taz.die tageszeitung

taz lesen? Macht sexy!
Alles, was sie über Sapiosexualität wissen müssen ▶ Seite 13
AUSGABE BERLIN | NR. 10996 | 16. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
TIERWELT Recht Lustiges
mit Primaten ▶ SEITE 20
KUBA KP tagt vor dem
Umbruch ▶ SEITE 4
BRASILIEN Nach dem
Giftschlamm ▶ SEITE 5
INDIEN Roman wie die
Buddenbrooks ▶ SEITE 15
TÜRKEI Debatten ohne
MONTAG, 18. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
EU nahm tote
Flüchtlinge
in Kauf
„Es ist falsch,
alle AfD-Wähler
als rassistisch zu
denunzieren“
Frontex
warnte vor Zunahme
von Schiffskatastrophen
MITTELMEER
BERLIN taz | Die EU-Grenzschutz­
agentur Frontex hat bereits
im Jahr 2014 vor einem Anstieg von Schiffskatastrophen
im Mittelmeer gewarnt. Falls
die damals laufende, weitreichende Hilfsaktion der italienischen Marine „Mare Nostrum“ eingestellt werde, sei es
„wahrscheinlich“, das die Zahl
toter Flüchtlinge steige, heißt
es in einem bekannt gewordenen Frontex-Konzept. Das geht
aus einer jetzt vorgestellten Studie des Londoner Gold­smith College hervor, für die teils interne
EU-Dokumente und Protokolle
ausgewertet wurden. Trotz der
Warnung beendete die EU „Mare
Nostrum“ Ende 2014. Im April
2015 ertranken bei zwei Bootsunglücken binnen wenigen Tagen rund 1.200 Flüchtlinge.
▶ Der Tag SEITE 2
FLÜCHTLINGSPOLITIK Muss die Linkspartei ihre Politik
ändern, um nicht weiter Wähler an die AfD zu
verlieren? Fragen an Sahra Wagenknecht,
Fraktionschefin der Linken ▶ Interview SEITE 3
Böhmermann ▶ SEITE 17
BERLIN Schlecht wie ihr
Ruf: Behörden ▶ SEITE 21
Fotos oben: ap; Xueh Magrini Troll
Heftiges Beben
in Ecuador
VERBOTEN
Guten Tag,
liebe Grüne und Grüne!
Ihr habt ja mal ein richtiges
Problem. Erst will Robert Habeck, der Knickschützer von
der Küste, euer Spitzenkandidat werden. Dann der haarige Biobayer Anton Hofreiter.
Jetzt wirft sich auch noch der
Schwob Cem Özdemir ganz
offi­ziell in den Ring. Dabei
wisst ihr doch: Es kann nur einen geben. Klingt schwierig,
aber die Lösung liegt auf der
Hand. Gebt einfach einen der
drei der SPD. Die sucht dringend einen Ersatzsiggi, der
dann heroisch die Bundestagswahl verlieren darf. Wer von
den dreien rübermacht, ist
­völlig egal. Hauptsache,
„Wir müssen die
Ängste ernst nehmen.“
„Es gibt weltweit 60
Millionen Flüchtlinge.
Wir können ihnen
nicht dadurch helfen,
dass wir sie alle nach
Deutschland holen.“
„Alle Parteien
­außer der Linken
sind AfD-nah.“
„Wenn es regnet,
und die AfD sagt,
es regnet, werde
ich nicht ­behaupten,
dass die Sonne
scheint.“
Kretschmann wird Kanzler.
„Es ist falsch, noch mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern“: Sahra Wagenknecht Foto: Hermann Bredehorst/Polaris/laif
QUITO epd/afp | Bei einem
schweren Erdbeben in Ecuador
sind mindestens 233 Menschen
ums Leben gekommen. Das
teilte Präsident Rafael Correa am
Sonntag über den Kurzbotschaftendienst Twitter mit. Die Regierung hatte zuvor bereits einen
Ausnahmezustand verhängt.
Das Beben vor der Pazifikküste
am Samstagabend (Ortszeit) erreichte nach Angaben des Geophysischen Instituts die Stärke
7,8. Es gilt als das stärkste seit
1979. Eine Tsunami-Warnung
schloss die Regierung aber aus.
