Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie Herausgeberinnen und Herausgeber: Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster; Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Heidelberg Verantwortliche Herausgeber: Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster Redakteur: Dipl.-Psych. Kay Niebank (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Hartwigstr. 2c, D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected] Gegründet von A. Dührssen und W. Schwidder Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl, M. Müller-Küppers, W. Schwidder, I. Seiffge-Krenke, F. Specht, A. Streeck-Fischer Manuskripteinsendungen werden an die Redaktion erbeten. Hinweise zur Manuskriptgestaltung bei der Redaktion oder unter www.v-r.de. Eingesandte Manuskripte werden von unabhängigen Gutachtern vor ihrer Annahme beurteilt (referee-Verfahren). Mit der Annahme des Manuskriptes und seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift erhält der Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für alle Sprachen und Länder. Für die Rücksendung unverlangter Rezensionsexemplare keine Gewähr. Es besteht die Möglichkeit, dass ein Beitrag als Open-Access-Publikation erscheint. Hierfür ist eine Gebühr in Höhe von 500 € zzgl. MwSt. zu entrichten. Open-Access-Publikationen sind mit diesem Symbol gekennzeichnet: Produkthaftung: Autoren und Verlag haben sich um größtmögliche Genauigkeit bemüht. Dennoch kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernommen werden. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint zehnmal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 800 Seiten. Der Bezugspreis beträgt jährlich € 84,–/86,40 (A)/sFr 105,–. Inst.-Preis: € 199,–/204,60 (A)/sFr 243,–. Einzelheft € 16,–/16,50 (A)/sFr 21,90. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich um ein Jahr, wenn keine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Übersetzungen, Nachdruck, Vervielfältigungen, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; E-Mail: [email protected], Tel.: 07071/9353-16 (für Bestellungen und Abonnementverwaltung). Verantwortlich für die Anzeigen: Ulrike Vockenberg, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. ONLINE unter www.v-r.de Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Die Zeitschrift wird regelmäßig von den Literaturdatenbanken DIMDI, ETHMED, Psyc-INFO und PSYNDEX und den Referatediensten „Current Contents“ (SSCI), „Psychological Abstracts“ und „Psychologischer Index“ ausgewertet. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225 ipabo_66.249.78.20 Inhalt Übersichtsarbeiten / Review Articles Veronika Brezinka Computerspiele in der Psychotherapie – neue Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . 82 New Developments in Video Games for Psychotherapy Miriam Rassenhofer, Jörg M. Fegert, Paul L. Plener und Andreas Witt Validierte Verfahren zur psychologischen Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge – eine systematische Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Validated Instruments for the Psychological Assessment of Unaccompanied Refugee Minors – a Systematic Review Originalarbeiten / Original Articles Andrea Lanfranchi Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen zu sonderpädagogischen Maßnahmen: Schulpsychologen weniger diskriminierend als Lehrkräfte . . . . . . 113 Referring Children who have Difficulties at School to Schools for Children with Special Needs: School Psychologists are Less Discriminating than Teaching Staff Kai Brüggemann Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften bei Kindern in einer Erziehungsberatungsstelle aus Elternsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Symptom Severity and the Role of Friendship in Children at a Child Guidance Center from Parents’ Point of View Autoren und Autorinnen / Authors 143 | Neuere Testverfahren / Test Reviews 144 Buchbesprechungen / Book Reviews 155 | Tagungskalender / Congress Dates 157 Aus dem Inhalt des nächsten Heftes / Preview of the next Issue 159 Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 81 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 ÜBERSICHTSARBEITEN Computerspiele in der Psychotherapie – neue Entwicklungen Veronika Brezinka1 Summary New Developments in Video Games for Psychotherapy A literature survey on new developments in the area of video games and psychotherapy of children and adolescents was conducted. Despite the omnipresence of computers and the internet, development of therapeutic games seems rather slow. The video game Treasure Hunt was introduced in 2008 to support treatment of children with internalizing and externalizing disorders. Camp Cope-A-Lot was developed for treatment of anxious children, whereas the self-help game SPARX is directed at depressed adolescents. Rage-Control is a biofeedback game for children with anger problems. The game Zoo U aims to assess and train social skills of primary school children. Ricky and the Spider for young children with obsessive compulsive disorder is meant to support the cognitive-behavioural treatment of these patients. ClashBack is a French game for adolescents with externalizing problems. Possible reasons for the relatively slow development of therapeutic games are the high methodological demands concerning an evaluation as well as the high costs of game development. Nonetheless, computers and the internet are bound to influence psychotherapy with children and adolescents in the long run. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 82-96 Keywords video games – child and adolescent therapy – therapeutic games – mental health games 1 Die Autorin dankt der Universität Zürich, dem Technologie-Transfer-Fonds UNITECTRA und dem Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Vorstand: bis 2008 Prof. Hans-Christoph Steinhausen, seit 2008 Prof. Susanne Walitza) für die großzügige und weitsichtige Möglichkeit, die beiden therapeutischen Computerspiele Schatzsuche und Ricky und die Spinne entwickeln und über die Universität vertreiben zu dürfen. Dies fördert eine zurückhaltende, wissenschaftlichen Standards entsprechende Kommunikation und Verbreitung der beiden Spiele und trägt damit bei zum wissenschaftlichen Fortschritt auf dem Gebiet therapeutischer Computerspiele. Schatzsuche wurde entwickelt mit finanzieller Unterstützung durch das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie den Technologie-TransferFonds UNITECTRA der Universität Zürich. Ricky und die Spinne wurde entwickelt mit finanzieller Unterstützung durch das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 82 – 96 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 ipabo_66.249.78.20 Computerspiele in der Psychotherapie 83 Zusammenfassung Auf Basis einer Literaturrecherche wurde eine Übersicht zu neueren Entwicklungen im Bereich therapeutischer Computerspiele erstellt. Obwohl die Verbreitung von Computern und Internet in den letzten Jahren rasant zugenommen hat, verläuft die Entwicklung therapeutischer Computerspiele eher langsam. Für den deutschen Sprachraum wurde 2008 das Spiel Schatzsuche entwickelt. Im englischen Sprachraum gibt es inzwischen das Spiel Camp Cope-A-Lot für ängstliche Kinder sowie das Selbsthilfespiel SPARX für depressive Jugendliche. Rage-Control ist ein Biofeedback-Spiel für Kinder mit Ärger-Problemen. Zoo U wurde für Kinder mit geringen sozialen Fertigkeiten entwickelt und soll soziale Fertigkeiten nicht nur verlässlich einschätzen, sondern auch trainieren. Ricky und die Spinne soll die verhaltenstherapeutische Behandlung von Kindern mit einer Zwangserkrankung unterstützen. Für französische Jugendliche mit externalisierenden Problemen wurde die Spielserie Clash-Back entwickelt. Abgesehen von Schatzsuche und Ricky und die Spinne stehen die genannten Spiele nicht auf Deutsch zur Verfügung. Mögliche Gründe für die eher zögerliche Entwicklung therapeutischer Computerspiele könnten einerseits in den hohen methodischen Anforderungen an deren Evaluation und andererseits in den hohen Kosten liegen. Da Computer und Internet aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken sind, ist dennoch zu erwarten, dass auch die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen davon nachhaltig beeinflusst werden wird. Schlagwörter Computerspiel – Therapiespiel – Kinder – Psychotherapie 1 Hintergrund In den letzten Jahren hat die Verbreitung von Internet und Computer weltweit rasant zugenommen. So zeigt die JIM-Studie (2013), dass 1998 nur 5 % der deutschen Jugendlichen das Internet täglich nutzten, im Gegensatz zu 89 % im Jahr 2013. Tägliches Computerspielen – sei es am Spielcomputer, auf dem iPad der Eltern oder dem eigenen Smartphone – ist inzwischen für Kleinkinder, Schulkinder und Jugendliche normal. Für Teenager spielt zudem die Teilnahme an sozialen Medien eine wichtige Rolle. Dies macht den Umgang mit Medien zu einer vorrangigen Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche (Hinze, 2014). Die Verbreitung und tägliche Nutzung von Computerspielen beschränkt sich aber nicht auf Kinder und Jugendliche. Nur 18 % der regelmäßigen Computerspieler sind unter 18, etwa 30 % über 50 Jahre alt (Bavelier u. Davidson, 2013). Die Computerspielindustrie setzt pro Jahr 25 Milliarden USD um; im Jahr 2010 wurden 257 Millionen Computerspiele verkauft (Hotz, 2012). Die Spieler von World of Warcraft, einem der beliebtesten Online-Computerspiele, haben damit umgerechnet seit 2004 insgesamt 50 Milliarden Stunden oder 5.9 Millionen Jahre verbracht; das Spiel Call of Duty: Black Ops wurde allein im ersten Monat umgerechnet 68.000 Jahre lang gespielt (Hotz, 2012). 84 V. Brezinka Angesichts des enormen zeitlichen und finanziellen Aufwands, der mit der Nutzung, aber auch der Entwicklung kommerzieller Computerspiele einhergeht, erstaunt es nicht, dass sich die Forschung inzwischen mit den Folgen dieser für Menschen relativ neuen Tätigkeit auseinandersetzt. Dabei interessiert naturgemäß vor allem die Frage, ob und was die Nutzer von kommerziellen Computerspielen lernen. Ein Erklärungsmodell, das in diesem Zusammenhang häufig herangezogen wird, ist das General Learning Model (GLM) von Buckley u. Anderson (2006). Es beschreibt, wie persönliche und situative Faktoren sich wechselseitig beeinflussen und so bestimmte Arten des Lernens durch Computerspiele fördern oder einschränken. Persönlichkeitsvariablen (Alter, Geschlecht, Begabung, sozio-ökonomischer Status, Selbstkonzept, Mediengewohnheiten etc.) und situative Faktoren (Genre des Spiels, Inhalte des Spiels, Belohnungen im Spiel, Häufigkeit des Spielens etc.) interagieren miteinander und beeinflussen, was und in welchem Ausmaß ein Spieler von Computerspielen lernt. Nach dem General Learning Model beeinflussen die situativen Faktoren oder Eigenschaften eines Spiels die Gedanken, Gefühle und physiologische Erregung des Spielers. So kann eine zu hohe körperliche Erregung die Fähigkeit einschränken, nachzudenken und neue Informationen aufzunehmen; eine zu geringe Erregung kann zu einem Mangel an Motivation und passivem statt aktivem Lernen führen. Feindselige Gedanken und Gefühle wie Wut oder Ärger beeinflussen ihrerseits, welche Wissensinhalte der Spieler aus seinem Gedächtnis abrufen und anwenden kann. Es gilt mittlerweile als eindeutig belegt, dass häufiges Spielen von Gewaltspielen zu einer Zunahme von aggressiven Gedanken, Gefühlen und physiologischer Erregung führt sowie die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens erhöht (Anderson, 2004; Anderson, Shibuya, Ihori, 2010; Gentile et al., 2014). Andere Forscher untersuchen gezielt mögliche positive Auswirkungen von kommerziellen Computerspielen. So konnte gezeigt werden, dass junge Chirurgen, die früher häufig Computer gespielt hatten, in der Laparoskopie geschickter und schneller sind als ihre älteren Kollegen (Rosser et al., 2007). In Studien an Erwachsenen verbesserte regelmäßiges Spielen von gewalttätigen Computerspielen wie Unreal Tournament oder Call of Duty die Aufmerksamkeitsleistung und das räumliche Vorstellungsvermögen (Bavelier, Newport, Hall, Supalla, Boutla, 2006; Feng, Spence, Pratt, 2007; Spence u. Feng, 2010). Zudem scheint häufiges Spielen solcher Action Games die visuelle Ablenkbarkeit zu verringern (Mishra, Zinni, Bavelier, Hillyard, 2011) und in einer Studie sogar die Leseleistung von Kindern mit Dyslexie signifikant zu verbessern (Franceschini et al., 2013). Diese Befunde haben Forscher wie Daphne Bavelier dazu veranlasst, unter dem Schlagwort „Games to do you good“ (Bavelier u. Davidson, 2013) eine Lanze dafür zu brechen, dass die Computerspielindustrie in Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern sogenannte Smart Games entwickeln soll, die neben dem Unterhaltungseffekt spielerisch zu besseren Leistungen unseres Gehirns führen. Für Gesellschaften mit einer alternden Bevölkerung ist diese Voraussicht naturgemäß von Interesse. Aufgrund der bisherigen Publikationen (Bavelier et al., 2011; Bavelier, Green, Pouget, Schrater, 2012) ist es jedoch nicht einfach, die Relevanz der berichteten Verbesserungen einzuschätzen. So führten Bavelier und Kollegen ihre Studien aus- ipabo_66.249.78.20 Computerspiele in der Psychotherapie 85 schließlich an Erwachsenen durch, die den Auftrag hatten, täglich über fünf bis acht Wochen eine Stunde lang (und nicht länger!) ein bestimmtes Action Game zu spielen. Ob diese begrenzte zeitliche Exposition z. B. ebenfalls zu einer Zunahme von aggressiven Gedanken oder Gefühlen führte, war nicht Gegenstand der Untersuchungen. Bisher fehlen Studien, in denen sowohl negative als auch positive Effekte kommerzieller Computerspiele untersucht wurden (Barlett, Anderson, Swing, 2009). 2 Serious Games und Lernspiele Die raffinierten Simulationsmöglichkeiten der modernen Computergrafik sind ursprünglich, wie das Internet überhaupt, ein Produkt militärischer Entwicklungen. Die Möglichkeit, gefährliche Umgebungen im Computer zu simulieren und Soldaten damit besser auf ihre Einsätze vorzubereiten, hat dazu geführt, dass Simulationen innerhalb des militärischen Sektors immer weiter perfektioniert wurden (Buckley u. Anderson, 2006). Die neuen Techniken werden nicht nur in zahlreichen kommerziellen Computerspielen eingesetzt, sondern auch in sogenannten Serious Games im Bereich von Bildung und Unterricht (Prensky, 2001): Hier kann mittlerweile von einem Prozess der „Gamification in Education“ gesprochen werden, wobei Computerspiele als wichtiges oder sogar notwendiges Element im Rahmen einer Ausbildung, eines Trainings oder eines Studiums betrachtet werden (Gentile u. Gentile, 2008). So werden Simulationsspiele zunehmend in der Ausbildung von Medizinstudenten eingesetzt, wie das niederländische Spiel abcde-SIM, in dem der Spieler auf einer Akutstation den Gesundheitszustand schwerkranker Patienten möglichst rasch einschätzen muss. Die Buchstaben verweisen auf die Reihenfolge bei Erste-Hilfe-Maßnahmen (airways, breathing, circulation, disability, exposure), und der Zeitdruck im Spiel entspricht dem Zeitdruck auf der Station. Das Spiel gewann im November 2014 einen Innovationspreis und soll demnächst auch in anderen Sprachen erscheinen; außer der URL sind bis jetzt keine Publikationen verfügbar (www.abcdesim.nl/international). Im Spiel Air Medic Sky 1, das ebenfalls für Medizinstudenten entwickelt wurde, geht es um den Einfluss von Kommunikation und Teamwork auf die Patientensicherheit; der Spieler trägt Elektroden an den Fingern und erhält dadurch Rückmeldung über seine eigene Anspannung, während er simulierte Situationen auf einem medizinischen Raumschiff lösen muss (www.airmedicsky1.org). Auch zu diesem Spiel konnten keine Publikationen ausfindig gemacht werden. Ebenfalls in den Niederlanden wurden drei Serious Games für Chirurgen entwickelt, um zu überprüfen, ob diese als Trainingsmethode effektiv sind (Graafland et al., 2014). Inwieweit medizinische Simulationsspiele sich tatsächlich als wirkungsvoller erweisen werden als traditioneller Studentenunterricht, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. In der Beschreibung der oben genannten Spiele kommt vor allem das Argument der Kostenersparnis zum Tragen. Nach einer teuren Entwicklungsphase können Computerspiele tatsächlich kostengünstig eingesetzt werden – vorausgesetzt, sie erreichen die gleichen Ziele wie her- 86 V. Brezinka kömmlicher Unterricht. Wie andernorts ausgeführt, müssen die zum Teil fantastisch anmutenden Versprechungen des „neuen Lernens“ jedoch noch eingelöst werden (Brezinka, 2009a). Ähnliche Entwicklungen wie für Medizinstudenten gibt es inzwischen für Lehrpersonen von Schülern oder Studenten, die als sogenannte „Gatekeeper“ oder Schlüsselpersonen darin geschult werden sollen, suizidgefährdete Schüler und Studenten möglichst schnell zu erkennen. Das Gatekeeper-Training „at-risk“ der amerikanischen Firma Kognito (www.kognito.com) wurde zur Verbesserung der Suizidprävention entwickelt. Der Nutzer schlüpft in die Rolle eines Professors und soll im simulierten Dialog mit fünf Studenten diejenigen mit psychischen Problemen erkennen und an eine Beratungsstelle überweisen. Wegen des großen Erfolgs in den USA wurde inzwischen auch ein Training für Mittelschullehrer entwickelt. Soweit bekannt existieren die Trainings von Kognito nur auf Englisch. 3 Computerspiele für die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen Das Potenzial therapeutischer Computerspiele für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen wurde bereits vor Jahren erkannt (Griffiths, 2003). Sie könnten einerseits Kinder und Jugendliche motivieren und andererseits den Therapeuten bei der Planung, Strukturierung und Durchführung der Behandlung unterstützen (Ceranoglu, 2010). Inzwischen steht für die Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen eine Reihe von Computerspielen zur Verfügung. Da ihr jeweiliger Einsatzbereich unterschiedlich ist, werden sie hier nach Erscheinungsjahr referiert. 3.1 Schatzsuche Schatzsuche wurde erstmals vor sieben Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (Brezinka, 2008); es war damals auch international das erste Computerspiel, welches für die verhaltenstherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen entwickelt wurde. Schatzsuche ist auf lerntheoretischen Grundlagen aufgebaut und richtet sich an acht- bis dreizehnjährige Kinder, die wegen unterschiedlicher Indikationen in verhaltenstherapeutischer Behandlung sind. Das Drehbuch von Schatzsuche wurde bewusst nicht nur in Anlehnung an Therapieprogramme für ängstliche bzw. depressive Kinder (Barrett, Lowry-Webster,Turner, 2000; Kendall, 1990; Stallard, 2003), sondern auch für Kinder mit aggressivem Verhalten (Nelson u. Finch, 1996) entwickelt. Der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten ist für Kinder mit externalisierendem Verhalten nämlich ebenso relevant wie für Kinder mit internalisierenden Störungen (Brezinka, 2009b). Auch für sie ist das Konzept der wenig hilfreichen bzw. hilfreichen Gedanken von Bedeutung, da sie anderen oft vorschnell feindselige Absichten unterstellen und damit ihre eige- ipabo_66.249.78.20 Computerspiele in der Psychotherapie 87 ne aggressive Reaktion rechtfertigen (Dodge u. Newman, 1981; Dodge u. Rabiner, 2004). Das Spiel ist daher sowohl für internalisierende als auch externalisierende Störungen indiziert. Schatzsuche ist kein Selbsthilfespiel, sondern ein Fachinstrument, das Verhaltenstherapeuten in ihrer Arbeit mit acht- bis zwölfjährigen Kindern unterstützen soll. Es soll nur in der Therapiesitzung und unter Begleitung des Therapeuten gespielt werden. Die Erarbeitung der verhaltenstherapeutischen Konzepte, die dem Spiel zugrunde liegen, erfolgt in erster Linie durch den Therapeuten unter Verwendung „traditioneller“ therapeutischer Methoden wie Rollenspiele, Zeichnungen und Gespräche, wodurch ihm in der Behandlung weiterhin die Schlüsselrolle zukommt (Brezinka, 2009b). Schatzsuche wird von der Universität Zürich mit einem neuartigen Lizenzmodell vertrieben. Fachleute – approbierte (Kinder- und Jugend-)Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychiater – können sich auf www.treasurehunt.uzh.ch anmelden. Dabei müssen sie versichern, dass sie das Spiel nur im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung oder Ausbildung verwenden sowie keine Kopien an Dritte weitergeben werden. Nach der Akkreditierung – die immer durch die Autorin persönlich erfolgt – kann Schatzsuche kostenfrei heruntergeladen werden. Im Gegenzug wird um Spenden gebeten, um die Webseite und den Support finanzieren zu können. Das Spiel wird nur an Fachleute und nicht an Eltern, Lehrer oder andere interessierte Berufsgruppen abgegeben. Diese zurückhaltende Verbreitung hat zu über sechshundert abgelehnten Anträgen geführt. Andererseits gelang es dadurch, überhöhte Erwartungen von Laien an die Wirkung eines therapeutischen Computerspiels zu dämpfen und Schatzsuche als therapeutisches Fachinstrument zu etablieren (Brezinka, 2009a). Inzwischen bewerben sich fast ausschließlich qualifizierte Personen um den Zugang. Schatzsuche steht seit 2008 auf Deutsch, Englisch und Niederländisch zur Verfügung. Eine griechische Version, die vom Griechischen Institut für Verhaltenstherapie der Universität Athen in Kooperation mit der Universität Zürich entwickelt wurde, gibt es seit 2011. Der Einsatz und die Verbreitung der griechischen Version werden in zwei noch laufenden Dissertationen untersucht, weshalb diesbezüglich hier keine Angaben gemacht werden können. Die übrigen Sprachversionen von Schatzsuche wurden bisher von über 2.700 Fachleuten aus 45 Ländern heruntergeladen. Noch immer werden wöchentlich Akkreditierungsanträge gestellt, was darauf schließen lässt, dass Schatzsuche sich auch sieben Jahre nach seiner Einführung weiterhin regen Interesses erfreut. Für ein Computerspiel, das mit einem winzigen Budget von 25.000 CHF (damals 17.000 Euro) und sehr einfachen technischen Mitteln entwickelt wurde, ist das eine erfreuliche Bilanz. Schatzsuche wurde bisher nicht in einer randomisierten, kontrollierten Studie mit traditioneller Psychotherapie verglichen. Es gibt jedoch eine erste Evaluation an 200 Kindern und deren Therapeuten. Darin äußerte sich die übergroße Mehrheit der Kinder (97.5 %) zufrieden damit, dass ihr Therapeut das Spiel in der Behandlung eingesetzt hatte. Die beteiligten 41 Therapeuten beurteilten Schatzsuche als hilfreich bei der Erklärung wichtiger verhaltenstherapeutischer Konzepte, zur Verstärkung des Kindes sowie zur Erhöhung der Therapiemotivation (Brezinka, 2011). 88 3.2 V. Brezinka Camp Cope-A-Lot Philip Kendall, der Autor des bekannten VT-Manuals Coping Cat für ängstliche Kinder, und Muniya Khanna haben eine computerunterstützte Version dieses Programms entwickelt: Camp Cope-A-Lot (CCAL). CCAL besteht aus 12 Leveln von jeweils 35 Minuten Dauer. Die ersten sechs Level werden vom Kind allein gespielt, während es für die restlichen sechs die Unterstützung des Therapeuten (im Spiel Coach genannt) braucht, da es um Expositionsübungen in angstauslösenden Situationen geht. Mit CCAL sollte ein Therapieangebot entwickelt werden, das eine standardisierte Form kognitiver Verhaltenstherapie ermöglicht, ohne dass der Coach ein ausgebildeter Verhaltenstherapeut sein muss. Ziel ist, Kosten zu sparen und gleichzeitig die Integrität des Therapieangebots zu sichern (Khanna u. Kendall, 2010). In einer randomisierten klinischen Studie wurden 49 sieben- bis dreizehnjährige Kinder mit einer Angststörung zufällig einer von drei Bedingungen zugewiesen: 16 erhielten das computerunterstützte Programm CCAL, 17 eine individuelle verhaltenstherapeutische Behandlung und 16 eine Placebo-Behandlung, in der die Kinder allgemeine psychologische Unterstützung erhielten und altersadäquate kommerzielle Computerspiele spielen durften. Die 16 teilnehmenden Therapeuten hatten keine spezifische Erfahrung mit Verhaltenstherapie; einige hatten das Therapiemanual Coping Cat gelesen, aber nicht damit gearbeitet. Sie wurden randomisiert der individuellen Verhaltenstherapie-Bedingung oder dem CCAL zugeordnet; alle Therapeuten gaben auch die Placebo-Behandlung. Nach zwölf Sitzungen hatten 70 % (n = 12) der Teilnehmer der individuellen VT-Behandlung sowie 81 % (n = 13) des CCAL keine Angststörung mehr, während dies nur für 19 % (n = 3) der Placebo-Behandlung galt. Diese Fortschritte waren auch nach drei Monaten noch nachweisbar. Die Zufriedenheit der Kinder war bei der individuellen VT-Bedingung sowie bei CCAL signifikant höher als bei der Placebo-Bedingung. Es gab keine signifikanten Unterschiede in den Effekten von individueller VT und CCAL, was als Hinweis dafür aufgefasst werden kann, dass es durchaus möglich ist, mit einem computerbasierten Programm und wenigen verhaltenstherapeutischen Kenntnissen gute Verhaltenstherapie zu geben. 