Monika Morg enstern: V errückt

Verrückt
Mein Weg aus der
Krankheit
von
Monika Morgenstern
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Impressum
Copyright: © 2014 Monika Morgenstern
Zweite überarbeitete Auflage 2016
Druck und Verlag: epubli GmbH Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-9417-0
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Inhaltsangabe
Zurück zu Hause
Endgültig vorbei
Der Weg in die Psychiatrie
Zurück in Paris
Endlich in der Klinik
Zurück ins Leben
Rückfall
Der Weg aus der Klinik
Rückkehr in die Gesellschaft
Rückkehr ins Arbeitsleben
Ein anderes Leben
(5)
(29)
(39)
(54)
(61)
(82)
(90)
(109)
(124)
(146)
(161)
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Mit Dank an alle diejenigen, die mich in einer schweren Zeit
meines Lebens noch kannten, insbesondere Annette, Heike
und Jürgen. Dank auch an Christine fürs Gegenlesen, sowie
meine Familie und meine deutschen und französischen
Freunde und Bekannten.
Ähnlichkeiten mit bestimmten lebenden Personen sind rein
zufällig und entsprechen dem Zeitgeist. Dies habe ich in
meiner Arbeit und während meines Aufenthaltes in der
Psychiatrie feststellen können.
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Zurück zu Hause
So, da war ich also wieder in der Kleinstadt U. gelandet.
Etwas, was ich nie wollte, und wovor ich immer den größten
Horror hatte. Aber irgendwie war ich auch froh, wieder zu
Hause zu sein. Es hatte sich viel verändert. War in dem
Bundesland in meiner Jugend immer nur die CDU an der
Macht gewesen, und hatte ich meine Kleinstadt bei meinen
Besuchen immer unverändert vorgefunden, so hatte die
Regierung gewechselt und jetzt wurde gebaut. Nur in der
Wohnung meiner Mutter hatte sich nichts verändert. Meine
Mutter war älter geworden und konnte die ganzen
Renovierungsarbeiten, die nötig waren, nicht mehr alleine
machen. Also sah ich schon, dass da viel Arbeit auf mich
zukommen würde.
Aber der Übergang von der Weltbürgerin zur Kleinstadtpomeranze gestaltete sich schwierig. Nicht in der Realität,
sondern in meinem Kopf. Hatte ich mich mein Leben lang
auf verschiedene Umfelder einstellen müssen und immer nur
reagiert, auf die Art. „Die Weisheit lief mir hinterher, aber
ich war schneller!“, so schien die Weisheit nur darauf
gewartet zu haben, dass ich mal stehen bleibe, um sich auf
mich zu stürzen. Mit anderen Worten, mir ging es
sauschlecht!
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Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, weil auf einmal
alle Gefühle, die ich bisher immer hintenangestellt hatte, auf
mich
einstürzten
und
ihren
Platz
verlangten.
Glücklicherweise wurde nicht mehr viel von mir verlangt, da
in meinem Kopf alle möglichen Geschichten und Gedanken
abliefen.
Das letzte, was ich von der großen Welt hörte, war ein Anruf
von André bei meiner Familie, in dem er nachfragte, wo ich
denn bleibe. Er wäre 600 Kilometer gefahren, um mich am
Flugplatz abzuholen, und ich wäre nicht angekommen. Ich
ließ ausrichten, ich hätte den Flieger verpasst. Da ich auch
nicht
mehr
die
Zeit
gefunden
hatte,
eine
Reiserücktrittsversicherung abzuschließen, hatte ich somit
den Preis für das schöne Flugticket in den Sand gesetzt, was
die Situation nicht gerade verbesserte.
Da jedoch meine Mutter kein Telefon hatte und ich nicht
über soviel Geld verfügte, um bis nach Afrika anzurufen,
und André auch nicht über meine Verwandtschaft anrufen
wollte, blieb ich erstmals von Vorwürfen verschont.
Trotzdem kam ich mir vor wie auf einem fremden Planeten.
Meine Mutter wohnte immer noch in ihrer Sozialwohnung in
einem verrufenen Arbeiterviertel und während ich das alles
in meiner Jugend normal fand, musste ich mich jetzt wieder
daran gewöhnen. Außerdem ging es daran, mich bei der
Agentur für Arbeit einzuschreiben und einen Antrag auf
Sozialhilfe zu stellen: Also, Formulare ausfüllen und von
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einem Amt zum anderen laufen. Beim Sozialamt bot man
mir Hilfe an, wenn ich die Wohnung renovieren würde.
Ich nahm auch wieder Kontakt zu meinen alten Schulfreunden auf, von denen einige noch da waren.
Zuerst rief ich Gaby an, wir waren bis zur zehnten Klasse
aufs Gymnasium gegangen, sie hatte dann eine Lehre als
Floristin gemacht, während ich weiter die Schule besuchte.
Als ich meinen Namen am Telefon sagte, rief sie erfreut:
„Was, du bist aus Paris zurück? Was für eine Überraschung!“
„Ja, und ich werde voraussichtlich auch hier bleiben.“
„Fein, dann können wir uns ja treffen. Wir haben übrigens
auch ein Pariser Café hier. Wäre doch eine gute Gelegenheit, es dir mal zu zeigen. Damit du nicht zu viel Fernweh
hast.“
„Wann sollen wir uns treffen?“
„Ich habe heute Abend nach der Arbeit Zeit. Wie wäre es um
18 Uhr; direkt im Pariser Café?“
„Das muss aber neu sein. Wo ist denn das?“
„Am Markt und sieht sehr französisch aus. Du kannst es also
nicht verfehlen.“
Abends machte ich mich also auf den Weg in die Stadt. Auf
dem Marktplatz hatte sich einiges verändert, den größten
Teil der Geschäfte kannte ich nicht aus meiner Jugend. Aber
einige waren auch geblieben. Neu war das Pariser Café, das
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ich an den für Paris typischen runden Tischen erkannte, die
auf dem Marktplatz standen. Ich näherte mich dem Café und
ließ meinen Blick über die Gäste schweifen. An einem der
Tische saß eine junge Frau und ich erkannte ohne Probleme
Gaby, die sich seit der Schulzeit kaum verändert hatte. Sie
hatte immer noch ihre schulterlangen, lockigen blonden
Haare. Ich näherte mich dem Tisch:
„Hallo Gaby, schön dich zu sehen.“
Gaby stand auf und umarmte mich: „Hallo Gerda, du hast
dich ja kaum verändert. Na ja, deine Haare sind nicht mehr
so wild.“
Früher hatte ich mein Haar auch immer offen und schulterlang getragen, aber in Paris hatte ich mir eine Kurzhaarfrisur schneiden lassen, die ich dann nach meiner Rück-kehr
nach Deutschland beibehalten hatte.
