Verrückt Mein Weg aus der Krankheit von Monika Morgenstern 1 Impressum Copyright: © 2014 Monika Morgenstern Zweite überarbeitete Auflage 2016 Druck und Verlag: epubli GmbH Berlin www.epubli.de ISBN 978-3-8442-9417-0 2 Inhaltsangabe Zurück zu Hause Endgültig vorbei Der Weg in die Psychiatrie Zurück in Paris Endlich in der Klinik Zurück ins Leben Rückfall Der Weg aus der Klinik Rückkehr in die Gesellschaft Rückkehr ins Arbeitsleben Ein anderes Leben (5) (29) (39) (54) (61) (82) (90) (109) (124) (146) (161) 3 Mit Dank an alle diejenigen, die mich in einer schweren Zeit meines Lebens noch kannten, insbesondere Annette, Heike und Jürgen. Dank auch an Christine fürs Gegenlesen, sowie meine Familie und meine deutschen und französischen Freunde und Bekannten. Ähnlichkeiten mit bestimmten lebenden Personen sind rein zufällig und entsprechen dem Zeitgeist. Dies habe ich in meiner Arbeit und während meines Aufenthaltes in der Psychiatrie feststellen können. 4 Zurück zu Hause So, da war ich also wieder in der Kleinstadt U. gelandet. Etwas, was ich nie wollte, und wovor ich immer den größten Horror hatte. Aber irgendwie war ich auch froh, wieder zu Hause zu sein. Es hatte sich viel verändert. War in dem Bundesland in meiner Jugend immer nur die CDU an der Macht gewesen, und hatte ich meine Kleinstadt bei meinen Besuchen immer unverändert vorgefunden, so hatte die Regierung gewechselt und jetzt wurde gebaut. Nur in der Wohnung meiner Mutter hatte sich nichts verändert. Meine Mutter war älter geworden und konnte die ganzen Renovierungsarbeiten, die nötig waren, nicht mehr alleine machen. Also sah ich schon, dass da viel Arbeit auf mich zukommen würde. Aber der Übergang von der Weltbürgerin zur Kleinstadtpomeranze gestaltete sich schwierig. Nicht in der Realität, sondern in meinem Kopf. Hatte ich mich mein Leben lang auf verschiedene Umfelder einstellen müssen und immer nur reagiert, auf die Art. „Die Weisheit lief mir hinterher, aber ich war schneller!“, so schien die Weisheit nur darauf gewartet zu haben, dass ich mal stehen bleibe, um sich auf mich zu stürzen. Mit anderen Worten, mir ging es sauschlecht! 5 Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, weil auf einmal alle Gefühle, die ich bisher immer hintenangestellt hatte, auf mich einstürzten und ihren Platz verlangten. Glücklicherweise wurde nicht mehr viel von mir verlangt, da in meinem Kopf alle möglichen Geschichten und Gedanken abliefen. Das letzte, was ich von der großen Welt hörte, war ein Anruf von André bei meiner Familie, in dem er nachfragte, wo ich denn bleibe. Er wäre 600 Kilometer gefahren, um mich am Flugplatz abzuholen, und ich wäre nicht angekommen. Ich ließ ausrichten, ich hätte den Flieger verpasst. Da ich auch nicht mehr die Zeit gefunden hatte, eine Reiserücktrittsversicherung abzuschließen, hatte ich somit den Preis für das schöne Flugticket in den Sand gesetzt, was die Situation nicht gerade verbesserte. Da jedoch meine Mutter kein Telefon hatte und ich nicht über soviel Geld verfügte, um bis nach Afrika anzurufen, und André auch nicht über meine Verwandtschaft anrufen wollte, blieb ich erstmals von Vorwürfen verschont. Trotzdem kam ich mir vor wie auf einem fremden Planeten. Meine Mutter wohnte immer noch in ihrer Sozialwohnung in einem verrufenen Arbeiterviertel und während ich das alles in meiner Jugend normal fand, musste ich mich jetzt wieder daran gewöhnen. Außerdem ging es daran, mich bei der Agentur für Arbeit einzuschreiben und einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen: Also, Formulare ausfüllen und von 6 einem Amt zum anderen laufen. Beim Sozialamt bot man mir Hilfe an, wenn ich die Wohnung renovieren würde. Ich nahm auch wieder Kontakt zu meinen alten Schulfreunden auf, von denen einige noch da waren. Zuerst rief ich Gaby an, wir waren bis zur zehnten Klasse aufs Gymnasium gegangen, sie hatte dann eine Lehre als Floristin gemacht, während ich weiter die Schule besuchte. Als ich meinen Namen am Telefon sagte, rief sie erfreut: „Was, du bist aus Paris zurück? Was für eine Überraschung!“ „Ja, und ich werde voraussichtlich auch hier bleiben.“ „Fein, dann können wir uns ja treffen. Wir haben übrigens auch ein Pariser Café hier. Wäre doch eine gute Gelegenheit, es dir mal zu zeigen. Damit du nicht zu viel Fernweh hast.“ „Wann sollen wir uns treffen?“ „Ich habe heute Abend nach der Arbeit Zeit. Wie wäre es um 18 Uhr; direkt im Pariser Café?“ „Das muss aber neu sein. Wo ist denn das?“ „Am Markt und sieht sehr französisch aus. Du kannst es also nicht verfehlen.“ Abends machte ich mich also auf den Weg in die Stadt. Auf dem Marktplatz hatte sich einiges verändert, den größten Teil der Geschäfte kannte ich nicht aus meiner Jugend. Aber einige waren auch geblieben. Neu war das Pariser Café, das 7 ich an den für Paris typischen runden Tischen erkannte, die auf dem Marktplatz standen. Ich näherte mich dem Café und ließ meinen Blick über die Gäste schweifen. An einem der Tische saß eine junge Frau und ich erkannte ohne Probleme Gaby, die sich seit der Schulzeit kaum verändert hatte. Sie hatte immer noch ihre schulterlangen, lockigen blonden Haare. Ich näherte mich dem Tisch: „Hallo Gaby, schön dich zu sehen.“ Gaby stand auf und umarmte mich: „Hallo Gerda, du hast dich ja kaum verändert. Na ja, deine Haare sind nicht mehr so wild.“ Früher hatte ich mein Haar auch immer offen und schulterlang getragen, aber in Paris hatte ich mir eine Kurzhaarfrisur schneiden lassen, die ich dann nach meiner Rück-kehr nach Deutschland beibehalten hatte. „Und, was machst du noch so?