taz lesen? Macht sexy! Alles, was sie über Sapiosexualität wissen müssen ▶ Seite 13 AUSGABE BERLIN | NR. 10996 | 16. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ TIERWELT Recht Lustiges mit Primaten ▶ SEITE 20 KUBA KP tagt vor dem Umbruch ▶ SEITE 4 BRASILIEN Nach dem Giftschlamm ▶ SEITE 5 INDIEN Roman wie die Buddenbrooks ▶ SEITE 15 TÜRKEI Debatten ohne MONTAG, 18. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND EU nahm tote Flüchtlinge in Kauf „Es ist falsch, alle AfD-Wähler als rassistisch zu denunzieren“ Frontex warnte vor Zunahme von Schiffskatastrophen MITTELMEER BERLIN taz | Die EU-Grenzschutz agentur Frontex hat bereits im Jahr 2014 vor einem Anstieg von Schiffskatastrophen im Mittelmeer gewarnt. Falls die damals laufende, weitreichende Hilfsaktion der italienischen Marine „Mare Nostrum“ eingestellt werde, sei es „wahrscheinlich“, das die Zahl toter Flüchtlinge steige, heißt es in einem bekannt gewordenen Frontex-Konzept. Das geht aus einer jetzt vorgestellten Studie des Londoner Goldsmith College hervor, für die teils interne EU-Dokumente und Protokolle ausgewertet wurden. Trotz der Warnung beendete die EU „Mare Nostrum“ Ende 2014. Im April 2015 ertranken bei zwei Bootsunglücken binnen wenigen Tagen rund 1.200 Flüchtlinge. ▶ Der Tag SEITE 2 FLÜCHTLINGSPOLITIK Muss die Linkspartei ihre Politik ändern, um nicht weiter Wähler an die AfD zu verlieren? Fragen an Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken ▶ Interview SEITE 3 Böhmermann ▶ SEITE 17 BERLIN Schlecht wie ihr Ruf: Behörden ▶ SEITE 21 Fotos oben: ap; Xueh Magrini Troll Heftiges Beben in Ecuador VERBOTEN Guten Tag, liebe Grüne und Grüne! Ihr habt ja mal ein richtiges Problem. Erst will Robert Habeck, der Knickschützer von der Küste, euer Spitzenkandidat werden. Dann der haarige Biobayer Anton Hofreiter. Jetzt wirft sich auch noch der Schwob Cem Özdemir ganz offiziell in den Ring. Dabei wisst ihr doch: Es kann nur einen geben. Klingt schwierig, aber die Lösung liegt auf der Hand. Gebt einfach einen der drei der SPD. Die sucht dringend einen Ersatzsiggi, der dann heroisch die Bundestagswahl verlieren darf. Wer von den dreien rübermacht, ist völlig egal. Hauptsache, „Wir müssen die Ängste ernst nehmen.“ „Es gibt weltweit 60 Millionen Flüchtlinge. Wir können ihnen nicht dadurch helfen, dass wir sie alle nach Deutschland holen.“ „Alle Parteien außer der Linken sind AfD-nah.“ „Wenn es regnet, und die AfD sagt, es regnet, werde ich nicht behaupten, dass die Sonne scheint.“ Kretschmann wird Kanzler. „Es ist falsch, noch mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern“: Sahra Wagenknecht Foto: Hermann Bredehorst/Polaris/laif QUITO epd/afp | Bei einem schweren Erdbeben in Ecuador sind mindestens 233 Menschen ums Leben gekommen. Das teilte Präsident Rafael Correa am Sonntag über den Kurzbotschaftendienst Twitter mit. Die Regierung hatte zuvor bereits einen Ausnahmezustand verhängt. Das Beben vor der Pazifikküste am Samstagabend (Ortszeit) erreichte nach Angaben des Geophysischen Instituts die Stärke 7,8. Es gilt als das stärkste seit 1979. Eine Tsunami-Warnung schloss die Regierung aber aus. In sozialen Netzwerken berichteten Nutzer von eingestürzten Gebäuden und zerstörten Autos vor allem in Küstenorten. In der bevölkerungsreichsten Stadt Guayaquil stürzte eine Brücke ein, der Flughafen der Hafenstadt wurde