3.3 SPARX – ein Computerspiel für Kinder und Jugendliche mit Depression Das aus Neuseeland stammende SPARX wurde als Selbsthilfespiel für depressive Jugendliche entwickelt und mit einer randomisierten, kontrollierten Studie auf seine Gleichwertigkeit mit anderen Behandlungen (dem sogenannten treatment as usual) überprüft (Merry et al., 2012). SPARX ist ein Abenteuer-Spiel, in dem der Spieler auf sieben Leveln Aufgaben lösen muss. Ähnlich wie in Schatzsuche sind in SPARX verschiedene Konzepte der kognitiven Verhaltenstherapie integriert wie z. B. dasjenige der negativen automatischen Gedanken, aber auch Atemtechniken, Progressive Muskelentspannung und sozial-kognitives Problemlösen. Das Spiel wurde an 187 Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren untersucht, die unter depressiven Sym- ipabo_66.249.78.20 Computerspiele in der Psychotherapie 89 ptomen litten. Von diesen spielten 94 während vier bis sieben Wochen SPARX, 93 erhielten eine Standardbehandlung, die allerdings sehr variabel war: sie konnte von einem Hausarzt, Schulsozialarbeiter oder Psychologen durchgeführt werden. Die Zuordnung zu den beiden Behandlungsformen erfolgte randomisiert. Als Behandlungserfolg wurde ein Rückgang von 30 % oder mehr auf der Children’s Depression Rating Scale definiert. Zu Therapieende und nach einem Follow-up von drei Monaten zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen, das heißt, das Computerspiel SPARX war der üblichen Behandlung nicht unterlegen. Interessanterweise war die Zufriedenheit der Jugendlichen mit SPARX niedriger (86 %) als mit der Standardbehandlung (96 %). Ob der Einsatz eines therapeutischen Computerspiels gerade bei Depressionen wirklich eine Alternative zu einer herkömmlichen Behandlung ist, scheint aus ethischen Gründen zumindest fragwürdig. Zwar wurden alle Jugendlichen zuerst von einem Kliniker auf Depression, Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten eingeschätzt und die Teilnahme an SPARX war nur unter gewissen Bedingungen möglich (milde bis mäßige Depression, keine Suizidalität, kein selbstverletzendes Verhalten, keine andere psychiatrische Diagnose, keine Antidepressiva, keine VT-Behandlung in der Vergangenheit). Dies schränkte den Kreis der geeigneten Jugendlichen naturgemäß ein. Wie sogenannte adverse events, also plötzliche Stimmungsverschlechterungen, Suizidgedanken oder Suizidversuche erfasst wurden, geht aus der Studie nicht hervor. Die wichtige Frage, ob es innerhalb des Spiels Handlungsanweisungen gibt, was ein Jugendlicher bei stärker werdenden Suizidgedanken tun soll und ob z. B. alle teilnehmenden Jugendlichen im Besitz einer Notfallnummer waren und zu Beginn der Behandlung zugesagt hatten, sich dort zu melden, wird nicht angesprochen. Als Vorteile des Spiels nennen die Autoren die niedrigeren Kosten (wobei die Entwicklungskosten von SPARX leider nicht angegeben werden), die einfachere Verbreitung und die fehlende Stigmatisierung. Bezüglich des letzten Punkts kann man sich fragen, ob die (angebliche) Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen durch eine Therapie nicht erst recht aufrecht erhalten oder herbei geredet wird, indem man damit argumentiert, man könne diese vermeiden (siehe hierzu auch die Ausführungen zum Spiel Mindlight in Abschnitt 3.8). SPARX gewann 2011 und 2013 internationale Auszeichnungen und wird inzwischen von der Firma Linked Wellness vertrieben. Soweit bekannt steht es nur in englischer Sprache zur Verfügung. 3.4 Rage-Control – ein Computerspiel für Kinder mit Aggressions- und Ärgerproblemen An der Harvard Medical School in Boston wurde das Biofeedbackspiel Rage-Control entwickelt, mit dessen Hilfe Kinder lernen sollen, ihre physiologische Erregung besser zu regulieren. Die Spielmechanik basiert auf dem Spiel Space Invaders aus dem Jahr 1978; zusätzlich wurde ein Pulsmesser eingebaut, der dem Spieler Feedback über seinen Erregungszustand liefert. Das Kind steuert ein Raumschiff und feuert 90 V. Brezinka auf feindliche, aber nicht auf befreundete Raumschiffe; erreicht sein Puls während des Spiels einen zu hohen Wert, verliert sein Raumschiff die Feuerkraft. Dahinter steht die Hypothese, dass ein Spieler, der lernt, in Angriffssituationen ruhig zu bleiben, größere emotionale Kontrolle erwirbt, was für Kinder mit Aggressions- und Wutproblemen von Bedeutung ist. Ähnlich wie Schatzsuche ist Rage-Control nicht als Selbsthilfespiel konzipiert, sondern Teil eines verhaltenstherapeutischen ÄrgerKontroll-Trainings; die behandelten Kinder erhalten pro Sitzung jeweils 30 bis 45 Minuten Verhaltenstherapie und üben anschließend 15 Minuten ihre Selbstregulation mithilfe des Computerspiels, wobei ihr Puls auf einem Bildschirm abgebildet wird. In einer Pilotstudie an 18 Kindern, die wegen externalisierendem Verhalten stationär aufgenommen waren, zeigten diese nach dem Training mit Rage-Control signifikant niedrigere Ärger-Werte als davor (Ducharme et al., 2012). 3.5 Ricky und die Spinne für Kinder mit einer Zwangserkrankung Seit 2012 gibt es das verhaltenstherapeutische Computerspiel Ricky und die Spinne, das von der Autorin an der Spezialsprechstunde für Zwangsstörungen des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich entwickelt wurde (www. rickyandthespider.uzh.ch). Das Spiel soll Psychotherapeuten in ihrer Arbeit mit zwangserkrankten Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren unterstützen. Zwangsstörungen nehmen ohne Behandlung häufig einen ungünstigen Verlauf. Als wirksamste Therapien gelten kognitive Verhaltenstherapie und Medikation. Allerdings fehlt es häufig an Verhaltenstherapeuten, die Zwangserkrankungen behandeln. Gerade für jüngere Kinder gibt es zudem wenig therapeutisches Material (Freeman et al., 2007). Ricky und die Spinne integriert die wichtigsten Behandlungselemente des verhaltenstherapeutischen Ansatzes und bietet eine ansprechende und kindgerechte Metapher, mit deren Hilfe die Zwangserkrankung, ihre Folgen und ihre Behandlung besser verstanden werden können. Dies soll betroffene Kinder ermutigen, sich dem Zwang zu widersetzen und Therapeuten bei der Behandlung kindlicher Zwangserkrankungen unterstützen. Zudem soll das Spiel einen Beitrag zur „dissemination“ leisten, also zur Verbreitung evidenzbasierter Behandlungsmethoden über die Universität hinaus. Wie Schatzsuche ist auch Ricky und die Spinne kein Selbsthilfespiel. Die Entwicklungskosten betrugen 50.000 CHF (zum damaligen Zeitpunkt etwa 40.000 Euro). Im Gegensatz zu Schatzsuche wird Ricky und die Spinne nicht kostenlos zur Verfügung gestellt, sondern muss käuflich erworben werden. Da nicht einmal 5 % der Nutzer von Schatzsuche auch eine Spende entrichtet haben, war es nicht möglich, ein zweites Spiel umsonst zur Verfügung zu stellen. Eine erste Evaluation von Ricky und die Spinne an 18 zwangserkrankten Kindern zeigte, dass alle Kinder das Spiel schätzten und angaben, ihre Zwänge hätten sich durch die Behandlung stark gebessert; die Therapeuten ihrerseits beurteilten Ricky und die Spinne als wertvolle Unterstützung bei der Behandlung von Zwangserkrankungen (Brezinka, 2013). ipabo_66.249.78.20 Computerspiele in der Psychotherapie 91 3.6 Zoo U für Kinder mit mangelnden sozialen Fertigkeiten Ebenfalls seit 2012 steht auf Englisch das Spiel Zoo U zur Verfügung (DeRosier, Craig, Sanchez, 2012). Es hat den Anspruch, die sozialen Fertigkeiten eines Kindes nicht nur zu messen, sondern auch zu verbessern. Soziale Fertigkeiten haben einen wesentlichen Einfluss auf eine günstige Entwicklung; Kinder mit aggressivem Verhalten, aber auch ängstlich-unsichere Kinder leiden oft unter mangelnden sozialen Fertigkeiten. Ein Computerspiel, das Kinder diesbezüglich unterstützen könnte, hat daher großes Potenzial. Zoo U spielt in einer Schule, an der auch Tiere am Unterricht teilnehmen; es gibt sechs Szenen, in denen die sozialen Fertigkeiten Emotionsregulation, Impulskontrolle, Kommunikation, Empathie, Zusammenarbeit und Initiative eingeschätzt werden. Die Spielmechanik ist so konstruiert, dass das Spielverhalten des Kindes registriert und gespeichert wird; so wird z. B. die Anzahl der impulsiven, nicht zielführenden Mausklicks berechnet, ebenso wie die Zeit, die das Kind mit zielgerichteter Konfliktlösung oder Ablenkungsmanövern verbringt. Diese Daten werden zu einem Gesamtwert berechnet und verglichen mit der Einschätzung der sozialen Fertigkeiten durch den Lehrer (basierend auf verschiedenen Fragebögen). Eltern und Lehrer haben Zugang zu den Spieldaten des Kindes. Die Spieldaten sollen auch bei Entscheidungen bezüglich sozialer Interventionen in der Schule helfen, sowie Kinder mit fehlenden sozialen Fertigkeiten rechtzeitig identifizieren, um sie in den Genuss bestimmter Fördermaßnahmen kommen zu lassen. Der Zugang zu den Spieldaten des Klienten kann für die Beurteilung von Fortschritten in einer Therapie in der Tat hilfreich sein (s. a. Annema, Verstraete, Abeele, Desmet, Geerts, 2012). Allerdings sollte dabei auch der ethische Aspekt einer Weitergabe von Daten thematisiert werden, wie z. B. die Frage, ob Kindern klar ist, dass Eltern und Lehrer Zugang zu ihren Spieldaten haben. Wissenschaftlich gesehen erscheint es zudem keinesfalls selbstverständlich, dass ein Kind, das nach einigen Spieldurchgängen gelernt hat, im Computerspiel eine sozial erwünschte Antwort zu geben, allein dadurch imstande ist, sich auch in konkreten sozialen Situationen anders zu verhalten als bisher. Genau dies, der Transfer des in der Therapie Gelernten in den Alltag, ist ja eine der größten Herausforderungen in der Psychotherapie. Es wäre schön, wenn dies einfach per Computerspiel gelöst werden könnte, aber wissenschaftlich erwiesen ist es nicht. 3.7 Clash-Back für Jugendliche mit externalisierenden Problemen Der französische Psychiater François Pommereau hat 2014 mit der Firma Interactive Situations die Spielserie Clash-Back für Jugendliche entwickelt (www.clash-back.com). In verschiedenen Szenen kommt es zu einer Konfrontation (Clash) eines Jugendlichen mit einem Erwachsenen; der Spieler kann dabei in unterschiedliche Rollen schlüpfen, gewisses Verhalten ausprobieren und dessen Effekt beobachten (Clash) sowie sein Verhalten in einem neuen Durchgang ändern (Back). Am Ende der Situation kann der Spieler sein Verhalten anhand der fünf Dimensionen Ehrlichkeit, Impulsivität, Anpas- 92 V. Brezinka sungsfähigkeit, Gefühlsausdruck und Situationsverständnis einschätzen. Zudem wird jede Situation unter dem Titel „en savoir plus“ von einem Avatar von Dr. Pommereau kommentiert. Die Serie wurde nicht nur als therapeutisches Spiel für Fachleute entwickelt, sondern auch als Mittel für Eltern, Lehrer und Erzieher, um mit schwierigen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Es gibt Lizenzen für Laien und Professionelle; für Professionelle besteht auch die Möglichkeit, die Spieldaten von Jugendlichen in einer gesicherten Datenwolke abzulegen. Leider konnten außer Presseberichten bisher keine Publikationen ausfindig gemacht werden. Soweit bekannt steht Clash-Back, das sehr ansprechend gemacht ist, bisher nur auf Französisch zur Verfügung. 3.8 Mindlight – ein Computerspiel für ängstliche Kinder Zuletzt soll das niederländische Selbsthilfespiel Mindlight besprochen werden, das acht- bis zwölfjährigen Kindern helfen soll, ihre Ängste zu überwinden. Im Spiel wird der kleine Arthur von seinen Eltern vor einem unheimlichen, dunklen Haus zurückgelassen; er findet eine Kopfbedeckung, Teru, die um so mehr zu leuchten beginnt, je entspannter Arthur ist. Mit Hilfe von Teru lernt Arthur, sich auch in angstauslösenden Situationen zu entspannen bzw. seine Aufmerksamkeit gezielt auf weniger bedrohliche Inhalte zu lenken. Der Spieler trägt eine Neurofeedbackhaube; je besser es ihm gelingt, sich zu entspannen, desto mehr Licht hat er zur Verfügung um die verschiedenen Räume des alten Hauses auszukundschaften. Mindlight wurde von einer kommerziellen Firma entwickelt (es gibt keine Angaben zum Budget) und wird derzeit an der Universität Nijmegen (Lehrstuhl Prof. Isabela Granic) auf seine Wirksamkeit hin überprüft. In den bisher nur auf Internet verfügbaren Beschreibungen wird es als eine Mischung aus intense fun + science + clinical techniques bezeichnet (www.gainplaystudio.com/mindlight). Ähnlich wie bei SPARX (Merry et al., 2012) wird das Potenzial eines Selbsthilfespiels damit begründet, dass es weniger stigmatisierend sei als die Behandlung bei einem Therapeuten; auch die hohen Prävalenzzahlen kindlicher Angststörungen werden als Argument für die Entwicklung eines Selbsthilfespiels angeführt. Im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Studie, aus der zwei Doktorarbeiten entstehen sollen, wird die Wirksamkeit des Spiels an 140 ängstlichen Primarschulkindern untersucht, die entweder Mindlight oder ein anderes Computerspiel spielen (www.trialregister.nl/trialreg/admin/ rctview.asp?TC=4366). Etwa zeitgleich soll Mindlight auch in zwei randomisierten, kontrollierten Studien an der Queen’s University in Kanada untersucht werden (www.queensu.ca/gazette/stories/mind-over-matter). 4 Fazit und Ausblick Eine Literatursuche zu therapeutischen Computerspielen ergab, dass es international eine Reihe therapeutischer Computerspiele für Kinder und Jugendliche gibt. Für ipabo_66.249.78.20 Computerspiele in der Psychotherapie 93 Kinder mit Ängsten steht neben Schatzsuche (Brezinka, 2007) zumindest auf Englisch auch das Spiel Camp Cope-A-Lot zur Verfügung (Khanna u. Kendall, 2010). Für depressive Jugendliche gibt es – auf Englisch – das Spiel SPARX (Merry et al., 2012), und für Jugendliche mit externalisierendem Verhalten seit kurzem auf Französisch das Spiel Clash-Back (www.clash-back.com). Für Kinder mit Aggressions- und Ärgerproblemen wurde das Spiel Rage-Control (Ducharme et al., 2012) entwickelt, und für Kinder mit mangelnden sozialen Fertigkeiten gibt es mit Zoo U ein Spiel, das soziale Fertigkeiten nicht nur einschätzen, sondern nach Angabe der Autoren auch verbessern kann (DeRosier et al., 2012). Zudem hat die Autorin in der Zwischenzeit das Spiel Ricky und die Spinne für Kinder mit einer Zwangserkrankung entwickelt (Brezinka, 2013). Das niederländisch/englische Spiel Mindlight für ängstliche Kinder ist noch in Entwicklung. Abgesehen von Schatzsuche und Ricky und die Spinne ist keines der genannten Therapiespiele auf Deutsch erhältlich. Damit verläuft die Entwicklung therapeutischer Computerspiele vor allem im deutschsprachigen Raum, aber auch international, langsamer als erwartet (Brezinka, 2009a), was im Gegensatz zur rasanten Verbreitung von Internet und Smartphones in den letzten sieben Jahren steht. Die regelmäßigen Anfragen zur Nutzung von Schatzsuche unterstreichen jedoch das Interesse von Therapeuten an Computerspielen, die sie in ihrer Arbeit mit Kindern unterstützen. Weshalb dauert es trotzdem relativ lang, bis weitere therapeutische Computerspiele entwickelt werden? Mögliche Gründe könnten die unterschiedlichen Anforderungen von Universitäten einerseits und praktizierenden Therapeuten andererseits sein. An allen Universitäten hat der Druck zu Publikationen in Zeitschriften mit einem hohen Impactfaktor in den letzten Jahren sehr zugenommen. Die Chancen auf eine solche Publikation erhöhen sich, wenn eine randomisierte, kontrollierte Evaluationsstudie vorgelegt werden kann, wie es für SPARX (Merry et al., 2012) und Camp Cope-A-Lot (Khanna u. Kendall, 2010) der Fall und für Mindlight geplant ist. SPARX und Mindlight sind Selbsthilfespiele, deren Wirkung man mit der einer traditionellen Therapie (oder gar keiner Intervention) vergleichen kann. Camp Cope-A-Lot wiederum wurde mit dem Ziel entwickelt, Kosten zu sparen, indem für die Psychotherapie weniger gut ausgebildetes Personal eingesetzt wird. Auch für Schatzsuche oder Ricky und die Spinne, die nicht als Selbsthilfespiele entwickelt wurden, wären randomisierte, kontrollierte Evaluationsstudien möglich, vorausgesetzt sie könnten finanziert werden. Dafür müsste jedoch die wichtige Frage nach der Ausgestaltung der Kontrollbedingungen gelöst werden. Sollten psychotherapeutische Behandlungen, in denen die beiden Spiele eingesetzt werden, verglichen werden mit Verhaltenstherapien, in denen ohne Computerspiel, aber auf dem gleichen theoretischen Hintergrund gearbeitet wird? Oder gerade mit Psychotherapien, die nicht verhaltenstherapeutisch sind, oder mit beidem? Wie müssten diese Bedingungen standardisiert werden, um sie im Sinn der „treatment fidelity“ vergleichbar zu machen? Wie hoch wären die Chancen auf signifikante Effektstärken, wenn Kinder z. B. gleichzeitig auch Medikation erhalten, wie es bei Zwangserkrankungen regelmäßig der Fall ist? Wie realistisch wäre es, in absehbarer Zeit genügend Fallzahlen zu gene- 94 V. Brezinka rieren? Diese Fragen lassen erahnen, wie aufwändig und teuer eine randomisierte, kontrollierte Evaluationsstudie wäre. Möglicherweise hält die aufwändige Evaluation Forscher auch von der Entwicklung weiterer therapeutischer Computerspiele ab. Da Computer und Internet aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sind, ist dennoch zu erwarten, dass sie die therapeutische Arbeit beeinflussen werden. So ergänzt z. B. die Möglichkeit, Filme auf Youtube kostenfrei anzusehen bzw. herunterzuladen, die Psychoedukation bei der Behandlung kindlicher Phobien – es gibt Filme zu Ameisen, Wespen, Spritzen, Gewittern usw., die das Kind im Rahmen der Psychoedukation sowie als Teil der Expositionstherapie mit dem Therapeuten anschauen kann. Eine andere Möglichkeit besteht in der Simulation komplexer sozialer Situationen am Computer, wie sie z. B. die Firma CleVR, ein Spin-off der Technischen Universität Delft, entwickelt. Dort arbeitet man mit der Universität von Amsterdam zusammen an einem Forschungsprojekt für psychotische Patienten; die Simulation sozialer Situationen (wie z. B. eine Busfahrt, einkaufen im Supermarkt, ein Cafébesuch), deren Schwierigkeitsgrad gesteigert werden kann, soll es Patienten ermöglichen, gefürchtete Situationen erst am Computer zu üben, bevor sie sich der tatsächlichen Situation aussetzen. Leider sind auf der Webseite www.clevr.net nur wenige Informationen verfügbar, doch erscheint dieser Ansatz vor allem für psychisch schwer kranke Patienten vielversprechend. Ähnliche soziale Simulationen könnten sich auch für Kinder in Mobbing-Situationen oder Kinder und Jugendliche mit starken sozialen Ängsten als hilfreich erweisen. Allerdings sind die Kosten einer solchen Entwicklung beträchtlich und es wird noch einige Jahre dauern, bis zufriedenstellende Simulationen sozialer Situationen zur Verfügung stehen. Literatur Anderson, C. (2004). An update on the effects of playing violent video games. Journal of Adolescence, 27, 113-122. Anderson, C., Shibuya, A., Ihori, N. (2010). 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Therefore an early and valid psychological assessment is important for intervention and service planning. Yet, no systematic review on validated instruments for the assessment of this group exists. Literature search revealed one study about translators in the assessment of URM and five validated instruments for proxy and self-report. These instruments are available in several languages and showed good psychometric properties. It has to be critically stated that all instruments have been validated by a single work group within a single population. Especially with regards to changing definitions of Posttraumatic Stress Disorder within the new (and upcoming) classification systems ICD-11 and DSM-5, increased awareness for diagnostic procedures is necessary. Additionally, more validated instruments for specific psychological disorders in multiple languages are needed. Under an economic perspective the use of open access questionnaires that are available in different languages seems useful, even if they are not especially validated for URM. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 97-112 Keywords unaccompanied refugee minors – URM – review – mental health problems –validated instruments Zusammenfassung Das deutsche Versorgungssystem sieht sich mit einer stetig wachsenden Zahl von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) konfrontiert. UMF sind häufig traumatisiert, zeigen häufig psychische Auffälligkeiten und es fehlen ihnen bedeutsame Resilienzfaktoren. Eine frühzeitige valide Diagnostik ist daher von größter Bedeutung für die Interventions- und Hilfeplanung. Bisher besteht kein systematischer Literaturüberblick zu validierten Diagnostikverfahren bei dieser Personengruppe. Die Literatursuche ergab eine Arbeit zum Dolmetschereinsatz bei der Diagnostik von UMF sowie fünf validierte Verfahren zum Fremd- und Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 97 – 112 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 98 M. Rassenhofer et al. Selbsturteil, die in mehreren Sprachen vorliegen. Die Verfahren zeigten meist gute psychometrische Eigenschaften. Kritisch ist anzumerken, dass alle Validierungsstudien aus einer einzigen Arbeitsgruppe stammen und anhand derselben Population erfolgt sind. Gerade im Hinblick auf die in den neuen Klassifikationssystemen ICD-11 und DSM-5 geänderten Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung ist eine vermehrte Auseinandersetzung mit dem Thema Traumadiagnostik in einer hoch vulnerablen Gruppe relevant. Zudem bedarf es mehrerer multilingual validierter störungsspezifischer Erhebungsinstrumente. Gerade unter ökonomischen Aspekten scheint es sinnvoll, frei zugängliche Fragebogen zu verwenden, die in mehreren Sprachen vorliegen, auch wenn diese nicht speziell für UMF validiert sind. Schlagwörter unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – UMF – Review – psychische Auffälligkeiten – validierte Instrumente 1 Hintergrund In den vergangenen Jahren wurden weltweit stetig steigende Zahlen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen verzeichnet. So wurde im Jahr 2013 deren Zahl auf 51,2 Mio. geschätzt. Dabei waren 50 % der auf der Flucht Lebenden unter 18 Jahren (UNHCR, 2014). Auch die Anzahl der Asylanträge von unbegleiteten Kindern stieg. So war 2013 die Anzahl der Asylanträge unbegleiteter Kinder mit 25.300 auf dem höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen des United Nations High Comissioner for Refugees (UNHCR) 2006. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) werden als unter 18-Jährige, die ohne Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen in ein fremdes Land einreisen, definiert (vgl. Parusel, 2009, S. 13). Auch das deutsche Versorgungssystem sieht sich mit einer stetig wachsenden Zahl an UMF konfrontiert. So wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2013 in Deutschland 2.486 Asylanträge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge gestellt (Müller, 2014). Davon waren 638 unter 16 Jahren und 1.848 16 oder 17 Jahre alt (Müller, 2014). Verglichen mit dem Jahr 2008 mit damals 763 Anträgen, stellt diese Zahl eine deutliche Steigerung dar. Die Zahl der in Obhut genommenen hauptsächlich männlichen (90 %), unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen liegt mit 6.548 noch einmal über der Zahl der gestellten Asylanträge (Statistisches Bundesamt, 2014). Damit stellen Inobhutnahmen für UMF 15,6 % der Gesamtzahl der Schutzmaßnahmen in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2014), wobei auch die Quote der Schutzmaßnahmen in Deutschland gegenüber dem Jahr 2008 mit 1.099 um den Faktor 6 gestiegen ist (Müller, 2014). Aufgrund fehlender protektiver Faktoren wie ein unterstützendes und schützendes familiäres Umfeld (Derluyn u. Broekert, 2007), stellen UMF eine besonders vulnera- ipabo_66.249.78.20 Psychologische Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 99 ble Gruppe dar (Huemer, Karnik, Steiner, 2009). In einer aktuellen Literaturübersicht zeigt sich, dass fast alle UMF traumatische Erfahrungen gemacht haben und sich je nach eingesetzter Methode und Instrument bei etwa 20-80 % psychische Auffälligkeiten, vornehmlich Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen (Witt, Rassenhofer, Fegert, Plener, 2015). Neben posttraumatischen Belastungsstörungen weisen sie vor allem depressive und Angstsymptome auf. Längsschnittliche Studien deuten auch auf eine hohe Stabilität der Symptomatik in dieser Gruppe hin (Witt et al., 2015). Diagnostik spielt somit bei der Gruppe der UMF eine wichtige Rolle, um valide Befunde zu erheben. Vor dem Hintergrund existierender Behandlungsverfahren für UMF (EberleSeyari, Nocon, Rosner, 2015), ist vor allem die Indikationsstellung anhand validierter diagnostischer Verfahren von Bedeutung. Der Fragestellung der Diagnostik kommt somit eine zentrale Bedeutung zu. Es bedarf Instrumenten, die über mehrere Kulturkreise hinweg valide Ergebnisse liefern (Flaherty et al., 1988) um frühzeitig Hilfen für diese Kinder und Jugendlichen planen und einleiten zu können. Während Literaturübersichten zu validierten Erhebungsinstrumenten bei Migranten- und Flüchtlingskindern vorliegen (z. B. Entholt u. Yule, 2006; Paalman, Terwee, Jansma, Jansen, 2013), gibt es nach Kenntnis der Autoren keine Übersichten für die spezifische Gruppe der UMF. Speziell für UMF evaluierte Instrumente scheinen unter mehreren Gesichtspunkten sinnvoll, da sich diese in wesentlichen Aspekten von Migranten- oder Flüchtlingskindern, die mit ihren Eltern fliehen oder in ein anderes Land auswandern, unterscheiden. So zeigen Studien, dass UMF in der Regel von einer schwerwiegenderen Traumatisierung als begleitete Flüchtlinge oder Migrantenkinder betroffen sind (z. B. Michelson u. Sclare, 2009; Hodes, Jagdev, Chandra, Cunniff, 2008; Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert, Spinhoven, 2007c). Bei UMF fehlen wesentliche Schutzfaktoren wie die soziale Unterstützung durch die Familie, sodass diese einem höheren Risiko ausgesetzt sind. Das Fehlen von Familienangehörigen führt ferner zu Schwierigkeiten in der Diagnostik. So kann die Anamnese meist nur unvollständig erhoben werden, Informationen über die frühe Kindheit sowie zur Familienanamnese fehlen meist ganz. Zudem muss das Kind oder der Jugendliche bei mündlicher Diagnostik häufig direkt mit einem Übersetzer interagieren ohne „Zwischenschaltung“ der Eltern. Eine Fremdbeurteilung von Verhaltensauffälligkeiten und psychopathologischer Symptomatik per Fragebogen kann bei UMF ebenfalls nicht durch die Eltern erfolgen, die das Kind sehr gut und sehr lange kennen, sondern zumeist werden Erwachsene, die in professioneller Weise mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zusammenarbeiten, gebeten die Fragebögen auszufüllen. Der Bezug zu den Jugendlichen und die Kenntnis über deren Probleme können hierbei sehr unterschiedlich ausfallen, da die Betreuung von UMF auf vielfältige Art und Weise geregelt ist (Witt et al., 2015). Fremdbeurteilungsinstrumente, die diese Umstände berücksichtigen, sind also von großer Bedeutung bei der Diagnostik von UMF. Darüber hinaus stellt die Diagnostik bei UMF besondere Herausforderungen an den Diagnostiker, da sprachliche und kulturelle Barrieren überbrückt werden müssen. Zum 100 M. Rassenhofer et al. Teil wird der Diagnostiker auch mit Analphabetismus konfrontiert, was den Einsatz visueller oder auditiver Hilfsmittel bei der Diagnostik notwendig macht. Zusammenfassend ergibt sich eine Reihe von speziellen Anforderungen für die Diagnostik mit UMF und an die eingesetzten Diagnostikinstrumente. So sollten die Instrumente in einer Vielzahl von unterschiedlichen Sprachen vorliegen, kulturell angepasst und auch für den Einsatz mit Analphabeten geeignet sein, z. B. indem sie als Interview durchgeführt werden können oder adäquate visuelle oder auditive Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Da Studien zeigen, dass UMF vor allem psychische Auffälligkeiten in den Bereichen posttraumatische Stresssymptome, Depression und Angst aufweisen (Witt et al., 2015), sollte auch eine gewisse Störungsspezifität gegeben sein. Zudem sollten vor allem Fremdbeurteilungsinstrumente die Möglichkeit bieten, dass diese von einer Vielzahl unterschiedlicher Bezugspersonen ausgefüllt werden können und sich mit wenig Hintergrundwissen zur Vorgeschichte beantwortet lassen. Da diese Instrumente häufig im Jugendhilfebereich und in NGOs mit knappen zeitlichen und finanziellen Ressourcen zum Einsatz kommen, sollten die Instrumente auch das Nebengütekriterium der Ökonomie erfüllen. Instrumente sollten somit leicht anwendbar und frei zugänglich sein. 2 Fragestellung Ziel dieses Reviews ist, einen Überblick über Psychodiagnostik bei der speziellen Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zu geben. Dargestellt werden soll, welche validierten Diagnostikinstrumente zu Erfassung psychischer Auffälligkeiten bestehen, welche Erfahrungen mit Dolmetschereinsatz hierbei gemacht wurden und welche Aspekte bei dieser speziellen Patientengruppe besonders beachtet werden müssen. Anschließend erfolgt eine kritische Diskussion, ob die vorliegenden Instrumente den Anforderungen, die sich bei der Anwendung bei UMF stellen, gerecht werden. 3 Methode Systematische Literaturrecherche. Die Suche nach relevanten Artikeln erfolgte in den Datenbanken Embase, ISI Web of Science, Pubmed, Psychinfo und Psyndex. Ergänzend wurden relevante Artikel per Handsuche mithilfe von Google scholar identifiziert. Eingeschlossen wurden seit 2004 erschienene Originalarbeiten in deutscher und englischer Sprache. Die eingeschlossenen Studien sind quantitativer oder qualitativer Natur. Die systematische Literatur-Suche erfolgte anhand der Kombination folgender Begriffe: t (unaccompanied AND refug*) AND (diagnost*OR assess* OR validation) t (unaccompanied AND minors) AND (diagnost*OR assess* OR validation) t (unaccompanied AND children) AND (diagnost*OR assess* OR validation) t (unaccompanied AND adolescents) AND (diagnost*OR assess* OR validation) t (unaccompanied AND youth) AND (diagnost*OR assess* OR validation) ipabo_66.249.78.20 Psychologische Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 101 t (unaccompanied AND asylum-seek*) AND (diagnost*OR assess* OR validation) t „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ AND (diagnost* OR erheb* OR validier*) t „UMF“ AND (diagnost* OR erheb* OR validier*) t „unbegleitete Flüchtlinge“ AND (diagnost* OR erheb* OR validier*) Die Artikel mussten folgende Einschlusskriterien erfüllen: t Artikel erschienen im Zeitraum 01.01.2004-30.04.2015 t Teilnehmer der Studie sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge t Originalarbeit t Qualitative oder quantitative Arbeiten t Publikation in deutscher oder englischer Sprache t Fokus der Arbeit liegt auf dem Thema Diagnostik psychischer Auffälligkeiten bei UMF (validierte Instrumente, Vorgehen, Dolmetschereinsatz, Besonderheiten) 4 Ergebnis Die systematische Datenbankrecherche ergab nach Ausschluss doppelter Treffer insgesamt 168 Treffer. Im Konsens zwischen den Autoren konnte die Mehrzahl der Arbeiten nach der Durchsicht der Titel aufgrund der Nichterfüllung der Einschlusskriterien ausgeschlossen werden. Die verbleibenden 26 Artikel wurden im Volltext gelesen. Hierbei wurden weitere 20 Artikel ausgeschlossen, welche die oben angeführten Einschlusskriterien nach vertiefter Studienanalyse nicht erfüllten. Schlussendlich gingen insgesamt sechs Artikel in das Review ein, die den Bereichen Diagnostik psychischer Auffälligkeiten bei UMF grob zugeordnet werden konnten. Abbildung 1 (folgende Seite) gibt einen Überblick über den Auswahlprozess. 4.1 Für UMF validierte Verfahren Bei der systematischen Literaturrecherche konnten vier Validierungsstudien von Screeninginstrumenten für psychische Auffälligkeiten bei der speziellen Gruppe der UMF identifiziert werden, die alle von der niederländischen Arbeitsgruppe um Tammy Bean und Philip Spinhoven durchgeführt wurden (s. Tab. 1, übernächste Doppelseite). Rahmenprojekt war eine nationale Längsschnittstudie zu UMF in den Niederlanden („Unaccompanied Refugee Minors and Dutch Mental Health Care Services“), an der 920 UMF, ihre Vormünder, Lehrer sowie Fachleute aus dem Gesundheitswesen teilnahmen. Die Autoren konzipierten und validierten zwei Selbstbeurteilungsinstrumente speziell für einen jugendfreundlichen, multikulturellen Einsatz in 19 Sprachen:1 Der Re1 Albanisch, Amharisch, Arabisch, Badini, Chinesisch, Dari, Deutsch, Englisch, Farsi, Französisch, Mon- golisch, Niederländisch, Portugiesisch, Russisch, Serbokroatisch, Soerani, Somali, Spanisch, Türkisch. 102 M. Rassenhofer et al. actions of Adolescents to Traumatic Stress Questionnaire (RATS; Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert, Spinhoven, 2006a) dient der Erfassung posttraumatischer Stresssymptomatik. Die Hopkins Symptoms Checklist (HSCL-37; Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert, Spinhoven, 2007a) erhebt internalisierende und externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, die mit Reaktionen auf traumatische Ereignisse in Zusammenhang gebracht werden. Beide Verfahren wurden von den Autoren als reliable und valide Verfahren zur Erfassung emotionaler sowie Verhaltensauffälligkeiten bei UMF im Selbstbericht eingestuft (Bean et al., 2006a, 2007a). Gefunden durch Datenbanksuche (n = 298) Zusätzlich gefunden in anderen Quellen (n = 2) Verbleiben nach Entfernen von Duplikaten (n = 168) In Vorauswahl aufgenommen (n = 31) Ausgeschlossen (n = 5) Volltext auf Eignung beurteilt (n = 26) Volltextartikel ausgeschlossen keine Originalarbeit (n = 5) Keine UMF (n = 3) Thema ist nicht spezifisch Diagnostik (n = 12) Studien eingeschlossen in qualitative Zusammenfassung (n = 6) Abbildung 1: König, 2011) Verlauf Identifikation relevanter Studien nach PRISMA-Statement (Ziegler, Antes, In diesem Zusammenhang fand meist ein weiteres Instrument der Arbeitsgruppe, die Stressful Life Events Checklist (SLE; Bean, Eurelings-Bontekoe, Derluyn, Spinhoven, 2004) Anwendung, die laut Autoren ebenfalls für die Stichprobe der UMF validiert ist. Ebenfalls speziell für den Einsatz bei UMF validiert wurden die Child Behavior Checklist (CBCL; Achenbach, 1991a; Achenbach u. Edelbrock, 1983), hier ausgefüllt von den gesetzlichen Vormündern der UMF, sowie das Pendant dazu, die Teacher Report Form (TRF; Achenbach, 1991b) für Lehrer. Beides sind Screeninginstrumente zur breiten Erfassung von externalisierenden und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen im Fremdurteil. Beide Verfahren ipabo_66.249.78.20 Psychologische Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 103 erwiesen sich laut Autoren als reliable und valide Instrumente für die Erfassung von emotionalen sowie Verhaltensauffälligkeiten von UMF im Fremdurteil (Bean, Mooijart, Eurelings-Bontekoe, Spinhoven, 2006b; Bean, Mooijaart, Spinhoven, 2007b). Zu beachten sei jedoch die für Fremdbeurteilungsverfahren typische Einschränkung der Validität abhängig von der mit dem zu beurteilenden Jugendlichen gemeinsam verbrachten Zeit sowie der Erfahrung des Ausfüllenden. Empfohlen wird von den Autoren der Validierungsstudien, Informationen aus verschiedenen Quellen (Vormünder, Betreuer, Lehrer, Jugendliche selbst) zusammenzuführen (Bean et al., 2006b, 2007b), um valide Aussagen über psychische Auffälligkeiten bei UMF treffen zu können. 4.2 Besonderheiten bei der Diagnostik mit UMF Die Autoren der beschriebenen Validierungsstudien (Bean et al., 2006a, b, 2007a, b) betonen die Beachtung ethischer Komponenten bei der Diagnostik mit UMF, da insbesondere Fragen nach traumatischen Erlebnissen emotionalen Stress auslösen können. Weiterhin seien Spezifika der besonderen Gruppe der UMF wie eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, beeinträchtigte Gedächtnisleistungen sowie teilweise Analphabetismus zu beachten. Möglichkeiten der Erleichterung der Durchführung seien sprachliche Vereinfachung, Anpassung an das Vokabular von Schülern der Zielsprache sowie eine visuelle Verdeutlichung des Antwortformats. Ferner legten die Autoren den Befragten die Items jeweils in ihrer Muttersprache sowie in der Sprache des Gastlandes vor, da nach ihrer Erfahrung UMF teilweise die Schriftsprache des eigenen Landes nicht beherrschen, die des Gastlandes aber in der Zwischenzeit erlernen konnten. Eine weitere Besonderheit bestehe darin, dass das Fremdurteil nicht von den Eltern eingeholt werden kann, sondern von Bezugspersonen, die die Jugendlichen erst seit kurzer Zeit kennen und gegebenenfalls nur wenig Zeit mit ihnen verbringen. Allerdings sind diese Bezugspersonen teilweise professionelle Mitarbeiter des Jugendhilfesystems, die viel Erfahrung mit Jugendlichen mitbringen. Bei der Interpretation der Ergebnisse im Fremdurteil sollten diese Aspekte den Autoren zufolge berücksichtigt werden. Anforderungen an Diagnostikinstrumente für UMF. Entsprechend der in der Einführung hergeleiteten spezifischen Anforderungen an Diagnostikinstrumente für den Einsatz bei UMF wurden die gefundenen, validierten Instrumente auf das Vorhandensein dieser Aspekte überprüft. Eine Übersicht gibt Tabelle 2 (S. 106). Es zeigt sich, dass die von der Arbeitsgruppe in den Niederlanden validierten störungsspezifischen Fragebogen die eingangs formulierten Anforderungen erfüllen. Für die validierten Fremdbeurteilungsinstrumente ergeben sich vor allem Probleme im Kriterium der freien Zugänglichkeit. 104 M. Rassenhofer et al. Tabelle 1: Für den Einsatz bei UMF validierte Screening-Instrumente Studie Bean et al., 2006a Bean et al., 2007a Bean et al., 2006b Bean et al., 2007b Zu validierendes Verfahren Selbstbericht Reactions of Adolescents to Traumatic Stress Questionnaire (RATS) Bean et al., (2006) Hopkins Symptom Checklist-37 (HSCL37A) Bean et al., (2007a) Fremdbericht Child Behavior Checklist (CBCL) Achenbach, (1991a); Achenbach & Edelbrock, (1983) Erfasste Symptomatik Posttraumatische Stresssymptome bei Jugendlichen (12 bis 18 Jahre) mit verschiedenen kulturellen Hintergründen Internalisierende und externalisierende Auffälligkeiten, die mit Reaktionen auf traumatische Erlebnisse in Zusammenhang stehen Unangepasste emotionale Zustände und Problemverhalten von Kindern und Jugendlichen; externalisierende und internalisierende Verhaltensauffälligkeiten Validierungsstichprobe Anzahl Probanden N = 920 UMF (Gastland: Niederlande) Kontrollgruppen: N = 1.059 niederländische Jugendliche N = 939 jugendliche Flüchtlinge/Einwanderer (Gastland: Belgien) N = 617 belgische Jugendliche N = 920 UMF (Gastland: Niederlande) Kontrollgruppen: N = 1.059 niederländische Jugendliche N = 1.294 jugendliche Flüchtlinge/Einwanderer (Gastland: Belgien) N = 617 belgische Jugendliche N = 478 gesetzliche Vormünder der teilnehmenden UMF Teacher Report Form Unangepasste emotionale Zu- N = 486 ausgefüllte TRFs (TRF) stände und Problemverhalten von ca. N = 400 Lehrern der Achenbach, (1991b) von Kindern und Jugendlichen; teilnehmenden UMF externalisierende und internalisierende Verhaltensauffälligkeiten ipabo_66.249.78.20 Psychologische Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 105 Gütekriterien Anteil männl. Probanden 73 % Herkunftsländer 48 Länder, u. a. Angola (43 %), Sierra Leone (10 %), China (8 %) 57 % 54 % 55 % 73 % Interne Konsistenz: sehr gut (Cronbach α zwischen .81 und .93 für die verschiedenen Sprachversionen) Test-Retest-Reliabilität: akzeptabel (Gesamtscore: r = .61; Intrusion: r = .63; Vermeidung: r = .44; Übererregung: r = .55) Inhalts-, Konstrukt und Kriteriumsvalidität: gut 48 Länder, u. a. Angola (43 %), Sierra Leone (10 %), China (8 %) Interne Konsistenz: sehr gut (Cronbach α zwischen .84 und .95 für die verschiedenen Sprachversionen) Test-Retest-Reliabilität: akzeptabel (Gesamtscore: r = .63; internalisierend: r = .64; externalisierend: r = .53) Inhalts-, Konstrukt und Kriteriumsvalidität: gut 22 % 71 % 48 Länder, u. a. Angola (43 %), Sierra Leone (10 %), China (8 %) 68 % 71 % 48 Länder, u. a. Angola (43 %), Sierra Leone (10 %), China (8 %) Interne Konsistenz: Gesamtwert: sehr gut (Cronbach á = .94) Übergeordnete Skalen: gut (Int: Cronbach α = .89; Ext: Cronbach α = .90), Subskalen: gut bis moderat, Konstrukt- und Übereinstimmungsvalidität: moderat– gut Kriteriumsvalidität: Moderat, aber nur wenn aussagekräftige/bedeutsame Erwachsene im Leben der UMF als Informationsquelle (dienten Interne Konsistenz: Gesamtwert: sehr gut (Cronbach α = .95) Übergeordnete Skalen: sehr gut bis gut (Int: Cronbach α = .89; Ext: Cronbach α = .94) Subskalen: gut bis moderat Konstrukt- und Concurrent Validity: akzeptabel, Kriteriumsvalidität gut, wenn Gruppe der Lehrer der UMF befragt 57 % 52 % 55 % ipabo_66.249.78.20 2 1 - ja2 - ja2 nein ja nein (Breitband-Screeningverfahren) - - TRF ja Nach Kriterien von Flaherty (1988) Nach Registrierung bei „Centrum ’45“ (www.amadiagnostics.centrum45.nl/english/forms/en_tools_request.htm) für ausgebildete Fachkräfte frei verfügbar nein ja ja (als Interview durch- führbar, Antwortskala visuell umgesetzt) ja (potenziell traumanein (Breitband-Screetische Erlebnisse) ningverfahren) ja (als Interview durchführbar, Antwortskala visuell umgesetzt) ja (Angst, Depression und externalisierende Verhaltensauffälligkeiten) - CBCL ja ja SLE ja ja Für UMF validierte Verfahren RATS HSCL-37A ja ja Liegt in einer Vielzahl verschiedener Sprachen vor Kulturelle und sprach- ja liche Äquivalenz1 Einsatz bei ja (als Interview durchAnalphabeten möglich führbar, Antwortskala visuell umgesetzt) ja (PTSS) Störungsspezifität (PTSS, Angst, Depression, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten) Offene Fremdbeurteilungsinstrumente, wenig Hintergrundwissen zur Vorgeschichte nötig Open Access Ja2 Anforderung Tabelle 2: Für den Einsatz bei UMF gestellte Anforderungen an Diagnostikinstrumente 106 M. Rassenhofer et al. Psychologische Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 107 4.3 Dolmetschereinsatz bei der Diagnostik mit UMF Sind Verfahren nicht in den Sprachen verfügbar, die die UMF beherrschen, werden üblicherweise Dolmetscher eingesetzt. Keselman, Cederborg, Lamb und Dahlström (2010) untersuchten das Antwortverhalten von russischen UMF (N = 26) bei diagnostischen Interviews mit Übersetzern. Eine qualitative Analyse der Fragen und Antworten gab Aufschluss über die Akkuratesse der Übersetzungen sowie deren Einfluss auf die Validität der gegebenen Informationen. Es zeigte sich, dass die UMF aktiv an den Befragungen teilnahmen und bereitwillig relevante Informationen von sich preisgaben, auch wenn es sich um sehr belastende Themen handelte. Die Übersetzungen erwiesen sich größtenteils korrekt und akkurat. Im Falle ungenauer Übersetzungen zeigte sich jedoch ein substanzieller negativer Einfluss auf die Validität der Informationen. Dies war besonders bei Verbesserungen des Sprachstils oder der semantischen Wortwahl der Jugendlichen durch die Übersetzer der Fall. Im Übersetzungsprozess ist den Autoren zufolge zu beachten, dass Fragen und Antworten teilweise verzerrt, sprich suggestiv oder wertend, übersetzt werden. Die Autoren schließen daraus, dass sowohl Fragende als auch Befragte sich dieses Effekts, der durch den Einsatz von Dolmetschern entsteht, bewusst sein sollten, um den negativen Einfluss auf die Validität der Informationen möglichst gering zu halten. 5 Diskussion Ziel dieses systematischen Reviews war es, eine Übersicht darüber zu geben, wie psychische Auffälligkeiten bei der besonderen Gruppe der UMF erfasst werden können, welche validierten Verfahren existieren und was generell bei der Diagnostik sowie beim Einsatz von Dolmetschern beachtet werden muss. Für den Bereich der Diagnostikverfahren kann zusammenfassend gesagt werden, dass es bereits einige wenige für die spezielle Gruppe der UMF validierte Verfahren zur fragebogenbasierten Erhebung psychischer Auffälligkeiten in 19 Sprachen gibt. Internalisierende und externalisierende Verhaltensauffälligkeiten von UMF können im Selbsturteil (HSCL-37A) sowie im Fremdurteil durch Betreuer bzw. gesetzliche Vormünder (CBCL) und Lehrer (TRF) reliabel und valide erfasst werden. Von besonderer Bedeutung ist bei dieser speziellen Personengruppe die Erhebung belastender Lebensereignisse sowie posttraumatischer Stresssymptome, die durch die beiden für UMF validierten Erhebungsinstrumente RATS und SLE ebenfalls gegeben ist. Weiterhin wurden in der identifizierten Literatur Hinweise auf ethische, kulturelle sowie organisatorische Besonderheiten benannt, die bei der Diagnostik mit UMF berücksichtigt werden sollten. Der Einsatz von Dolmetschern zur Diagnostik bei UMF wird als hilfreich bewertet. Potenzielle Verzerrungen wie etwa Umschreibungen, Verharmlosungen, Wertungen oder Suggestionen, bedingt durch den Übersetzungsprozess sollten jedoch von allen Beteiligten beachtet werden. 