„Und, was machst du noch so?“
„Ich arbeite immer noch in meinem Blumenladen, aber ich
werde mich in nächster Zeit selbständig machen. Aller-dings
werde ich dann nicht mehr in U. arbeiten, ich habe ein
Geschäft in einem Nachbarort in Aussicht. Ja, und ansonsten
sind die Kinder jetzt in der Schule und ich habe mich von
meinem Mann getrennt. Und du?“
„Ich habe gerade mein Studium zu Ende gebracht, bin jetzt
also eine Psychologin und werde mich wohl auch von
meinem Franzosen trennen. Auf jeden Fall habe ich den
Flieger nach Afrika verpasst.“
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„Welchen Flieger nach Afrika? Was willst du denn da?“
„André arbeitet jetzt in Afrika als Entwicklungshelfer und
wollte dass ich auch komme. Leider habe ich das Flugzeug
verpasst und somit das Ticket in den Sand gesetzt.“
„Au Backe!“
„Ganz so schlimm ist es nicht, er ist ja weit weg. Aber ich
glaube, ich muss mich jetzt endgültig umorientieren.“
„Habt ihr keine Kinder?“
„Nein, wir haben beide zu lange studiert. Ist vielleicht auch
ganz gut so, weil ich mich nicht als Mutter in Afrika sehe.
Und was ist mit deinem Mann?“
„Du weißt doch, die Trinkerei. Das ist in den letzten Jahren
schlimmer geworden. Ich bin dann erst zur Beratung
gegangen und irgendwann habe ich dann entschieden, dass
ich das nicht mehr ertrage. Also haben wir uns scheiden
lassen.“
„Und die Kinder?“
„Wir verstehen uns ja noch ganz gut, deshalb kann er die
Kinder jederzeit sehen. Und für die Kinder ist das auch eine
Entlastung, wenn sie ihn nicht betrunken sehen.“
„Ich glaube, das hätten wir uns beide nicht vorgestellt, als
wir von der Schule gegangen sind.“
„Nee, wirklich nicht! Obwohl, du wolltest ja immer in die
große weite Welt.“
„Ja, aber ich bin dabei, meine Meinung zu ändern. Wo ist
denn dein neuer Blumenladen?“
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„In N. Die Besitzerin geht in Rente und hat ihn mir zur
Übernahme angeboten. In zwei Monaten ist es so weit. Ich
hoffe, du kommst zu meiner Eröffnungsfeier. Ich freue mich
schon riesig darauf.“
Wie schwiegen eine Weile und ich sah mich auf dem
Marktplatz um. Der war in eine Fußgängerzone umgewandelt worden, in der Mitte plätscherte der Stadtbrunnen,
Passanten schlenderten über den großen Platz. Über allem
wölbte sich ein blauer Abendhimmel mit weißen Wattewölkchen, am Horizont, sofern er nicht von den Häusern
verdeckt wurde, konnte man den Wald sehen.
Plötzlich meinte ich: „Du, ich glaube, ich leide an einer
kognitiven Dissonanz!“
„Da bin ich aber froh, dass ich nicht studiert habe!“
„Wieso?“
„Da kann mir das nicht passieren.“
„Doch, dir kann das auch passieren, du weißt dann bloß
nicht, wie das heißt.“
„Na, dann erkläre mir mal, was das ist.“
„Das ist, wenn man eine bestimmte Überzeugung hat, und
die Realität einem klar macht, dass damit etwas nicht
stimmen kann.“
„Ach so, und was stimmt bei dir nicht?“
„Naja, ich war immer der Meinung, das Paris das Non-PlusUltra ist, aber jetzt sitzen wir hier in einem Café wie in Paris,
und es ist viel schöner hier. Keine Autos, kein Lärm.“
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„Keine Arbeit!“
„Ja, die muss ich noch suchen. Aber das war nicht der
Grund, warum ich nach Paris gegangen bin.“
„Was suchst du denn?“
„Keine Ahnung, entweder als Psychologin, aber das wird
ohne Zusatzausbildung schwierig, oder wieder im Handel.
Hab ja meine Sprachkenntnisse. Aber momentan muss ich
erst mal richtig ankommen.“
„Willst du ein paar Leute kennen lernen? Ich kenne noch ein
paar Jungs, die noch solo sind.“
„Warum nicht, obwohl, ich muss wohl erst einmal mit mir
selbst ins Reine kommen.“
„Demnächst ist Kirmes hier, dann treffen wir uns wieder.
Hast du Lust, mitzukommen?“
„Ja, gerne, sag mir Bescheid.“
„Habt ihr inzwischen Telefon?“
„Nein, aber das kommt in den nächsten Tagen. Ich ruf dich
dann an und gebe dir meine Nummer.“
Danach tauschten wir uns noch über alte Bekannte aus und
so gegen 21:00 Uhr machten wir uns auf den Weg nach
Hause.
Da ich nicht sofort eine Arbeit fand, engagierte ich mich
wieder ehrenamtlich wie in meiner Jugend. Die evangelische Kirche war sehr aktiv in meinem Heimatort und man
fragte mich, ob ich nicht bei der Ausländerberatung
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mitmachen wolle. Außerdem gab es einen Kirchenchor, zu
dem man mich auch einlud.
Ich war wieder zu Hause, die Menschen waren noch die
gleichen, ich sah bekannte Gesichter, die älter geworden
waren, und auch viele neue Gesichter. Als ich eines Tages
im Supermarkt einkaufen ging, sprach mich eine junge Frau
in meinem Alter an:
„Ei Gerda, kennst du mich noch?“
Ich sah sie an und suchte in meinem Gedächtnis. Sie war
blond, blauäugig, hatte kurze Haare und war sportlich
gekleidet.
„Nee, ich glaub, da musst du mir helfen.“
„Na, ich bin die Andrea, wir waren zusammen im
Bastelkreis.“
Da fiel der Groschen: „Ja, ich erinnere mich. Was machst du
noch so?“
„Krankenschwester, und du?“
„Oh, ich hab lange in Paris gelebt und Psychologie studiert.
Jetzt bin ich wieder zurück und suche eine Arbeit.“
„Psychologie ist gut. Wir können hier Psychologen
gebrauchen. Es ist gar nicht so einfach, in einem
Krankenhaus zu arbeiten. Die vielen Krankheiten, die vielen
Menschen, die sterben. Ich hab manchmal Probleme, mit
allem fertig zu werden.“
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„Na ja, ich hab keine Zusatzausbildung, deshalb kann ich
noch keine Praxis aufmachen. Aber schön, dass du das
sagst.“
„Du, ich muss weiter, die nächste Schicht beginnt. Bis bald.“
„Bis bald.“
So im Ganzen ließ sich meine Rückkehr also doch ganz gut
an, wenn nur die Nächte nicht gewesen wären. Ich konnte
nicht schlafen, konnte mich nicht konzentrieren, hing meinen
Gedanken nach und war auch irgendwie ferngesteuert. Jetzt,
wo ich nicht mehr durch Lernen oder Arbeit gefordert
wurde, meldeten sich meine Gefühle mit aller Gewalt. Das
stärkste war mein Kinderwunsch, der sich nun wohl nicht
mehr so bald erfüllen ließ. Ich lag im Bett und stellte mir
vor, wie ich mich um mein Kind kümmern würde, dass ich
es vor allem Unbill beschützte, was ich ihm alles von mir
erzählen könnte. Und dass dies denn wohl doch nicht so sein
würde.