gesperrt. ▶ Ausland SEITE 10 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.765 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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In Wahrheit hat die Partei eine klare Position, ihre Wahlkämpfer mussten sich für diese ja auch bespucken und beschimpfen lassen: Es gibt einstimmige Beschlüsse des Parteivorstands – offene Grenzen für alle, Asylrecht ohne Wenn und Aber –, die auch in der Bundestagsfraktion eine Mehrheit haben. Allein die eigene Fraktionsvorsitzende und ihr Mann stellen diese Prinzipien immer wieder infrage. Warum sie das darf? Zum einen weil das talkshowkompatible Spitzenpersonal der Linken recht übersichtlich ist. Schwerer wiegt, dass die Partei derzeit selbst keine schlüssigen Antworten hat, wie sie die Wähler, die bei den Landtagswahlen von der Linken zur AfD wechselten, zurückholen oder ersetzen kann. Jahrzehntelang war die Linke die Protestpartei. Sie mobilisierte mit dem Versprechen: Wenn ihr die da oben ärgern wollt, müsst ihr uns wählen. Doch den Protestwimpel mopste ihr die AfD. Um diese Wähler zurückzuholen, müsste die Linke eine Wende in der Flüchtlingsfrage machen und wäre moralisch am Ende. Also bleibt ihr nur, standhaft auf Solidarität zu setzen. Und weiter Wähler zu verlieren. Sachsen-Anhalt, wo die einst stolze Linkspartei die Oppositionsführerschaft an die AfD abgeben muss, ist ein Menetekel für die Wahl in Mecklenburg- Wie die Wähler, die zur AfD wechseln, zurückholen? Die Partei weiß es nicht Vorpommern im Herbst und die Bundestagswahl im nächsten Jahr. Die existenzielle Frage ist, für wen die Linke eigentlich Politik machen will? Thematisiert sie vor allem soziale Fragen und wendet sich an Arbeiter, Arme und Abgehängte? Ausgerechnet die verschreckt die Linke aber mit der Forderung nach unbegrenzter Aufnahme von Flüchtlingen. Oder versucht sie neue Wählerschichten, wie etwa das akademische Proletariat, zu erschließen. Welchen Weg die Partei auch wählt, sicher ist: Markige Slogans à la „Wir müssen einfach den Reichtum gerecht umverteilen, dann wird alles gut“ nimmt ihr auf Dauer keiner ab. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Flüchtlinge PORTRAIT Peter Rickmers, Wissenschaftler Foto: dpa Raketenbauer neuer Art E ndlich hat die deutsche Raketenforschung wieder einen Frontman: Peter Rickmers. Der letzte, Wernher von Braun, hat bekanntlich erst für eine politisch äußert umstrittene deutsche Reichsregierung gearbeitet und sich später als Chefdesigner der amerikanischen Mondrakete verdingt. Rickmers steht für einen völlig neuen Zweig deutscher Raketenbauer, der nichts mehr mit der alten Linie zu tun hat – selbstverständlich nicht nur politisch nicht, sondern auch technologisch: Mit einer Gruppe Studenten hat er am Center of Applied Space Technology and Microgravity der Universität Bremen erstmals eine mit Kerzenwachs betriebene Forschungsrakete gebaut. Am Samstag ist „ZepHyR“ gestartet, vom Weltraumbahnhof Esrange im nordschwedischen Kiruna aus. Die geplanten 4.000 Meter Flughöhe hat die vier Meter lange Rakete nicht erreicht, sondern nur 1.500 Meter. Mit einem Fallschirm sollte sie zu Erde zurückkehren. „Das war zwar weniger als erwartet, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass wir bei diesem Versuch übervorsichtig waren und zu wenig Sauerstoff getankt haben“, vermutete Rickmers. Was