108 M. Rassenhofer et al. Die niederländische Arbeitsgruppe um Tammy Bean und Philip Spinhoven ist bislang die einzige Forschergruppe, die Diagnostikverfahren speziell für die Gruppe der UMF validiert hat. Sie berücksichtigten sowohl bei der Entwicklung der selbst konzipierten Verfahren als auch bei der Validierung dieser sowie bereits bestehender Verfahren die von Flaherty et al. (1988) vorgeschlagenen fünf Äquivalenz-Dimensionen für die interkulturelle Validierung eines Instruments. Flaherty und Kollegen (1988) regen an, die inhaltliche sowie die semantische Äquivalenz der Items sicherzustellen, also zu gewährleisten, dass jedes Item in allen Kulturen eine vergleichbare Relevanz besitzt und die ursprüngliche Bedeutung in jeder übersetzten Version dieselbe ist. Weiter soll Art und Weise der Datenerhebung in jeder Kultur zu vergleichbaren Ergebnissen führen (technische Äquivalenz), weshalb Bean und Kollegen beispielsweise die likertskalierten Antworten visuell verdeutlicht mit größer werdenden farbigen Kreisen darstellten. Konzept- und Kriteriumsäquivalenz fordern kulturübergreifend ähnliche grundlegende theoretische Konzepte sowie dementsprechende Interpretationen der Messwerte. Ist diesen fünf Forderungen Genüge getan, sind die Grundvoraussetzungen dafür erfüllt, dass im interkulturellen Kontext valide Diagnostikergebnisse entstehen können, die wiederum die essenzielle Grundlage für eine angemessene Hilfe- und Behandlungsplanung bzw. Erfolgskontrolle der Behandlung darstellen. Die für die Gruppe der UMF zusätzlich spezifisch zu beachtenden Anforderungen an Diagnostikinstrumente sind für die selbst entwickelten Verfahren der Gruppe um Bean und Spinhoven (HSCL-35-A, RATS, SLE) ebenfalls erfüllt. Die von ihnen weiterhin validierten Fremdbeurteilungsinstrumente der Achenbach-Skalen (CBCL und TRF) sind den Autoren zufolge valide Instrumente für das Screening von allgemeinen Verhaltensauffälligkeiten. Als Breitband-Verfahren erfüllen sie somit jedoch nicht die Anforderung der Störungsspezifität bezüglich Posttraumatischer Stresssymptomatik, Angst und Depression. Zudem sind sie nicht frei verfügbar, sondern kostenpflichtig, was den Einsatz in NGOs oder gemeinnützigen Organisationen erschwert. Da vor allem die freie Zugänglichkeit validierter Fremdbeurteilungsinstrumente für UMF eingeschränkt ist, stellt sich die Frage nach Alternativen. Eine Möglichkeit bietet hier der Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ; www.sdq.info; Goodman, 1997; Goodman, Meltzer, Bailey, 1998). Dieser liegt als Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrument für über 80 Sprachen vor und ist ein in der Forschung und Praxis weit verbreitetes Screeninginstrument. Der SDQ umfasst vier Problemskalen (emotionale Probleme, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen und Verhaltensprobleme), aus denen sich ein Gesamtproblemwert errechnen lässt, und eine weitere Subskala zu prosozialem Verhalten. Der Vorteil des SDQ ist die freie Zugänglichkeit, die große Verbreitung und Validierung unterschiedlicher Sprachversionen sowie die Möglichkeit der simultanen Erfassung von Fremd- und Selbsturteil. Darüber hinaus liegen auch frei zugängliche störungsspezifische Fremdbeurteilungsinstrumente vor. Auch diese sind nicht speziell für die Gruppe der UMF validiert, jedoch ermöglicht die freie Zugänglichkeit und das Vorliegen validierter ipabo_66.249.78.20 Psychologische Diagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 109 arabischer Versionen einiger der Fragebögen einen Einsatz in der Praxis. Im Bereich Ängste liegt der Fragebogen für Angststörungen in einer Fremd- und Selbstbeurteilungsversion vor (FAS-E, FAS-K; Birmaher et al., 1997). Für diesen existiert eine validierte arabische Version (Hariz et al., 2013). Zudem liegt für den Bereich affektive Störung mit der Child Mania Rating Scale Elternversion (CMRS-E; Pavuluri, Henry, Devineni, Carbray, Birmaher, 2006) ein frei zugängliches Screeninginstrument für depressive Störungen vor. Ein Wert über 20 deutet dabei auf klinisch relevante Symptome hin. Neben den Ergebnissen von Keselmann und Kollegen (2010) sollten für UMF beim Einsatz von Dolmetschern und Kulturmittlern ähnliche Aspekte beachtet werden, wie sie insgesamt bei der Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten anfallen. Hierzu unterstreichen Rousseau, Measham und Moro (2011) die Bedeutung von Transparenz beim Prozess der Übersetzung und der Untersuchung. Ähnlich argumentieren Bisset, Leanza und Laforest (2013), wenn sie festhalten, dass bei Patienten, Behandlern und Übersetzern neben der sprachlichen Komponente vor allem Probleme hinsichtlich Vertrauen, Macht und Kontrolle auftreten und dass die Rolle des Dolmetschers für die Balance dieser von großer Bedeutung sein kann. Auch Kirmayer und Kollegen (2011) stellen die Bedeutung der Dolmetscher als Kulturmittler fest, da diese eine wichtige Rolle auch in der Vermittlung von Symptomen spielen. So wird bei Rousseau und Kollegen (2011) beschrieben, dass zum einen zu viele Diagnosen aufgrund von Missverständnissen gestellt werden können, zum anderen aber können die Sprachbarriere und kulturelle Unterschiede dazu führen, dass bestimmte Symptome nicht erkannt werden. Als gemeinsame Forderung aller einschlägiger Publikation zu diesem Thema kann formuliert werden, dass ein Training für Dolmetscher wünschenswert wäre, damit diese ihrer Rolle gerecht werden können und keine unerwünschten Effekte im Sinne einer fehlerhaften Diagnostik psychischer Auffälligkeiten auftreten. Als Stärke der zitierten Validierungsstudien ist zu nennen, dass die Validierungen anhand einer sehr großen Stichprobe mit über 900 UMF aus über 40 verschiedenen Herkunftsländern sowie in zwei verschiedenen Gastländern erfolgte. Weiterhin wurden Daten von Kontrollgruppen (einheimische Jugendliche und begleitete Flüchtlinge bzw. Einwanderer) erhoben. Gleichzeitig muss jedoch auch als Einschränkung benannt werden, dass alle vier zitierten Validierungsstudien anhand derselben Stichprobe durchgeführt wurden. Als weitere Einschränkung ist zu benennen, dass die validierten Verfahren hauptsächlich Screeninginstrumente darstellen und lediglich Hinweise auf das Vorliegen von psychischen Auffälligkeiten geben. Die vorliegenden Instrumente sind jedoch zum Teil weit verbreitete, gut akzeptierte Instrumente zum Screening nach psychischen Auffälligkeiten, die im klinischen Alltag von großer Bedeutung sind. In Anbetracht der häufig vorherrschenden psychisch belasteten Symptomatik bei UMF (vgl. Witt et al., 2015) fehlen störungsspezifische Verfahren zur vertieften Diagnostik, die posttraumatische Stresssymptome, depressive und Angstsymptome bei UMF valide erfassen. 110 M. Rassenhofer et al. 6 Fazit und Ausblick Der Bereich der Diagnostik psychischer Auffälligkeiten bei UMF bedarf noch deutlicher Erweiterungen und Verbesserungen. Zwar gibt es bereits einige speziell für diese Personengruppe validierte Verfahren in verschiedenen Sprachen, die als Screeninginstrumente eine gute Einstiegsmöglichkeit in den diagnostischen Prozess bieten, jedoch fehlt es an störungsspezifischen (PTSS, Angst, Depression) und frei zugänglichen Fremdbeurteilungsinstrumenten sowie störungsspezifischen, den Kriterien für eine valide, multikulturelle Diagnostik entsprechenden Instrumenten für die tiefergehende Exploration und Erfassung psychischer Störungen bei dieser Gruppe. Angesichts der steigenden Zahl an UMF weltweit und auch in Deutschland muss diese Thematik mehr Raum in der Forschung einnehmen. Es ist beachtenswert, dass im Rahmen dieser Übersichtsarbeit keine Originalarbeiten aus Deutschland identifiziert werden konnten. Hier scheint ein großer Nachholbedarf zu bestehen. Dem beträchtlichen Hilfebedarf dieser vulnerablen Gruppe kann nur mithilfe einer reliablen und validen Diagnostik effektiv und effizient begegnet werden. 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Plener, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universität Ulm, Steinhövelstr. 5, 80975 Ulm; E-Mail: [email protected] Miriam Rassenhofer, Jörg M. Fegert, Paul L. Plener und Andreas Witt, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinik Ulm ipabo_66.249.78.20 ORIGINALARBEITEN Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen zu sonderpädagogischen Maßnahmen: Schulpsychologen weniger diskriminierend als Lehrkräfte Andrea Lanfranchi Summary Referring Children who have Difficulties at School to Schools for Children with Special Needs: School Psychologists are Less Discriminating than Teaching Staff Children from a migrant background fall through the regular education net more frequently than native children and are subjected disproportionately to special teaching methods that are both separative as well as integrative. Studies up to now show that the discriminating attributions made by teaching staff influence the referral practice significantly. Whether this is also true for school psychologists was unknown and was investigated in the study presented here. By way of the “practice testing” method, 207 school psychologists dealt with a hypothetical case involving a problem student whose first name and family ethnos were systematically varied. The results show that school psychologists are led by separating dispositions of action to a lesser extent than teaching staff and that for the most part they think “culturally neutrally”. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 113-126 Keywords school psychology – referral – immigrants – discrimination – professionalism Zusammenfassung Kinder mit Migrationshintergrund fallen viel häufiger als einheimische Kinder durch die Maschen des Regelschulsystems und werden überproportional sowohl separativ als auch integrativ mit sonderpädagogischen Maßnahmen beschult. Bisherige Studien zeigen, dass diskriminierende Zuschreibungen von Lehrkräften die Zuweisungspraxis maßgebend beeinflussen. Ob das auch bei Schulpsychologen zutrifft, war bisher unbekannt und wird in der hier präsentierten Studie untersucht. Nach der Methode der „practice testing“ haben 207 Schulpsychologen ein konstruiertes Fallbeispiel eines Problemschülers bearbeitet, bei dem der Vorname des Kindes und die ethnische Herkunft der Familie variiert wurden. Die Ergebnisse zeigen, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 113 – 126 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 114 A. Lanfranchi dass Schulpsychologen weniger als Lehrkräfte von einer separierenden Handlungsdisposition geleitet werden und weitgehend „kulturell neutral“ denken. Schlagwörter Schulpsychologie – Zuweisung – Migrantenkinder – Diskriminierung – Professionalität 1 Hintergrund In einem Forschungsprojekt in sechs Kantonen der Deutschen Schweiz haben Lanfranchi und Jenny (2005) die Prozesse der Zuweisung von Schulkindern aus dem Regelschulbereich zu den stark im Steigen begriffenen Maßnahmen der sonderpädagogischen Versorgung empirisch analysiert. Zunächst wurden bei 1.916 Lehrkräften in 210 Regelklassen die Bedingungen und Kriterien der Versetzung schulschwacher Kinder in Sonderklassen und Sonderschulen erfasst, bzw. als Alternative dazu die Einleitung integrativer Schulungsformen oder sonderpädagogischer Stütz- und Fördermaßnahmen. Im Zentrum stand die zufallsverteilte Bearbeitung eines Fallbeispiels einer typischen Problemsituation eines Schülers, bei dem der Vorname des Kindes und die ethnische Herkunft der Familie systematisch variiert wurden. In der gleichen Studie wurden damals ebenfalls Daten aus einem Sample von insgesamt 655 Schulpsychologinnen und Schulpsychologen gesammelt. Die hier vorliegende Zusatzanalyse geht der Frage nach den Unterschieden in der Fallbearbeitung von Schulpsychologen im Vergleich zu Lehrkräften nach.1 Zum besseren Verständnis der Anlage dieser Studie und für die korrekte Interpretation der Befunde sollen noch die Unterschiede zwischen der Schulpsychologie in der Schweiz und in Deutschland sowie Österreich skizziert werden. Hauptsächliches Differenzmerkmal im Organisationssystem besteht darin, dass Schulpsychologen in der Schweiz für die Lehrerschaft sozusagen als Gate-Keeper für den Zugang zu sonderpädagogischen Maßnahmen fungieren, während sie in anderen Länder über keine Monopolstellung im Bereich der Zuweisungsdiagnostik verfügen (Milic, 2007). So sind sie in der Schweiz noch weitgehend (aber selbstverständlich nicht nur) mit Einzelfalldiagnostik, Kurzberatungen und Schulplatzierungen einzelner Kinder und Jugendlicher beschäftigt, während sie in Deutschland und in Österreich öfter die Schulen in ihrer Entwicklung und ihrem Bildungsauftrag unterstützen. Obwohl diese Unterscheidung einer groben Schematisierung entspricht und übergreifende Aspekte auf beiden Seiten vorhanden sind, kann man allgemein ausgedrückt Schul1 Der Autor bedankt sich bei Dr. Gregor Jenny, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention (EBPI) der Universität Zürich für die Unterstützung in der Datenanalyse, sowie bei lic. phil. Matthias Obrist, Stellenleiter des Schulpsychologischen Dienstes Bezirk Horgen/Zürich, für die wertvollen Hinweise als „critical friend“. ipabo_66.249.78.20 Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen 115 psychologen in der Schweiz doch eher als „Schülerpsychologen“ sehen, während sie in Deutschland und Österreich vielmehr als Psychologen für die Schulen wirken (obwohl auch dort in circa der Hälfte der Arbeitszeit direkte Beratungs- und Unterstützungstätigkeiten für Kinder und ihre Eltern angeboten werden: Dollase, 2010). Diese Grobunterscheidung spiegelt sich im Versorgungsgrad der verschiedenen Länder: Während in der Schweiz im Durchschnitt ein Schulpsychologe für circa 1.400 bis 2.800 Schulkinder zuständig ist, ist das Verhältnis rund 1:10.000 in Österreich und sogar 1:13.000 in Deutschland (Milic, 2007), mit Spitzen bis zu 1:26.0000 in Niedersachsen (Dollase, 2010, S. 16). 2 Problemstellung 2.1 Segregationsdruck als Folge zunehmender Lehrerbelastung In der Wahrnehmung von Lehrkräften und in der medialen Darstellung von Schulwirklichkeiten ist immer häufiger von Belastungen verschiedener Art die Rede: Gestiegene kulturelle und soziale Heterogenität in den Schulklassen, Zunahme psychosozialer Erschwernisse in den Familien etc. Auch über eine Verschlechterung der schulischen Rahmenbedingungen wird immer intensiver berichtet, wie etwa steigende Klassengröße und Knappheit der zur Verfügung stehenden Finanzmittel für die Bildung. Lehrkräfte beklagen sich, dass ihnen im Zuge des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels immer mehr Aufgaben aufgebürdet werden, die nicht zu den Kernaufgaben der Schule gehören (Reusser, Stebler, Mandel, Eckstein, 2013). Ein Teil des Drucks, der auf der Schule lastet, wird in der Schweiz an die Schulpsychologischen Dienste (SPD) weiter geleitet. Eine Analyse deskriptiv-statistischer Daten aus unserer Vollerhebung (auf die wir unten noch eingehen) ergibt, dass in der deutschen Schweiz durchschnittlich zehn Prozent aller Kinder eines Jahrganges wegen Schulproblemen beim Schulpsychologischen Dienst angemeldet werden (Lanfranchi u. Jenny, 2005, S. 272 f.). Zieht man die älteren Jahresberichte von SPD bei, so kann man grob sagen, dass vor 20 Jahren die Anmeldungen rund die Hälfte der heutigen Quote betrugen. Auch in den USA wurden in den 90er Jahren rund drei bis fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrganges wegen Schulproblemen bei Fachinstanzen angemeldet, 92 % davon wurden getestet und 74 % in Sonderklassen oder Sonderschulen versetzt (Llovd, Kaufmann, Landrum, Roes, 1991). 2.2 Umgang mit Schulschwierigkeiten Gehen wir von einer im Schulalltag typischen Situation aus: Ein Kind fällt aufgrund einer der üblichen Probleme im Lernen (z. B. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten) oder im Verhalten auf. Was tun Lehrpersonen angesichts der Erschwernisse, 116 A. Lanfranchi und dazu noch im Zwiespalt des widersprüchlichen Auftrags der Schule bestehend einerseits aus Qualifikation und andererseits aus Selektion? In manchen Fällen wenden sie sich an die vorhandenen Instanzen der Fachberatung und Unterstützung (wie Lehrerberatungsdienste und Supervisionsangebote). Weit öfter melden sie die „auffälligsten“ Kinder beim Schulpsychologischen Dienst (SPD) an, vor allem in Krisensituationen. Die Überweisung geschieht in der Regel nach dem Delegationsprinzip aufgrund einer linearen Problemdefinition bzw. pathologisierenden Etikettierung (lernbehindert, sprachgestört, verhaltensauffällig etc.). Nun ist der Schulpsychologe an der Reihe, der je nach Organisation des jeweiligen SPD im Kontext von Schule, Schulbehörde und assoziierten Diensten den Auftrag als abklärende Instanz übernimmt und das Kind nach dem individuumorientierten Paradigma testet und daraus Maßnahmen ableitet, oder die Problemdefinition systemisch im Kontext von Schule, Kind, Familie erweitert und einen dialogischen Prozess der Problemlösung mit den Mitteln der Beratung einleitet (Käser, 1993). Die Gestaltungsfreiheit des Problemlösungsprozesses ist angesichts vorgängiger Problemlösungsschritte und/oder der organisationellen Bedingungen des Schulsystems nicht unbegrenzt offen. Trotzdem haben Schulpsychologen grundsätzlich die Möglichkeit, aufgrund professioneller Kriterien relativ autonom zu entscheiden (Fagan u. Wise, 2007). Innerhalb eines mehr oder weniger abgegrenzten Handlungsspielraums in den Bereichen Diagnostik, Beratung und Vermittlung können sie ihre Vorgehensweisen und Methoden selber definieren. Sie können, wie oben erwähnt, im linearen Sinne nach der Trias „Anmeldung – Abklärung – Maßnahme“ vorgehen und separativ handeln, oder aufgrund einer systemischen Analyse integrativ wirken und beispielsweise im Falle ungünstiger Interaktionen unkonventionelle Mittel wie etwa „Parallelversetzungen“ mit einem Neubeginn in einer anderen Schulklasse vorschlagen. Nicht selten wird der Schulpsychologe allerdings am Ende einer langen Kette von vorausgegangenen Ereignissen involviert. Die ihm zur Verfügung stehenden Optionen sind dann derart limitiert, dass er faktisch das tun muss, was die überweisende Instanz will: Zum Beispiel das Einleiten einer heilpädagogischen Fördermaßnahme oder die Platzierung des Kindes in eine Sonderschule. Am Beispiel der Schweiz hat bis 2006 der Anteil an Schülerinnen und Schüler, die in einer separativen Schulungsform unterrichtet werden, stetig zugenommen. Mehr als eines von zehn Migrantenkindern und eines von 25 Schweizer Kindern wurden noch vor zehn Jahren vom normalen Schulprogramm ausgeschlossen (Lanfranchi u. Steppacher, 2012). Neuerdings wurde der Trend in Richtung Separation gebrochen: Die Versetzungsquoten in Klassen nach besonderem Lehrplan haben sich zwischen 2005 und 2013 von 6.0 auf 4.7 % verringert (Bundesamt für Statistik, 2015). Im europäischen Vergleich bleiben die Separationsquoten in der Schweiz (und in Deutschland mit 4.3 %) jedoch hoch: Österreich weist eine Quote von lediglich 1.5, Frankreich 0.7, Schweden 0.05, Italien 0.02 % auf (European Agency, 2012). ipabo_66.249.78.20 Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen 117 2.3 Stigmatisierung Hinzu kommen Prozesse der schulischen Segregation aufgrund sozioökonomischer Faktoren der Familie. Selektionsmechanismen beruhen bekanntlich nicht ausschließlich auf der Begabung und Leistungsfähigkeit des Kindes, sondern auch und in einem nicht geringen Ausmaß auf der sozialen und beruflichen Stellung der Eltern und ihrer ethnokulturellen Herkunft. Die PISA-Studien haben mit eindrücklicher Eindeutigkeit bestätigt, dass die Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein und einen höheren Bildungsabschluss zu erlangen, nach wie vor ungleich verteilt sind (OECD, 2010). Die Schweiz gehört mit Deutschland zu jenen Ländern, denen es am schlechtesten gelingt, Leistungsunterschiede auszugleichen, die auf soziale Herkunftsvariablen der Familie zurückgehen (Moser u. Lanfranchi, 2008). Auch das Problem der massiven Überrepräsentation von Migrantenkindern in Sondereinrichtungen und der geringen intergenerationalen Transmission von Bildungserfolg ist in der Schweiz nach wie vor ungelöst (Hättich, 2013). Nach den Daten des Bundesamtes für Statistik (2015) betrug im Schuljahr 2012/2013 der Ausländeranteil in den Regelklassen 24.3 % und in Klassen nach so genanntem besonderen Lehrplan fast doppelt so viel, nämlich 43.4 %. Eine ähnliche Überrepräsentation ist in verschiedenen Städten feststellbar, etwa in Zürich: 24.5 % Ausländer in Regelklassen, 52.6 % in Sonderklassen, und nur 9.8 % in Mittelschulen (differenziert nach Südosteuropa bzw. ehemalig Jugoslawien 3.7 %, nach Südwesteuropa bzw. Italien, Portugal, Spanien 4.3 %, und nach Deutschland sowie Österreich 19.4 %). Gewöhnlich werden die Versetzungsquoten bestimmter Schülersegmente mit ihrem niedrigen Leistungsstand im Lesen, Schreiben und Rechnen oder mit dem Auftreten von Verhaltensproblemen erklärt. Heute wissen wir jedoch, dass die Versetzung in Sonderklassen nicht immer, bzw. nicht immer hoch mit den realen schulischen und intellektuellen Leistungen dieser Kinder korreliert. So weist rund ein Viertel der in Sonderklassen versetzten Migrantenkinder aus der Stichprobe von Kronig (2003, S. 133) Deutschleistungen auf, die besser sind als 50 % der Leistungen von Migrantenkindern in Regelklassen. Auf der Ebene der Intelligenztestleistung sitzt rund ein Fünftel der Migrantenkinder aus der gleichen Stichprobe in Lernbehindertenklassen, obwohl ihr IQ höher ist als derjenige von 50 % der Kinder in Regelklassen. Der Tatbestand der negativen Lehrererwartungen bei Schulkindern aufgrund der Zugehörigkeit ihrer Familie zu einer Risikogruppe ist zwar schon lange bekannt (Jungbluth, 1994) und wurde auch in der Schweiz oder in Deutschland in Studien bestätigt (Fibbi, Bülent, Piguet, 2003; Gomolla, 2003). Mechanismen der institutionellen Diskriminierung sind ganz besonders bei Entscheidungen anlässlich von Schulstufenübergängen festzustellen. Bezeichnend ist hierzu der Befund, wonach bei gleichen durchschnittlichen Schulleistungen „Schweizer Mädchen zu 83 Prozent einen Sekundarschulentscheid erhalten (das heißt die Möglichkeit des Übertritts in den begehrtesten Typ der Sekundarstufe I, Anm. d. A.), Schweizer Jungen zu 70 Prozent, ausländische Mädchen zu 65 Prozent und ganz unten in der Skala ausländische Jungen zu 37 Prozent“ (Haeberlin, Imdorf, Kronig, 2004, S. 14). 118 A. Lanfranchi 3 Fragestellung Ähnliche, nicht direkt mit der Leistungserbringung gekoppelte diskriminierende Entscheidungsmechanismen dürften sich bei der Zuweisung von Migrantenkindern zu sonderpädagogischen Maßnahmen abspielen. Um diese Annahme zu überprüfen, haben wir in einer empirischen Studie vor einigen Jahren die Prozesse der Zuweisung untersucht, und zwar ausgehend von kritischen Fallsituationen. Im Rahmen der sogenannten WASA-Studie („Wachstum des sonderpädagogischen Angebots“: Lanfranchi u. Jenny, 2005) sind wir in einem Teilprojekt folgender Fragestellung nachgegangen: Aufgrund welcher Kriterien und unter welchen Bedingungen beantragen Lehrkräfte eine bestimmte sonderpädagogische Maßnahme, bzw. leiten sie diese Maßnahme ein? Wir möchten hier in einer Zusatzauswertung die damaligen, in einem Sample von 210 Schulen erhobenen Resultate über Denkprozesse und Handlungsdispositionen von Lehrkräften mit der gleichzeitig erfassten Beurteilung der für diese Schulen zuständigen Schulpsychologinnen und Schulpsychologen ergänzen. Es stellt sich nämlich die Frage, inwiefern sich Schulpsychologen in der Bearbeitung von konkreten Fällen rund um Lern- und Verhaltensproblemen von Schülern von Lehrkräften unterscheiden, und hier ganz besonders im Falle von Migrantenkindern. Unterschiede sind nicht zuletzt aufgrund der längeren Ausbildungswege und des höheren Professionalisierungsgrads, aber auch der spezifischen Rollen im Umgang mit Fragen aus der Schulpraxis zu erwarten. 4 Untersuchungsdesign 4.1 Stichprobe Sie umfasste N = 1.916 Lehrkräfte in 210 Primarschulen aus sechs Kantonen der Deutschen Schweiz (Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Basel-Stadt, Nidwalden, Schaffhausen und Thurgau). Die Stichprobe wurde so gezogen, dass sich eine ausgewogene Verteilung fremdsprachiger Kinder in den drei Gruppen geringer (unter 10 %), mittlerer (zwischen 11 und 30 %) und hoher Fremdsprachigenanteile (über 30 %) ergab. Zusätzlich führten wir bei den rund 400 Schulpsychologinnen und Schulpsychologen der gleichen Stichprobenregion sowie zusätzlich der Kantone Bern, Graubünden, Solothurn, Sankt Gallen und Zürich eine Vollerhebung durch. Ausgehend von qualitativen Interviews mit ausgewählten Akteuren (Lehrkräfte, Schulbehörden, Schulpsychologen) haben wir sowohl einen Lehrer- als auch einen Schulpsychologen-Fragebogen konstruiert und verschickt (Rücklaufquote Lehrkräfte 34.2 %: N = 655; Schulpsychologen 52.4 %: N = 207). ipabo_66.249.78.20 Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen 119 4.2 Fragebogen Nach der Erfassung der lokal vorhandenen sonderpädagogischen Angebote haben wir mittels eines systematisch variierten Fallbeispiels eruiert, wie die Lehrkräfte bzw. die Schulpsychologen im jeweiligen Fall a) vorgehen würden und b) welche Maßnahmen sie einleiten würden. Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, maximal drei der aufgeführten Vorgehensweisen auszuwählen und diese nach Wichtigkeit zu ordnen (1. bis 3. Priorität). Für die Auswertung wurden diese Angaben dichotomisiert (Wahl/ keine Wahl). Beim Vorgehen konnten die Schulpsychologen zum Beispiel wählen zwischen „Ich kontaktiere die Lehrerin und frage sie nach Zusatzinformationen“, oder „Ich lade das Kind für eine psychodiagnostische Abklärung ein“ etc. Bei den Maßnahmen konnten sie unter anderem wählen zwischen „Einweisung in eine Sonderklasse“ eines bestimmten Typs (oder auch in eine bestimmte Sonderschule), oder „Einleiten einer Stütz- und Fördermaßnahme“ eines bestimmten Typs, oder „Beratung durch den Schulpsychologischen Dienst“ oder einer weiteren Fachinstanz. Angesichts der zunehmenden Anmeldungszahlen wurden die Schulpsychologen darüber hinaus um ihre Meinung zu Einschränkungsvorschlägen gebeten. Sie wurden auch mit der Frage konfrontiert, ob es „integrativere“ Schulpsychologen gibt und was diese integrativer macht. Auch mussten sie Statistiken zu ihren Zuweisungen beilegen und die Größe des Schulpsychologischen Dienstes sowie die Versorgungsdichte angeben. Es folgten Aussagen zu möglichen Ursachen der gestiegenen Zuweisung sowie zur persönlichen Haltung im Zusammenhang mit verschiedenen Typen der Zuweisung, immer in Form der Zustimmung oder Ablehnung auf einer fünfstufigen Likert-Skala (von „sehr einverstanden“ bis „gar nicht einverstanden“). 