“ „Ich arbeite immer noch in meinem Blumenladen, aber ich werde mich in nächster Zeit selbständig machen. Aller-dings werde ich dann nicht mehr in U. arbeiten, ich habe ein Geschäft in einem Nachbarort in Aussicht. Ja, und ansonsten sind die Kinder jetzt in der Schule und ich habe mich von meinem Mann getrennt. Und du?“ „Ich habe gerade mein Studium zu Ende gebracht, bin jetzt also eine Psychologin und werde mich wohl auch von meinem Franzosen trennen. Auf jeden Fall habe ich den Flieger nach Afrika verpasst.“ 8 „Welchen Flieger nach Afrika? Was willst du denn da?“ „André arbeitet jetzt in Afrika als Entwicklungshelfer und wollte dass ich auch komme. Leider habe ich das Flugzeug verpasst und somit das Ticket in den Sand gesetzt.“ „Au Backe!“ „Ganz so schlimm ist es nicht, er ist ja weit weg. Aber ich glaube, ich muss mich jetzt endgültig umorientieren.“ „Habt ihr keine Kinder?“ „Nein, wir haben beide zu lange studiert. Ist vielleicht auch ganz gut so, weil ich mich nicht als Mutter in Afrika sehe. Und was ist mit deinem Mann?“ „Du weißt doch, die Trinkerei. Das ist in den letzten Jahren schlimmer geworden. Ich bin dann erst zur Beratung gegangen und irgendwann habe ich dann entschieden, dass ich das nicht mehr ertrage. Also haben wir uns scheiden lassen.“ „Und die Kinder?“ „Wir verstehen uns ja noch ganz gut, deshalb kann er die Kinder jederzeit sehen. Und für die Kinder ist das auch eine Entlastung, wenn sie ihn nicht betrunken sehen.“ „Ich glaube, das hätten wir uns beide nicht vorgestellt, als wir von der Schule gegangen sind.“ „Nee, wirklich nicht! Obwohl, du wolltest ja immer in die große weite Welt.“ „Ja, aber ich bin dabei, meine Meinung zu ändern. Wo ist denn dein neuer Blumenladen?“ 9 „In N. Die Besitzerin geht in Rente und hat ihn mir zur Übernahme angeboten. In zwei Monaten ist es so weit. Ich hoffe, du kommst zu meiner Eröffnungsfeier. Ich freue mich schon riesig darauf.“ Wie schwiegen eine Weile und ich sah mich auf dem Marktplatz um. Der war in eine Fußgängerzone umgewandelt worden, in der Mitte plätscherte der Stadtbrunnen, Passanten schlenderten über den großen Platz. Über allem wölbte sich ein blauer Abendhimmel mit weißen Wattewölkchen, am Horizont, sofern er nicht von den Häusern verdeckt wurde, konnte man den Wald sehen. Plötzlich meinte ich: „Du, ich glaube, ich leide an einer kognitiven Dissonanz!“ „Da bin ich aber froh, dass ich nicht studiert habe!“ „Wieso?“ „Da kann mir das nicht passieren.“ „Doch, dir kann das auch passieren, du weißt dann bloß nicht, wie das heißt.“ „Na, dann erkläre mir mal, was das ist.“ „Das ist, wenn man eine bestimmte Überzeugung hat, und die Realität einem klar macht, dass damit etwas nicht stimmen kann.“ „Ach so, und was stimmt bei dir nicht?“ „Naja, ich war immer der Meinung, das Paris das Non-PlusUltra ist, aber jetzt sitzen wir hier in einem Café wie in Paris, und es ist viel schöner hier. Keine Autos, kein Lärm.“ 10 „Keine Arbeit!“ „Ja, die muss ich noch suchen. Aber das war nicht der Grund, warum ich nach Paris gegangen bin.“ „Was suchst du denn?“ „Keine Ahnung, entweder als Psychologin, aber das wird ohne Zusatzausbildung schwierig, oder wieder im Handel. Hab ja meine Sprachkenntnisse. Aber momentan muss ich erst mal richtig ankommen.“ „Willst du ein paar Leute kennen lernen? Ich kenne noch ein paar Jungs, die noch solo sind.“ „Warum nicht, obwohl, ich muss wohl erst einmal mit mir selbst ins Reine kommen.“ „Demnächst ist Kirmes hier, dann treffen wir uns wieder. Hast du Lust, mitzukommen?“ „Ja, gerne, sag mir Bescheid.“ „Habt ihr inzwischen Telefon?“ „Nein, aber das kommt in den nächsten Tagen. Ich ruf dich dann an und gebe dir meine Nummer.“ Danach tauschten wir uns noch über alte Bekannte aus und so gegen 21:00 Uhr machten wir uns auf den Weg nach Hause. Da ich nicht sofort eine Arbeit fand, engagierte ich mich wieder ehrenamtlich wie in meiner Jugend. Die evangelische Kirche war sehr aktiv in meinem Heimatort und man fragte mich, ob ich nicht bei der Ausländerberatung 11 mitmachen wolle. Außerdem gab es einen Kirchenchor, zu dem man mich auch einlud. Ich war wieder zu Hause, die Menschen waren noch die gleichen, ich sah bekannte Gesichter, die älter geworden waren, und auch viele neue Gesichter. Als ich eines Tages im Supermarkt einkaufen ging, sprach mich eine junge Frau in meinem Alter an: „Ei Gerda, kennst du mich noch?“ Ich sah sie an und suchte in meinem Gedächtnis. Sie war blond, blauäugig, hatte kurze Haare und war sportlich gekleidet. „Nee, ich glaub, da musst du mir helfen.“ „Na, ich bin die Andrea, wir waren zusammen im Bastelkreis.“ Da fiel der Groschen: „Ja, ich erinnere mich. Was machst du noch so?“ „Krankenschwester, und du?“ „Oh, ich hab lange in Paris gelebt und Psychologie studiert. Jetzt bin ich wieder zurück und suche eine Arbeit.“ „Psychologie ist gut. Wir können hier Psychologen gebrauchen. Es ist gar nicht so einfach, in einem Krankenhaus zu arbeiten. Die vielen Krankheiten, die vielen Menschen, die sterben. Ich hab manchmal Probleme, mit allem fertig zu werden.“ 12 „Na ja, ich hab keine Zusatzausbildung, deshalb kann ich noch keine Praxis aufmachen. Aber schön, dass du das sagst.“ „Du, ich muss weiter, die nächste Schicht beginnt. Bis bald.“ „Bis bald.