das soll? Vor allem der etwas angestaubten deutschen Raketenbaukunst Auftrieb geben. In einem voll coolen Video der Uni Bremen spaziert Rickmers durch die Labore der Uni, im Hintergrund stapft irgendwann Chewbacca, der Fellfreund von Harrison Ford aus „Star Wars“, ein anderer Student macht irgendwas mit Sprühsahne. „Vielleicht dauert es noch eine Weile, bis wir mit dem Semesterticket ins All fliegen können“, sagt Rickmers am Ende. Allgemein geistert die Rakete als öko durch die Medienlandschaft, warum auch immer: Der Treibstoff besteht zu 99 Prozent aus dem Kerzenwachsstoff Parafin, der zwar nicht explodiert, aber Raketenstarts sicherlich nicht zu einem umweltfreundlichen Unterfangen macht. Ob Rickmers wie einst von Braun mit seiner Kerzenrakete von der Nasa abgeworben wird? Mit etwas Glück schafft es der 36-Jährige womöglich nach Japan, da sind 2018 Olympische Winterspiele. 2014 in Sotschi spielte der Raketeningenieur bereits im deutschen CurlingTeam – belegte aber den letzten INGO ARZT Platz. Schwerpunkt MONTAG, 18. APRI L 2016 Von Papst Franziskus bis zur Wissenschaft: Die Kritik an der Politik der EU zur Abwehr von Menschen wächst Sie wussten, was sie tun MITTELMEER Auf EU-Geheiß beendete Italien 2014 die Seeüberwachung vor Libyen. Stattdessen kontrollierte Frontex nur die Küste Italiens. Dass dadurch die Todeszahlen steigen würden, hatte die EU selbst vorhergesagt VON CHRISTIAN JAKOB Heute vor genau einem Jahr ertranken in einer einzigen Nacht 800 Menschen vor der libyschen Küste. Ein überladenes Flüchtlingsboot war gekentert, herbeigerufene Retter suchten mit Hubschraubern vergeblich nach Überlebenden. „Da sind nur Kraftstoff und Trümmer, wir finden nichts mehr“, sagte einer von ihnen. Bis zum Ende des Jahres 2015 stieg die Zahl der Ertrunkenen auf rund 3.700 – mehr als je zuvor. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte vor diesem Anstieg der Zahl an Schiffskatastrophen gewarnt. Trotzdem entschied sich die EU, die italienische Seerettungsmission „Mare Nostrum“ vor Libyen 2014 zu beenden. Das zeigt eine am Montag vorgestellte Studie des Londoner Goldsmith College. Darin haben die Wissenschaftler teils interne EU-Dokumente und Tagungsprotokolle ausgewertet. Demnach hielt Frontex die Mission „Mare Nostrum“ für ren Küstengewässer Italiens im Blick behält. In einem im August 2014 von Frontex verfassten Konzept für die „Triton“-Mission warnte die Agentur jedoch, es sei „wahrscheinlich“, dass der Rückzug von Italiens Marine einen Anstieg der Todeszahlen zur Folge haben. „Die Priorität von EU und Frontex gebührte klar der Abschreckung. Das hatte Vorrang vor Menschenleben“, kommentierte der Goldsmith-Forscher Lorenzo Pezzani. Den EU-Entscheidungsträgern sei das Risiko „im Detail bewusst gewesen“. Am 3. September 2014 lud der Innenausschusses LIBE des Europäischen Parlaments den damaligen Frontex-Chef Gil Arias zu einer Anhörung ein. Die Abgeordnete Barbara Spinelli fragte ihn, ob er sich „bewusst sei, dass wieder mehr Menschen im Mittelmeer sterben werden“, wenn „Mare Nostrum“ beendet sei. Arias antwortete, die „Triton“-Mission werde „Mare Nostrum“ nicht ersetzen, weder ihr Mandat noch ihre verfügbaren Ressourcen. Trotzdem lief „Mare Nostrum“ Ende 2014 offiziell aus, an ihre Stelle trat „Triton“. Italien war nicht ganz wohl mit dieser Entscheidung: Rom beendete zwar offiziell „Mare