.“ ■■Antrag LT419: Maximilian Dachauer: „Dialektkunde als Wahlfächer in Schulen anzu bieten, halten wir für einen sinnvollen Ansatz.“ ■■Antrag LT684: Gottfried Curio: „Textliche Bezeichnungen von Geschäften (Ladenschilder) erfolgen auf deutsch (gemeint sind nicht Namen, etwa von Restaurants).“ ■■Antrag LT440: Wolfgang Wieh le möchte die Worte „Kohlen dioxid ist kein Schadstoff“ durch „Kohlendioxid ist nicht nur ein Schadstoff“ ersetzen. ■■Antrag LTSO17: Anne Zielisch fordert „eine Volksabstimmung, ob Deutschland ein Einwande rungsland sein soll oder nicht“. ■■Antrag LT820: Frank Nicolai Oroszy findet, dass beim Projekt „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ die Schüler nicht durch Einträge in öffentliche Listen entscheiden dürfen, ob sich ihre Schule dem Projekt an schließt. Abstimmungen müssen künftig allgemein, frei, geheim und gleich durchgeführt werden. In Schulen, die sich dem Projekt bereits angeschlossen haben, „ist das Projekt durch eine allgemei ne, freie, geheime und gleiche Abstimmung zu ratifizieren“. ■■Antrag LT444: Gunnar Dietz will den Straftatbestand der Volksverhetzung abschaffen. Auch offensichtliche falsche oder dumme Meinungsäußerungen müssten ohne Angst vor staatli cher Verfolgung erlaubt sein.
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