Einmal erzählte ich meinem Bruder, der vorbeikam, davon.
„Du und Kinder?“, meinte er. „Das lass mal besser.“
„Wieso?“, fragte ich, neugierig geworden.
„Du hast mir mal die Finger in der Tür eingeklemmt.“
„Ei, das hab ich bestimmt nicht absichtlich gemacht. Und
das war wohl auch nicht das einzige, was ich gemacht habe.“
Wer hat eigentlich Geschwister erfunden?
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Von Zeit zu Zeit überkam mich der Drang, wegzufahren. Ich
hatte mein Leben lang in Zügen gesessen, in der U-Bahn in
Paris, immer wieder im Zug, um nach Hause zu fahren,
deshalb konnte sich wohl mein Unterbewusstsein nicht daran
gewöhnen, dass dies nun vorbei sein sollte. Also lief ich,
ohne nachzudenken, aus dem Haus zum Bahnhof, wartete
auf den nächsten Zug, kaufte eine Fahrkarte bis in die
nächste Großstadt und fuhr los. Dabei stellte ich dann fest,
dass die Realität doch schneller ist als ein Zug, weil ich
meist an der Endstation ausstieg, mir die Geschäfte ansah,
einen Kaffee trank und beruhigt wieder nach U.
zurückkehrte.
Langsam wurde mir doch bewusst, dass ich besser in
Behandlung gehen sollte, da ein Psychologiestudium wohl
doch nicht vor einer psychischen Erkrankung schützen
könne. Allerdings war es auch das Studium, das mich von
diesem Schritt abhielt, da ich befürchtete, dass ich danach
nicht mehr als Psychologin arbeiten könnte. Wir hatten viel
über die Symptome der Krankheiten gelernt, ich hatte in den
Psychiatrien die Kranken gesehen, aber irgendwie hatte ich
nie gelernt, wie das mit Heilung und Wiedereingliederung
aussah. Eigentlich hatte ich nur die Patienten näher
kennengelernt, denen es so schlecht ging, dass sie definitiv
in der Klinik bleiben mussten. Zu der Zeit wurde noch nicht
so offen über die Gründe für psychische Erkrankungen
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gesprochen, daher waren Begriffe wie Burnout und posttraumatische Belastungs-störung noch nicht in aller Munde.
Außerdem hatten die Psychiatrien in unserer Gegend einen
ziemlich schlechten Ruf. Wahrscheinlich auch wegen der
Dinge, die während der Hitlerzeit passiert waren, aber
irgendwie war auch nie eine richtige Aufklärung über diese
Zeit gemacht worden. Natürlich liefen in meiner Jugend
Filme wie „Holocoust“ im Fernsehen, und in der Schule
hatten wir kurz vor dem Abitur auch den Film über die
Öffnung der ersten KZ gesehen, aber ansonsten war
eigentlich nie über die damaligen Gesetze in der Medizin
gesprochen worden, die auch die nicht-jüdische Bevölkerung
betrafen. Und da meine Mutter ja Flüchtling war, konnte sie
auch nichts über das, was in der Gegend geschehen war,
berichten. Abgesehen davon, dass sie selbst die Zeit nie
richtig verarbeitet hatte. Irgend ein Mann hatte mir einmal
erzählt, es würde absichtlich keine tiefere Aufklärung
gemacht, da die Leute dann länger zögern würden, bevor sie
in die Klinik gingen, und das würde die Krankenkassen
gewaltig entlasten. Ob das allerdings stimmte? – Na ja, bei
Männern ist alles möglich.
Also gab es schon zwei Gründe, warum ich zögerte, in
Behandlung zu gehen. Ich hoffte, dass es mit der Zeit von
alleine aufhören würde. Wenn ich alle Gefühle und Bücher,
die ich jemals gelesen hatte, nochmals durchlebt hätte.
Allerdings befürchtete ich, dass dies länger dauern würde,
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denn ich hatte in meinem Leben viel gelesen, und nicht nur
wissenschaftliche Texte. Irgendwie fing mein Gehirn jetzt
an, alles einzuordnen und zu verarbeiten. Wobei die
abenteuerlichsten Geschichten in meinem Kopf abliefen und
ich nur froh war, nicht zu oft Horror- oder blutrünstige Filme
gesehen zu haben. Obwohl die Realität auch nicht immer so
ganz ohne ist. Also lief ich ziellos durch die Gegend,
besuchte die Orte, die ich noch aus meiner Jugend kannte,
räumte mein Zimmer auf, in dem sich allerhand altes Zeug
angesammelt hatte, oder lag auf dem Bett und träumte vor
mich hin.
Es war auch eine Umstellung, wieder in einer Sozialwohnung zu leben. Einmal sah ich aus dem Fenster in den
Hof und dachte, ich sehe nicht richtig. Draußen saß das
Nachbarkind, mit dem ich früher immer gespielt hatte, und
es war nicht älter geworden. Ich fragte meine Mutter, wer
das sei. Sie meinte, das Nachbarkind habe geheiratet, wohne
jetzt ein Haus weiter und habe Kinder bekommen. Und die
spielten jetzt im Hof.
Irgendwie schien die Zeit hier stehen geblieben zu sein.
Nachdenklich sah ich nach draußen: Was für ein schwieriges
Leben hatte ich mir da ausgesucht, indem ich nach Paris
gezogen und studiert hatte? Warum war ich nicht zu Hause
geblieben und hatte mir einen Nachbarjungen angelacht und
Kinder bekommen? Irgendwie wäre das zu einfach für mich
gewesen.
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Außerdem gab es dann auch die Streitereien mit einem
Mitbewohner, der über uns wohnte. Herr Krämer erzog sein
Kind allein mit Unterstützung seiner Mutter, die aber nicht
in der Wohnung lebte. Er war ein großer, kräftiger Mann, der
so aussah, als ob mit ihm nicht gut Kirschen essen sei. Also
ging ich ihm aus dem Weg.
Im Gegensatz zu meiner Mutter, die ihm gegenüber klare
Ansagen traf: der Hof habe sauber zu sein und die Türen
müssten nachts abgeschlossen werden. Ich bewunderte ihren
Mut, ich hätte mich da lieber fern gehalten, aber sie war es ja
gewohnt in dieser Umgebung zu leben.