Nostrum“, ließ aber einige Schiffe vorerst weiterhin für Rettungseinsätze nahe Libyen kreuzen. Frontex versuchte dies zu unterbinden: In einem Brief vom Dezember 2014 forderte die Agentur die italienische Regierung auf, dies zu unterlassen – es entspreche „nicht dem operativen Plan“. In den folgenden Monaten gingen die Unglückszahlen steil nach oben. Zwei Wochen nach den schweren Schiffsunglü- Schlepper mit neuen Routen ■■Von Ägypten nach Italien: Durch Frontex sollten „nennenswert weniger Migranten“ den Aufbruch riskieren einen „Pull-Faktor“: Sie verleite Flüchtlinge in Libyen, in See zu stechen, weil sie nicht weit kommen müssten, um Aussicht auf Rettung zu haben. Genau diese Aussicht solle es nicht mehr geben – dann würden „nennenswert weniger Migranten“ den Aufbruch riskieren. Deshalb sollte die Operation der italienischen Marine gestoppt und das Seegebiet vor Libyen nicht weiter überwacht werden. Ersatzweise sollte Frontex eine eigene Mission namens „Triton“ starten, die nur die unmittelba- cken, am 29. April 2015, nannte EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker das Ende von „Mare Nostrum“ „einen Fehler, der Menschenleben gekostet hat“. Einige Staaten, darunter Deutschland, schickten daraufhin Marineeinheiten, die EU weitete das Einsatzgebiet von „Triton“ aus: Statt 30 Meilen patrouillierten die Schiffe nun bis zu 138 Seemeilen südlich von Italien – noch immer weit von Libyen entfernt. Trotzdem wurde 2015 nach der Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge zum Rekordjahr. Meinung + Diskussion SEITE 12 Totengedenken: Die Kirchenoberhäupter werfen Kränze ins Meer bei Lesbos Foto: Osservatore Romano/dpa Nach Schließung der Balkanroute weichen Schleuser auf andere Wege aus. Zuletzt stoppte die griechische Küstenwache südwestlich der Halbinsel Peloponnes ein Holzboot mit 41 Flüchtlingen, das vermutlich von Ägypten Richtung Italien unterwegs war. An Bord seien Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak gewesen, hieß es. Sollten sich Herkunft und Ziel des Bootes bewahrheiten, spräche das für eine Aktivierung neuer Routen. So könnten Schleuser Griechenland umschiffen und Flüchtlinge auf anderen Wegen nach Europa bringen. ■■Warten in Idomeni: In Griechenland bleibt die Grenze gen Norden geschlossen – in Idomeni hoffen seit Wochen mehr als 10.000 Menschen darauf, dass sich die Passage doch noch öffnen könnte. Griechenland will die Flüchtlinge nun dazu bewegen, das Lager zu verlassen. ■■Fehlende Fachleute: Tausende Flüchtlinge auf den griechischen Inseln warten auf ihre Rückführung in die Türkei. Für Asylbescheide fehlt indes das Personal. Von den zugesagten 2.300 Asylfachleuten, die aus ganz Europa kommen sollten, ist bisher nur gut die Hälfte eingetroffen. Der Papst erinnert Europa an die Menschenrechte Papst Franziskus besucht das überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der Ägäis-Insel Lesbos und nimmt drei syrische Familien mit nach Rom. Zur Politik der Europäischen Union findet das katholische Kirchenoberhaupt deutliche Worte GRIECHENLAND MYTILINI/LESBOS taz | Vatikan- sprecher Pater Federico Lombardi hatte vor der Abreise des Papstes noch betont, dass der Besuch des Heiligen Vaters bei den Flüchtlingen von Lesbos nicht als Kritik an der Europäischen Union und ihrer Flüchtlingspolitik zu verstehen sei. Doch Franziskus selbst machte seine Haltung