4.3 Fallbeispiel Kernelement der Umfrage war jedoch die systematische Veränderung zentraler Variablen des vorgelegten Fallbeispiels. Das Vorgehen lehnt sich an die Methode des „practice testing“ an, wie sie etwa von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zur Untersuchung von Diskriminierungsprozessen entwickelt worden ist (Arrijn, Feld, Nayer, 1999). So erhielt die Hälfte der Lehrkräfte unserer Stichprobe bzw. der Schulpsychologen eine Version A mit der Fallschilderung eines Kindes mit dem Namen „Lukas“ und der Angabe „deutschschweizer Familie“. Die andere Hälfte erhielt eine Version B mit der Fallschilderung eines Kindes mit dem Namen „Bekir“ und der Angabe „kosovoalbanische Familie“. Dieser Fall beschrieb die Problemsituation des herausfordernden Verhaltens eines Schülers und entspricht der diagnostischen Kategorisierung einer Verhaltensstörung gemäß Ziffer F 90.1 im ICD-10 (World Health Organization WHO, 2011). Hier die nach ethnischer Herkunft variierte Fallschilderung: Lukas (Version B: Bekir) besucht die 3. Klasse. Die deutschschweizer Familie (Version B: Die kosovoalbanische Familie) ist vor zwei Jahren aus dem Kanton Luzern zugezogen. Das Kind fällt schon 120 A. Lanfranchi seit längerer Zeit wegen Impulsivität, Konzentrationsschwäche und ausgeprägter Unruhe auf. Im letzten halben Jahr sind die Verhaltensprobleme und Aggressivität immer massiver und unerträglicher geworden. Die Eltern berichten, dass ihr Sohn schon in der 1. Klasse ständig in Aktion war, fast keine Beschäftigung länger als einige Minuten aushielt und oft in Streitereien involviert war. Heute ist er in der Schule leistungsmäßig im Durchschnittsbereich, obwohl er bei Schularbeiten viele Flüchtigkeitsfehler macht. Er hält sich oft nicht an Regeln und wird wegen seiner Umtriebigkeit fast immer von den anderen Kindern als Spiel- und Lernpartner abgelehnt. Die Lehrerin ist am Ende ihrer Kräfte. Es muss bald etwas geschehen: bald tritt der Schüler in die 4. Klasse über und der Lehrer dieser Klasse hat schon signalisiert, dass er einen solchen Störenfried „nicht brauchen kann“. 4.4 Auswertungsmethode Die abhängigen Variablen, das heißt die anvisierten Vorgehensweisen und die in Betracht gezogenen Maßnahmen sind nominalskaliert. Als Auswertungstechnik zur Überprüfung der Hypothesen wurde wegen der kantonal unterschiedlichen Fallzahlen einen Chi-Quadrat Test durchgeführt (Backhaus, Erichson, Plinke, Weiber, 2000). 5 Ausgewählte Ergebnisse Die Präsentation schränkt sich hier auf einige zentrale Resultate zum Zuweisungsverhalten von Schulpsychologen im Vergleich zu Lehrkräften ein. Spezifische Angaben zum Lehrer-Sample und zu interkantonalen Unterschieden finden sich in Lanfranchi und Jenny (2005). In der Stichprobe der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen (N = 207) ist die Geschlechtzugehörigkeit gleichmäßig verteilt, wobei die Männer durchschnittlich über eine längere Berufserfahrung als die Frauen verfügen. Während rund ein Viertel der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen pro 100-Prozent-Stelle weniger als 1.500 Kinder im Arbeitsgebiet haben (sogenannte Versorgungsdichte), sind ein Drittel für mehr als 2.500 Schulkinder zuständig. 31 % aller Schulpsychologen sind in Gebieten mit mehr als 30 % Migrantenkinder tätig, während rund 10 % in ihrem Arbeitsgebiet eine Ausländerquote von weniger als 10 % haben. 5.1 Zuweisungsverhalten bei Variation der Variable „ethnische Abstammung“ Es wurde von der Hypothese ausgegangen, dass bei Migrantenkindern bei der gleichen Problemmanifestation häufiger eine separierende Maßnahme anvisiert wird als bei Schweizer Kindern. Diese Hypothese kann im Falle der Lehrkräfte bestätigt werden (Abb. 1), nicht jedoch bei den Schulpsychologen. Beim Kind kosovoalbanischer Abstammung mit dem Vornamen „Bekir“ schlagen Lehrkräfte signifikant häufiger ipabo_66.249.78.20 Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen 121 eine Sonderklasse oder eine Sonderschule für Verhaltensstörungen als Maßnahme vor (χ2 = 6.23, df = 1, p < .05, bzw. χ2 = 4.20, df = 1, p < .05). Beim Schweizer Kind mit dem Namen „Lukas“ empfehlen sie hingegen häufiger eine Beratung durch den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst oder eine Psychomotoriktherapie (χ2 = 5.47, df = 1, p < .05, bzw. χ2 = 5.08, df = 1, p < .05). Abbildung 1: Anvisierte Maßnahmen von Lehrkräften variiert nach ethnischer Variable (dick umrandet: signifikante Differenzen im Bereich Separation; dünn umrandet: signifikante Differenzen im Bereich Beratung/Therapie). (SPD = Schulpsychologischer Dienst; KJPD = Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst; ISF = Integrative Schulungsform; SoSchu = Sonderschule; DAZ/DfF = Deutsch als Zweitsprache, oder Deutsch für Fremdsprachige) Bei den Schulpsychologen führt die Variation des Fallbeispiels zu keinen signifikanten Unterschieden, weder in der Vorgehensweise, noch in den vorgeschlagenen Maßnahmen. Eine grafische Darstellung der Zusammenhänge wie im Falle der Lehrkräfte erübrigt sich, weil sich die zwei Profile weitgehend überlappen. 5.2 Einstellungen, Positionen und Vorschläge zur Einschränkung der Fallzahlen Die Schulpsychologen aus der vorliegenden Gesamtstichprobe lokalisieren die Problematik der gestiegenen sonderpädagogischen Zuweisungen sehr ähnlich wie die Lehrkräfte in den Bereichen „höhere Belastungen in der Schule und ihrer Umwelt“ sowie „gesellschaftlicher Druck“ (für Details und grafische Darstellungen dieser Ergebnisse vgl. Lanfranchi u. Jenny, 2005). Mehrheitlich befürworten sie die Deutung einer ungenügenden Lehrerbildung und Elternpräsenz. Nur teilweise Zustimmung findet einerseits die Hy- 122 A. Lanfranchi pothese, wonach eine tiefe und somit schlechte Versorgungsdichte (das heißt wenige Anstellungsprozente für viele Schulkinder) im Vergleich zu einer besseren Versorgungsdichte zu häufigeren Zuweisungen zu sonderpädagogischen Maßnahmen führe, weil die Schulpsychologen aufgrund hoher Fallzahlen weniger Zeit für Beratungsprozesse hätten. Andererseits ist die Mehrheit der Befragten mit der Aussage einverstanden, wonach bei hohen Fallzahlen die Zeit für Problemlösungsprozesse durch Beratung fehle, was zu vermehrter Nutzung des sonderpädagogischen Angebots führe. Die Ressourcenaktivierung im System Schule mit dem Ziel, dass Schulkinder nicht überstürzt abgeschoben werden, wird von den Schulpsychologen unserer Stichprobe sehr unterstützt. Eine breite Mehrheit ist auch der Meinung (anders als Lehrpersonen: s. Lanfranchi u. Jenny, 2005), dass mit der Auslagerung von Problemfällen der Regelschule zentrale sonderpädagogische Kompetenzen verloren gingen. Als Mittel zur Begrenzung der Zuweisung zu sonderpädagogischen Maßnahmen sehen die Schulpsychologen präventive Anstrengungen wie Schulentwicklungsprojekte und Beratungen/Coaching von Lehrkräften. Über die Wirksamkeit von Schulsozialarbeitern bei der Einschränkung von Zuweisungen sind sie uneinig. Allerdings: Dort, wo bereits Schulsozialarbeiter angestellt wurden und sie für Beratungen eingesetzt werden, sind Schulpsychologen tendenziell der Meinung, dass Schulsozialarbeiter die Zuweisungspraxis wirksam einzuschränken vermögen. Im Weiteren sehen die befragten Schulpsychologen Restriktionen als Einschränkungsmöglichkeit von Zuweisungen lediglich bei Sonderklassen- und teilweise Sonderschulversetzungen, nicht jedoch bei den pädagogisch-therapeutischen (wie Logopädie) oder schulischen Fördermaßnahmen (wie Schülerhilfe). 6 Diskussion Im Zentrum dieser Zusatzauswertung einer empirischen Erhebung über Zuweisungsmechanismen von Kindern mit Schulproblemen in Sonderklassen und Sonderschulen steht die Frage, wie professionell Schulpsychologen denken und wie sie handeln würden bei der Bearbeitung eines konstruierten, jedoch realistischen Falles. Es geht um einen Schüler mit Lern- und vor allem Verhaltensproblemen, der zufallsverteilt in einer Fallbeispiel-Version A „Lukas“ heißt und Schweizer ist, und in einer Version B „Bekir“ heißt und aus einer kosovoalbanischen Familie stammt. Im Vergleich zur Teilstichprobe der Lehrkräfte hat sich gezeigt, dass die erfassten Schulpsychologen bei der Fallbearbeitung sowohl im Vorgehen als auch bei den Interventionen in ihrer Urteilsbildung unvoreingenommener sind. Vor allem dort, wo es um einschneidende Maßnahmen wie einer Separation in eine Sonderklasse oder Sonderschule geht, lassen sie sich viel weniger als Lehrkräfte vom Vornamen des Kindes und der Abstammung seiner Familie, also von ethnokulturellen Stereotypen beirren. Wir gehen dabei davon aus, dass Schulpsychologen sich mehr als Lehrkräfte auf solide Entscheidungskriterien stützen, die sowohl mit dem Material des präsentierten Falles als auch mit berufsspezifischen Erfahrungswerten im Zusammenhang stehen. Dementsprechend werden sie bei ihrer Beurteilung im Vergleich zu Lehrkräften seltener ipabo_66.249.78.20 Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen 123 von situativen Zwängen beeinflusst, das heißt sie leiten ihre Vorschläge ausgehend vom beschriebenen Phänomen und der vorhandenen Möglichkeiten, und nicht von Vorannahmen ab. Das spricht für Professionalität in der Klärung der Situation und in der fallbezogenen Planung des Vorgehens sowie der Einleitung maßgeschneiderter Maßnahmen. Das spricht auch, unter dem Aspekt der erwähnten Unvoreingenommenheit und Fallspezifität, für interkulturelle Kompetenz (Lanfranchi, 2014). Dass die Schulpsychologen unseres Samples eine hohe interkulturelle Kompetenz an den Tag legen, wird von einem Detailbefund aus der Lehrerumfrage bestätigt, was zwar im Gesamtkontext nicht überinterpretiert werden sollte, und dennoch als bedeutsam erscheint (vgl. Lanfranchi, 2007, S.138): Zunächst einmal sind die befragten Lehrkräfte mit ihrem Schulpsychologischen Dienst mehrheitlich zufrieden. Sie beanspruchen ihn nicht nur als Ort der Planung, Vermittlung und Unterstützung, sondern bei Unsicherheiten auch als Möglichkeit, um die eigene Zuweisungspraxis zu überdenken. Darüber hinaus wird der Schulpsychologische Dienst beim Schüler aus der quasi-experimentellen Falldarstellung – unabhängig von seiner ethnokulturellen Zugehörigkeit – in jedem der untersuchten Kantone mit hoher Priorität eingeschaltet, und zwar sowohl für die Planung der ersten Schritte als auch für die Übernahme einer Beratung. Im Unterschied dazu wird der regionale Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst viel seltener als aufsuchende Organisation der Diagnostik und Beratung gewählt, wenn es sich um die Fallvariante des Migrantenkindes handelt. „Bekir“ wird also im Unterschied zu „Lukas“ in der Handlungsdisposition der Lehrkräfte kaum beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen angemeldet, während der Schulpsychologische Dienst bei beiden Kindern in gleich hoher Häufigkeit als Unterstützungsinstanz angesprochen wird. Das kann weitgehend so interpretiert werden, dass die Lehrkräfte den Fachpersonen im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst ein geringeres Knowhow im Umgang mit Schülern und vor allem Eltern unterstellen, die „kulturell“ anders sind, während sie den Schulpsychologen eine interkulturelle Arbeit zumuten. Schließlich legen Schulpsychologen in Bezug auf ihre eigenen Positionen im Umgang mit dem starken Zuwachs von Sondermaßnahmen – wohlgemerkt selbstdeklarativ – eine gewisse Progressivität an den Tag. Sie unterstützen fast einstimmig Vorschläge in Richtung einer Stärkung der Ressourcen von Lehrkräften als Möglichkeit, Probleme innerhalb der Klasse sowie in der Zusammenarbeit mit den Eltern zu lösen. Sie sind sich auch um die Gefahren sehr bewusst, die daraus entstehen, wenn in der Schule schwierige Fälle und somit Kompetenzen durch Expertisierung und Delegation an Sondereinrichtungen ausgelagert werden. Das ist von größter Bedeutung, denn es kommt dem Schulpsychologischen Dienst bei den beschriebenen Prozessen der Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen eine entscheidende Rolle zu. In jedem Schweizer Kanton sind sie, zwar mit unterschiedlichen Nuancen, die wichtigste Instanz auf der Ebene der Fachabklärung, Maßnahmenplanung und Antragstellung. Unsere Studie zeigt, dass Schulpsychologische Dienste ein Expertensystem darstellen, das die Maßnahmenzuteilung am fairsten beurteilt und bewerkstelligt, sowie in der Lage ist, die Steigerung der Separation von Migrantenkindern in Sonderklassen und Sonderschulen einzudämmen (zum möglichen Beitrag einer „inklusiven Schulpsychologie“ in 124 A. Lanfranchi Deutschland vgl. Huber, 2012). Dennoch sind die Bildungschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien nach wie vor ungerecht verteilt, und der Segregationsdruck ist immer noch hoch. Wir vermuten, dass es vor allem Schulpsychologen mit vielen Jahren Berufserfahrung, die außerdem in größeren Dienste gut vernetzt und für eine überschaubare Anzahl Schulen bzw. Schulkinder angestellt sind, die das Potenzial einer von professionellen Kriterien geleiteten fairen Beurteilung und Antragstellung am besten ausschöpfen. Das dürfte in viel geringerem Ausmaß zutreffen im Falle von kleinen Diensten mit hoher Personalfluktuation und jungen Mitarbeiterinnen, die eine traditionell orientierte, eher lineare statt systemische schulpsychologische Arbeit verrichten (vgl. Gutkin, 2009). In einer weiterführenden Studie mit differenzierterer Datenlage könnte untersucht werden, inwiefern strukturelle und personelle Elemente wie die Qualität der Organisation des Schulpsychologischen Dienstes, gemessen an den Rahmenbedingungen, verfügbaren Mitteln, Zusammensetzung und Professionalisierungsstand des Personals etc., einen Einfluss auf die Mechanismen der Zuweisung von Kindern mit Schulschwierigkeiten in separativen versus integrativen Einrichtungen haben. Es stellt sich nämlich die Frage, wie Schulpsychologen in Abhängigkeit verschiedener Faktoren mit den angemeldeten schulisch auffälligen Kindern umgehen, also ob sie eher problemlösende Beratungsprozesse in die Wege leiten (eventuell begleitet mit einer stützenden, integrativen sonderpädagogischen Maßnahme) oder ob die Problemlösung in der Verfügung separierender Maßnahme gesehen wird. Plakativ ausgedrückt könnte man davon ausgehen, dass sowohl aus sonderpädagogischer als aus bildungsökonomischer Sicht der effektivste Schulpsychologe derjenige ist, der am wenigsten Sonderschul- und Sonderklasseneinweisungen veranlasst, weil es ihm auch unter erschwerten Bedingungen wie stark heterogenen Klassen in einem sozial schwachen Schulumfeld gelingt, Problemlösungsverfahren im Sinne von Beratung und integrativer sonderpädagogischer Förderung vor Ort einzuleiten. Fazit für die Praxis Die Bildungschancen sind in deutschsprachigen Ländern ungleich verteilt. Migrantenkinder unterliegen diskriminierenden Zuschreibungen, was ihr Schulerfolg beeinträchtigen kann. Folglich müssen ethnokulturelle Stereotypen bei Problemlösungsprozessen möglichst erkannt, kontrolliert und vermieden werden. Nützlich dazu ist einerseits eine möglichst unvoreingenommene Haltung und Praxis der Beobachtung, Beurteilung und Unterstützung, und andererseits interkulturelle Sensibilität als Fähigkeit, einen fallspezifischen Zugang zu praktizieren. Kultur ist dabei nur eine von vielen relevanten Dimensionen, neben Faktoren wie psychologischen, sozialen und migrationsdynamischen Mechanismen. Interkulturelle Sensibilität kann man lernen und erhöhen, am besten in der interdisziplinär reflektierten Zusammenarbeit von Lehrkräften, Schulpsychologen und weiteren an der Schule beteiligten Fachpersonen. ipabo_66.249.78.20 Zuweisung von Kindern mit Schulproblemen 125 Literatur Arrijn, P., Feld, S. Nayer, A. (1999). 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Zugriff am 30.4.2015 unter: apps.who.int/classifications/icd10/browse/2010/en Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Andrea Lanfranchi, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH), Schaffhauserstrasse 239, Postfach 5850, CH-8057 Zürich; E-Mail: [email protected] ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften bei Kindern in einer Erziehungsberatungsstelle aus Elternsicht1 Kai Brüggemann Summary Symptom Severity and the Role of Friendship in Children at a Child Guidance Center from Parents’ Point of View By means of the Child Behavior Checklist (CBCL) it was assessed how much children who are attended to a child guidance center suffer from behavior problems and emotional distress. Furthermore, the interaction between straining and supporting influences was examined. Results show that symptom severity lies in the range of clinical significance. Children of divorced parents show more internalizing as well as externalizing problems than children of nuclear families. High social integration is correlated with lower psychic symptomatic – yet, this finding was dependent on family situation: While frequency to meet friends in children from nuclear families was correlated with lower symptomatic, this effect could not be found in children of divorced parents. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 127-142 Keywords psychic symptomatic – child guidance center – separation/divorce – peer relationship – CBCL Zusammenfassung Mithilfe der Child Behavior Checklist (CBCL) wurde erhoben, wie stark Kinder, die an einer Erziehungsberatungsstelle vorgestellt wurden, aus Elternsicht psychisch belastet sind. Zudem wurde das Zusammenspiel be- und entlastender Faktoren überprüft. Es zeigt sich, dass die psychische Symptomatik auf Ebene der Gesamtskalen im klinisch auffälligen Bereich liegt. Kinder aus Scheidungsfamilien sind sowohl im Internalisierungs- wie im Externalisierungsbereich deutlich stärker belastet als Kinder aus Kernfamilien. Eine hohe soziale Integration geht einher mit geringerer psychischer Belastung – allerdings fand sich dies abhängig von der familiären Situation: Bei Kindern aus Kernfamilien geht häufiges Treffen mit Freunden einher mit geringerer Belastung. Bei Kindern aus Scheidungsfamilien zeigt sich dieser Effekt hingegen nicht in gleichem Maße. 1 Für hilfreiche Kommentare und Anregungen zu diesem Manuskript bedanke ich mich bei Anita Keren-Leininger, Bettina Eigenbrodt und Hubert Mackenberg, von der Psychologischen Beratungsstelle des Oberbergischen Kreises. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 127 – 142 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 128 K. Brüggemann Schlagwörter psychische Belastung – Erziehungsberatung – Trennung/Scheidung – Gleichaltrigenbeziehung – CBCL 1 Hintergrund In den Anfragen an die Erziehungsberatung spiegeln sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie zunehmende berufliche Flexibilitätsforderungen, gestiegene Fördererwartungen an die Eltern, Konkurrenzdruck in der Schule, Auflösung des klassischen Familienbildes mit zunehmender Scheidungsrate sowie ein Überangebot an Medien wider. Diskutiert wird, ob diese Bedingungen zu einem Anstieg psychischer Belastung von Kindern und Jugendlichen führen. Ein wesentliches Ziel von Erziehungsberatung ist die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz und der Selbstwirksamkeit von Klient/innen, um ihnen „(...) zu helfen, sich mit ihren Bindungsmodellen und ihrer Beziehungsgestaltung auseinanderzusetzen, damit sie seelische Belastungen im Rahmen vertrauensvoller Beziehungen bewältigen können“ (Scheuerer-Englisch, Suess, Pfeifer, 2003, S. 12). Erziehungsberatung unterstützt diese Selbstwirksamkeit durch Hilfe zur Klärung individueller und familiärer Probleme und Konflikte. Für die Hilfegewährung spielen sowohl kindbezogene Anlässe wie Entwicklungsschwierigkeiten, Schul- und Konzentrationsprobleme (ESK) als auch elternbezogene Anlässe wie Erziehungsfragen und Konflikte bei Trennung und Scheidung (T/S) eine Rolle. Etwas über die Hälfte (53.5 %) der Kinder, die in Erziehungsberatungsstellen bundesweit vorgestellt werden, leben in Eineltern- oder Stiefelternfamilien, sind also vom Belastungsfaktor T/S betroffen (vgl. Destatis, 2014). Während bei ESK unter anderem (Schulleistungs-)Diagnostik sowie Beratung der Eltern und der Schule hinsichtlich möglicher Lernhilfen erfolgen, richten sich im Falle von T/S die Angebote einerseits auf Elternberatung und andererseits auf die Stärkung der Bewältigungsstrategien und der sozialen Kompetenz der Kinder selbst. Hierbei werden Gleichaltrigenbeziehungen als Ressource genutzt. So sind wesentliche Elemente in den T/S-Gruppen (vgl. z. B. TSK-Gruppenprogramm von Fthenakis et al., 1995) die Erfahrung von Solidarität und des Austausches mit Alters- und Leidensgenossen darüber, wie man Trennungserfahrungen bewältigen kann. Ferner lernen Kinder, sich in einem geschützten Rahmen gegenüber Gleichaltrigen über ihre Kränkungen und negativen Emotionen zu öffnen. 1.1 Psychische Belastung Die mittlere Prävalenz psychischer Störung in Kindheit und Jugend wird von Barkmann und Schulte-Markwort (2004) mit 17.2 % angegeben. Befunde zur Zunahme psychischer Belastung von Kindern und Jugendlichen werden in der gegenwärtigen ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften 129 Literatur kontrovers bewertet. Vossler (2004) beschreibt die erschwerte Identitätsfindung Jugendlicher in einer Situation des „Aufwachsens unter Unsicherheitsbedingungen“ und bezieht sich dabei auf Studien (z. B. Höfer, 2000; Hurrelmann, 1995), wonach „vor dem Hintergrund der geschilderten Anforderungen und Belastungen übereinstimmend über steigende Raten an psychischen Beeinträchtigungen (z. B. Hyperaktivität, Leistungsschwierigkeiten), emotionalen Verunsicherungen, depressiven Störungen sowie versuchten und erfolgten Suiziden bei Jugendlichen berichtet“ werde (Vossler, 2004, S. 552). Von Widdern, Häßler, von Widdern und Richter (2004) fassen den internationalen Forschungsstand so zusammen, „dass Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen im Verlauf der letzten Jahrzehnte generell zugenommen haben“ (ebd., S. 653). Hierbei heben sie einen Anstieg von depressiven Erkrankungen wie auch von Kriminalität und Störungen durch Substanzmissbrauch bei Jugendlichen hervor. Demgegenüber resümiert Martin Dornes die epidemiologischen Studien zu psychischen Erkrankungen der letzten 50 Jahre und kommt zu dem Befund „dass sich die Erkrankungshäufigkeit von Kindern und Jugendlichen in den letzten 50 Jahren nicht nennenswert verändert hat“ (Dornes, 2011, S. 19). Diese wird mit 17 % eines Jahrgangs beziffert, wobei etwa 10 % als dauerhaft krank gesehen werden können. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Freisleder (zit. nach Novotny, 2014). Die KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts kommt zum Ergebnis, dass etwa 20 % der 3- bis 18-jährigen Hinweise auf psychische Störungen zeigen und bei etwa 12 % dadurch deutliche Beeinträchtigungen im sozialen und/oder schulischen Bereich vorliegen. Diese Zahlen geben keine Hinweise auf eine Steigerung gegenüber der KIGGS-Basis-Erhebung von 2003 (Hölling, Schlack, Petermann, Ravens-Sieberer, Mauz, 2014). Angesichts dieser Kontroverse zu steigenden Prävalenzen psychischer Störungen und Belastungen ist es von Interesse, wie stark eine Inanspruchnahmepopulation einer Erziehungsberatungsstelle von Symptomen betroffen ist. Die empirische Befundlage hierzu ist sehr schmal, wie eine Literaturrecherche über die Datenbanken MedLine, PsycInfo und Psyndex mit den Suchbegriffen („fragebogen“ UND „erziehungsberatung*“) UND („verhalten*“ ODER „störung“ ODER „psychisch“) im Zeitraum von 1980 bis 2015 zeigt. Von den insgesamt 16 gefundenen Studien berichten drei über Untersuchungen an Erziehungsberatungsstellen (Jacob, 2008; Kühnl, Huber, Obak, 2013; Rösel, 1985). In keiner dieser Studien finden sich Häufigkeitsangaben über ein Gesamtspektrum psychischer Belastungen. Eine Studie zur administrativen Prävalenz von psychischen Störungen in stationären und ambulanten Einrichtungen der Modellregion Marburg von Remschmidt und Walter (1990) beinhaltete eine Teilstichprobe aus einer Erziehungsberatungsstelle. Hier wurden in den Jahren 1985-1987 Klienten in Erstgesprächen der CBCL ausgeteilt. In der Auswertung dieser 59 Fragebögen ergab sich ein Mittelwert von 37.17 Rohwerten (SD = 19.66), was umgerechnet einem T-Wert 63 (für Jungen) entspricht. 