Einmal sprach ich sie darauf an:
„Du Mutti, ich möchte aber nicht hier bleiben. Das ist ja
furchtbar, in so einer Gegend mit lauter Sozialhilfeempfängern zu wohnen.“
„Sei ruhig, Gerda, das sind auch Menschen!“
Hatten früher viele Flüchtlingsfamilien hier gelebt, so waren
es jetzt ältere Leute, die wenig Rente hatten, Frührentner und
Alleinerziehende. Aber ich war noch in den Vorurteilen
meines vorherigen Milieus gefangen und diese Realität
drang nur sehr langsam zu mir durch.
Gaby lud mich öfter zu verschiedenen Aktivitäten ein. Eines
Abends stellte sie mir einen jungen Mann in meinem Alter
vor.
„Hier, Gerda, das ist Egon. Seine Freundin hat ihn gerade
verlassen und ist mit einem Italiener nach Rom gezogen.
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Deshalb müssen wir ihn etwas aufmuntern. Und Egon, das
ist Gerda. Ihr Freund lebt jetzt in Afrika, und ich glaube, das
ist ihr zu weit weg.“
„Was machen wir heute Abend?“
„Wie wäre es, wenn wir ins Pariser Café gehen?“, schlug
Egon vor.
„Oh!“, antwortete Gaby, „Ich glaube, das ist nicht so gut für
Gerda. Ihr Ex-Verlobter kommt aus Paris.“
„Na gut, gehen wir in die „Sprechblase“. Da ist immer gute
Musik.“
Als wir in der „Sprechblase“ ankamen, waren schon viele
Leute da.
„Hallo Klaus, du auch da?“, fragte Gaby.
„Gut, dass ich dich sehe. Ich muss unbedingt mal unter vier
Augen mit dir reden. Hast du einen Moment Zeit?“
„Na ja“, sie wandte sich an uns, „ihr entschuldigt mich einen
Moment.“
Allein gelassen suchten wir uns einen Tisch am Fenster.
„Wie es scheint“, meinte Egon, „stehst du auch vor einem
neuen Lebensabschnitt?“
„Weiß noch nicht. Allerdings sieht es ganz so aus.“
„Ich bin ganz schön sauer auf meine Ex. Ich wollte gerade
eine Familie gründen, und habe auch schon etwas gespart,
damit wir uns einrichten können.“
„Und jetzt ist sie weg.“
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„Ja, und jetzt ist sie weg, und ich kann alles von vorn
anfangen.“
Wir schwiegen einen Moment. Eigentlich ging es ihm besser
wie mir: Er hatte zumindest etwas zurücklegen können. Ich
hatte, außer einer Menge Wissen, eigentlich gar nichts.
Während ich gearbeitet hatte, hatten wir das Geld für
Restaurants, Kinos und Urlaube ausgegeben und eigentlich
nichts zurückgelegt. Und die wenigen Möbel, die wir uns
angeschafft hatten, standen in Paris, und da standen sie gut.
Es würde genau so viel kosten, sie nach Deutschland zu
bringen wie sie neu zu kaufen. Dabei war ich jetzt Mitte
Dreißig, und die meisten Mädchen meines Alters hatten
zumindest schon etwas geschafft wie Gaby, die sich gerade
selbständig machte und Kinder hatte. Na ja, und schon eine
kaputte Ehe hinter sich.
Sie kam auch gerade wieder in die Kneipe und schlängelte
sich zu uns durch.
„Ich hoffe, ich war nicht zu lange weg. Aber Klaus hat
immer irgendein Problem.“
„Und sucht auch Anschluss“, meinte Egon.
„Nee, danke!“, antwortete Gaby, „Ich bin fürs erste bedient.“
„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte Egon.
„Ich habe gerade mein Psychologiestudium abgeschlossen,
und festgestellt, dass man rein gar nichts damit anfangen
kann. Außer, dass man eine teure Zusatzausbildung bezahlen
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muss, um einen Job zu finden. Gibt es eigentlich
Psychologen in U.?“
„Ich kenn nur einen. Ansonsten haben wir eine Lebensberatung. Das wäre vielleicht was für dich.“
„Als Klientin oder als Beruf?“ antwortete ich zynisch.
„Was machst du eigentlich?“
„Ich bin Industriekaufmann.“
In dem Moment kam eine ungefähr dreißig Jahre alte Frau
mit kurzen schwarzen Haaren und blauen Augen auf unseren
Tisch zu.
„Hallo Gaby, wie geht es dir?“, fragte sie.
„Hallo Inge, gut. Darf ich vorstellen, das ist Inge, sie ist die
Sozialpädagogin, die sich während meiner Scheidung um
uns gekümmert hat.“ Zu Inge gewandt meinte sie: „Ich
möchte dir Egon und Gerda vorstellen. Gerda hat Psychologie studiert und lange in Frankreich gelebt.“
„Angenehm.“
„Wir diskutieren gerade über die beruflichen Möglichkeiten
einer Psychologin hier in U. Du kommst doch aus dem
Bereich, hast du da eine Ahnung?“
„Nein, eigentlich nicht, die kommen selten zu uns.
Allerdings kannst du dich bei der Ärztekammer in N.
erkundigen, wie es mit den Weiterbildungsmöglichkeiten
aussieht.“
„Danke“, antwortete ich, „aber ich glaube, ich muss erst
einmal richtig ankommen.“
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Inzwischen hatte ich für mich beschlossen, dass ich mir wohl
irgendwo einen bösen Geist eingefangen hatte, der mich
verfolgte. Eigentlich ließ sich meine Rückkehr nach U. gar
nicht so schlecht an, ich war immer gut integriert gewesen,
und konnte auf vielen Dingen wieder aufbauen. Und durch
die langen Jahre in Paris sah ich nun die ländliche und
konservative Umgebung mit ganz anderen Augen.
Daher verstand ich die Wutanfälle und die Unzufriedenheit
nicht, die mich verfolgten: In U. enden, nach einem solch
aufreibenden Studium, das war inakzeptabel. Die meisten
meiner Klassenkameraden hatten inzwischen Haus und
Familie und hohe Positionen und ich hatte nichts erreicht! U.
wäre noch viel zu gut für mich – irgendwie verstand ich
mich selbst nicht mehr.
Eines Nachts, ich war wohl dabei, den misslungenen Flug
nach Afrika zu verarbeiten, träumte ich, jemand hätte ein
Flugticket nach Afrika für mich am Frankfurter Flughafen
hinterlegt. Am nächsten Morgen packte ich meinen Rucksack, hob Geld ab und fuhr nach Frankfurt. Es war schon
dunkel, als ich am Abend in Frankfurt ankam. Ich fragte am
Schalter, ob jemand ein Ticket für mich hinterlegt hätte, aber
natürlich wusste keiner davon. Allerdings, so unverrichteter
Dinge wollte ich jetzt auch nicht wieder heimfahren. Also
sah ich mir die Last-minute-Angebote an. Ein Flug nach
Genf passte zu meinen finanziellen Möglichkeiten, daher
kaufte ich kurzerhand das Ticket und checkte ein.