in seiner Ansprache am Hafen von Mytilini nur zu deutlich: „Europa ist die Heimat der Menschenrechte, und wer auch immer seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, müsste das spüren können“, sagt der Papst. Die Missstände, die durch die Abschottungspolitik der EU-Länder und der seit dem 20. März geltenden Abschiebetaktik infolge des EU-Türkei-Abkommens immer drastischer werden, hatte der Papst zuvor selbst begutachtet. Gemeinsam mit dem griechischen Ministerpräsident Alexis Tsipras, dem griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomaios I. und dem orthodoxen Erzbischof Hieronymus II. besuchte Franziskus das Flüchtlingslager Moria, in dem derzeit mehr als 2.000 Menschen ausharren. Das Camp wurde nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens „zum Gefängnis mit menschenunwürdigen Bedingungen“, sagten Flüchtlinge in Moria der taz. Dort reichen die Kapazitäten längst nicht mehr aus. Viele Flüchtlinge müssten unter freiem Himmel schlafen, nicht immer gebe es genug Nahrung, berichten freiwillige Helfer. Bis vor ein paar Tagen waren etwa 3.000 Menschen in Moria eingesperrt. Doch vor dem Papstbesuch fand die sogenannte Aktion Besen statt: Etwa 600 Menschen – hauptsächlich Schwangere, Alleinerziehende und Kranke – wurden in das offene Camp Kara Tepe gebracht, um die Lage in Moria etwas zu entspannen. Zusätzlich wurden die Außenmauern des Flüchtlingscamps Moria weiß getüncht,. Dennoch – die Verzweiflung der Menschen war nicht zu vertuschen. „Ich möchte mich mit den Flüchtlingen solidarisch zeigen“ PAPST FRANZISKUS Neben Willkommensschildern hielten die Flüchtlinge Pappschilder mit „Hilf den Menschen“ oder „Papst ist Hoffnung“ bei der Ankunft des Besuchs in Moria in die Höhe. Ein junger Mann brach vor Franziskus in Tränen aus, bat verzweifelt um seinen Segen. Ein etwa 10-jähriges Mädchen warf sich schluchzend vor ihm auf den Boden. Gemeinsam mit neun ausgewählten Flüchtlingen aß der Papst dann zu Mittag. „Ich möchte mich mit den Flüchtlingen solidarisch zeigen“, sagte Franziskus. Zeichensetzend war auch die gemeinsame Erklärung der Kirchenoberhäupter. Sie appellieren „an die internationale Gemeinschaft, mutig zu reagieren und dieser massiven humanitären Krise und den ihr zugrundeliegenden Ursachen durch diplomatische, politische und karitative Initiativen zu begegnen wie auch durch gemeinsame Anstrengungen sowohl im Nahen Osten als auch in Europa“, heißt es darin. Der griechische Ministerpräsidien Alexis Tsipras, der sich in Lesbos eher im Hintergrund hielt, wertete den Besuch des Papstes als historisch – und als Möglichkeit, erneut die Not- wendigkeit zu betonen, legale Fluchtwege für Menschen aus Kriegs- und Konfliktzonen zu öffnen. Der Papst ging mit gutem Beispiel voran. Er hatte zuvor angekündigt, einige Flüchtlinge direkt mit nach Rom zu nehmen. 12 Glückliche aus drei syrischen Familien stiegen mit ihm ins Flugzeug zurück nach Rom. Alle anderen Flüchtlinge bangen weiter – am Montag sollen die Abschiebungen in die Türkei aus dem Hafen von Mytilini weitergehen. „Wir hatten schon Künstler, Hollywoodstars und jetzt auch den Papst hier – die Flüchtlingskatastrophe ist im Fokus der Welt“, schimpfte eine Einwohnerin von Mytilini, die die Ansprache des Papstes am Hafen mitverfolgt hat. Aufmerksamkeit gebe es genug. „Was wir endlich brauchen, ist eine Politik, die den Werten Europas gerecht wird.