130 K. Brüggemann 1.2 Belastungsfaktor Trennung/Scheidung Zahlreiche Studien belegen das Risiko der Trennung von Eltern für die kindliche Entwicklung (Amato, 2001; Reis u. Meyer-Probst, 1999; Schmidt-Denter, 2005; Schneewind u. Walper, 2008). Haffner et al. (2002) zeigen anhand einer epidemiologischen Studie an über 4.000 Einschulungskindern, dass unter einer Vielzahl von Faktoren die familiären Belastungen das größte Gewicht haben. Nach einer Trennung machen die Autor/innen insbesondere seelische und Beziehungsprobleme der Eltern und finanzielle Belastungen aus. Dabei spielen nach Ergebnissen der Kölner Längsschnittstudie die Faktoren negative Beziehung des Kindes zum getrennt lebenden Vater, weiter bestehende Beziehungsprobleme der Eltern nach der Trennung sowie insbesondere der elterliche Erziehungsstil des nun alleinerziehenden Elternteils die wichtigste Rolle (Schmidt-Denter, 2001). Dies zeigt sich unter anderem in geringerer Unterstützung bei Hausaufgaben und weniger Überwachung in den Freizeitaktivitäten der Kinder im Vergleich zu Müttern in Kernfamilien (vgl. Schneewind u. Walper, 2008). Die KIGGS-Studie hat zudem ergeben, dass Kinder getrennter Eltern ein doppelt so hohes Risiko aufweisen, psychisch zu erkranken im Vergleich zu Kindern aus Kernfamilien (Rattay, von der Lippe, Lampert, 2014). Angesichts der genannten Risiken für die kindliche Entwicklung wird in dieser Studie untersucht, wie sich die Trennung der Eltern auf das psychische Befinden der Kinder auswirkt. Dabei wird angenommen, dass – unabhängig von Alter, Geschlecht und sozio-ökonomischer Lage einer Familie – Scheidungskinder stärker belastet sind als Kinder aus Nicht-Scheidungsfamilien und damit die familiäre Situation ein Prädiktor der internalisierenden wie externalisierenden Symptombelastung ist (Hypothese 1). Es wird dabei mit Schneewind und Walper (2008) nicht angenommen, dass sich ein spezielles Symptomprofil zeigt. 1.3 Gleichaltrigenbeziehungen: Ressource oder Risiko? Ein wichtiger Bereich kindlicher Selbstheilungs- und Selbstwirksamkeitserfahrung sind Gleichaltrigenbeziehungen (Sullivan, 1983). Im Alter von fünf bis acht Jahren sind Freunde Spielpartner für gemeinsame Aktivitäten und verbringen die meiste Zeit miteinander. Räumliche Nähe, attraktive Spielsachen und ähnliche Erwartungen hierüber spielen eine wichtige Rolle (von Salisch, 1991). Im Schulalter werden Ähnlichkeit der Interessen und der Werthaltungen (Kooperativität, Hilfeverhalten) für die Bedeutung von Freundschaften zentraler (Epstein, 1989). In der mittleren Kindheit wächst das Verständnis dafür, dass Gefühle und Absichten Freundschaften ausmachen, dass Unterstützungsbereitschaft und Loyalität eine Rolle spielen, aber auch Vertrauen und Öffnungsbereitschaft (Parker, Rubin, Erath, Wojslawowicz, Buskirk, 2006). Dabei sind die Beziehungen von Kindern untereinander vernetzt. Die typischen Netzwerke in der mittleren Kindheit, sogenannte „Geflechte“ (Krappmann u. Oswald, 1983), stellen eher lockere Zusammenschlüsse dar und sind wenig hierarchisch binnenstrukturiert. Die ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften 131 Beziehungen beruhen eher auf Beliebtheit und sind zeitlich weniger überdauernd, es werden vielmehr „wechselnde dyadische oder triadische Beziehungen“ (Krappmann, 2010, S. 201) innerhalb des Interaktionsgeflechts gebildet. Mit Beginn des Jugendalters stellen Peers wichtige Sozialisationspartner dar und bieten vielfältige Lernmöglichkeiten im Freizeit- und Unterhaltungsbereich (vgl. Hurrelmann, 1999; Wettstein, 2014), was an der beginnenden sozialen Ablösung von den Eltern sowie der Selbstbestimmung der Sozialkontakte festgemacht wird. Auch Anerkennung durch Gleichaltrige sowie Rat und Unterstützung sind wichtige Merkmale von Freundschaftsbeziehungen in diesem Alter (ipos, 1999, zitiert nach BMFSFJ, 2002). Demgegenüber haben nach wie vor die Eltern einen größeren Einfluss auf Normen und Verinnerlichung von Werten der Kinder und Jugendlichen (Coleman, 1978; Ewert, 1983), so in den Bereichen der (Aus-)Bildung und beruflichen Karriere (Hurrelmann, 1999). Hinsichtlich der Frage nach Effekten von Freundschaften auf die kindliche Entwicklung zeigen Längsschnittstudien, dass Kinder mit Freundschaften besser an schulische Anforderungen angepasst sind (Ladd, Kochenderfer, Coleman, 1996) und dass Freundschaften in der Kindheit zu einem besseren Selbstwertgefühl im Jugendalter beitragen (Hartup u. Stevens, 1999). Freundschaften scheinen Kindern und Jugendlichen auch in der Bewältigung von Lebensaufgaben wie etwa dem Übergang in die weiterführende Schule zu helfen (Hartup, 1996) und gehen einher mit einem geringerem Risiko für Verhaltensstörungen (Hartup, 1993). Hierbei wird auch die Frage berührt, inwiefern Freundschaften negative Auswirkungen des Elternhauses zum Teil auffangen können (vgl. Criss, Pettit, Bates, Dodge, Lapp, 2002; Werner u. Smith, 2001). Insgesamt scheint sich zu zeigen, dass die Pufferwirkung von Gleichaltrigen bei der Bewältigung sehr belastender familiärer Bedingungen nicht ausreicht (Siegler, DeLoache, Eisenberg, 2005) und die Unterstützung durch Eltern bzw. erwachsene Bezugspersonen hierbei erforderlich ist (Wolchik, Ruehlman, Braver, Sandler, 1989). Berndt (2002) zeigt, dass Freundschaften nicht per se zu einem besserem Selbstwertgefühl führen, vielmehr hängt dies von der sozialen Kompetenz dieser Freunde ab. Ferner bergen konfliktreich erlebte Freundschaftsbeziehungen ein hohes Risiko für eine ungünstige schulische Entwicklung – dieser negative Einfluss scheint stärker zu sein als der positive Einfluss auf die Leistungsentwicklung, der mit unterstützenden Freundschaftsbeziehungen einhergeht (Berndt, 1996). Die Freundschaft zu einem Kind mit deviantem Sozialverhalten gilt als der größte Risikofaktor für beginnende Dissozialität im Jugendalter (vgl. Baier, Rabold, Pfeiffer, 2010; Wettstein, 2014). Viele Studien legen jedoch nahe, dass der Einfluss von Gleichaltrigen delinquentes Risikoverhalten (nur) dann steigert, wenn Unterstützung durch die Eltern fehlt (vgl. Wehner, 2009). Eine Studie von Mounts (2001, zitiert nach Brake 2010) bei 14- bis 15-jährigen Schüler/innen zeigt, dass (Kontroll-)Interesse der Eltern an der Freizeit ihrer Kinder einhergeht mit geringerem Drogenkonsum und weniger delinquentem Verhalten. Freizeitverhalten mit wenig Aufsicht durch die Eltern gilt als Risikofaktor für das Auskommen mit Gleichaltrigen und für Schulerfolg, was wiederum die Nähesuche zu 132 K. Brüggemann dissozialen Gleichaltrigen voraussagt (Dishion, Patterson, Griesler, 1994; Wettstein, 2014). Die Beziehung zu Gleichaltrigen erfährt bei Kindern mit T/S eine zusätzliche Bedeutung, da hierbei ja die Unterstützung bzw. Überwachung der Freizeitaktivitäten im Durchschnitt geringer ausfällt (vgl. Schneewind u. Walper, 2008). Die Befundlage in der Literatur spricht also einerseits dafür, dass eine höhere soziale Integration einhergeht mit geringerer psychischer Belastung. Andererseits ergeben sich aus der gegenwärtigen Forschung auch Hinweise darauf, dass sich negative Effekte der Freunde zeigen könnten in Abhängigkeit von der familiären Situation: Eine höhere Interaktionshäufigkeit mit Freunden könnte gerade bei Familien mit T/S einhergehen mit höherer psychischer Auffälligkeit, da hier ja das notwendige Monitoring durch die Eltern geringer ausfällt. In diesem Beitrag wird untersucht, ob die soziale Integration des Kindes einen eigenen bedeutsamen Beitrag zur Vorhersage der psychischen Symptomatik leistet (Hypothese 2). 2 Methode 2.1 Stichprobe In den Jahren 2009-2014 wurden N = 2.818 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter (6-18 Jahre) in der Beratungsstelle gesehen (Gesamt, vgl. Tab. 1). In die vorliegende Untersuchung wurden alle Fälle einbezogen, bei denen im Rahmen einer psychodiagnostischen Untersuchung zur Abklärung von ESK ein oder mehrere Versionen der Achenbach-Fragebögen (Child Behavior Checklist, Youth Selfreport Form, Teacher Report Form) vorgelegt wurde. Dies ergab eine Stichprobe von N = 94, was 3.34 % bezogen auf die Gesamtzahl entspricht (Fragebogen-Stichprobe). Ein Fragebogen wurde aufgrund sprachlicher Verständnisprobleme und damit verbunden eines Bodeneffektes von der Analyse ausgeschlossen, da vermutlich eine Antworttendenz (Unterdrückung von Auffälligkeiten) vorlag. Im Hinblick auf den Berufsabschluss der Mutter entspricht die Fragebogenstichprobe etwa der Gesamtzahl vorgestellter Klienten, während sie einen höheren Empfang von Arbeitslosengeld II (ALG II)2 aufweist. Ferner ist die Stichprobe stärker jungenlastig und jünger. Kritische Lebensereignisse sind etwa gleich vertreten, und die T/SQuote ist in der Stichprobe geringer (vgl. Tab. 1). Für die ausgeführten Fragestellungen und Hypothesen wurden sämtliche CBCLFragebögen (N = 73) aus der beschriebenen Stichprobe analysiert. Der Altersdurchschnitt liegt bei 10.53 Jahren (SD = 2.89, Range = 6.1-17.8). 2 Während das Arbeitslosengeld (ALG) in Deutschland eine Leistung der Arbeitslosenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch III darstellt, handelt es sich bei dem zum 1.1.2005 eingeführten ALG II um eine Grundsicherungsleistung von Erwerbsfähigen und Hilfsbedürftigen, aber nicht zwingend Arbeitslosen nach dem Sozialgesetzbuch II. ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften 133 Tabelle 1: Gesamtheit (N = 2.818) und Untersuchungs-Stichprobe (N = 93). Angaben in Prozent (%) Gesamt Stichprobe 2.2 Geschlecht M:W 52:48 78:22 Eltern getrennt 50.64 40.86 ALG 11 16 Sozialstatus niedrig/mittel/hoch 25/59/5 28/63/2 Alter 6-9/10-13/14-17 34/35/32 48/38/14 Krit. LE 0 oder 1 47.8 % 46.2 % Messinstrumente Zur Messung der psychischen Symptomatik wurde die Child Behavior Checklist (CBCL, Arbeitsgruppe Kinder-, Jugendlichen- und Familiendiagnostik, 1993) verwandt. Dieser Fragebogen erfasst Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Auffälligkeiten, Körperbeschwerden und soziale Kompetenzen aus Elternsicht. Im CBCL gelten für die übergeordneten Internalisierungs- und Externalisierungsskala TWerte über 63 als klinisch auffällig (Grenzbereich: T-Werte zwischen 60 und 63), für die acht einzelnen Syndromskalen werden Ausprägungen ab einem T-Wert > 70 als klinisch auffällig eingeschätzt (Grenzbereich: T-Werte zwischen 67 und 70). Die familiäre Situation wird über die Angabe der Eltern zum Familienstand bei der Anmeldung zur Beratung erfasst. Die soziale Integration des Kindes wird definiert über die Anzahl der Treffen mit Freunden außerhalb der Schulstunden (0 = keinmal, 1 = 1-2 mal, 2 = 3 mal oder häufiger pro Woche). Als Kontrollvariablen werden zum einen Alter und Geschlecht mit aufgenommen, zum andern der sozioökonomische Status. Dieser wird erfasst über die Angabe der Eltern, ob ALG, ALG II oder andere Grundsicherungsleistungen in Anspruch genommen werden und über den Berufsabschluss der Mutter (ohne Beruf, un-/angelernt und mittlerer Angestellter/Facharbeiter; ohne Nennungen für Selbständige und unbekannt). Die Prädiktoren sind mit einer Ausnahme (Korrelation von ALG mit Sozialstatus der Mutter r = .22, p = .04) nicht signifikant korreliert. 2.3 Datenanalyse Zur Beantwortung der ersten Fragestellung wurden die Mittelwerte und Standardabweichungen der acht Syndromskalen sowie der übergeordneten Skalen gebildet. Zur Bearbeitung der Hypothesen 1 und 2 wurde zunächst eine hierarchische Regression durchgeführt.3 Es soll damit geprüft werden, ob Alter, Geschlecht und sozioökonomischer Status wie angenommen in dieser Stichprobe keinen Einfluss haben auf die psychische Symptomatik. Dabei werden schrittweise Prädiktoren aufgenommen, um zu testen, ob der neu hinzukommende aufgeklärte Varianzanteil die Vorhersage signifikant verbessert (ΔR2). Anschließend werden multi- und univariate 3 Die Vorraussetzungen für die multiple Regression – Homoskedastizität und Ausschluss von Mul- tikollinearität – sind erfüllt mit Toleranzwerten für die Prädiktoren wie für die abhängigen Variablen größer .2). 134 K. Brüggemann Mittelwertsvergleiche durchgeführt (MANOVA und ANOVA bzw. t-test) mit den Faktoren „Trennung“ und „Anzahl der Treffen mit Freunden“ (hierfür N = 68, da bei fünf Fragebögen Angaben zu Freunden fehlten) sowie den abhängigen Variablen Internalisierungs- und Externalisierungsskala. Die Auswertungen erfolgten mithilfe des Statistikprogramms R (Version 2.13.1), die Teststärkeberechnungen mit dem Programm G*Power (Version 3.1.; Faul, Erdfelder, Buchner, Lang, 2009). 3 Ergebnisse 3.1 Vergleich der Stichprobe mit der Normierungsstichprobe Die Mittelwerte für die Internalisierungs- und Externalisierungsstörung in der Fragebogenstichprobe liegen im klinisch auffälligen Bereich (vgl. Tab. 2). Die Mittelwerte der Einzelskalen liegen unterhalb des Grenzbereichs zur klinischen Auffälligkeit. Die höchsten Werte finden sich auf den Skalen VI „Aufmerksamkeitsprobleme“ und VIII „Aggressives Verhalten“. Tabelle 2: T-Werte der Untersuchungs-Stichprobe (M = Mittelwert, sd = Standardabweichung) Skala M SD I II III IV V VI VII VIII Int Ext 62,49 7.94 59,48 8.78 63,21 8.15 62,11 8.68 54,08 6.76 65,97 8.40 61,48 8.17 65,77 9.53 64,01 8.01 64,81 9.71 Bei 25 % der Klienten liegt der Wert der Internalisierungsskala im Grenzbereich sowie bei 15 % der Externalisierungsskala. Bei 51 % der Klienten liegt der Wert der Internalisierungsskala im klinischen Bereich sowie bei 58 % der Externalisierungsskala. Die Verteilung der Internalisierungs- und Externalisierungswerte weicht nicht bedeutsam von der Normalverteilung ab (Lilliefors-Test: D = .09, p = .11 für Internalisierung und D = .07, p = .46 für Externalisierung). Die Werte der Internalisierungs-Skala liegen im Bereich von T-Wert 42 – 78 (M = 64.01, SD = 8.01), die der Externalisierungs-Skala zwischen T-Wert 37 – 80 (M = 64.81, SD = 9.71). 3.2 Prädiktoren der Symptombelastung Zunächst wurde der Einfluss von möglichen konfundierenden Variablen auf die abhängigen Varibalen kontrolliert. Im ersten Schritt der hierarchischen Regression (Modell 1) werden hierzu die Variablen Alter und Geschlecht aufgenommen. Diese haben keinen Einfluss auf die aufgeklärte Varianz R2 (vgl. Tab. 3). Auch die sozioökonomischen Variablen zeigen keinen Einfluss (Modell 2). Eine Änderung der Reihenfolge, in der die Prädiktoren aufgenommen werden, ändert die Varianzaufklärung nicht. Die Teststärke für die Regression mit vier Prädiktoren kann mit 1-ß = .91 (Internalisierung) ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften 135 bzw. mit 1-ß = .89 (Externalisierung) als ausreichend angesehen werden, sodass davon ausgegangen werden kann, dass Alter, Geschlecht und die hier untersuchten sozioökonomischen Variablen keinen Erklärungswert haben für die psychische Belastung. Tabelle 3: Hierarchische Regression; n. s. = nicht signifikant; N = 68 Modell 1 Kontroll-Variablen (Alter, Geschlecht) 2 Kontrollvariablen + sozioökon. Status (ALG, Beruf) Internalisierungs-Skala ΔR2 Regr.-koeffz. R2 n. s. .05 n. s. n. s. .12 .07 Externalisierungs-Skala Regr.-koeffz. R2 ΔR2 n. s. .03 n. s. n. s. .11 .08 Nach Kontrolle dieser Einflüsse wird daher untersucht, ob die angenommenen Faktoren der familiären Situation und der sozialen Integration einen Erklärungswert haben für die psychische Belastung der Klient/innen (Hypothesen 1 und 2). In der MANOVA zeigt sich ein signifikanter Haupteffekt für den Faktor „Trennung“ (F(2, 61) = 4.38, p ≤ .05), hingegen verfehlt der Faktor „Anzahl der Treffen mit Freunden“ knapp die Signifikanzgrenze (F(4, 124) = 2.35, p = .06). Auch der Interaktionseffekt ist nicht signifikant (F(4, 124) = 2.1, p = .08). Die Teststärken liegen im Bereich von 1-ß = .95 - .97. Zur weiteren Analyse wurden zweifaktorielle ANOVAs jeweils mit den Faktoren „Trennung“ und „Anzahl der Treffen mit Freunden“ getrennt für die Internalisierungs- und die Externalisierungsskala durchgeführt. Die 2-faktorielle ANOVA mit der abhängigen Variable Internalisierungsskala ergibt einen signifikanten Haupteffekt „Trennung“ (F(1, 62) = 7.24, p < 0.01). Kinder aus der Trennungsgruppe weisen demnach über alle Faktorstufen der sozialen Integration hinweg bedeutsam stärkere Belastungen auf als Kinder, deren Eltern zusammen leben. Die beobachteten Mittelwertsunterschiede zwischen den Gruppen des Faktors „Anzahl der Treffen mit Freunden“ weisen keine Signifikanz auf (F(2, 62) = 1.90, p = 0.16). Während die Symptomwerte bei den Kindern ohne Trennung mit steigender Treffenshäufigkeit abnehmen (Mkeine Treffen = 64.82, M1-2 Treffen = 62.72 M3 oder mehr Treffen = 58.10), gilt dies bei den Trennungskindern nur eingeschränkt (Mkeine Treffen = 69.57, M1-2 = 66.00, M3 oder mehr Treffen = 66.73). Treffen Die Gruppenmittelwerte der Kinder aus Trennungsfamilien liegen im klinisch auffälligen Bereich (M = 66.93), die der Kinder zusammenlebender Eltern liegen im unauffälligen Bereich (M = 61.98). Der Interaktionseffekt ist ebenfalls nicht signifikant (F(2, 62) = 0.76, p = .47). Die 2-faktorielle ANOVA mit der abhängigen Variable Externalisierungsskala zeigt ebenfalls einen signifikanten Haupteffekt „Trennung“ (F(1, 62) = 4.64, p <.05), wonach Trennungskinder insgesamt höhere externalisierende Verhaltensauffälligkeiten auf- 136 K. Brüggemann weisen als Kinder aus Kern-Familien. Die Mittelwertsunterschiede zwischen den Faktorstufen von „Anzahl der Treffen mit Freunden“ sind zwar nicht signifikant (F(2, 62) = 2.52, p = 0.09). Es resultiert jedoch ein signifikanter Interaktionseffekt „Trennung * Anzahl der Treffen mit Freunden“ (F(2, 62) = 4.03, p <. 05): Stärkere soziale Integration geht demnach bei Kindern aus Kernfamilien einher mit signifikant geringerer Symptombelastung (Mkeine Treffen = 68.91, M1-2 Treffen = 60.67, M3 oder mehr Treffen = 60.30) – bei Trennungskindern hingegen steigt mit zunehmender Treffenshäufigkeit die Symptombelastung (Mkeine Treffen = 65.14, M1-2 Treffen = 63.91, M3 oder mehr Treffen = 73.09). Hinzu kommt noch: Während bei Kindern aus Kernfamilien, die sich ein- bis zweimal pro Woche mit Freunden treffen, die Symptombelastung niedriger ist als bei solchen, die sich weniger als einmal pro Woche treffen (60.67 vs. 68.91), fällt der entsprechende Symptomrückgang bei Kindern aus Trennungsfamilien viel geringer aus (63.91 vs. 65.14). Die berechneten Teststärken der ANOVAs liegen im Bereich von 1-ß = .42 - .79. Die Effektstärken liegen – mit einer Ausnahme (Interaktionseffekt Internalisierungsskala) – im Bereich von η2 = .06 - .12, was nach Cohen (1988) mittleren Effektgrößen entspricht. Insgesamt lässt sich Hypothese 1 somit bestätigen, während Hypothese 2 zurückgewiesen werden muss. Eine größere soziale Integration im Sinne eines häufigeren Treffens mit Freunden geht nur eingeschränkt mit einer geringeren psychischen Symptomatik einher, nämlich nicht für Trennungskinder. Abschließend sollte der Faktor „Trennung“, für den ein Einfluss statistisch nachgewiesen werden konnte, näher untersucht werden. Hierzu wurden Kinder aus Kernfamilien verglichen mit T/S-Kindern hinsichtlich ihrer Werte auf den acht CBCL-Unterskalen. Um eine Inflation des Alpha-Fehlers bei multiplem Testen zu verhindern, wird hierfür ein korrigiertes α-Niveau von p = 0.006 zugrunde gelegt. Tabelle 4: T-Werte (Mittelwerte) und t-test bzw. * Welch Two Sample t-test (wg. fehlender Varianzhomogenität); N = 73, df = 71 Skala T/S Kernfamilie P I 65.03 60.72 .02 II 60.6 58.7 .37 III 66.6 60.84 .002 IV 66.27 59.21 .0004 V 53.77 54.3 .74 VI 67.97 64.58 .09 VII 63.87 59.81 .03* VIII 68.53 63.84 .04 Dies zeigt, dass im Hinblick auf die untersuchte Stichprobe bei T/S-Kindern signifikant höhere Werte auf den Skalen III „Ängstlich/Depressiv“ (t(71) = -3.15, 1-ß = .93) und IV „Soziale Probleme“ (t(71) = -3.71, 1-ß = .98) zu verzeichnen sind. Die Effekte sind nach Cohen (1988) als mittel bis groß (d = .75 resp. d = .88) einzuschätzen. Hinsichtlich der Normwerte lässt sich sagen, dass erneut keine der Skalenwerte der Kinder aus Kernfamilien im klinisch auffälligen Bereich liegen, während in der T/SGruppe die Skalen VI und VIII im Grenzbereich zur klinischen Auffälligkeit liegen. ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften 137 4 Diskussion Bezogen auf die eingangs erwähnten Fragestellungen zeichnet sich folgendes Bild ab: Die Stichprobe ist in Bezug auf die CBCL-Normen im Internalisierungs- wie Externalisierungsbereich erheblich psychisch belastet. Im Vergleich zur Untersuchung von Remschmidt und Walter aus dem Jahr 1990 liegt der Gesamtwert der aktuellen Fragebogenstichprobe etwas höher. Daraus lässt sich die hohe Bedeutung nicht nur von Prävention, sondern auch von kindertherapeutischen Interventionen im Rahmen der Erziehungsberatung heutzutage erkennen. Es konnte gezeigt werden, dass T/S unabhängig von Alter, Geschlecht und ALG II-Bezug bedeutsame Varianzanteile internalisierender wie externalisierender Symptomatik aufklärt. Dabei unterscheiden sich die Trennungs- von den Kernfamilien insbesondere in ängstlich-depressiver Symptomatik und sozialen Problemen. Die Effekte der sozialen Integration verfehlen hingegen knapp die Signifikanzgrenzen. Die geringen Teststärken auf diesem Faktor lassen vermuten, dass sich bei größerer Stichprobe die Effekte auch nachweisen ließen. Statistisch nicht bedeutsam, aber als Tendenz zeigt sich für beide Symptombereiche: Eine bessere soziale Integration im Sinne eines häufigeren Treffens mit Freunden geht mit einer geringeren psychischen Symptomatik einher. Allerdings gilt dies für Trennungskinder nur eingeschränkt: Häufigeres Treffen (drei- oder mehrfach pro Woche) geht bei ihnen mit höherer externalisierender Symptomatik einher. Möglicherweise kommt dieser Effekt durch häufigere unbeaufsichtigte Freizeitaktivitäten und -kontakte und somit fehlende elterliche Unterstützung (Dishion et al., 1994; Wehner, 2009) zustande, wovon Trennungskinder öfter betroffen sind (Schneewind u. Walper, 2008). Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ist, dass sie nicht in dem Maße von sozialen Kontakten profitieren wie Kinder aus Kernfamilien. Eine Reihe von Faktoren schränkt die Aussagefähigkeit der Ergebnisse jedoch ein. Erstens erlaubt das Untersuchungsdesign keine kausale Erklärung der Wirkrichtung, da die Daten nur zu einem Messzeitpunkt erfasst wurden. Wenn also hohe soziale Integration einhergeht mit niedriger psychischer Symptomatik, kann dies zwei Gründe haben: Einerseits ist denkbar, dass soziale Integration einen puffernden Effekt hat auf Symptombelastung. Andererseits ist auch möglich, dass die psychische Symptomatik Auswirkungen hat auf die soziale Kompetenz und damit auf die soziale Integration. Auch ist zu bedenken, dass nur die Elternsicht erfasst wurde, Selbst- und Lehrerurteil jedoch nicht in die Analysen einbezogen wurden. Zweitens ergibt sich eine Reihe von Einschränkungen aus der Beschaffenheit der Stichprobe: Es sind erheblich mehr Jungen als Mädchen vertreten, wobei dies zu einem gewissen Grad die Verteilung bei der Fragestellung der ESK widerspiegelt. In puncto ALG II-Quote liegt die Stichprobe unter dem Bundesdurchschnitt, während in puncto kritischer live-events und vor allem T/S keine stärkere Belastung vorliegt. Selektionseffekte bieten somit also nur zum Teil eine Alternativerklärung der gefundenen Symptombelastung. 