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Als die Maschine abhob, ging es mir schlecht. In meinem
Hirn lief ein Kopfkino ab. Die Atombombe war gezündet
worden. Wenn ich nach Afrika fliegen würde, fände der
dritte Weltkrieg statt. Deshalb saß André in seinem Bunker
nach dem Fall der Atombombe und schoss mich aus seiner
Lebenslinie. Irgendwie befand ich mich in einem meiner
Science Fiction Romane, von denen ich so viele gelesen
hatte. Dieser handelte von den Parallelwelten, d. h. es gab
mehrere Welten, die nebeneinander existierten, und
zwischen denen man hin- und herpendeln konnte. Wie genau
das funktionierte, weiß ich nicht mehr, aber das, was mein
Geist mir erzählte, schien in den Roman zu passen. Ich
beruhigte ihn erstmals und verklickerte ihm, dass ich nicht
nach Afrika, sondern nur in die Schweiz fliegen würde. Und
dass die Schweizer mich sicherlich auch nicht dabehalten
würden, da ich sowieso kein Geld hatte, um mich dort
niederzulassen.
Insgeheim fragte ich mich, wie ich kleine Gerda Müller wohl
in Afrika den dritten Weltkrieg anzetteln könnte und sah
mich schon an einem Lagerfeuer in einer der kleinen Hütten
aus den aus dem roten Sand gebrannten, roten Steinen sitzen,
um im Kreise der Schwarzafrikaner zu diskutieren.
Irgendwie hatte ich in meiner Jugend wohl wirklich zu viel
Blödsinn gelesen. Ich beschloss, zukünftig wohl etwas
besser auf meine Literatur zu achten. Allerdings, der Roman
über diese Welten war geil gewesen.
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Darüber erreichten wir Genf und ich stieg aus der Maschine.
Draußen empfing mich eine kalte Schneelandschaft. Ich
hatte schon immer ganz hohen Schnee sehen wollen, und das
nahm ich mir jetzt vor. Nachdem ich den Flughafen
verlassen hatte, suchte ich deshalb die nächste
Bushaltestelle, und fuhr zu einer Station, deren Name nach
Park und Bergen klang. Mitten im Schnee stieg ich dann aus
und stellte zu meinem Bedauern fest, dass er doch nicht so
hoch war. Dann ging ich einige Stunden lang spazieren.
Diesmal hatte die Realität wirklich lange gebraucht, um
mich zu finden, aber sie spürte mich jetzt doch mitten in der
winterlichen Landschaft auf. Mit einem lauten
Magenknurren.
Derart alarmiert sah ich mich nach Wegweisern und
Schildern mit Landkarten um, und fand schließlich eine
Tafel mit Wanderwegen. Erleichtert suchte ich die nächste
Bushaltestelle. Diese fand ich dann auch und fuhr mit
knurrendem Magen zurück nach Genf.
Nun musste ich erst einmal eine Unterkunft für die Nacht
finden, denn in dieser Jahreszeit war eine Übernachtung im
Freien wohl nicht angesagt. Außerdem fing mein Rucksack
allmählich an, merklich auf meine Schultern zu drücken. Zu
allem Überfluss hatte ich nicht mehr viel Geld zur
Verfügung, da das Flugticket doch recht teuer gewesen war.
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Plötzlich fiel mein Auge auf ein Schild von einer Pension.
Ich klingelte an der Tür, ein Summer ertönte und die Tür
sprang auf. Hinter der Rezeption saß eine ältere Dame:
„Guten Tag, ist bei Ihnen noch ein Zimmer frei?“
„Wir haben noch ein Doppelzimmer, wenn es sie nicht stört,
mit einer anderen Frau zusammen zu übernachten.“
„Wie teuer kommt das?“
„Vierzig Franken.“
„Kann ich auf Rechnung bezahlen. Ich habe mein
Portemonnaie verloren. Aber ich habe einen Ausweis dabei.
Da können Sie meine Adresse finden, und ich überweise
Ihnen den Betrag, wenn ich wieder zurück bin.“
Sie sah mich prüfend an. Dann meinte sie:
„Gut, ausnahmsweise. Hier ist der Schlüssel. Sie sind im
Zimmer 14.“
Erleichtert nahm ich den Schlüssel und suchte das Zimmer.
Zumindest musste ich jetzt nicht draußen im Schnee
übernachten.
Nachdem ich meine Sachen abgestellt hatte, ging ich zum
nächsten McDonalds, den ich unterwegs gesehen hatte, um
mir einen Hamburger mit Fritten zu kaufen. Zu mehr
reichten meine mageren Mittel nicht.
Am nächsten Morgen brach ich nach dem Frühstück mit dem
Rucksack zum Bahnhof auf. Viel Geld hatte ich nicht mehr,
jetzt musste ich sehen, wie weit ich mit dem, was ich hatte,
Richtung Heimat kommen würde. Es reichte dann auch
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gerade noch bis nach Deutschland in irgendein Alpendorf.
Dort angekommen, suchte ich die Stadt-verwaltung, stellte
mich beim Sozialamt vor, und fragte, ob ich dableiben
könnte. Die Sachbearbeiterin nahm meine Personalien auf,
sagte mir, sie würde sich mit meinem Heimatort in
Verbindung setzen und schickten mich in ein Frauenhaus für
die Nacht. Da es währenddessen später Nachmittag
geworden war, ließ ich meinen Rucksack in dem Frauenhaus
und ging in der schönen Berglandschaft spazieren.
Abends kehrte ich zurück auf das Zimmer, in dem mein Bett
stand. Ich teilte es mit einer anderen Frau mittlern Alters, die
ein blaues Auge hatte.
„Oh!“, meinte ich, „Was ist denn mit Ihnen passiert?“
„Mein Mann war wieder betrunken und hat mich geschlagen.