“ THEODORA MAVROPOULOS Schwerpunkt Krise der Linkspartei MONTAG, 18. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Im Westen stagniert sie, im Osten verliert sie, zeigten die letzten Landtagswahlen. Dazu gibt es Streit beim Thema Flüchtlingspolitik „Es nutzt der AfD, wenn man sie dämonisiert“ STRATEGIE Die Regierung treibt der Alternative für Deutschland die Stimmen zu, sagt Sahra Wagenknecht. Die Linkspolitikerin will die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Ein Gespräch über Obergrenzen, Europa und inhaltliche Schnittmengen mit Rechtspopulisten INTERVIEW STEFAN REINECKE UND PASCAL BEUCKER taz: Frau Wagenknecht, Bodo Ramelow will bis zu 2.000 Flüchtlinge aus Idomeni nach Thüringen holen. Unterstützen Sie das? Sahra Wagenknecht: Natürlich müssen die Menschen raus aus diesem Schlammloch. Und 2.000 Flüchtlinge sind für Deutschland kein Problem, auch mehr. Sie haben vor einem Monat gesagt, dass es „Grenzen der Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung“ für Flüchtlinge gibt. Diese Aussage klang wie: Das Boot ist voll. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass die Stimmung vorherrscht: „Wir können nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen.“ Wer sagt „Das Boot ist voll“, weist auch nur auf eine Stimmungslage hin. Nein. Der sagt: „Es soll keiner mehr kommen.“ Das haben Sie nicht gemeint? Weder gesagt noch gemeint. Als Merkel im Herbst die Grenzen öffnete, wie fanden Sie das? Es war richtig, die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland zu holen. Aber dann hätte Merkel auf die europäischen Partner zugehen und eine gemeinsame Lösung suchen müssen, statt im Alleingang zu entscheiden. Und sie hatte keine Strategie. Ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer wäre im Herbst das Chaos ausgebrochen. Bis zu eine Million Menschen zu integrieren, ist eine Mammutaufgabe. Aber die Regierung hält weiter an der Schwarzen Null fest und lehnt Reichensteuern ab. Mit den meisten Kosten werden die Kommunen allein gelassen. Also müssen die zusätzlichen Ausgaben durch Kürzungen an anderer Stelle finanziert werden. So hat Merkel dafür gesorgt, dass die Stimmung kippt. Wollen Sie eine Obergrenze für Flüchtlinge? Die Debatte über Obergrenzen ist verlogen, solange Fluchtursachen nicht bekämpft, sondern gefördert werden. Durch Waffenexporte in Kriegsgebiete. Durch subventionierte Agrarexporte. Da muss man sich nicht wundern, dass sich immer mehr Verzweifelte nach Europa aufmachen. Soll Deutschland nun freiwillig Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen? Wir haben immer legale Wege für Asylsuchende gefordert. Aber wir brauchen eine europäische Lösung. Und die gibt es auch deshalb nicht, weil Merkel seit der Eurokrise viele Länder so vor den Kopf gestoßen hat, dass sie sich jetzt revanchieren. Auch der Deal mit dem Despoten Erdoğan war ein Alleingang. Wer so agiert, muss sich nicht wundern, dass keiner mitzieht. Also nein? Wir müssen Menschen, die vor politischer Verfolgung und Krieg fliehen, Schutz gewähren. Vor allem aber muss Deutschland etwas dafür tun, dass nicht immer mehr Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden. Durch den schäbigen TürkeiDeal unterstützt Merkel ein Re- Sahra Wagenknecht demonstriert im Dezember gegen Waffenexporte in Kriegsgebiete Foto: Stefan Boness/Ipon gime, das islamistische Terrorbanden wie al-Nusra hochrüstet und einen brutalen Krieg gegen die Kurden führt. Sogar Horst Seehofer hat davon geredet, 200.