“ So im Ganzen ließ sich meine Rückkehr also doch ganz gut an, wenn nur die Nächte nicht gewesen wären. Ich konnte nicht schlafen, konnte mich nicht konzentrieren, hing meinen Gedanken nach und war auch irgendwie ferngesteuert. Jetzt, wo ich nicht mehr durch Lernen oder Arbeit gefordert wurde, meldeten sich meine Gefühle mit aller Gewalt. Das stärkste war mein Kinderwunsch, der sich nun wohl nicht mehr so bald erfüllen ließ. Ich lag im Bett und stellte mir vor, wie ich mich um mein Kind kümmern würde, dass ich es vor allem Unbill beschützte, was ich ihm alles von mir erzählen könnte. Und dass dies denn wohl doch nicht so sein würde. Einmal erzählte ich meinem Bruder, der vorbeikam, davon. „Du und Kinder?“, meinte er. „Das lass mal besser.“ „Wieso?“, fragte ich, neugierig geworden. „Du hast mir mal die Finger in der Tür eingeklemmt.“ „Ei, das hab ich bestimmt nicht absichtlich gemacht. Und das war wohl auch nicht das einzige, was ich gemacht habe.“ Wer hat eigentlich Geschwister erfunden? 13 Von Zeit zu Zeit überkam mich der Drang, wegzufahren. Ich hatte mein Leben lang in Zügen gesessen, in der U-Bahn in Paris, immer wieder im Zug, um nach Hause zu fahren, deshalb konnte sich wohl mein Unterbewusstsein nicht daran gewöhnen, dass dies nun vorbei sein sollte. Also lief ich, ohne nachzudenken, aus dem Haus zum Bahnhof, wartete auf den nächsten Zug, kaufte eine Fahrkarte bis in die nächste Großstadt und fuhr los. Dabei stellte ich dann fest, dass die Realität doch schneller ist als ein Zug, weil ich meist an der Endstation ausstieg, mir die Geschäfte ansah, einen Kaffee trank und beruhigt wieder nach U. zurückkehrte. Langsam wurde mir doch bewusst, dass ich besser in Behandlung gehen sollte, da ein Psychologiestudium wohl doch nicht vor einer psychischen Erkrankung schützen könne. Allerdings war es auch das Studium, das mich von diesem Schritt abhielt, da ich befürchtete, dass ich danach nicht mehr als Psychologin arbeiten könnte. Wir hatten viel über die Symptome der Krankheiten gelernt, ich hatte in den Psychiatrien die Kranken gesehen, aber irgendwie hatte ich nie gelernt, wie das mit Heilung und Wiedereingliederung aussah. Eigentlich hatte ich nur die Patienten näher kennengelernt, denen es so schlecht ging, dass sie definitiv in der Klinik bleiben mussten. Zu der Zeit wurde noch nicht so offen über die Gründe für psychische Erkrankungen 14 gesprochen, daher waren Begriffe wie Burnout und posttraumatische Belastungs-störung noch nicht in aller Munde. Außerdem hatten die Psychiatrien in unserer Gegend einen ziemlich schlechten Ruf. Wahrscheinlich auch wegen der Dinge, die während der Hitlerzeit passiert waren, aber irgendwie war auch nie eine richtige Aufklärung über diese Zeit gemacht worden. Natürlich liefen in meiner Jugend Filme wie „Holocoust“ im Fernsehen, und in der Schule hatten wir kurz vor dem Abitur auch den Film über die Öffnung der ersten KZ gesehen, aber ansonsten war eigentlich nie über die damaligen Gesetze in der Medizin gesprochen worden, die auch die nicht-jüdische Bevölkerung betrafen. Und da meine Mutter ja Flüchtling war, konnte sie auch nichts über das, was in der Gegend geschehen war, berichten. Abgesehen davon, dass sie selbst die Zeit nie richtig verarbeitet hatte. Irgend ein Mann hatte mir einmal erzählt, es würde absichtlich keine tiefere Aufklärung gemacht, da die Leute dann länger zögern würden, bevor sie in die Klinik gingen, und das würde die Krankenkassen gewaltig entlasten. Ob das allerdings stimmte? – Na ja, bei Männern ist alles möglich. Also gab es schon zwei Gründe, warum ich zögerte, in Behandlung zu gehen. Ich hoffte, dass es mit der Zeit von alleine aufhören würde. Wenn ich alle Gefühle und Bücher, die ich jemals gelesen hatte, nochmals durchlebt hätte. Allerdings befürchtete ich, dass dies länger dauern würde, 15 denn ich hatte in meinem Leben viel gelesen, und nicht nur wissenschaftliche Texte. Irgendwie fing mein Gehirn jetzt an, alles einzuordnen und zu verarbeiten. Wobei die abenteuerlichsten Geschichten in meinem Kopf abliefen und ich nur froh war, nicht zu oft Horror- oder blutrünstige Filme gesehen zu haben. Obwohl die Realität auch nicht immer so ganz ohne ist. Also lief ich ziellos durch die Gegend, besuchte die Orte, die ich noch aus meiner Jugend kannte, räumte mein Zimmer auf, in dem sich allerhand altes Zeug angesammelt hatte, oder lag auf dem Bett und träumte vor mich hin. Es war auch eine Umstellung, wieder in einer Sozialwohnung zu leben. Einmal sah ich aus dem Fenster in den Hof und dachte, ich sehe nicht richtig. Draußen saß das Nachbarkind, mit dem ich früher immer gespielt hatte, und es war nicht älter geworden. Ich fragte meine Mutter, wer das sei. Sie meinte, das Nachbarkind habe geheiratet, wohne jetzt ein Haus weiter und habe Kinder bekommen. Und die spielten jetzt im Hof. Irgendwie schien die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Nachdenklich sah ich nach draußen: Was für ein schwieriges Leben hatte ich mir da ausgesucht, indem ich nach Paris gezogen und studiert hatte? Warum war ich nicht zu Hause geblieben und hatte mir einen Nachbarjungen angelacht und Kinder bekommen? Irgendwie wäre das zu einfach für mich gewesen. 16 Außerdem gab es dann auch die Streitereien mit einem Mitbewohner, der über uns wohnte. Herr Krämer erzog sein Kind allein mit Unterstützung seiner Mutter, die aber nicht in der Wohnung lebte. Er war ein großer, kräftiger Mann, der so aussah, als ob mit ihm nicht gut Kirschen essen sei. Also ging ich ihm aus dem Weg. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die ihm gegenüber klare Ansagen traf: der Hof habe sauber zu sein und die Türen müssten nachts abgeschlossen werden. Ich bewunderte ihren Mut, ich hätte mich da lieber fern gehalten, aber sie war es ja gewohnt in dieser Umgebung zu leben. Einmal sprach ich sie darauf an: „Du Mutti, ich möchte aber nicht hier bleiben. Das ist ja furchtbar, in so einer Gegend mit lauter Sozialhilfeempfängern zu wohnen.