Deshalb bin ich hier.“
„Von dem würde ich mich aber scheiden lassen!“
„Ja, wenn die Kinder nicht wären. Allerdings bin ich mit der
Sozialpädagogin dabei, eine andere Wohnung zu suchen. Ich
will auch da raus. Und was ist mit Ihnen?“
„Ich hab einen Geist, der mich jagt. Ich weiß auch nicht, wo
ich mir den eingefangen habe.“
„Sie sind aber nicht aus der Gegend?“
„Nein, ich komme aus dem Norden. Würde aber gerne hier
bleiben. Es gefällt mir hier.“
„Ja, das sagen die Urlauber alle. Und warum?“
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„Weiß ich nicht. In meinem Heimatort ist es auch nicht
schlecht, aber irgendwie zieht es mich weg.“
Als ich am nächsten Morgen zum Sozialamt kam, bekam ich
eine Rückfahrkarte nach U. und einen Fahrplan. Derart
bewaffnet ging ich zum Bahnhof. Ich kann mich noch sehr
genau an meine Heimfahrt erinnern: Es hatte geschneit, ich
fuhr durch eine märchenhafte, weiße Landschaft, die unter
einem strahlend blauen Himmel lag. Irgendwie musste ich an
meine Zeit in Paris denken. Es war eine wunderschöne Zeit
gewesen, strahlend blau, aber kalt. Irgendwie hatte ich
immer eine beneidenswerte Rolle gespielt, die auch sehr
interessant gewesen war, aber die absolut nicht meinem
Charakter entsprach. Wer möchte nicht im Abendkleid
ausgehen, schöne Kleider anziehen, in Kinos und
Restaurants gehen? Ich hatte dieses Leben nie in Frage
gestellt, aber im Grunde war ich immer einsam gewesen,
weil solche Äußerlichkeiten absolut nicht meiner Art
entsprachen. Da ich in meiner Jugend früh Verantwortung
übernommen hatte, und auch immer genäht, gestrickt,
gehäkelt und repariert hatte, weil kein Geld für neue Sachen
da war, war ich eigentlich ein sehr kreativer Mensch, und
diese Kreativität war in Paris nie geschätzt worden. Ich hatte
in einem Leben gelebt, in dem ich in eine Schublade gesteckt
wurde, die nicht meinem richtigen Wesen entsprach. Aber
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dies sollte ich erst langsam entdecken, als ich endlich wieder
die Freizeit hatte, an meiner Jugend anzuknüpfen.
Als ich wieder in U. ankam, begrüßte mich meine Mutter
erleichtert:
„Du Gerda, wo hast du gesteckt? Ich habe eine
Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben.“
In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich zum
ersten Mal in meinem Leben nicht zu Hause abgemeldet
hatte.
Ich besuchte auch Käthe, die immer noch in N. lebte. Sie
hatte sich inzwischen scheiden lassen. Die Paartherapie, die
beide dann doch angefangen hatten, hatte ergeben, dass sich
beide auseinander gelebt hatten. Jetzt war sie dabei, ihr
Leben neu zu organisieren, während ihr Ex-Mann wirklich
mit der Frau zusammen gezogen war, die er an der
Universität kennen gelernt hatte.
„Weißt du, Gerda“, meinte sie, „eigentlich habe ich mich
immer nach meinem Mann und sein Studium gerichtet.
Dabei würde ich gerne ins Ausland gehen, und jetzt bin ich
auch froh, einen technischen Beruf gelernt zu haben.“
„Warum?“
„Ei, du glaubst gar nicht, wie sehr Techniker überall gesucht
werden. Ich möchte gerne in ein südliches Land, Italien oder
Spanien.“
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„Da würde ich lieber Italien nehmen, die Spanier mit ihren
Stierkämpfen sind ja sehr speziell.“
„Warst du schon mal in Spanien?“
„Nein, dafür aber in Italien. Ist sehr schön dort, aber es gibt
viele Arbeitslose.“
„Meine Firma hat eine Filiale dort, und ich könnte wechseln.
Allerdings müsste ich dazu Italienisch lernen.“
„Na, das ist doch das Mindeste!“
„Ja, und das bringt mich auch auf andere Gedanken. Ich
muss die ganze Zeit daran denken, auf was ich für meinen
Mann alles verzichtet habe. Er wollte z.B. keine Kinder
haben. Ob ich jetzt noch einen Mann finde, der Kinder will?
Ich glaube, die sind doch inzwischen alle vergeben.“
„Die, die studiert haben, suchen jetzt. Da hast du vielleicht
noch Chancen.“
„Oh, ich glaube, von Akademikern habe ich die Nase voll.“
„Na ja, vielleicht findest du ja einen süßen Italiener.
Übrigens ist es gar nicht so einfach, studiert zu haben.
Früher hat man damit dann auch einen Job bekommen, aber
ich weiß jetzt auch nicht, was ich mit meinem dollen
Studium anfangen soll. Vor allem, weil ich keine Lust habe,
noch mehr Geld zu investieren. Das, was ich wissen wollte,
weiß ich jetzt, und eigentlich könnte ich jetzt auch wieder in
den Handel gehen. Das wird wenigstens bezahlt.“
„Du wolltest doch immer mit Kindern arbeiten.“
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„Ja, mal sehen ob ich da den Einstieg finde. Momentan helfe
ich ehrenamtlich Ausländern mit Problemen. Und habe
selbst welche.“
„Was hast du für Probleme?“
„Ich kann mich nicht konzentrieren, bin unzufrieden und
manchmal packt es mich, ich steige in den Zug und fahre
einfach durch die Gegend.“
„Kannst dich wohl nicht daran gewöhnen, dass du nicht
mehr fahren musst.“
„Das hat was, obwohl, André hat demnächst Urlaub, und
dann wollen wir uns noch einmal treffen. Also doch wieder
fahren.“
Endgültig vorbei
Inzwischen war etwas über ein halbes Jahr ins Land
gegangen, seitdem ich den Flieger nach Afrika verpasst
hatte, und es wurde Frühling. Immer noch wandelte ich wie
im Traum durch die Stadt und bekam von dem neu
erwachenden Leben in meiner Umgebung fast gar nichts mit.
André sollte Mitte März nach Paris kommen, und ich war
schon einen Tag vorher da. Ich holte den Schlüssel für
Andrés Haus von seiner Familie ab und verbrachte seit
langem mal wieder eine Nacht in unserem Schlafzimmer,
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das wir gemeinsam eingerichtet hatten. Es war dunkel
geworden, und da es eine der ersten lauen Frühlingsnächte
war, hatte ich das Fenster offen gelassen. Lange lag ich noch
wach, der Schlaf wollte und wollte nicht kommen.