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Warum jetzt freiwillig Kriegsflüchtlinge aufnehmen? Das Asylrecht ist inzwischen faktisch abgeschafft, weil die Eilverfahren in den griechischen Hot Spots keine faire Prüfung gewährleisten. Das ist ein Skandal. Auch in Deutschland wurde das Asylrecht geschleift. Bedauerlicherweise mit Unterstützung eines Teils der Grünen. Nur die Linke hat das geschlossen abgelehnt. Aber richtig ist auch: Es gibt weltweit 60 Millio nen Flüchtlinge und Millionen Hungernde. Jeder weiß, dass wir diesen Menschen nicht dadurch helfen können, dass wir sie alle nach Deutschland holen, aber „Mit den meisten Flüchtlingskosten werden die Kommunen allein gelassen. So hat Merkel dafür gesorgt, dass die Stimmung kippt“ Deutschland könnte viel mehr tun, um ihre Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Ist es aus humanitären Gründen nicht zwingend, dass Deutschland Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt? Ja, aber warum nur aus Syrien? Warum nicht aus Afghanistan, wo die Bundeswehr am Krieg seit 2001 beteiligt ist? Warum nicht aus dem Irak oder Libyen, deren Staatsgefüge durch westliche Bomben zerstört wurde? Ein Drittel der Linksparteiwähler in Sachsen-Anhalt findet, dass die Partei zu flüchtlingsfreundlich ist. Was folgt daraus? Das ist nicht erstaunlich. Es gibt kaum noch sozialen Wohnungsbau. Flüchtlinge suchen Wohnraum in der Regel in ärmeren Gegenden und werden dort als Konkurrenz wahrgenommen. Und die Regierung erleichtert es den Unternehmen, Flüchtlinge für Lohndumping zu missbrauchen. So treibt sie der AfD die Stimmen zu. In Sachsen-Anhalt gibt es kaum 30.000 Flüchtlinge. Kann man da von begründeten Ängsten der Bürger reden? Es gibt in Sachsen-Anhalt Orte mit Wohnungsleerstand, ja. Aber dort ist die Arbeitslosigkeit und damit die Konkurrenz um Jobs größer. Muss die Linkspartei ihre Flüchtlingspolitik ändern? Wir müssen die Ängste ernst nehmen. Es ist falsch, alle AfDWähler als rassistisch zu denunzieren. Aber nicht die Flüchtlinge sind schuld, sondern Merkels Politik. Die Linkspartei hat in SachsenAnhalt verloren, im Westen den Einzug in die Parlamente schon wieder verfehlt. Wie tief ist die Krise ihrer Partei? Wir hatten in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei Landtagswahlen leider noch nie bessere Ergebnisse. Wer noch nie im Landtag war, hat es schwer, die Menschen landespolitisch zu überzeugen. Dramatisch verloren haben wir in Sachsen-Anhalt. Offensichtlich wird ein zu stark regierungs orientierter Wahlkampf von den Wählern nicht honoriert. Und nun? Orientieren wir uns an dem Wahlkampf 2009. Wir waren erfolgreich, weil wir knappe, klare Botschaften hatten. Die Protestpartei mit den knappen, klaren Slogans ist nun die Alternative für Deutschland. Die AfD hat es geschafft, sich als die Opposition gegen alle anderen zu inszenieren. In der Realität steht die AfD für Sozialabbau und Interventionskriege, und so gesehen sind alle Parteien außer „Die AfD hat es geschafft, sich als die Opposition gegen alle anderen zu inszenieren“ der Linken AfD-nah, denn sie stimmen in diesen Grundsatzfragen mit ihr überein. Bei der Vizepräsidentenwahl in Sachsen-Anhalt hat man ja auch gesehen, welche