“ „Sei ruhig, Gerda, das sind auch Menschen!“ Hatten früher viele Flüchtlingsfamilien hier gelebt, so waren es jetzt ältere Leute, die wenig Rente hatten, Frührentner und Alleinerziehende. Aber ich war noch in den Vorurteilen meines vorherigen Milieus gefangen und diese Realität drang nur sehr langsam zu mir durch. Gaby lud mich öfter zu verschiedenen Aktivitäten ein. Eines Abends stellte sie mir einen jungen Mann in meinem Alter vor. „Hier, Gerda, das ist Egon. Seine Freundin hat ihn gerade verlassen und ist mit einem Italiener nach Rom gezogen. 17 Deshalb müssen wir ihn etwas aufmuntern. Und Egon, das ist Gerda. Ihr Freund lebt jetzt in Afrika, und ich glaube, das ist ihr zu weit weg.“ „Was machen wir heute Abend?“ „Wie wäre es, wenn wir ins Pariser Café gehen?“, schlug Egon vor. „Oh!“, antwortete Gaby, „Ich glaube, das ist nicht so gut für Gerda. Ihr Ex-Verlobter kommt aus Paris.“ „Na gut, gehen wir in die „Sprechblase“. Da ist immer gute Musik.“ Als wir in der „Sprechblase“ ankamen, waren schon viele Leute da. „Hallo Klaus, du auch da?“, fragte Gaby. „Gut, dass ich dich sehe. Ich muss unbedingt mal unter vier Augen mit dir reden. Hast du einen Moment Zeit?“ „Na ja“, sie wandte sich an uns, „ihr entschuldigt mich einen Moment.“ Allein gelassen suchten wir uns einen Tisch am Fenster. „Wie es scheint“, meinte Egon, „stehst du auch vor einem neuen Lebensabschnitt?“ „Weiß noch nicht. Allerdings sieht es ganz so aus.“ „Ich bin ganz schön sauer auf meine Ex. Ich wollte gerade eine Familie gründen, und habe auch schon etwas gespart, damit wir uns einrichten können.“ „Und jetzt ist sie weg.“ 18 „Ja, und jetzt ist sie weg, und ich kann alles von vorn anfangen.“ Wir schwiegen einen Moment. Eigentlich ging es ihm besser wie mir: Er hatte zumindest etwas zurücklegen können. Ich hatte, außer einer Menge Wissen, eigentlich gar nichts. Während ich gearbeitet hatte, hatten wir das Geld für Restaurants, Kinos und Urlaube ausgegeben und eigentlich nichts zurückgelegt. Und die wenigen Möbel, die wir uns angeschafft hatten, standen in Paris, und da standen sie gut. Es würde genau so viel kosten, sie nach Deutschland zu bringen wie sie neu zu kaufen. Dabei war ich jetzt Mitte Dreißig, und die meisten Mädchen meines Alters hatten zumindest schon etwas geschafft wie Gaby, die sich gerade selbständig machte und Kinder hatte. Na ja, und schon eine kaputte Ehe hinter sich. Sie kam auch gerade wieder in die Kneipe und schlängelte sich zu uns durch. „Ich hoffe, ich war nicht zu lange weg. Aber Klaus hat immer irgendein Problem.“ „Und sucht auch Anschluss“, meinte Egon. „Nee, danke!“, antwortete Gaby, „Ich bin fürs erste bedient.“ „Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte Egon. „Ich habe gerade mein Psychologiestudium abgeschlossen, und festgestellt, dass man rein gar nichts damit anfangen kann. Außer, dass man eine teure Zusatzausbildung bezahlen 19 muss, um einen Job zu finden. Gibt es eigentlich Psychologen in U.?“ „Ich kenn nur einen. Ansonsten haben wir eine Lebensberatung. Das wäre vielleicht was für dich.“ „Als Klientin oder als Beruf?“ antwortete ich zynisch. „Was machst du eigentlich?“ „Ich bin Industriekaufmann.“ In dem Moment kam eine ungefähr dreißig Jahre alte Frau mit kurzen schwarzen Haaren und blauen Augen auf unseren Tisch zu. „Hallo Gaby, wie geht es dir?“, fragte sie. „Hallo Inge, gut. Darf ich vorstellen, das ist Inge, sie ist die Sozialpädagogin, die sich während meiner Scheidung um uns gekümmert hat.“ Zu Inge gewandt meinte sie: „Ich möchte dir Egon und Gerda vorstellen. Gerda hat Psychologie studiert und lange in Frankreich gelebt.“ „Angenehm.“ „Wir diskutieren gerade über die beruflichen Möglichkeiten einer Psychologin hier in U. Du kommst doch aus dem Bereich, hast du da eine Ahnung?“ „Nein, eigentlich nicht, die kommen selten zu uns. Allerdings kannst du dich bei der Ärztekammer in N. erkundigen, wie es mit den Weiterbildungsmöglichkeiten aussieht.“ „Danke“, antwortete ich, „aber ich glaube, ich muss erst einmal richtig ankommen.“ 20 Inzwischen hatte ich für mich beschlossen, dass ich mir wohl irgendwo einen bösen Geist eingefangen hatte, der mich verfolgte. Eigentlich ließ sich meine Rückkehr nach U. gar nicht so schlecht an, ich war immer gut integriert gewesen, und konnte auf vielen Dingen wieder aufbauen. Und durch die langen Jahre in Paris sah ich nun die ländliche und konservative Umgebung mit ganz anderen Augen. Daher verstand ich die Wutanfälle und die Unzufriedenheit nicht, die mich verfolgten: In U. enden, nach einem solch aufreibenden Studium, das war inakzeptabel. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten inzwischen Haus und Familie und hohe Positionen und ich hatte nichts erreicht! U. wäre noch viel zu gut für mich – irgendwie verstand ich mich selbst nicht mehr. Eines Nachts, ich war wohl dabei, den misslungenen Flug nach Afrika zu verarbeiten, träumte ich, jemand hätte ein Flugticket nach Afrika für mich am Frankfurter Flughafen hinterlegt. Am nächsten Morgen packte ich meinen Rucksack, hob Geld ab und fuhr nach Frankfurt. Es war schon dunkel, als ich am Abend in Frankfurt ankam. Ich fragte am Schalter, ob jemand ein Ticket für mich hinterlegt hätte, aber natürlich wusste keiner davon. Allerdings, so unverrichteter Dinge wollte ich jetzt auch nicht wieder heimfahren. Also sah ich mir die Last-minute-Angebote an. Ein Flug nach Genf passte zu meinen finanziellen Möglichkeiten, daher kaufte ich kurzerhand das Ticket und checkte ein. 21 Als die Maschine abhob, ging es mir schlecht. In meinem Hirn lief ein Kopfkino ab. Die Atombombe war gezündet worden. Wenn ich nach Afrika fliegen würde, fände der dritte Weltkrieg statt. Deshalb saß André in seinem Bunker nach dem Fall der Atombombe und schoss mich aus seiner Lebenslinie. Irgendwie befand ich mich in einem meiner Science Fiction Romane, von denen ich so viele gelesen hatte. Dieser handelte von den Parallelwelten, d. h. es gab mehrere Welten, die nebeneinander existierten, und zwischen denen man hin- und herpendeln konnte. Wie genau das funktionierte, weiß ich nicht mehr, aber das, was mein Geist mir erzählte, schien in den Roman zu passen. Ich beruhigte ihn erstmals und verklickerte ihm, dass ich nicht nach Afrika, sondern nur in die Schweiz fliegen würde. Und dass die Schweizer mich sicherlich auch nicht dabehalten würden, da ich sowieso kein Geld hatte, um mich dort niederzulassen. Insgeheim fragte ich mich, wie ich kleine Gerda Müller wohl in Afrika den dritten Weltkrieg anzetteln könnte und sah mich schon an einem Lagerfeuer in einer der kleinen Hütten aus den aus dem roten Sand gebrannten, roten Steinen sitzen, um im Kreise der Schwarzafrikaner zu diskutieren. Irgendwie hatte ich in meiner Jugend wohl wirklich zu viel Blödsinn gelesen. Ich beschloss, zukünftig wohl etwas besser auf meine Literatur zu achten. Allerdings, der Roman über diese Welten war geil gewesen. 22 Darüber erreichten wir Genf und ich stieg aus der Maschine. Draußen empfing mich eine kalte Schneelandschaft. Ich hatte schon immer ganz hohen Schnee sehen wollen, und das nahm ich mir jetzt vor. Nachdem ich den Flughafen verlassen hatte, suchte ich deshalb die nächste Bushaltestelle, und fuhr zu einer Station, deren Name nach Park und Bergen klang. Mitten im Schnee stieg ich dann aus und stellte zu meinem Bedauern fest, dass er doch nicht so hoch war. Dann ging ich einige Stunden lang spazieren. Diesmal hatte die Realität wirklich lange gebraucht, um mich zu finden, aber sie spürte mich jetzt doch mitten in der winterlichen Landschaft auf. Mit einem lauten Magenknurren. Derart alarmiert sah ich mich nach Wegweisern und Schildern mit Landkarten um, und fand schließlich eine Tafel mit Wanderwegen. Erleichtert suchte ich die nächste Bushaltestelle. Diese fand ich dann auch und fuhr mit knurrendem Magen zurück nach Genf. Nun musste ich erst einmal eine Unterkunft für die Nacht finden, denn in dieser Jahreszeit war eine Übernachtung im Freien wohl nicht angesagt. Außerdem fing mein Rucksack allmählich an, merklich auf meine Schultern zu drücken. Zu allem Überfluss hatte ich nicht mehr viel Geld zur Verfügung, da das Flugticket doch recht teuer gewesen war. 23 Plötzlich fiel mein Auge auf ein Schild von einer Pension. Ich klingelte an der Tür, ein Summer ertönte und die Tür sprang auf. Hinter der Rezeption saß eine ältere Dame: „Guten Tag, ist bei Ihnen noch ein Zimmer frei?“ „Wir haben noch ein Doppelzimmer, wenn es sie nicht stört, mit einer anderen Frau zusammen zu übernachten.“ „Wie teuer kommt das?“ „Vierzig Franken.“ „Kann ich auf Rechnung bezahlen. Ich habe mein Portemonnaie verloren. Aber ich habe einen Ausweis dabei. Da können Sie meine Adresse finden, und ich überweise Ihnen den Betrag, wenn ich wieder zurück bin.“ Sie sah mich prüfend an. Dann meinte sie: „Gut, ausnahmsweise. Hier ist der Schlüssel. Sie sind im Zimmer 14.“ Erleichtert nahm ich den Schlüssel und suchte das Zimmer. Zumindest musste ich jetzt nicht draußen im Schnee übernachten. Nachdem ich meine Sachen abgestellt hatte, ging ich zum nächsten McDonalds, den ich unterwegs gesehen hatte, um mir einen Hamburger mit Fritten zu kaufen. Zu mehr reichten meine mageren Mittel nicht. Am nächsten Morgen brach ich nach dem Frühstück mit dem Rucksack zum Bahnhof auf. Viel Geld hatte ich nicht mehr, jetzt musste ich sehen, wie weit ich mit dem, was ich hatte, Richtung Heimat kommen würde. Es reichte dann auch 24 gerade noch bis nach Deutschland in irgendein Alpendorf. Dort angekommen, suchte ich die Stadt-verwaltung, stellte mich beim Sozialamt vor, und fragte, ob ich dableiben könnte. Die Sachbearbeiterin nahm meine Personalien auf, sagte mir, sie würde sich mit meinem Heimatort in Verbindung setzen und schickten mich in ein Frauenhaus für die Nacht. Da es währenddessen später Nachmittag geworden war, ließ ich meinen Rucksack in dem Frauenhaus und ging in der schönen Berglandschaft spazieren. Abends kehrte ich zurück auf das Zimmer, in dem mein Bett stand. Ich teilte es mit einer anderen Frau mittlern Alters, die ein blaues Auge hatte. „Oh!“, meinte ich, „Was ist denn mit Ihnen passiert?“ „Mein Mann war wieder betrunken und hat mich geschlagen. Deshalb bin ich hier.“ „Von dem würde ich mich aber scheiden lassen!“ „Ja, wenn die Kinder nicht wären. Allerdings bin ich mit der Sozialpädagogin dabei, eine andere Wohnung zu suchen. Ich will auch da raus. Und was ist mit Ihnen?“ „Ich hab einen Geist, der mich jagt. Ich weiß auch nicht, wo ich mir den eingefangen habe.“ „Sie sind aber nicht aus der Gegend?“ „Nein, ich komme aus dem Norden. Würde aber gerne hier bleiben. Es gefällt mir hier.“ „Ja, das sagen die Urlauber alle. Und warum?“ 25 „Weiß ich nicht. In meinem Heimatort ist es auch nicht schlecht, aber irgendwie zieht es mich weg.