Auf dem Kamin standen zwei Büsten aus schwarzem
Ebenholz, die André aus Afrika mitgebracht hatte. Eine
stellte den Kopf einer afrikanischen Frau dar, mit schönen
ebenmäßigen Zügen, die krausen Haare zu vielen Zöpfen
geflochten, die eng am Kopf anlagen. Das Gesicht glänzte
ein wenig im Licht der Straßenlaterne, das durch die Ritzen
der Fensterladen ins Zimmer drang. Auf der anderen Seite
des Kaminsimses stand das männliche Pendant dazu,
ebenfalls ein sehr ruhiges und ebenmäßiges Gesicht, die
krausen Locken waren kurz geschnitten. Ich stellte mir die
beiden als Paar vor, die einer Familie mit vielen Kindern
vorstanden, gemeinsam die Landwirtschaft betrieben und im
Einklang mit ihrer Kultur lebten. Alles war geregelt, jeder
hatte seine Aufgaben, seine Position, es gab nicht diese
Unsicherheiten und Machtkämpfe, wie in der neuen
Umgebung von André. Seine neuen Bekannten aus Afrika,
die alle studiert hatten, die meisten Sozial-pädagogik,
himmelten André an und ich fühlte mich schon lange nicht
mehr wohl in diesem Kreis. Und André wollte sich immer
weniger festlegen, was auch dazu geführt hatte, dass ich
wieder nach Deutschland gegangen war. Irgendwie schienen
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die beiden Büsten die alten Traditionen mit klaren Rollen
und Respekt voreinander zu behüten.
Draußen schlug die Uhr, ich zählte 12 Schläge. Was, schon
Mitternacht – und plötzlich waren die Geister da: Jemand
anderes schien in meinem Bett zu liegen, und eine
Geschichte mit André schien sich in diesem Zimmer ereignet
zu haben. Ich war überrascht, ich erkante die Gestalten, eine
der Sozialpädagoginnen, von der ich es eigentlich nicht
erwartet hätte. Ich wusste, dass André mir nicht treu war, er
hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, und während der
langen Trennungszeiten hatte auch ich versucht, einmal eine
Beziehung aufzubauen. Irgendwie musste diese Geschichte
ein Ende haben. Es war trotzdem ein seltsames Erlebnis, das
ich einfach so hinnahm, und irgendwann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Ich machte die
notwendigen Einkäufe und am Nachmittag führ ich mit
seinen Pariser Freunden zum Flughafen, um ihn abzuholen.
Es kamen auch drei seiner neuen Bekannten aus Afrika, alle
drei blond und blauäugig. Nachdem wir ihn am Flughafen
begrüßt hatten, gingen wir zusammen in ein Restaurant, um
seine Ankunft zu feiern. Zum ersten Mal saß ich nicht neben
André, sondern am unteren Ende des Tisches mit seinen
Freunden und deren Frauen. André saß am oberen Ende,
umringt von seinen drei neuen Bekanntschaften, die ihn
anhimmelten.
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Ich musste an die Bücher von Utta Danella denken, die ich
immer gerne gelesen hatte wie viele Christen, da in ihren
Geschichten kein Ehebruch vorkam, und die brave, fleißige
Hauptperson immer den Helden bekam. Was manchmal
passierte, war, dass die vorherige Frau, die böse und herzlos
war, in der Geschichte einen Unfall hatte. So sorgte die
Fügung dazu, dass sich die beiden Protagonisten bekamen.
Ich sah mir die drei Mädels an: Fleißig und brav waren sie
alle drei, ohne Frage, dazu noch blond und blauäugig, was
auch besser in dieses Milieu passte. Nach so einem Buch von
Utta Danella würde ich eher in die Rolle der alten, bösen
Lebensgefährtin passen, und das gefiel mir weniger. Diese
Nacht würden Nägel mit Köpfen gemacht, oder aber die
erlauchte Gesellschaft würde mich nicht so bald wieder
sehen. Das wäre auch besser für meine seelische Gesundheit
sowie für meine Lebens-erwartung.
Als wir am Abend allein waren, und André mich in den Arm
nahm, sagte ich ihm, dass ich diese Nacht gerne versuchen
würde, ein Kind zu bekommen. Er meinte, dass er nicht
garantieren könne, dass er nicht irgendeine Krankheit hätte.
NEIN, NICHT SCHON WIEDER EIN PROBLEM!!!
Ich dachte noch: Dann müssen wir eben zum Arzt gehen,
und die nötigen Tests machen, aber in meinem Unter-
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bewusstsein brodelte es. Es hat Jahre gedauert, bis mir klar
wurde, dass ich in diesem Moment endgültig die Schnauze
voll hatte. Ja, was meinte denn der Fünf-Sterne-Doktor
eigentlich: Dass Afrika ein Kinderspielplatz sei? Musste er
denn wirklich mit jeder Frau ins Bett gehen? Und dem sollte
ich mein zukünftiges Leben in Afrika anvertrauen. Nein
danke!!
Ich hatte während der Zeit auch zwei Liebschaften gehabt,
aber ich hatte mir die Männer wenigstens angesehen. Und,
was vielleicht schlimmer war, es war auch von mir aus ernst
gemeint gewesen, weil ich dem ganzen Druck entfliehen
wollte. Allerdings, da ich immer auf die gleichen Typen
hereinfiel, intelligent und mitten im Studium, war ebenfalls
nichts daraus geworden. Auch, weil ich mich nie richtig von
André lösen konnte.
Das war das letzte Mal, dass ich nach Paris kam, um André
und seine Freunde zu treffen. Ich weiß nicht, wie lange ich
noch blieb, aber ich fuhr nach Hause, ohne dass wir das
Thema noch einmal angesprochen hätten.
Auf dem Rückweg fuhr ich bei Anja und Gerd vorbei. Das
Haus war inzwischen fertig eingerichtet und der ältere Sohn
ging schon in den Kindergarten, während die eineinhalb
Jahre alte Tochter noch zu Hause betreut wurde. Anja hatte
dafür extra Elternzeit genommen, um sich um beide Kinder
kümmern zu können.
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Wir saßen im gemütlichen Wohnzimmer und Anja erzählte,
während die Kinder in der Spielecke miteinander spielten.
„Du, das ist schon etwas anderes, nur zu Hause zu sein. Aber
das Tolle ist, man ist nicht mehr ferngesteuert und hetzt von
einem Termin zum anderen. Ich hab Zeit für die Kinder, für
den Haushalt, langsam kriege ich auch mit, wer sonst noch
im Ort lebt. Das ist ein ganz anderes Leben.“
„Fällt dir nicht langsam die Decke auf den Kopf?“
„Manchmal fehlt mir die Arbeit schon, hier ist es doch etwas
langweilig. Aber ich beschäftige mich gerne mit den
Kindern. Und hier bin ich die Chefin.“
„Könnt ihr euch das einfach so leisten, dass du zu Hause
bleibst?“
„Nein, eigentlich nicht, wir müssen ganz schön sparen. Also
mit Urlaub ist seit der Geburt der Kinder nichts mehr, und
langsam fange ich auch an, zu verstehen, was die im Radio
mit der Armutsfalle Kinder meinen. Ist schon gut, dass wir
gebaut haben, das macht uns unabhängiger. Aber ich denke,
wenn die kleine Dana auch in den Kindergarten kommt,
werde ich wieder anfangen zu arbeiten. Falls wir einen
Kindergartenplatz finden.“
„Ist das so schwierig?“
„Ja, man muss sich jahrelang vorher anmelden. Glücklicherweise ist das hier ja ein kleiner Vorort, da ist die Lage
etwas entspannter. Vor allem, weil die Politik ja momentan
auch für mehr Kindergartenplätze sorgt.“
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„Ja, die Frauen sollen neben der Mutterrolle noch arbeiten.