In sozialen Netzwerken berichteten Nutzer von eingestürzten
Gebäuden und zerstörten Autos vor allem in Küstenorten. In
der bevölkerungsreichsten Stadt
Guayaquil stürzte eine Brücke
ein, der Flughafen der Hafenstadt wurde gesperrt.
▶ Ausland SEITE 10
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10616
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KOMMENTAR VON ANNA LEHMANN ÜBER DIE PROBLEME DER LINKSPARTEI
D
Welche Wähler hätten S’ denn gern?
ie Lage für die Linkspartei war nie
besser. Die Grünen rücken in die
Mitte und koalieren, wo es geht, mit
der CDU. Die SPD schrumpft in jeder Umfrage ein bisschen weiter. Viel Raum links
von der Mitte, Raum für Ideen von Solidarität und Internationalismus.
Dumm nur – die Linke kann diesen
Platz nicht nutzen. Sie wirkt zerstritten
und diskutiert in einer Endlosschleife
das Thema Flüchtlinge. So der Anschein.
In Wahrheit hat die Partei eine klare Position, ihre Wahlkämpfer mussten sich
für diese ja auch bespucken und beschimpfen lassen: Es gibt einstimmige
Beschlüsse des Parteivorstands – offene
Grenzen für alle, Asylrecht ohne Wenn
und Aber –, die auch in der Bundestagsfraktion eine Mehrheit haben. Allein
die eigene Fraktionsvorsitzende und ihr
Mann stellen diese Prinzipien immer
wieder infrage.
Warum sie das darf? Zum einen weil
das talkshowkompatible Spitzenpersonal
der Linken recht übersichtlich ist. Schwerer wiegt, dass die Partei derzeit selbst
keine schlüssigen Antworten hat, wie sie
die Wähler, die bei den Landtagswahlen
von der Linken zur AfD wechselten, zurückholen oder ersetzen kann.
Jahrzehntelang war die Linke die Protestpartei. Sie mobilisierte mit dem Versprechen: Wenn ihr die da oben ärgern
wollt, müsst ihr uns wählen. Doch den
Protestwimpel mopste ihr die AfD. Um
diese Wähler zurückzuholen, müsste die
Linke eine Wende in der Flüchtlingsfrage
machen und wäre moralisch am Ende.
Also bleibt ihr nur, standhaft auf Solidarität zu setzen. Und weiter Wähler zu
verlieren. Sachsen-Anhalt, wo die einst
stolze Linkspartei die Oppositionsführerschaft an die AfD abgeben muss, ist ein
Menetekel für die Wahl in Mecklenburg-
Wie die Wähler, die zur AfD
wechseln, zurückholen?
Die Partei weiß es nicht
Vorpommern im Herbst und die Bundestagswahl im nächsten Jahr.
Die existenzielle Frage ist, für wen die
Linke eigentlich Politik machen will?
Thematisiert sie vor allem soziale Fragen und wendet sich an Arbeiter, Arme
und Abgehängte? Ausgerechnet die verschreckt die Linke aber mit der Forderung nach unbegrenzter Aufnahme von
Flüchtlingen. Oder versucht sie neue
Wählerschichten, wie etwa das akademische Proletariat, zu erschließen.
Welchen Weg die Partei auch wählt, sicher ist: Markige Slogans à la „Wir müssen
einfach den Reichtum gerecht umverteilen, dann wird alles gut“ nimmt ihr auf
Dauer keiner ab.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Flüchtlinge
PORTRAIT
Peter Rickmers, Wissenschaftler
Foto: dpa
Raketenbauer
neuer Art
E
ndlich hat die deutsche Raketenforschung wieder einen Frontman: Peter Rickmers. Der letzte, Wernher von
Braun, hat bekanntlich erst für
eine politisch äußert umstrittene deutsche Reichsregierung
gearbeitet und sich später als
Chefdesigner der amerikanischen Mondrakete verdingt.
Rickmers steht für einen völlig neuen Zweig deutscher Raketenbauer, der nichts mehr
mit der alten Linie zu tun hat
– selbstverständlich nicht nur
politisch nicht, sondern auch
technologisch: Mit einer Gruppe
Studenten hat er am Center of
Applied Space Technology and
Microgravity der Universität Bremen erstmals eine mit
Kerzenwachs betriebene Forschungsrakete gebaut.