“ Als ich am nächsten Morgen zum Sozialamt kam, bekam ich eine Rückfahrkarte nach U. und einen Fahrplan. Derart bewaffnet ging ich zum Bahnhof. Ich kann mich noch sehr genau an meine Heimfahrt erinnern: Es hatte geschneit, ich fuhr durch eine märchenhafte, weiße Landschaft, die unter einem strahlend blauen Himmel lag. Irgendwie musste ich an meine Zeit in Paris denken. Es war eine wunderschöne Zeit gewesen, strahlend blau, aber kalt. Irgendwie hatte ich immer eine beneidenswerte Rolle gespielt, die auch sehr interessant gewesen war, aber die absolut nicht meinem Charakter entsprach. Wer möchte nicht im Abendkleid ausgehen, schöne Kleider anziehen, in Kinos und Restaurants gehen? Ich hatte dieses Leben nie in Frage gestellt, aber im Grunde war ich immer einsam gewesen, weil solche Äußerlichkeiten absolut nicht meiner Art entsprachen. Da ich in meiner Jugend früh Verantwortung übernommen hatte, und auch immer genäht, gestrickt, gehäkelt und repariert hatte, weil kein Geld für neue Sachen da war, war ich eigentlich ein sehr kreativer Mensch, und diese Kreativität war in Paris nie geschätzt worden. Ich hatte in einem Leben gelebt, in dem ich in eine Schublade gesteckt wurde, die nicht meinem richtigen Wesen entsprach. Aber 26 dies sollte ich erst langsam entdecken, als ich endlich wieder die Freizeit hatte, an meiner Jugend anzuknüpfen. Als ich wieder in U. ankam, begrüßte mich meine Mutter erleichtert: „Du Gerda, wo hast du gesteckt? Ich habe eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben.“ In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht zu Hause abgemeldet hatte. Ich besuchte auch Käthe, die immer noch in N. lebte. Sie hatte sich inzwischen scheiden lassen. Die Paartherapie, die beide dann doch angefangen hatten, hatte ergeben, dass sich beide auseinander gelebt hatten. Jetzt war sie dabei, ihr Leben neu zu organisieren, während ihr Ex-Mann wirklich mit der Frau zusammen gezogen war, die er an der Universität kennen gelernt hatte. „Weißt du, Gerda“, meinte sie, „eigentlich habe ich mich immer nach meinem Mann und sein Studium gerichtet. Dabei würde ich gerne ins Ausland gehen, und jetzt bin ich auch froh, einen technischen Beruf gelernt zu haben.“ „Warum?“ „Ei, du glaubst gar nicht, wie sehr Techniker überall gesucht werden. Ich möchte gerne in ein südliches Land, Italien oder Spanien.“ 27 „Da würde ich lieber Italien nehmen, die Spanier mit ihren Stierkämpfen sind ja sehr speziell.“ „Warst du schon mal in Spanien?“ „Nein, dafür aber in Italien. Ist sehr schön dort, aber es gibt viele Arbeitslose.“ „Meine Firma hat eine Filiale dort, und ich könnte wechseln. Allerdings müsste ich dazu Italienisch lernen.“ „Na, das ist doch das Mindeste!“ „Ja, und das bringt mich auch auf andere Gedanken. Ich muss die ganze Zeit daran denken, auf was ich für meinen Mann alles verzichtet habe. Er wollte z.B. keine Kinder haben. Ob ich jetzt noch einen Mann finde, der Kinder will? Ich glaube, die sind doch inzwischen alle vergeben.“ „Die, die studiert haben, suchen jetzt. Da hast du vielleicht noch Chancen.“ „Oh, ich glaube, von Akademikern habe ich die Nase voll.“ „Na ja, vielleicht findest du ja einen süßen Italiener. Übrigens ist es gar nicht so einfach, studiert zu haben. Früher hat man damit dann auch einen Job bekommen, aber ich weiß jetzt auch nicht, was ich mit meinem dollen Studium anfangen soll. Vor allem, weil ich keine Lust habe, noch mehr Geld zu investieren. Das, was ich wissen wollte, weiß ich jetzt, und eigentlich könnte ich jetzt auch wieder in den Handel gehen. Das wird wenigstens bezahlt.“ „Du wolltest doch immer mit Kindern arbeiten.“ 28 „Ja, mal sehen ob ich da den Einstieg finde. Momentan helfe ich ehrenamtlich Ausländern mit Problemen. Und habe selbst welche.“ „Was hast du für Probleme?“ „Ich kann mich nicht konzentrieren, bin unzufrieden und manchmal packt es mich, ich steige in den Zug und fahre einfach durch die Gegend.“ „Kannst dich wohl nicht daran gewöhnen, dass du nicht mehr fahren musst.“ „Das hat was, obwohl, André hat demnächst Urlaub, und dann wollen wir uns noch einmal treffen. Also doch wieder fahren.“ Endgültig vorbei Inzwischen war etwas über ein halbes Jahr ins Land gegangen, seitdem ich den Flieger nach Afrika verpasst hatte, und es wurde Frühling. Immer noch wandelte ich wie im Traum durch die Stadt und bekam von dem neu erwachenden Leben in meiner Umgebung fast gar nichts mit. André sollte Mitte März nach Paris kommen, und ich war schon einen Tag vorher da. Ich holte den Schlüssel für Andrés Haus von seiner Familie ab und verbrachte seit langem mal wieder eine Nacht in unserem Schlafzimmer, 29 das wir gemeinsam eingerichtet hatten. Es war dunkel geworden, und da es eine der ersten lauen Frühlingsnächte war, hatte ich das Fenster offen gelassen. Lange lag ich noch wach, der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Auf dem Kamin standen zwei Büsten aus schwarzem Ebenholz, die André aus Afrika mitgebracht hatte. Eine stellte den Kopf einer afrikanischen Frau dar, mit schönen ebenmäßigen Zügen, die krausen Haare zu vielen Zöpfen geflochten, die eng am Kopf anlagen. Das Gesicht glänzte ein wenig im Licht der Straßenlaterne, das durch die Ritzen der Fensterladen ins Zimmer drang. Auf der anderen Seite des Kaminsimses stand das männliche Pendant dazu, ebenfalls ein sehr ruhiges und ebenmäßiges Gesicht, die krausen Locken waren kurz geschnitten. Ich stellte mir die beiden als Paar vor, die einer Familie mit vielen Kindern vorstanden, gemeinsam die Landwirtschaft betrieben und im Einklang mit ihrer Kultur lebten. Alles war geregelt, jeder hatte seine Aufgaben, seine Position, es gab nicht diese Unsicherheiten und Machtkämpfe, wie in der