138 K. Brüggemann Schließlich erlaubt die Stichprobengröße nur eine begrenzte Generalisierbarkeit und ist sicher nicht repräsentativ in Bezug auf soziale Schichtzugehörigkeit, Migrationsanteil und Sozialraumunterschiede. Eine Repräsentativität für alle Facetten einer Erziehungsberatungsstelle ist damit sicher nicht gegeben, dennoch kann für den ESKBereich Gültigkeit angenommen werden. Für die Praxis ergibt sich damit, sowohl externalisierende wie auch internalisierende Symptomatiken bei Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen und ein breit gefächertes Angebot hierfür bereitzuhalten. Kinder lernen in der Interaktion mit Gleichaltrigen soziales Verhalten. Verhaltensauffällige wie z. B. aggressive Kinder mit externalisierenden Symptomatiken hingegen haben seltener Kontakt mit Peers, sodass sie weniger soziale Kompetenz erwerben können (Aichinger, 2007). Ferner interpretieren sie soziale Reize auch feindseliger und suchen oft konfliktverstärkende Lösungswege (vgl. Crick u. Dodge, 1994). In der kindbezogenen Förderung wie z. B. im TSK-Gruppenprogramm (Fthenakis et al., 1995) oder im Kinderpsychodrama (Aichinger u. Holl, 2010) werden Kinder darin unterstützt, in gelingende Interaktionen zu Peers zu gelangen. Ferner sollen die Kinder die Erfahrung machen können, hilfreiche und solidarische Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Gerade dies kann ein wichtiger Schutzfaktor psychischer Entwicklung sein, wie die vorliegenden Daten andeuten. Zugleich sollte nicht nur auf externalisierende Symptome geachtet werden, sondern auch auf die „stillen“ und vermeintlich unbelasteten Kinder. Die größten Unterschiede zwischen Ein- und Kernfamilien zeigten sich in unseren Daten in den Bereichen ängstlich-depressiver Symptomatik und sozialen Problemen (z. B. unbeliebt sein, gehänselt werden). Auch hierfür bieten Gruppenangebote in Erziehungsberatungsstellen gute Möglichkeiten, den Bedürfnissen zurückgezogener Kinder in ihrer Belastungsverarbeitung gerecht zu werden. Für die Praxis der Erziehungsberatung ergibt sich daraus ferner, dass im Einzelfall zu schauen ist, ob Beziehungen zu Gleichaltrigen dem Kind helfen, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, oder ob sich in diesen Freundschaften auch wieder problematische Muster aus früheren Beziehungserfahrungen wiederfinden (Scheuerer-Englisch, 2007). Was die langfristige Förderung anbelangt, zeigt die Untersuchung, dass es wichtig ist, das Freizeitverhalten in den Blick zu nehmen. Hier muss beachtet werden, was Kinder nach der Schule im Sozialraum unternehmen. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Lebensweltorientierung der Erziehungsberatung (bke, 2013) eine wichtige Rolle in der Prävention von Verhaltensauffälligkeiten bei Risikogruppen wie Scheidungskindern spielt. Durch Teilnahme an Stadtteilkonferenzen und die Vernetzung mit örtlichen Anbietern der offenen Jugendarbeit kann es gelingen, Kindern einen förderlichen Entfaltungsraum jenseits von Risiken zuviel unbeaufsichtigter Freizeit (wie z. B. exzessiver PC-Nutzung) zu bieten. Kooperationsvereinbarungen zwischen Schule und Jugendhilfe können eine bessere Verzahnung ermöglichen, etwa zwischen der offenen Ganztagsbetreuung einer Schule und Jugend(hilfe)einrichtungen im Sozialraum (Beratungsstelle Südviertel, 2014) und dazu beitragen, dass soziale Benachteiligungen reduziert werden (Wieland, 2006). ipabo_66.249.78.20 Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften 139 Fazit für die Praxis t Angebote in der Erziehungsberatung sollten auf die soziale Integration und soziale Kompetenz der Kinder zielen – dies ist in besonderem Maße für Kinder mit Trennungs-/Scheidungshintergrund wichtig. t Angebote für Trennungs-/Scheidungskinder sollten sowohl das externalisierende wie das internalisierende Belastungsspektrum im Blick halten. t Bei der Exploration des sozialen Netzes sollte geklärt werden, ob Freundschaftsbeziehungen von Klienten als unterstützend und hilfreich erlebt werden. Literatur Aichinger, A. (2007). 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Korrespondenzanschrift: Kai Brüggemann, Erziehungs- und Familienberatungsstelle Sankt Augustin, Wehrfeldstraße 2, 53757 Sankt Augustin; E-Mail: [email protected] ipabo_66.249.78.20 AUTOREN UND AUTORINNEN Veronika Brezinka, Dr. phil. Dr. (PhD), Psychologin und Verhaltenstherapeutin, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich. Kai Brüggemann, Dipl.-Psych., Systemischer Therapeut (SG), seit 2009 tätig in der Erziehungsberatung. Jörg M. Fegert, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, Mitglied im Vorstand der APK und Leiter der AG „Seelische Gesundheit und Teilhabe für Kinder und Jugendliche“, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatik, Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung „Achtung! Kinderseele“. Andrea Lanfranchi, Prof. Dr. phil., Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie FSP und Eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut mit eigener Praxis in Zürich. Hochschuldozent und Leiter Forschung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, sowie Lehrtherapeut und Supervisor im Team des Ausbildungsinstituts Meilen, Systemische Therapie und Beratung. Miriam Rassenhofer, Dipl.-Psych., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT), Leitende Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Paul L. Plener, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, Board-Mitglied der „International Society for the Study of Self-Injury“. Andreas Witt, Dipl.-Psych., Ausbildungskandidat zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 143 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 NEUERE TEST VERFAHREN Bruininks, R. H., Bruininks, B. D. (2014). BOT-2. Bruininks-Oseretzky Test der motorischen Fähigkeiten (2. Aufl.). Deutsche Version. Deutsche Bearbeiter und Herausgeber: R. Blank, E. Jenetzky, S. Vinçon. Frankfurt: Pearson Assessment. Test komplett 1.123,50 € inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten, 6,20 € Kosten für Verbrauchsmaterial pro Durchführung. Einleitung und theoretische Grundlagen Wie eine Reihe weitere Motoriktests beruft sich der BOT-2 auf die Stufenleiter der motorischen Entwicklung des russischen Neurologen N. I. Oseretzky (Oseretzky, 1925, 1931), auch wenn wenig an dem Verfahren noch an die Konzeption Oseretzkys erinnert. Der ursprüngliche Test erschien 1978 unter dem Titel BruininksOseretsky Test of Motor Proficiency (BOTMP; Bruininks, 1978). Die Revision BOT-2 (Bruininks u. Bruininks, 2005) ist seit zehn Jahren im Gebrauch und wurde nun von Blank und Mitarbeitern ins Deutsche übersetzt und neu normiert. Dabei wurden einige kleinere Veränderungen vorgenommen. So wurde die Obergrenze des Altersbereichs von 21 auf 14 Jahre gesenkt, der Range der Normwerte wurde im oberen Messbereich von vier auf drei Standardabweichungen (SD) verringert und es erfolgten geringfügige Modifikationen der Durchführungs- und Bewertungsrichtlinien. Wie bei der amerikanischen Fassung gibt es eine Kurzform, die sich aber in Länge und Itemzusammenstellung vom Original beträchtlich unterscheidet. Der Test versteht sich als „umfassendes Beurteilungsinstrument motorischer Fertigkeiten, das eine breit gefächerte Auswertung der grob- und feinmotorischen Fähigkeiten ermöglicht“ (Manual S. 37) und dient zur diagnostischen Abklärung leichter bis mittelgradiger motorischer Einschränkungen, insbesondere der Umschriebenen Entwicklungsstörung Motorischer Funktionen (UEMF) (Manual S. 27), die nach ICD-10 als F82 kodiert wird. Aus den Testergebnissen sollen sich auch Ansatzpunkte für die differenzierte Förderung ableiten lassen. Das Aufgabenset bleibt über den gesamten Altersbereich hinweg gleich und eignet sich somit auch für Verlaufsuntersuchungen über längere Zeiträume. Testaufbau und Testdurchführung Aufbauend auf theoretische Überlegungen und faktorenanalytische Studien besteht der Test aus vier Subskalen, die sich aus je zwei Untertests zusammensetzen (s. Abb. 1). Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 144 – 154 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 145 Gesamtmotorik Feinmotorische Steuerung (FS) Feinmotor. Genauigkeit Feinmotor. Integration Handkoordination (HK) Handgeschicklickeit Ballfertigkeiten Körperkoordination (KK) Beidseitige Koordination Gleichgewicht Kraft und Geschicklichkeit (KG) Schnelligkeit und Geschicklichkeit Kraft Abbildung 1: Testaufbau des BOT-2 Während die Subskalen Feinmotorische Steuerung und Handkoordination vornehmlich den Einsatz der Hand- und Fingermuskulatur prüfen, erfassen Körperkoordination sowie Kraft und Geschicklichkeit vor allem den Einsatz der großen Muskelgruppen, die an Körperhaltung, Gleichgewicht und Fortbewegung beteiligt sind. Feinmotorische Steuerung (FS) erfasst motorische Fertigkeiten, die für exaktes Greifen, Schreiben und Zeichnen erforderlich sind. Im Untertest Feinmotorische Genauigkeit ist dabei eine Reihe von Zeichenaufgaben zu bewältigen, Papier ist zu falten und es muss entlang einer Linie ausgeschnitten werden. Gemessen wird hier ausschließlich die Präzision der Ausführung. Bei Feinmotorischer Integration sind geometrische Formen abzuzeichnen. Die Ergebnisse werden nach Kriterien wie Größenverhältnis, Raumlage und Geschlossenheit beurteilt. Bei beiden Untertests gibt es keine Zeitbegrenzung. Handkoordination (HK) betrifft den Einsatz von Armen und Händen beim gezielten Umgang mit Objekten. Dazu gehört die Handgeschicklichkeit, die unter anderem Greifen kleiner Gegenstände, Punktieren von Kreisen, Einsetzen von Stiften in Löcher (Pegboard) und Auffädeln umfasst. Hierbei geht die Schnelligkeit in die Bewertung mit ein. Der Untertest Ballfertigkeiten erfordert den koordinierten Einsatz der Arme beim Fangen, Prellen und Werfen eines Tennisballs. Es sind sowohl ein- als auch beidhändige Anforderungen zu erfüllen. Körperkoordination (KK) ist eher den grobmotorischen Fertigkeiten zuzuordnen, die für diverse sportliche Betätigungen bedeutungsvoll sind. Beidseitige Koordination erfasst Körperkontrolle sowie koordinierte Bewegungsabfolgen, wobei obere und untere Gliedmaßen einbezogen werden. Unter Gleichgewicht sind statische und dynamische Balancieraufgaben zusammengefasst, die sowohl bei geöffneten als auch bei geschlossenen Augen auszuführen sind. Bedeutsam sind die Gleichgewichtsleistungen laut Manual insbesondere bei der Bewältigung alltagsrelevanter Anforderungen wie z. B. beim Anziehen einer Hose im Stehen. Kraft und Geschicklichkeit (KG) beinhaltet vor allem die Fortbewegung z. B. auch im Zusammenhang mit sportlichen Betätigungen. Der Untertest Schnelligkeit und Geschicklichkeit verlangt Rennen, bi- und monopedales Hüpfen sowie Stehen auf einem 5 cm breiten Balken. Kraft bezieht sich auf Rumpf, Arme und Beine und umfasst Auf- 146 Neuere Testverfahren gaben wie Weitsprung aus dem Stand, Anheben von Armen und Beinen in Bauchlage oder Sit-ups. Alle 53 Aufgaben sind in festgelegter Reihenfolge durchzuführen. Zu jeder Aufgabe gibt es detaillierte Durchführungs- und Auswertungshinweise. Die Testdauer wird mit insgesamt 50-60 Minuten angegeben. Für jede der vier Subskalen, die auch einzeln dargeboten werden können, werden jeweils 10-15 Minuten benötigt. Wenn der Raum für die Testung vorbereitet werden muss, was insbesondere bedeutet, Markierungen am Boden anzubringen, sind laut Manual 10 Minuten zusätzlich zu veranschlagen. Für die Auswertung werden 15 bis 20 Minuten als notwendig erachtet. Die Kurzform nimmt laut Manual 20-30 Minuten plus 5 Minuten Vorbereitungszeit in Anspruch. Es gibt ausformulierte Testanweisungen. Zusätzliche Hilfen können gegeben werden um sicherzustellen, dass die Aufgaben verstanden wurden. Die Testung soll in einer Sitzung stattfinden, das Aufteilen auf zwei Termine ist aber möglich. Aufgaben zur Graphomotorik werden in einem Aufgabenheft bearbeitet. Die Bewertung erfolgt anhand vorgegebener Kriterien. Die Normwerte der Untertests werden in einer wenig gebräuchlichen Skalierung mit einem Mittelwert (MW) von 15 und einer Standardabweichung (SD) von 5 ausgegeben. Für die Subskalen und den Gesamttest sind T-Werte (MW 50, SD 10) ausgewiesen. Es stehen geschlechtsgetrennte und gemeinsame Normen zur Verfügung, wobei die Normwerte für Mädchen meist strenger sind als die für Jungen. Das Protokollheft bietet die Möglichkeit der Profildarstellung mit paarweisem Vergleich der Subskalen und deren Untertests unter Berücksichtigung signifikanter Differenzen und ausgewählter Grundraten. Das Testmaterial ist in einer Kunststofftasche untergebracht. Der Balancierbalken befindet sich in einem separaten Stoffbeutel. Neben den aufgabenspezifischen Materialien umfasst das Set noch eine Stoppuhr mit Countdownfunktion, das Manual (210 Seiten plus 170 Seiten Tabellenanhang), ein Ringbuch mit Durchführungsanweisungen (155 Seiten), eine Schablone zur Auswertung der Zeichenaufgaben, Arbeitshefte und Testprotokolle. Zusätzlich werden ein Tisch und zwei Stühle benötigt, wobei Sitz- und Tischhöhe der Größe des Probanden angemessen sein müssen. Es wird empfohlen, die Testung in einem Raum durchzuführen, in dem von der Wand aus eine gerade Strecke von sieben Metern abgemessen werden kann. Es muss die Möglichkeit bestehen, eine Zielscheibe an der Wand anzubringen. Zusätzlich ist eine Laufstrecke von 30 Metern (15 Meter hin und zurück) vorzusehen. Ob dies auch im Freien absolviert werden kann, wird nicht gesagt. Die Aufgaben der Kurzform sind an geringere räumliche Voraussetzungen gebunden sind als der Gesamttest. Normierung und Testanalyse Die deutschsprachige Testnormierung erfolgte Mitte 2012 bis Mitte 2013 in Deutschland (ca. 80 % der Probanden), Österreich und der Schweiz (je 10 %) durch 73 geschulte Testleiter, überwiegend praktizierende oder angehende Ergotherapeuten. Die Probanden wurden durch verschiedene Formen der Anwerbung gewonnen, ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 147 explizite Rekrutierungsstrategien sind keine benannt. Es wurde auf breite regionale Verteilung geachtet, allerdings erfolgte die Erhebung überwiegend in Süddeutschland. Der Bildungsstand der Eltern wurde kontrolliert, hatte aber laut Manual keinen Einfluss auf die Testleistungen. Ausgeschlossen von der Normierung waren Kinder, die sich in ergotherapeutischer Behandlung befanden, eine Adipositas hatten oder Medikamente nahmen, welche Auswirkungen auf die Motorik haben könnten (Stimulantien, Neuroleptika, Antiepileptika). Die Diagnose einer UEMF selbst stellte kein Ausschlusskriterium war. Die somit gewonnene Stichprobe von 1.177 „gesunden“ Kindern unterscheidet sich von der amerikanischen Normierungsstichprobe, bei der 11 % Kinder einen speziellen Förderbedarf aufwiesen. Die deutschen Herausgeber begründen ihre abweichende Vorgehensweise damit, eine möglichst hohe Sensitivität des Verfahrens angestrebt zu haben. Die Normierungsstichprobe umfasst zwischen 72 und 170 Kindern pro Altersjahrgang, wobei die jüngeren Gruppen die größeren Stichprobenumfänge aufweisen. Es wurden 26 Altersgruppen gebildet. Bei den Vier- bis Siebenjährigen umfassen diese jeweils vier Lebensmonate. Bei den Acht- bis Dreizehnjährigen sind Halbjahresnormen verfügbar. Die Vierzehnjährigen wurden in einer Altersgruppe zusammengefasst. Ausgewiesen sind jeweils Wertebereiche von -3 bis +3 SD. T-Werte unter 41 gelten als unterdurchschnittlich und solche unter 31 als weit unterdurchschnittlich (Manual S. 99). Unter Verweis auf eine internationale UEMF-Richtlinie (Blank, SmitsEngelsman, Polatajko, Wilson, 2012) soll T-Werten unter 41 sowie in „besonderen Fällen“ T-Werten ≤ 34 besondere Beachtung im Hinblick auf eine mögliche UEMF geschenkt werden. Allerdings wird nicht gesagt, was als besonderer Fall gilt. Bei den Untertests werden Untertestwerte von -1 bis -2 SD als unterdurchschnittlich und Werte darunter als weit unterdurchschnittlich bezeichnet (Manual S. 376). Bis auf Ballfertigkeiten (bei den Vier- und Fünfjährigen), Feinmotorische Integration und Beidseitige Koordination (jeweils nur bei den Vierjährigen) ist der Test frei von Bodeneffekten. Allerdings sind die vorhandenen Bodeneffekte bei Ballfertigkeiten der jüngeren Mädchen so stark ausgeprägt, dass es fast unmöglich ist, hier einen Wert niedriger als „durchschnittlich“ zu erzielen, was der Identifizierung motorischer Funktionsstörungen in diesem Bereich abträglich ist. Ab der Altersgruppe 6;8-6;11 Jahre (gemeinsame Normen) finden sich bereits Deckeneffekte, zunächst nur für Beidseitige Koordination und Gleichgewicht, dann zunehmend auch für weitere Untertests. Ab einem Alter von zehn Jahren ist die Mehrzahl der Untertests mit einem Deckeneffekt belegt. Die Deckeneffekte sind in den Untertests Feinmotorische Genauigkeit und Ballfertigkeiten so gravierend, dass es in einigen Altersgruppen nur bei maximaler Rohwertpunktzahl möglich ist, überhaupt ein leicht überdurchschnittliches Ergebnis zu erzielen. Bei den geschlechtsgetrennten Normen sind Boden- und Deckeneffekte zum Teil noch stärker ausgeprägt. Es gibt nur ein schmales Altersband von 5;8 bis 6;7 Jahren, in dem der Test völlig frei von Boden- und Deckeneffekten ist. Boden- und Deckeneffekte der Untertests schränken auch den Range der T-Werte für die Subskalen ein. Trotz der bestehenden Bodeneffekte können jedoch in allen 148 Neuere Testverfahren Altersgruppen T-Werte kleiner als -2 SD erreicht werden. Bei den Deckeneffekten sind die Messeinschränkungen dagegen deutlicher ausgeprägt. So können vierzehnjährige Mädchen in der Subskala Feinmotorische Steuerung auch bei maximaler Rohwertpunktzahl keine T-Werte größer 64, also 1,4 SD über dem Mittelwert erzielen. Beim Gesamtwert können in allen Altersgruppen Werte von ± 2 SD und mehr erreicht werden. Infolge der feinen Unterteilung der Altersintervalle sind die Normwertanstiege zwischen benachbarten Altersgruppen gering. Erwartungswidrige Normwertabfälle sind dabei nicht zu verzeichnen. Normwertsprünge zwischen benachbarten Rohwerten innerhalb einer Altersgruppe sind meist klein bis moderat. Bei einigen Untertests ergeben sich insbesondere im Bereich vorhandener Deckeneffekte Sprünge von 1 SD und mehr. Zusätzlich zu den Normwerten können Konfidenzintervalle, Altersäquivalente, kritische Differenzen und deren Grundraten in den Normwerttabellen abgelesen werden. Bei der Kurzform werden die Untertestwerte wie bei der Langform ermittelt und zu einem Skalenwert aufaddiert, für den ein T-Wert abgelesen werden kann. Auch hier stehen Konfidenzintervalle (90 % und 95 %) zur Verfügung. Die Halbierungsreliabilitäten sind jahrgangsweise angegeben und fallen für den Gesamttest mit .84 und mehr in allen Altersgruppen gut aus. Bei den Vier- bis Siebenjährigen liegen die Werte sogar über .90. Bis auf Kraft und Geschicklichkeit verfehlen die Subskalen dagegen das Kriterium von .80 in etlichen Altersgruppen (s. Tab. 1). Bei den Untertests liegen die Reliabilitäten zum Teil erheblich unter .70. Der niedrigste Wert findet sich mit .33 bei Feinmotorischer Integration (12-Jährige). Die Reliabilitätsangaben sind durchweg niedriger als in der englischsprachigen Normierung, wo die Kennwerte überwiegend > .80 sind. Die Autoren erklären den Unterschied mit den größeren Deckeneffekten der deutschen Fassung. Auch die Kurzform der deutschen Adaptation kann hinsichtlich der Reliabilität nicht überzeugen. In einigen Altersgruppen liegen die Werte unter .80, bei den 13- bis 14-Jährigen sogar unter .70. Daraus resultieren große Standardmessfehler, wodurch selbst die 90 %-Konfidenzintervalle noch bis zu 3 SD betragen. Für eine kleine Stichprobe (N = 25) wird bei einem zeitlichen Abstand von durchschnittlich sieben Tagen eine hohe Wiederholungsreliabilität (Intra-Klassenkoeffizienten von .88 bis .99) berichtet. Dieselbe Studie lieferte auch Werte zur Interraterübereinstimmung, die mit Intraklassenkoeffizienten von .86 bis 1.00 hoch ausfällt. Allerdings sind bezüglich dieser Untersuchung, die sich auf Rohwerte stützt, methodische Bedenken anzumelden. Aussagekräftiger wäre es, wenn die Beurteiler nicht aus dem engsten Kreis der Testentwickler stammen würden, sondern eine rein manualgestütze Schulung erhalten hätten. Alle Aufgaben verlangen fein- und/oder grobmotorische Fähigkeiten und können daher als inhaltlich valide angesehen werden. Einige Aufgaben zur Schnelligkeit konfundieren erheblich mit Kraft. Feinmotorische Genauigkeit und feinmotorische Integration sind inhaltlich kaum auseinanderzuhalten. ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 149 Tabelle 1: Itemzahlen, Range der Rohwerte und Halbierungsreliabilität der deutschen Normstichprobe Skala Untertest Feinmotorische Steuerung Feinmotor. Genauigkeit Feinmotor. Integration Handkoordination Handgeschicklichkeit Ballfertigkeiten Körperkoordination Beidseitige Koordination Gleichgewicht Kraft und Geschicklichkeit Schnelligk. und Geschickl. Kraft Gesamttest Kurzform Itemzahl 15 7 8 12 5 7 16 7 9 10 5 5 53 19 Range der Rohwerte 0-41 0-40 0-45 0-39 0-24 0-37 0-52 0-42 Halbierungsreliab. AM (Range)a .61 (.51 - .85) .63 (.49 - .80) .58 (.33 - .76) .81 (.76 - .90) .75 (.68 - .82) .80 (.62 - .90) .71 (.53 - .86) .67 (.57 - .76) .65 (.51 - .84) .83 (.80 - .85) .73 (.69 - .76) .74 (.68 - .81) .89 (.84 - .93) .78 (.69 - .84) 90%-Konfidenzintervallb ± 8-15 ± 4-6 ± 4-7 ± 6-10 ± 3-5 ± 2-5 ± 7-13 ± 4-6 ± 3-7 ± 8-9 ± 4-5 ± 4-5 ± 5-8 ± 8-11 Anmerkungen: a Range = kleinste und größte Halbierungsreliabilität der Normstichprobe über alle Altersgruppen, AM = arithmetisches Mittel der Kennwerte; b Range der 90%-Konfidenzintervalle über alle Altersgruppen (Mädchen, Jungen und gemeinsame Normen). Für Skalen sind die Angaben in T-Werten (MW = 50, SD = 10) angegeben, für die Untertests in Untertestwerten (MW = 15, SD = 5) Altersbedingte Normwertanstiege sind vorhanden, wie es von einem Entwicklungstest auch nicht anders zu erwarten ist. Geschlechtsunterschiede mit Überlegenheit der Mädchen in allen Bereichen außer Ballfertigkeiten und Kraft stimmen mit anderen empirischen Ergebnissen überein. Untertests und Subskalen korrelieren schwach bis mittel untereinander, wobei die Zusammenhänge mit dem Alter der Kinder tendenziell abnehmen. Mit dem Gesamtmotorikwert stehen fast alle Subskalen- und Untertestwerte in einem mittleren bis hohen statistischen Zusammenhang (.46 bis .84). Im amerikanischen Original wurde anhand einer konfirmatorischen Faktorenanalyse die Subskalenstruktur des Tests bestätigt. Dieser Befund konnte mit den deutschen Normierungsdaten nach Angabe der Autoren jedoch nicht repliziert werden. Numerische Ergebnisse werden hierzu nicht berichtet, auch scheinen keine explorativen Faktorenanalysen durchgeführt worden zu sein. Es werden im Manual daraus keine Konsequenzen hinsichtlich der Testinterpretation abgeleitet. Studien zur diskriminativen Validität wurden bisher ausschließlich mit der amerikanischen Version durchgeführt. Diese belegen für UEMF, Intelligenzminderung und Autismusspektrumstörung ohne Intelligenzminderung erwartungskonform Testergebnisse, die deutlich unter der Normstichprobe liegen (minus 1½ - 2 SD). Dass Kinder mit Intelligenzminderung dabei deutlich schlechter abschneiden als solche mit UEMF, weist allerdings auch auf die erhebliche Bedeutung kognitiver Fähigkeiten beim Bewältigen der Testaufgaben hin. Zur konkurrenten Validität der amerikanischen Version des BOT-2 150 Neuere Testverfahren liegen Vergleiche mit dem BOTMP und anderen amerikanischen Motoriktests vor, die mäßige bis hohe Zusammenhänge berichten. Mit der deutschen Fassung des BOT-2 wurde anhand einer kleinen Untersuchungsgruppe Vier- bis Sechsjähriger (N = 22) der Zusammenhang einzelner Untertests des BOT-2 mit den korrespondierenden Aufgaben der Movement-Assessment Battery for Children (Movement-ABC-2; Petermann 2009) untersucht. Die dabei ermittelten Korrelationen fallen überwiegend niedrig aus (.26 bis .57), sodass es fraglich erscheint, ob die korrespondierenden Subskalen tatsächlich Vergleichbares messen. Bedeutungsvoll wäre in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung einer Vergleichsstudie mit älteren Kindern und unter Berücksichtigung der Gesamtskalen sowie der Kurzform des BOT-2. Im Interesse einer guten Durchführungs- und Auswertungsobjektivität wurden die Instruktionen und Auswertungskriterien geringfügig modifiziert. Die Normtabellen sind eindeutig, die Interpretationsobjektivität ist dagegen limitiert, da bei Kennwerten unter -1 SD lediglich der „Verdacht auf eine UEMF“ ausgesprochen werden soll. Ein PC-gestütztes Auswerteprogramm steht nicht zur Verfügung. Praktische Anwendung Das Testmaterial ist funktional, insbesondere die Stoppuhr mit Countdown-Funktion erweist sich in der praktischen Anwendung als sehr nützlich. Die Tasche, in der der Test geliefert wird, erfüllt dagegen ergonomische Ansprüche nicht zufriedenstellend, da sie keine übersichtliche Anordnung des Materials ermöglicht und beim Ein- und Auspacken sowie beim Transport unliebsame Gebrauchsspuren am Inhalt hervorruft. Für Auswertungsschablone und Zielscheibe fehlen geeignete Aufbewahrungsmöglichkeiten. Das Durchführungshandbuch ist informativ, gut bebildert und verfügt, im Gegensatz zum Manual, über einen strapazierfähigen Einband und Ringheftung. Zu bedenken ist, dass die Probanden bei der Testung geeignete Turnschuhe mit rutschfester Sohle zu tragen haben. Nach entsprechender Einarbeitung ist der Test weitgehend ohne Probleme durchführbar, allerdings sind die Aufgabenbeschreibungen immer noch nicht eindeutig genug. Unklar bleibt z. B., was als flüssige Bewegung zu werten ist, wie man herausfindet, ob bei den Sit-ups der Oberkörper weit genug angehoben wurde usw. Bei vielen Aufgaben erkennt man erst anhand der Ausführung, ob das Kind die Aufgabe tatsächlich verstanden hat. Damit wird aber ein Übungseffekt bei der Aufgabeneinführung unvermeidlich, der bei etlichen Aufgaben so nicht vorgesehen ist. Zum Abzeichnen und Ausmalen sind ausschließlich dünne Stifte zu verwenden, wie sie bei Vier- und Fünfjährigen normalerweise nicht zum Einsatz kommen. Die Aufgaben zu Ballfertigkeiten erweisen sich für viele Vierjährige und zum Teil auch für Fünfjährige als zu schwierig. Die Zeitangaben zur Testdurchführung und Auswertung markieren eher die Untergrenzen. Nach eigener Erfahrung müssen für die Testdurchführung je nach Kind bis zu 1½ Stunden und für die Kurzform circa 30 Minuten zuzüglich Auswertungszeit eingeplant werden. ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 151 Wegen der Testlänge, der Vielzahl ähnlicher Aufgaben insbesondere im Bereich Gleichgewicht und der körperlichen Anstrengung, die manche Aufgaben mit sich bringen, lässt nach eigener Erfahrung die Testmotivation auch bei Kindern, die ansonsten nicht bewegungsscheu sind, im Verlauf oft deutlich nach. Mangels Abbruchkriterium hat die Testung aber über die volle Distanz zu gehen, wenn man zu einem interpretierbaren Gesamtwert kommen möchte. Dadurch häufen sich Misserfolgserfahrungen von Kindern mit geringeren motorischen Fertigkeiten. Bei der Kurzform dagegen halten die Kinder in der Regel besser durch. Das Ergebnisprotokoll ist weitgehend übersichtlich und ergonomisch gestaltet. Die Auswertungstabellen sind nicht so benutzerfreundlich wie im amerikanischen Manual, da Tabellen sich über mehrere Seiten erstrecken und der Tabellenkopf nicht immer am Seitenanfang platziert ist. Will man alle Auswertungsoptionen ausschöpfen, dauert die Auswertung deutlich länger als die angegebenen zehn Minuten. Die Interpretationshinweise des Manuals bezüglich der Testergebnisse bleiben vage. Ein Zusammenhang zu den Unterklassifikationen von F82 wird nicht hergestellt. Stattdessen werden Paarvergleiche zwischen allen Subskalen und Untertests vorgeschlagen, ohne dass dabei die unzureichenden Reliabilitäten der Untertests berücksichtigt würden, die es bei Werten unter .80 nicht ratsam erscheinen lassen, eine Profilinterpretationen vorzunehmen. Stattdessen wird die Diagnose einer „dissoziierten motorischen Entwicklung“ in Analogie zu F74 (Dissoziierte Intelligenz; DIMDI, 2015) vorgeschlagen, wenn signifikante Differenzen zwischen zwei Subskalen bzw. Untertests auftreten und wenn diese Grundraten von 10 % nicht überschreiten. Es fehlen aber jegliche Belege für die klinische Relevanz entsprechender Befunde. Zusammenfassende Beurteilung Der BOT-2 enthält ein breites Spektrum motorischer Aufgaben. Besonders hervorzuheben ist die Erfassung von Kraft und grobmotorischer Schnelligkeit, die in anderen Bewegungstests so nicht enthalten sind. Es wird ein Gesamtwert der motorischen Leistungen gebildet, der sich aus vier Teilbereichen zusammensetzt. Die Testkonzeption verzichtet trotz Rekurs auf Oseretzky weitgehend auf eine theoretische Fundierung. Im Gegensatz zum amerikanischen Original wurde für die deutsche Normierung eine sogenannte nichtklinische Stichprobe zusammengestellt. Auch wenn dabei die Schichtzugehörigkeit kontrolliert wurde, fehlt es am Nachweis einer systematischen Rekrutierungsstrategie, die die Repräsentativität der Normpopulation sicherstellen könnte. Im unteren Messbereich der deutschen Normierung findet sich eine deutliche Verschärfung der Normen (s. Abb. 2), die kaum mit geografischen Unterschieden allein erklärt werden kann. Eine internationale Vergleichbarkeit von Testbefunden z. B. in Forschungsarbeiten zu klinischen Stichproben dürfte damit fraglich sein. Für den Untertest Handgeschicklichkeit ergeben sich beispielsweise bei den Achtjährigen Differenzen von bis zu 7 Wertpunkten (1,4 SD) zu Ungunsten deutscher Kinder. Da dieser Trend bei nahezu allen Untertests und in 152 Neuere Testverfahren den meisten Altersgruppen auftritt, kann es bei den Subskalen und dem Gesamttest zu Unterschieden von einer Standardabweichung und mehr kommen, was zu sehr unterschiedlichen Bewertungen der motorischen Leistungen führen kann, je nachdem welche Normen angelegt werden. 45 5 5 3 3 5 6 7 8 9 9 7 3 8 5 3 Abbildung 2: Vergleich der deutschen Normierung (durchgezogene Linie) mit der amerikanischen Normierung (gestrichelte Linie) für den Untertest Feinmotorische Genauigkeit, Alter 8;0 bis 8;5 Jahre, gemeinsame Normen. Auf der Abszisse sind die möglichen Rohwerte eingetragen, auf der Ordinate die zugehörigen Wertpunkte der beiden Normierungen. So erhält ein Proband mit 18 Rohwertpunkten nach der deutschen Normierung 1 Wertpunkt, nach der amerikanischen dagegen 8 Wertpunkte. Der Benutzer kann zwischen geschlechtsgetrennten und gemeinsamen Normen und damit zwischen zwei Bezugspunkten wählen, was bei klinischer Anwendung allerdings das Entscheidungsproblem aufwirft, wann welche Normen zu bevorzugen sind, mit möglichen Auswirkungen auf eine etwaige Therapieindikation. Es fehlen Angaben zu den Verteilungseigenschaften der Rohwerte, aus denen die intervallskalierten Normwerte gebildet werden, sowie zur Normenbildung selbst. Die Split-half-Reliabilität der Gesamtskala ist mit einem Mittelwert von .89 und eine Range von .84 bis .93 über alle Altersgruppen hinweg befriedigend bis gut. Bei den Subskalen fallen die Reliabilitäten nur für Kraft und Geschicklichkeit durchweg zufriedenstellend aus. Bei den anderen Subskalen werden nur bei den zwei bis vier jüngsten Altersgruppen Werte von .80 und mehr erreicht. Auch wenn man sich bei den Untertests mit Reliabilitäten >.70 zufrieden gibt, wird dieses Kriterium nur von vier der acht Untertests zumindest annähernd durchgängig erreicht. Das ist für ein Verfahren, mit dem differenzierte Testergebnisse gewonnen werden sollen, jedoch nicht ausreichend. Auch die Kurzform erreicht in der Mehrzahl der Altersgruppen keine Reliabilitäten ≥ .80. Der Verweis auf die gute Retestreliabilität wiegt dieses Man- ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 153 ko nicht auf. Zur Durchführungs- und Auswertungsobjektivität sind Befunde unter Realbedingungen zu fordern. Die Belege zur Konstruktvalidität sind nur z. T. erwartungskonform. Im Gegensatz zum amerikanischen Original konnte vor allen Dingen die Teststruktur faktorenanalytisch nicht bestätigt werden. Damit fehlt es streng genommen an der empirischen Grundlage für eine differenzierte Testauswertung, da sich mit den verschiedenen Subskalen die postulierten motorischen Teilfunktionen nicht zufriedenstellend voneinander abgrenzen lassen. Entsprechende methodenkritische Überlegungen finden im Manual aber keine Erwähnung. Zusammenhänge mit Ergebnissen der MovementABC-2 fallen derart niedrig aus, dass die Frage der konkurrenten Validität bislang nicht beantwortet werden kann. Zur differenziellen Validität wird ausschließlich auf amerikanische Studien verwiesen. In Anbetracht der oben beschriebenen Normierungsunterschiede wäre es von besonderer Bedeutung, Belege zur Kriteriumsvalidität des Verfahrens nebst Angaben zu Sensitivität und Spezifität der deutschen Version zu veröffentlichen. Bisher fehlt es an überzeugenden Belegen dafür, dass BOT-2 für die diagnostische Abklärung einer UEMF geeignet oder anderen Verfahren gar überlegen ist. Folgt man den Empfehlungen der Testherausgeber, wird bei 15 % aller getesteten Kinder der Verdacht auf eine UEMF ausgedrückt, was einem Cut-off von 1 SD oder T = 40 entspricht. Dies gibt BOT-2 den Stellenwert eines verhältnismäßig unspezifischen Screeninginstruments. In der Fachliteratur geht man von einer Prävalenz von 5-6 % für UEMF aus (American Psychiatric Association, 2013). Dem entsprächen 1,6 SD oder T = 34 als kritischer Wert. Dem Anspruch der Testautoren auf eine umfassende Beurteilung der motorischen Entwicklung nebst entsprechender Diagnosestellung wird das Verfahren in seiner vorliegenden Form jedoch nicht gerecht. Die Durchführung des Gesamttests ist zeitaufwändig und insbesondere für Kinder, die sich mit motorischen Anforderungen schwer tun, wenig motivierend. Es fehlen Möglichkeiten adaptiven Testens, wodurch Testdauer und Misserfolgserfahrung reduziert werden könnten. Für Vierjährige sind einige Testteile des BOT-2 weniger geeignet, auch wenn die Normtabellen diesen Altersbereich mit abdecken. Die Verfügbarkeit eines PC-Auswerteprogramms wäre zu begrüßen. Von der Profilinterpretation und insbesondere von der Verwendung der „Diagnose“ einer dissoziierten motorischen Entwicklung ist aus Gründen der Testgüte und auch wegen der fehlenden wissenschaftlichen Basis dieses vermeintlichen Befundes dringend abzuraten. Anders als das amerikanische Original kann die deutsche Fassung in teststatistischer Hinsicht die Anforderungen nicht erfüllen, die an eine differenzierte Erfassung motorischer Funktionen zu stellen ist. Subskalenergebnisse sollten nur dann zur Beurteilung herangezogen werden, wenn diese über die erforderliche Testgüte verfügen, was je nach Subskala und Altersgruppe aber nur eingeschränkt der Fall ist. Damit relativiert sich der diagnostische Gewinn gegenüber Globalmaßen der motorischen Entwicklung. Ob die qualitativen Eindrücke, die bei Testdurchführung gewonnen werden können, die vergleichsweise hohen Anschaffungs- und Anwendungskosten rechtfertigen, wird jeder Testanwender individuell zu entscheiden haben. 154 Neuere Testverfahren Literatur American Psychiatric Association (2013). Diagnostical and statistical manual of mental disorders. Fifth edition. Arlington VA: American Psychiatric Association. Blank, R., Smits-Engelsman, B., Polatajko, H., Wilson, P. (2012). European Academy for Childhood disability (EACD): Recommendations on the definition, diagnosis and intervention of developmental coordination disorder (long version). Developmental Medicine & Child Neurology, 54, 54-93. Bruininks, R. H. (1978). Bruininks-Oseretsky Test of Motor Proficiency. Circle Pines MN: American Guidance Service. Bruininks R. H., Bruininks, B. D. (2005). Bruininks-Oseretsky Test of Motor Proficiency, Second Edition. Bloomington MN: Pearson PsyCorp. DIMDI (Onlineressource). ICD-10-GM Version 2015. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2015/block-f70-f79.htm (Zugriff am 17.05.2015). Oseretzky, N. I. (1925). Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorischen Begabung bei Kindern. Zeitschrift für Kinderforschung, 30, 300-314. Oseretzky, N. I. (1931). Psychomotorik – Methoden zur Untersuchung der Motorik. Zeitschrift für angewandte Psychologie, 57, 26-28. Petermann, F. (Hrsg.) (2009). Movement-ABC-2. Movement-Assessment Batterie for Children – Second Edition. Deutsche Bearbeitung. Frankfurt: Pearson Assessment. Dieter Irblich, Auel ipabo_66.249.78.20 BUCHBESPRECHUNGEN Pollak, A. (Hrsg.) (2015). Auf den Spuren Hans Aspergers. Fokus Asperger-Syndrom: Gestern, Heute, Morgen. Stuttgart: Schattauer, 66 Seiten, 14,99 €. Der vorliegende Tagungsband nach einem Wiener Symposium von 2010 würdigt das Wirken von Hans Asperger auf vielfältige Weise. Das Buch beginnt mit einem Beitrag von Poustka, einem Studenten Aspergers, der die Symptome des Autismusspektrums nach heutiger Sicht darstellt, wobei von positiven Prognosen der Entwicklung ausgegangen wird. Asperger hat 1968 geäußert, eine „Variante eines Autismus-Spektrums“ gefunden zu haben. Während des Nationalsozialismus kämpfte Asperger für die ihn anvertrauten Kinder, indem er ihr Entwicklungspotenzial hervorhob, um Euthanasie zu verhindern. Sousek interviewte im Rahmen einer Dissertation Menschen, die direkt mit Asperger zu tun hatten: Der Vater war für den Sohn sehr ehrgeizig. Dieser gehörte der Jugendbewegung an, studierte später Medizin und setzte sich für die individuelle Förderung der „autistischen Psychopathen“ ein. Er wird als ganzheitlicher Mediziner und Heilpädagoge beschrieben, naturverbunden und gläubig, sehr empathisch. Als Chef war er wertschätzend und respektvoll. Er prägte die Entwicklung der Heilpädagogik entscheidend. Czech beschreibt Aspergers Haltung zur Kindereuthanasie: Seine Beziehung zum Nationalsozialismus war kritisch-distanziert, er musste gewisse Anpassung an die Ethik des dritten Reiches leisten, um seine Patienten schützen zu können. Er war auch als Gutachter tätig, und einige Kinder seiner Klinik, die als nicht bildungsfähig galten, musste er in die Anstalt am Spiegelgrund überweisen, die für Euthanasie bekannt war. Gröger sieht Aspergers Verdienst um die Heilpädagogik darin, dass er die Kinder mit Kontaktstörungen, überdurchschnittlicher Begabung mit Sonderinteressen, die er schon 1938 mit dem Begriff „autistischer Psychopath“ diagnostizierte, für entwicklungsfähig hielt, Chancen für Erziehung trotz Vererbung sah und damit ihr Leben rettete. Asperger Felder, die Tochter Aspergers, setzt sich mit der Persönlichkeit ihres Vaters auseinander und betont ebenfalls, dass er Autismus durchaus auch als positive Fähigkeit sah. Ihm wurde ein Hang zum Autismus nachgesagt, was sie widerlegt, weil er gute soziale Fähigkeiten und breite Interessen hatte, allerdings gab es, als er älter war, Rückzugstendenzen. Wing hat den Begriff des Asperger Autismus in den englischen Sprachraum eingebracht. Ihre eigenen Untersuchungen ergaben, dass es Übereinstimmungen mit der von Kanner erforschten autistischen Störung gab (am stärksten im sozialen Bereich) im Sinne eines Kontinuums zwischen beiden Störungen, wobei diese sich im Laufe des Lebens abmildern können, grundsätzlich aber lebenslang bleiben. Autisten haben einen wichtigen Platz in Kunst und Wissenschaft, daher ist es wichtig, dass sie ihre ganz speziellen Begabungen entwickeln dürfen. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 155 – 156 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 156 Buchbesprechungen Auch Happé beschäftigt sich mit der spezifischen Mischung von Stärken und Schwächen von Asperger Autisten. Ihr ist wichtig, dass die verschiedenen Wahrnehmungswelten von Autisten und neurotypischen Menschen verstanden werden und Übersetzungsarbeit geleistet wird. Sie betont, dass Aspergerautismus keine milde Form des Autismus ist, da gerade diejenigen, die mehr Bewusstsein für andere entwickeln, durch ein hohes Stress- und Angstlevel gefährdet sind. Inzwischen gibt es aber mehr bekannte Vorbilder von Menschen mit Aspergersyndrom, was als hilfreich erlebt wird. Hippler stellt eine Nachuntersuchung von Aspergers früheren Klienten vor, die häufig ein gutes soziales Adaptionsniveau erreicht haben. Alle berichten, dass sie ihre Kindheit als schwierig erlebt haben. Heute wird bei Erwachsenen die Störung oft nicht rechtzeitig erkannt. Für Österreich ist der Ausbau ambulanter Diagnostik und Beratung notwendig. Das Buch lebt von der Pluralität der Beiträge. Aspergers Verdienste treten klar zu Tage, gerade auch wenn man ihn historisch einordnet und erkennt, wie er während des Nationalsozialismus einen Weg finden musste, seine Patienten vor der Euthanasie zu bewahren. Dabei imponiert die Offenheit, auch Kritikpunkte anzusprechen, z. B. seine Gutachtertätigkeit, die für einige Kinder Ausmusterung und Tod bedeuteten. Spannend zu lesen ist auch, wie sich der Begrifflichkeiten gewandelt haben, Diagnostik und Behandlung auch immer abhängig sind vom historischen und gesellschaftlichen Umfeld. Charlotte von Bülow-Faerber, Ilsede Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion angefordert werden: – Bourcier, B. (2015). Mein Sommer mit den Flüchtlingen. Der bewegende Bericht einer freiwilligen Flüchtlingshelferin. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 176 Seiten, 14,90 €. – Foa, E. B. et al. (2016). Verlängerte Konfrontationstherapie für Jugendliche mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Die emotionale Verarbeitung traumatischer Erfahrungen. Göttingen: Hogrefe, 142 Seiten, 44,95 €. – Forkmann, T. et al. (2016). Diagnostik von Suizidalität. Göttingen: Hogrefe, 162 Seiten, 24,95 €. – Franz, M., Karger, A. (Hrsg.) (2015). Angstbeißer, Trauerkloß, Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei Männern und Jungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 271 Seiten, 24,99 €. – Hausmann, C. (2016). Interventionen der Notfallpsychologie. Was man tun kann, wenn das Schlimmste passiert. Wien: facultas, 440 Seiten, 33,95 €. – Klotter, C. et al. (2015). Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa. Modekrankheit oder Störungsbild? Eine wissenschaftliche Diskussion. Heidelberg: Springer, 200 Seiten, 29,99 €. – Little Elk, S. (2015). Psychotherapie – mein erstes Mal. Starthilfe für psychotherapeutische Berufseinsteiger. Stuttgart: Schattauer, 124 Seiten, 24,99 €. – Reissner, V. et al. (Hrsg.) (2014). Beratung und Therapie bei schulvermeidendem Verhalten. Multimodale Interventionen für psychisch belastete Schulvermeider. Das Essener Manual. Stuttgart: Kohlhammer, 273 S., 59,- €. ipabo_66.249.78.20 TAGUNGSKALENDER 3.-5.3.2016 in Leipzig: 6. Kinderanalytisches Symposium: Sprache in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Adoleszenten zusammen mit der gleichzeitig stattfindenden 21. Jahrestagung der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH): Wege ins Leben, Lebenswege Auskunft: E-Mail: [email protected], Internet: www.kinderanalyse-tagung.org oder www.gaimh.org 4./5.3.2016 in München: Münchner Symposion Frühförderung 2016: Kultur pur! Bedeutung kultureller Aspekte für das System Interdisziplinäre Frühförderung Auskunft: Arbeitsstelle Frühförderung Bayern, Pädagogische Abteilung, Frau Agnes Winzker, Seidlstraße 18 a, 80335 München; Fax: 089-545898-29, E-Mail an: [email protected] 5./6.3.2016 in Bremen: 66. Kindertherapietage Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie der Universität Bremen, Grazer Straße 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629, E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de 8./9.3.2016 in Essen: Komplexe und dissoziative Traumafolgestörungen Auskunft: ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Intenet: www.ifs-essen.de 11./12.3.2016 in Wien/Österreich: 8. Wiener Fortbildungstagung: Essstörungen und assoziierte Krankheitsbilder Auskunft: Internet: www.ess-stoerung.eu/index-Dateien/Page13064.htm 16.-19.3.2016 in Potsdam: Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 24. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) gemeinsam mit 67. Arbeitstagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM): Beziehung und Gesundheit Auskunft: Simonetta Kunath, Tel.: 030-24603-280, E-Mail: psychosomatik2016@kit-group. org, Internet: www.deutscher-psychosomatik-kongress.de/anmeldung-zum-kongress Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 157 – 159 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016 158 Tagungskalender 19.4.2016 in Essen: Beginn der Seminarreihe Marte Meo Therapiekurs Auskunft: ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Intenet: www.ifs-essen.de 25./26.4.2016 und 02./03.05.2016 in Essen: EFT – Emotionsfokussierte Therapie und EFFT – Emotionsfokussierte Paar- und Familientherapie Auskunft: ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Intenet: www.ifs-essen.de 10./11.6.2016 in Köln: Forum Frühe Kindheit 2016: Lernen und Bildung in den ersten Lebensjahren Auskunft: Gerda Rüsche & Lisa Frings, Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen; Tel.: 0271- 740 4014, Fax : 0271-740 4095, E-Mail: [email protected], Internet: www.forum-fruehe-kindheit.de 11.6.2016 in Aachen: 5. Aachener Symposion für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Jugend und Familie in Zeiten des Umbruchs Auskunft: Stiftung KJPP, Lütticher Str. 512 a, 52074 Aachen; Tel.: 0241-73960, Fax: 0241-79419, E-Mail: [email protected], Internet: www.stiftung-kjpp.de 17.-19.6.2016 in Hannover: 2. Maschsee-Symposium. Helden, Täter und Opfer – Zum Dilemma der Verbundenheit Auskunft: TagungsAgentur: E-Mail: [email protected] 11.-15.7.2016 in Salzburg/Österreich: 65. Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg. ZEIT Auskunft: Internet: www.bildungskirche.at/Werktagung 10./11.09.2016 in Bremen: 67. Kindertherapietage Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie der Universität Bremen, Grazer Straße 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629, E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de 28.9.-1.10.2016 in Athen/Griechenland: European Family Therapy Association (EFTA) Auskunft: Internet: www.efta2016athens.gr ipabo_66.249.78.20 Tagungskalender 159 20.-22.10.2016 in Alpbach/Österreich: 24. Internationale Wissenschaftliche Tagung. Kongress Essstörungen 2016 Auskunft: Netzwerk Essstörungen, Templstrasse 22, A-6020 Innsbruck, Österreich; Tel.: +43-512-576026, Fax: +43-512-583654, E-Mail: [email protected], Internet: www.netzwerk-essstoerungen.at 25./26.11.2016 in Berlin: 4. Kongress Meditation & Wissenschaft 2016 Auskunft: Dr. Nadja Rosmann, content + creation + consulting, Hofheimerstraße 21A, 65719 Hofheim; Tel: 06192-2068258, Fax: 03222-3943886, E-Mail: [email protected] Internet: www.meditation-wissenschaft.org 09.-11.03.2017 in Frankfurt am Main: 19. Symposion Frühförderung 2017 Auskunft: Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung e.V., Bundesgeschäftsstelle, Seidlstraße 18a, 80335 München; Tel: 089-54589827, Fax: 089-54589825, E-Mail: [email protected] Aus dem Inhalt des nächsten Heftes C. Steinlin et al.: Der Zusammenhang zwischen Burnoutsymptomatik und Arbeitszufriedenheit bei pädagogischen Mitarbeitenden – A. Perband et al.: „Ich schaffs!“ nach Ben Furman – C. Kiese-Himmel et al.: Beurteilung von sozial-kommunikativen Verhaltensweisen 3- bis 6-Jähriger in einer Kindertageseinrichtung ipabo_66.249.78.20 Empathie und Kooperation statt Konfrontation von »Helikoptereltern« und »Prechtianern« Helmut Bonney / Juliane Bonney Schulversagen? Eltern bitten Lehrer und Berater an den Runden Tisch 2015. 163 Seiten, mit 11 Abb., kartoniert € 15,– D ISBN 978-3-525-40222-1 eBook: € 11,99 D ISBN 978-3-647-40222-2 Alle Eltern und Lehrer, die sich für den Schulerfolg ihrer Kinder und für Reformen in der Schule engagieren, verdienen aus systemischer Sicht per se Anerkennung. Das Schulsystem als gescheitert zu brandmarken oder mit dem Finger auf Eltern zu zeigen, denen es vielleicht nicht ausreicht, »gut genug« zu sein, oder die ihre Kinder vermeintlich nur unzureichend anleiten, ist nicht lösungswirksam. Stattdessen erweist es sich als hilfreich, wenn Familien, Pädagogen und Berater sich am Runden Tisch zusammenfinden und konstruktiv einen Stressabbau bei allen Beteiligten bewirken. »Besonders interessant für mich war es, die in Abschnitte eingeteilten Fallbeispiele durch die verschiedenen Kapitel zu verfolgen und so den Lösungsweg der Fälle von Anfang an mitverfolgen zu können. Auch die Verbindung (z.B. in Form vom Runden Tisch) bzw. ebenso die getrennte, aber doch kooperative Arbeit von Familie, Schule und Therapie in Bezug auf das unangepasst erscheinende Verhalten eines Kindes war für mich als Lehrerin und angehende Systemische Beraterin äußerst aufschlussreich.« Systhema (Maria-Katharina Rolf) Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht www.v-r.de
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