politischen Bündnisse gerade entstehen. Dass die neue Kenia-Koalition dort eher einen AfD-Mann wählt als einen Linken, zeigt, wer wem nahesteht. Also keine Angst vor der AfD? Es nutzt der AfD, wenn man sie dämonisiert. Man muss sich mit ihr inhaltlich auseinandersetzen. Die AfD hat nicht das Ziel, sozialen Wohnungsbau zu fördern, Altersarmut zu bekämpfen oder Leiharbeit abzuschaffen. Sie will weder Erbschafts- noch Vermögenssteuern, sondern Steuersenkungen für Millionäre. AfD-Chefstratege Alexander Gauland findet viele ihrer politischen Position gut – und dass Sie in der falschen Partei sind. Letzteres gebe ich gern zurück. Es ist schwer verständlich, dass Herr Gauland, der früher in der taz publiziert hat, sich heute an der Seite von Halbnazis wie Björn Höcke und anderen völkischen Nationalisten wohlfühlt. Umso erstaunlicher, dass es Schnittmengen bei Eurokritik und beim Nationalstaat zwischen Gauland und Ihnen gibt. Wenn es regnet, und die AfD sagt, es regnet, werde ich nicht behaupten, dass die Sonne scheint. Dass der Euro Europa spaltet und den deutschen Exportnationalismus fördert, habe ich thematisiert, als es die AfD noch gar nicht gab. Und dass die aktuellen europäischen Institutionen Demokratie zerstören, konnte im letzten Jahr jeder in Griechenland besichtigen. Natürlich fordert die Linke nicht mehr Troika, sondern mehr Demokratie. Aber die Forderung ist die gleiche – weniger EU? Wir fordern weniger Sozialdumping, weniger Steuerdumping und weniger Lohndumping. In Brüssel funktioniert die Demokratie nicht, weil sie viel zu weit von den Bürgern entfernt ist. Deshalb haben dort Lobbygruppen und Konzerne ein leichtes Spiel. Es ist falsch, noch mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern. Fordern Sie ein Europaparlament mit mehr Kompetenzen – als Schritt zu mehr Demokratie in der EU? Leider haben die Lobbyisten im europäischen Parlament noch mehr Einfluss als im Bundestag. Zudem gilt das demokratische Prinzip „one man one vote“ dort nicht, aus guten Gründen. Aber das zeigt, dass Europa eben kein Staat ist, sondern ein Bund von verschiedenen Staaten und Kulturen. Gauland scheint nicht so falsch zu liegen, wenn er viel Überstimmung mit Ihnen sieht. Wie bitte? Die AfD will zurück zum Blut-und-Boden-Prinzip, das in Deutschland geborenen Kindern von Migranten die Staatsbürgerschaft vorenthält. Wenn sie von Nationalstaat redet, geht es nicht um Demokratie, sondern um Ethnien und Abstammung. Mit solchen Thesen habe ich nichts zu tun. Katja Kipping, Chefin Ihrer Partei, will die Vereinigten Staaten von Europa. Sie auch? Wir brauchen europäische Abstimmung und Zusammenarbeit. Aber das heutige Europa basiert auf den Konzepten des beinharten Neoliberalen von Hayek. Seine Kernidee war, dass ein europäischer Bundesstaat sehr viel schwächer und daher weniger in der Lage ist, dem Kapitalismus soziale Regeln aufzuzwingen, als einzelne Staaten. Tatsächlich hat Brüssel meist so interveniert, dass soziale Standards gesenkt und Privatisierungen vorangetrieben wurden. Sahra Wagenknecht ■■46, gilt als Kopf des linken Flügels der Linkspartei. Die promovierte Volkswirtin führt gemeinsam mit dem Reformer Dietmar Bartsch die Bundestagsfraktion der Linken an. Zuvor war sie stellvertretende Parteivorsitzende. Kürzlich erschien ihr Buch „Reichtum ohne Gier“.
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