neuen Umgebung von André. Seine neuen Bekannten aus Afrika, die alle studiert hatten, die meisten Sozial-pädagogik, himmelten André an und ich fühlte mich schon lange nicht mehr wohl in diesem Kreis. Und André wollte sich immer weniger festlegen, was auch dazu geführt hatte, dass ich wieder nach Deutschland gegangen war. Irgendwie schienen 30 die beiden Büsten die alten Traditionen mit klaren Rollen und Respekt voreinander zu behüten. Draußen schlug die Uhr, ich zählte 12 Schläge. Was, schon Mitternacht – und plötzlich waren die Geister da: Jemand anderes schien in meinem Bett zu liegen, und eine Geschichte mit André schien sich in diesem Zimmer ereignet zu haben. Ich war überrascht, ich erkante die Gestalten, eine der Sozialpädagoginnen, von der ich es eigentlich nicht erwartet hätte. Ich wusste, dass André mir nicht treu war, er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, und während der langen Trennungszeiten hatte auch ich versucht, einmal eine Beziehung aufzubauen. Irgendwie musste diese Geschichte ein Ende haben. Es war trotzdem ein seltsames Erlebnis, das ich einfach so hinnahm, und irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Morgen schien die Sonne. Ich machte die notwendigen Einkäufe und am Nachmittag führ ich mit seinen Pariser Freunden zum Flughafen, um ihn abzuholen. Es kamen auch drei seiner neuen Bekannten aus Afrika, alle drei blond und blauäugig. Nachdem wir ihn am Flughafen begrüßt hatten, gingen wir zusammen in ein Restaurant, um seine Ankunft zu feiern. Zum ersten Mal saß ich nicht neben André, sondern am unteren Ende des Tisches mit seinen Freunden und deren Frauen. André saß am oberen Ende, umringt von seinen drei neuen Bekanntschaften, die ihn anhimmelten. 31 Ich musste an die Bücher von Utta Danella denken, die ich immer gerne gelesen hatte wie viele Christen, da in ihren Geschichten kein Ehebruch vorkam, und die brave, fleißige Hauptperson immer den Helden bekam. Was manchmal passierte, war, dass die vorherige Frau, die böse und herzlos war, in der Geschichte einen Unfall hatte. So sorgte die Fügung dazu, dass sich die beiden Protagonisten bekamen. Ich sah mir die drei Mädels an: Fleißig und brav waren sie alle drei, ohne Frage, dazu noch blond und blauäugig, was auch besser in dieses Milieu passte. Nach so einem Buch von Utta Danella würde ich eher in die Rolle der alten, bösen Lebensgefährtin passen, und das gefiel mir weniger. Diese Nacht würden Nägel mit Köpfen gemacht, oder aber die erlauchte Gesellschaft würde mich nicht so bald wieder sehen. Das wäre auch besser für meine seelische Gesundheit sowie für meine Lebens-erwartung. Als wir am Abend allein waren, und André mich in den Arm nahm, sagte ich ihm, dass ich diese Nacht gerne versuchen würde, ein Kind zu bekommen. Er meinte, dass er nicht garantieren könne, dass er nicht irgendeine Krankheit hätte. NEIN, NICHT SCHON WIEDER EIN PROBLEM!!! Ich dachte noch: Dann müssen wir eben zum Arzt gehen, und die nötigen Tests machen, aber in meinem Unter- 32 bewusstsein brodelte es. Es hat Jahre gedauert, bis mir klar wurde, dass ich in diesem Moment endgültig die Schnauze voll hatte. Ja, was meinte denn der Fünf-Sterne-Doktor eigentlich: Dass Afrika ein Kinderspielplatz sei? Musste er denn wirklich mit jeder Frau ins Bett gehen? Und dem sollte ich mein zukünftiges Leben in Afrika anvertrauen. Nein danke!! Ich hatte während der Zeit auch zwei Liebschaften gehabt, aber ich hatte mir die Männer wenigstens angesehen. Und, was vielleicht schlimmer war, es war auch von mir aus ernst gemeint gewesen, weil ich dem ganzen Druck entfliehen wollte. Allerdings, da ich immer auf die gleichen Typen hereinfiel, intelligent und mitten im Studium, war ebenfalls nichts daraus geworden. Auch, weil ich mich nie richtig von André lösen konnte. Das war das letzte Mal, dass ich nach Paris kam, um André und seine Freunde zu treffen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch blieb, aber ich fuhr nach Hause, ohne dass wir das Thema noch einmal angesprochen hätten. Auf dem Rückweg fuhr ich bei Anja und Gerd vorbei. Das Haus war inzwischen fertig eingerichtet und der ältere Sohn ging schon in den Kindergarten, während die eineinhalb Jahre alte Tochter noch zu Hause betreut wurde. Anja hatte dafür extra Elternzeit genommen, um sich um beide Kinder kümmern zu können. 33 Wir saßen im gemütlichen Wohnzimmer und Anja erzählte, während die Kinder in der Spielecke miteinander spielten. „Du, das ist schon etwas anderes, nur zu Hause zu sein. Aber das Tolle ist, man ist nicht mehr ferngesteuert und hetzt von einem Termin zum anderen. Ich hab Zeit für die Kinder, für den Haushalt, langsam kriege ich auch mit, wer sonst noch im Ort lebt. Das ist ein ganz anderes Leben.“ „Fällt dir nicht langsam die Decke auf den Kopf?“ „Manchmal fehlt mir die Arbeit schon, hier ist es doch etwas langweilig. Aber ich beschäftige mich gerne mit den Kindern. Und hier bin ich die Chefin.“ „Könnt ihr euch das einfach so leisten, dass du zu Hause bleibst?“ „Nein, eigentlich nicht, wir müssen ganz schön sparen. Also mit Urlaub ist seit der Geburt der Kinder nichts mehr, und langsam fange ich auch an, zu verstehen, was die im Radio mit der Armutsfalle Kinder meinen. Ist schon gut, dass wir gebaut haben, das macht uns unabhängiger. Aber ich denke, wenn die kleine Dana auch in den Kindergarten kommt, werde ich wieder anfangen zu arbeiten. Falls wir einen Kindergartenplatz finden.“ „Ist das so schwierig?