Wie in Frankreich.“
„Und in der ehemaligen DDR, da soll das ja auch besser und
normal gewesen sein, dass die Frauen nebenbei arbeiten.“
„Und was hältst du davon?“
„Ich weiß nicht, momentan komme ich zu vielen Dingen, für
die ich bisher noch keine Zeit hatte. So habe ich end-lich
richtig kochen gelernt, na ja, und Kinderpflege und wie man
einen Haushalt mit Kindern einrichtet. Da sagen die Männer
immer: „Das bisschen Haushalt“, aber dafür muss man auch
einiges wissen, sonst ist man viel Geld los.“
„Da hast du allerdings Recht. In Paris habe ich nie kochen
können, daher ist ein guter Batzen von meinem Verdienst für
Fertiggerichte weggegangen. Eigentlich habe ich nie richtig
Geld zurücklegen können.“
Wir schwiegen einen Moment. Mir fiel das laute Ticken der
Uhr auf. In Frankreich hatten wir keine Uhren gehabt, deren
Ticken man hören konnte, deshalb kam ich mir vor, wie in
einer neuen Welt, wenn ich bei jemandem zu Besuch war.
Meistens standen solide schwere Möbel in den Zimmern,
alles hatte seinen Platz, als hätte es schon Ewigkeiten dort
gestanden und würde auch noch Ewigkeiten dort stehen –
und dann das Ticken der Uhren. Ich musste an das Lied:
„Die Alten“ von Jacques Brel denken, in dem er von der
silbernen Uhr singt, die im Wohn-zimmer die Zeit zählt und
die den Alten somit sagt, dass das Ende näher rückt.
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Irgendwie schien das einzige, das sich hier veränderte, die
Uhrzeit zu sein, ansonsten ging alles seinen Weg, wie zu
allen Zeiten.
„Willst du noch ein Stück Kuchen?“, fragte Anja, „Er ist
selbstgebacken, hab ja jetzt Zeit dazu.“
„Ja, danke, der ist lecker! Und schmeckt auch besser als der
aus der Bäckerei.“
„Was machst du eigentlich jetzt?“
„Erstmal verzweifelt sein!“
„So schlimm?“
„Ja, da habe ich mein ganzes Leben darauf hingearbeitet, mit
André Kinder zu bekommen und jetzt die Trennung.“
„Kann man da nichts machen?“
„Ich will nicht mehr. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein
Schrecken ohne Ende. Sein neues Milieu ist fürchterlich,
man muss die ganze Zeit seinen Platz behaupten, er kann
sich nicht entscheiden, hat Geschichten mit anderen Frauen.
Bis jetzt hatte ich mich immer in mein Studium vergraben,
und gehofft, dass er doch mal vernünftig wird. Aber es ist
unmöglich, mit ihm zu reden. Irgendwie scheinen die an der
Uni zu lernen, wie man die Leute dazu bringt, das zu tun,
was man will, ohne sie darüber zu informieren. Und dann
Afrika, was nicht ungefährlich ist und für Frauen auch sehr
schwierig wegen der Muslime. Aber dafür hat er kein
Verständnis.“
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„Hab dir ja damals gesagt, dass du dir da etwas Schwieriges
ausgesucht hast.“
„Ja, aber ich habe nicht gewusst, dass das so schwierig ist.
Dann hätte ich gleich studiert, anstatt erst zu arbeiten, um
uns beiden ein Zusammenleben zu ermöglichen.“
„Hätte das was geändert?“
„Na ja, die Sozialpädagoginnen, mit denen er zu tun hat,
scheinen ja gelernt zu haben, mit ihm umzugehen. Die
arbeiten ja auch schon alle in dem Beruf, und haben das
dann auch einfach schon gelernt, während ich gerade erst aus
dem Studium komme.“
Wir schwiegen eine Weile.
Dann meinte ich: „Und außerdem stände ich dann nicht vor
dem Nichts. Um als Psychologin eine Stelle zu bekommen,
muss man eine Zusatzausbildung haben, und ich habe echt
keine Lust, noch mehr Geld in das Studium zu stecken.“
„Und was machst du jetzt? Zu Hause sitzen?“
„Auch, da gibt es genug zu tun, weil meine Mutter nicht
mehr so kann. Aber ich habe mich auch bei der Kirche
ehrenamtlich engagiert. Und mir geht es auch so schlecht.
Ich verkrafte die Trennung einfach nicht.“
„Und dass du mal in die Klinik gehst?“
„Die Klinik in A. hat einen schlechten Ruf. Dann lieber in
Paris, da kenne ich mich zumindest aus. Habe da ja
schließlich meine Praktika gemacht. Aber für den Moment
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hoffe ich, dass das von alleine aufhört. Wie geht es
eigentlich Gerd?“
„Oh, der ist jetzt Abteilungsleiter vom Lager. Was ganz gut
ist, auf diese Art verdient er etwas mehr und wir können
meinen Verdienstausfall besser verkraften.“
In dem Moment ertönte aus der Ecke, in der die Kinder
spielten, ein Geschrei. Peter wollte einen Bauklotz haben,
den Dana ganz verzweifelt festhielt. Die beiden rangelten
miteinander, und die kleinen Häuser, die sie aufgebaut
hatten, stürzten zusammen. Da war das Geschrei natürlich
groß. Anja und ich versprachen, alles mit den Kindern
zusammen wieder aufzubauen und den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, mit den Kindern zu spielen.
Ich kam erst spät abends nach Hause. Müde räumte ich
meine Sachen aus dem Rucksack und bereitete mich vor, ins
Bett zu gehen. Plötzlich hörte ich ein lautes Klopfen an der
Tür. Meine Mutter rief mit angsterfüllter Stimme: „Gerda,
schnell, mach auf!“
Ich öffnete schnell die Tür. Meine Mutter stürzte in den Flur
und schlug hastig die Tür hinter sich zu und schloss ab.
„Herr Krämer ist hinter mir her!“ Sie hatte ein blaues Auge.
Dann hörte ich Herrn Krämer. Er stemmte sich gegen die
Tür. Glücklicherweise war es noch eine der alten soliden
Türen, wie man sie in Altbauten findet. Es knirschte und
knackte fürchterlich, Holz krachte und splitterte, doch die
Tür hielt stand. Ich stürzte zu dem Telefon, das wir uns
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Ende der Leseprobe von:
Verrückt - Mein Weg aus der Krankheit
Monika Morgenstern
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