Am Samstag ist „ZepHyR“
gestartet, vom Weltraumbahnhof Esrange im nordschwedischen Kiruna aus. Die geplanten 4.000 Meter Flughöhe hat
die vier Meter lange Rakete nicht
erreicht, sondern nur 1.500 Meter. Mit einem Fallschirm sollte
sie zu Erde zurückkehren. „Das
war zwar weniger als erwartet,
aber das liegt wahrscheinlich
daran, dass wir bei diesem Versuch übervorsichtig waren und
zu wenig Sauerstoff getankt haben“, vermutete Rickmers.
Was das soll? Vor allem der etwas angestaubten deutschen Raketenbaukunst Auftrieb geben.
In einem voll coolen Video der
Uni Bremen spaziert Rickmers
durch die Labore der Uni, im
Hintergrund stapft irgendwann
Chewbacca, der Fellfreund von
Harrison Ford aus „Star Wars“,
ein anderer Student macht irgendwas mit Sprühsahne. „Vielleicht dauert es noch eine Weile,
bis wir mit dem Semesterticket
ins All fliegen können“, sagt
Rickmers am Ende.
Allgemein geistert die Rakete
als öko durch die Medienlandschaft, warum auch immer: Der
Treibstoff besteht zu 99 Prozent
aus dem Kerzenwachsstoff Parafin, der zwar nicht explodiert,
aber Raketenstarts sicherlich
nicht zu einem umweltfreundlichen Unterfangen macht.
Ob Rickmers wie einst von
Braun mit seiner Kerzenrakete
von der Nasa abgeworben wird?
Mit etwas Glück schafft es der
36-Jährige womöglich nach Japan, da sind 2018 Olympische
Winterspiele. 2014 in Sotschi
spielte der Raketeningenieur
bereits im deutschen CurlingTeam – belegte aber den letzten
INGO ARZT
Platz. Schwerpunkt
MONTAG, 18. APRI L 2016
Von Papst Franziskus bis zur Wissenschaft: Die Kritik
an der Politik der EU zur Abwehr von Menschen wächst
Sie wussten, was sie tun
MITTELMEER Auf EU-Geheiß beendete Italien 2014 die Seeüberwachung vor Libyen. Stattdessen kontrollierte
Frontex nur die Küste Italiens. Dass dadurch die Todeszahlen steigen würden, hatte die EU selbst vorhergesagt
VON CHRISTIAN JAKOB
Heute vor genau einem Jahr ertranken in einer einzigen Nacht
800 Menschen vor der libyschen Küste. Ein überladenes
Flüchtlingsboot war gekentert,
herbeigerufene Retter suchten
mit Hubschraubern vergeblich
nach Überlebenden. „Da sind
nur Kraftstoff und Trümmer,
wir finden nichts mehr“, sagte
einer von ihnen. Bis zum Ende
des Jahres 2015 stieg die Zahl der
Ertrunkenen auf rund 3.700 –
mehr als je zuvor.
Die EU-Grenzschutzagentur
Frontex hatte vor diesem Anstieg der Zahl an Schiffskatastrophen gewarnt. Trotzdem entschied sich die EU, die italienische Seerettungsmission „Mare
Nostrum“ vor Libyen 2014 zu beenden. Das zeigt eine am Montag vorgestellte Studie des Londoner Goldsmith College. Darin
haben die Wissenschaftler teils
interne EU-Dokumente und Tagungsprotokolle ausgewertet.
Demnach hielt Frontex die
Mission „Mare Nostrum“ für
ren Küstengewässer Italiens im
Blick behält.
In einem im August 2014 von
Frontex verfassten Konzept für
die „Triton“-Mission warnte die
Agentur jedoch, es sei „wahrscheinlich“, dass der Rückzug
von Italiens Marine einen Anstieg der Todeszahlen zur Folge
haben. „Die Priorität von EU und
Frontex gebührte klar der Abschreckung. Das hatte Vorrang
vor Menschenleben“, kommentierte der Goldsmith-Forscher
Lorenzo Pezzani. Den EU-Entscheidungsträgern sei das Risiko
„im Detail bewusst gewesen“.
Am 3. September 2014 lud
der Innenausschusses LIBE des
Europäischen Parlaments den
damaligen Frontex-Chef Gil
Arias zu einer Anhörung ein.