“ „Ja, man muss sich jahrelang vorher anmelden. Glücklicherweise ist das hier ja ein kleiner Vorort, da ist die Lage etwas entspannter. Vor allem, weil die Politik ja momentan auch für mehr Kindergartenplätze sorgt.“ 34 „Ja, die Frauen sollen neben der Mutterrolle noch arbeiten. Wie in Frankreich.“ „Und in der ehemaligen DDR, da soll das ja auch besser und normal gewesen sein, dass die Frauen nebenbei arbeiten.“ „Und was hältst du davon?“ „Ich weiß nicht, momentan komme ich zu vielen Dingen, für die ich bisher noch keine Zeit hatte. So habe ich end-lich richtig kochen gelernt, na ja, und Kinderpflege und wie man einen Haushalt mit Kindern einrichtet. Da sagen die Männer immer: „Das bisschen Haushalt“, aber dafür muss man auch einiges wissen, sonst ist man viel Geld los.“ „Da hast du allerdings Recht. In Paris habe ich nie kochen können, daher ist ein guter Batzen von meinem Verdienst für Fertiggerichte weggegangen. Eigentlich habe ich nie richtig Geld zurücklegen können.“ Wir schwiegen einen Moment. Mir fiel das laute Ticken der Uhr auf. In Frankreich hatten wir keine Uhren gehabt, deren Ticken man hören konnte, deshalb kam ich mir vor, wie in einer neuen Welt, wenn ich bei jemandem zu Besuch war. Meistens standen solide schwere Möbel in den Zimmern, alles hatte seinen Platz, als hätte es schon Ewigkeiten dort gestanden und würde auch noch Ewigkeiten dort stehen – und dann das Ticken der Uhren. Ich musste an das Lied: „Die Alten“ von Jacques Brel denken, in dem er von der silbernen Uhr singt, die im Wohn-zimmer die Zeit zählt und die den Alten somit sagt, dass das Ende näher rückt. 35 Irgendwie schien das einzige, das sich hier veränderte, die Uhrzeit zu sein, ansonsten ging alles seinen Weg, wie zu allen Zeiten. „Willst du noch ein Stück Kuchen?“, fragte Anja, „Er ist selbstgebacken, hab ja jetzt Zeit dazu.“ „Ja, danke, der ist lecker! Und schmeckt auch besser als der aus der Bäckerei.“ „Was machst du eigentlich jetzt?“ „Erstmal verzweifelt sein!“ „So schlimm?“ „Ja, da habe ich mein ganzes Leben darauf hingearbeitet, mit André Kinder zu bekommen und jetzt die Trennung.“ „Kann man da nichts machen?“ „Ich will nicht mehr. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Sein neues Milieu ist fürchterlich, man muss die ganze Zeit seinen Platz behaupten, er kann sich nicht entscheiden, hat Geschichten mit anderen Frauen. Bis jetzt hatte ich mich immer in mein Studium vergraben, und gehofft, dass er doch mal vernünftig wird. Aber es ist unmöglich, mit ihm zu reden. Irgendwie scheinen die an der Uni zu lernen, wie man die Leute dazu bringt, das zu tun, was man will, ohne sie darüber zu informieren. Und dann Afrika, was nicht ungefährlich ist und für Frauen auch sehr schwierig wegen der Muslime. Aber dafür hat er kein Verständnis.“ 36 „Hab dir ja damals gesagt, dass du dir da etwas Schwieriges ausgesucht hast.“ „Ja, aber ich habe nicht gewusst, dass das so schwierig ist. Dann hätte ich gleich studiert, anstatt erst zu arbeiten, um uns beiden ein Zusammenleben zu ermöglichen.“ „Hätte das was geändert?“ „Na ja, die Sozialpädagoginnen, mit denen er zu tun hat, scheinen ja gelernt zu haben, mit ihm umzugehen. Die arbeiten ja auch schon alle in dem Beruf, und haben das dann auch einfach schon gelernt, während ich gerade erst aus dem Studium komme.“ Wir schwiegen eine Weile. Dann meinte ich: „Und außerdem stände ich dann nicht vor dem Nichts. Um als Psychologin eine Stelle zu bekommen, muss man eine Zusatzausbildung haben, und ich habe echt keine Lust, noch mehr Geld in das Studium zu stecken.“ „Und was machst du jetzt? Zu Hause sitzen?“ „Auch, da gibt es genug zu tun, weil meine Mutter nicht mehr so kann. Aber ich habe mich auch bei der Kirche ehrenamtlich engagiert. Und mir geht es auch so schlecht. Ich verkrafte die Trennung einfach nicht.“ „Und dass du mal in die Klinik gehst?“ „Die Klinik in A. hat einen schlechten Ruf. Dann lieber in Paris, da kenne ich mich zumindest aus. Habe da ja schließlich meine Praktika gemacht. Aber für den Moment 37 hoffe ich, dass das von alleine aufhört. Wie geht es eigentlich Gerd?“ „Oh, der ist jetzt Abteilungsleiter vom Lager. Was ganz gut ist, auf diese Art verdient er etwas mehr und wir können meinen Verdienstausfall besser verkraften.“ In dem Moment ertönte aus der Ecke, in der die Kinder spielten, ein Geschrei. Peter wollte einen Bauklotz haben, den Dana ganz verzweifelt festhielt. Die beiden rangelten miteinander, und die kleinen Häuser, die sie aufgebaut hatten, stürzten zusammen. Da war das Geschrei natürlich groß. Anja und ich versprachen, alles mit den Kindern zusammen wieder aufzubauen und den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, mit den Kindern zu spielen. Ich kam erst spät abends nach Hause. Müde räumte ich meine Sachen aus dem Rucksack und bereitete mich vor, ins Bett zu gehen. Plötzlich hörte ich ein lautes Klopfen an der Tür. Meine Mutter rief mit angsterfüllter Stimme: „Gerda, schnell, mach auf!“ Ich öffnete schnell die Tür. Meine Mutter stürzte in den Flur und schlug hastig die Tür hinter sich zu und schloss ab. „Herr Krämer ist hinter mir her!“ Sie hatte ein blaues Auge. Dann hörte ich Herrn Krämer. Er stemmte sich gegen die Tür. Glücklicherweise war es noch eine der alten soliden Türen, wie man sie in Altbauten findet. Es knirschte und knackte fürchterlich, Holz krachte und splitterte, doch die Tür hielt stand. Ich stürzte zu dem Telefon, das wir uns 38 Ende der Leseprobe von: Verrückt - Mein Weg aus der Krankheit Monika Morgenstern Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://bit.ly/1riPVAr
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