Die Abgeordnete Barbara Spinelli fragte ihn, ob er sich „bewusst sei, dass wieder mehr
Menschen im Mittelmeer sterben werden“, wenn „Mare Nostrum“ beendet sei. Arias antwortete, die „Triton“-Mission werde
„Mare Nostrum“ nicht ersetzen,
weder ihr Mandat noch ihre verfügbaren Ressourcen.
Trotzdem lief „Mare Nostrum“ Ende 2014 offiziell aus,
an ihre Stelle trat „Triton“. Italien
war nicht ganz wohl mit dieser
Entscheidung: Rom beendete
zwar offiziell „Mare Nostrum“,
ließ aber einige Schiffe vorerst
weiterhin für Rettungseinsätze
nahe Libyen kreuzen. Frontex
versuchte dies zu unterbinden:
In einem Brief vom Dezember
2014 forderte die Agentur die
italienische Regierung auf, dies
zu unterlassen – es entspreche
„nicht dem operativen Plan“.
In den folgenden Monaten
gingen die Unglückszahlen steil
nach oben. Zwei Wochen nach
den schweren Schiffsunglü-
Schlepper mit neuen Routen
■■Von Ägypten nach Italien:
Durch Frontex sollten
„nennenswert weniger Migranten“ den
Aufbruch riskieren
einen „Pull-Faktor“: Sie verleite
Flüchtlinge in Libyen, in See zu
stechen, weil sie nicht weit kommen müssten, um Aussicht auf
Rettung zu haben. Genau diese
Aussicht solle es nicht mehr geben – dann würden „nennenswert weniger Migranten“ den
Aufbruch riskieren. Deshalb
sollte die Operation der italienischen Marine gestoppt und
das Seegebiet vor Libyen nicht
weiter überwacht werden. Ersatzweise sollte Frontex eine
eigene Mission namens „Triton“
starten, die nur die unmittelba-
cken, am 29. April 2015, nannte
EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker das Ende von
„Mare Nostrum“ „einen Fehler, der Menschenleben gekostet hat“. Einige Staaten, darunter Deutschland, schickten daraufhin Marineeinheiten, die EU
weitete das Einsatzgebiet von
„Triton“ aus: Statt 30 Meilen patrouillierten die Schiffe nun bis
zu 138 Seemeilen südlich von Italien – noch immer weit von Libyen entfernt. Trotzdem wurde
2015 nach der Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge zum Rekordjahr.
Meinung + Diskussion SEITE 12
Totengedenken: Die Kirchenoberhäupter werfen Kränze ins Meer bei Lesbos Foto: Osservatore Romano/dpa
Nach Schließung der Balkanroute
weichen Schleuser auf andere
Wege aus. Zuletzt stoppte die
griechische Küstenwache südwestlich der Halbinsel Peloponnes ein Holzboot mit 41 Flüchtlingen, das vermutlich von Ägypten
Richtung Italien unterwegs war.
An Bord seien Flüchtlinge aus
Syrien und dem Irak gewesen,
hieß es. Sollten sich Herkunft und
Ziel des Bootes bewahrheiten,
spräche das für eine Aktivierung neuer Routen. So könnten
Schleuser Griechenland umschiffen und Flüchtlinge auf anderen
Wegen nach Europa bringen.
■■Warten in Idomeni: In Griechenland bleibt die Grenze gen
Norden geschlossen – in Idomeni
hoffen seit Wochen mehr als
10.000 Menschen darauf, dass
sich die Passage doch noch öffnen könnte. Griechenland will die
Flüchtlinge nun dazu bewegen,
das Lager zu verlassen.
■■Fehlende Fachleute: Tausende
Flüchtlinge auf den griechischen
Inseln warten auf ihre Rückführung in die Türkei. Für Asylbescheide fehlt indes das Personal.
Von den zugesagten 2.300 Asylfachleuten, die aus ganz Europa
kommen sollten, ist bisher nur
gut die Hälfte eingetroffen.
Der Papst erinnert Europa an die Menschenrechte
Papst Franziskus besucht das überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der Ägäis-Insel Lesbos und nimmt drei syrische
Familien mit nach Rom. Zur Politik der Europäischen Union findet das katholische Kirchenoberhaupt deutliche Worte
GRIECHENLAND
MYTILINI/LESBOS taz | Vatikan-
sprecher Pater Federico Lombardi hatte vor der Abreise des
Papstes noch betont, dass der
Besuch des Heiligen Vaters bei
den Flüchtlingen von Lesbos
nicht als Kritik an der Europäischen Union und ihrer Flüchtlingspolitik zu verstehen sei.
Doch Franziskus selbst machte
seine Haltung in seiner Ansprache am Hafen von Mytilini nur
zu deutlich: „Europa ist die Heimat der Menschenrechte, und
wer auch immer seinen Fuß
auf europäischen Boden setzt,
müsste das spüren können“, sagt
der Papst. Die Missstände, die
durch die Abschottungspolitik
der EU-Länder und der seit dem
20. März geltenden Abschiebetaktik infolge des EU-Türkei-Abkommens immer drastischer
werden, hatte der Papst zuvor
selbst begutachtet.
Gemeinsam mit dem griechischen Ministerpräsident Alexis
Tsipras, dem griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomaios I. und dem orthodoxen
Erzbischof Hieronymus II. besuchte Franziskus das Flüchtlingslager Moria, in dem derzeit
mehr als 2.000 Menschen ausharren. Das Camp wurde nach
Inkraft­treten des EU-Türkei-Abkommens „zum Gefängnis mit
menschenunwürdigen Bedingungen“, sagten Flüchtlinge in
Moria der taz.
Dort reichen die Kapazitäten längst nicht mehr aus.
Viele Flüchtlinge müssten unter freiem Himmel schlafen,
nicht immer gebe es genug Nahrung, berichten freiwillige Helfer. Bis vor ein paar Tagen waren etwa 3.000 Menschen in
Moria eingesperrt. Doch vor
dem Papstbesuch fand die sogenannte Aktion Besen statt:
Etwa 600 Menschen – hauptsächlich Schwangere, Alleinerziehende und Kranke – wurden
in das offene Camp Kara Tepe
gebracht, um die Lage in Moria
etwas zu entspannen. Zusätzlich
wurden die Außenmauern des
Flüchtlingscamps Moria weiß
getüncht,. Dennoch – die Verzweiflung der Menschen war
nicht zu vertuschen.
„Ich möchte mich
mit den Flüchtlingen
solidarisch zeigen“
PAPST FRANZISKUS
Neben Willkommensschildern hielten die Flüchtlinge
Pappschilder mit „Hilf den
Menschen“ oder „Papst ist Hoffnung“ bei der Ankunft des Besuchs in Moria in die Höhe. Ein
junger Mann brach vor Franziskus in Tränen aus, bat verzweifelt um seinen Segen. Ein etwa
10-jähriges Mädchen warf sich
schluchzend vor ihm auf den
Boden. Gemeinsam mit neun
ausgewählten Flüchtlingen aß
der Papst dann zu Mittag. „Ich
möchte mich mit den Flüchtlingen solidarisch zeigen“, sagte
Franziskus.
Zeichensetzend war auch die
gemeinsame Erklärung der Kirchenoberhäupter. Sie appellieren „an die internationale Gemeinschaft, mutig zu reagieren
und dieser massiven humanitären Krise und den ihr zugrundeliegenden Ursachen durch diplomatische, politische und karitative Initiativen zu begegnen
wie auch durch gemeinsame
Anstrengungen sowohl im Nahen Osten als auch in Europa“,
heißt es darin.
Der griechische Ministerpräsidien Alexis Tsipras, der
sich in Lesbos eher im Hintergrund hielt, wertete den Besuch
des Papstes als historisch – und
als Möglichkeit, erneut die Not-
wendigkeit zu betonen, legale
Fluchtwege für Menschen aus
Kriegs- und Konfliktzonen zu
öffnen. Der Papst ging mit gutem Beispiel voran. Er hatte zuvor angekündigt, einige Flüchtlinge direkt mit nach Rom zu
nehmen. 12 Glückliche aus drei
syrischen Familien stiegen mit
ihm ins Flugzeug zurück nach
Rom. Alle anderen Flüchtlinge
bangen weiter – am Montag
sollen die Abschiebungen in die
Türkei aus dem Hafen von Mytilini weitergehen.
„Wir hatten schon Künstler,
Hollywoodstars und jetzt auch
den Papst hier – die Flüchtlingskatastrophe ist im Fokus der
Welt“, schimpfte eine Einwohnerin von Mytilini, die die Ansprache des Papstes am Hafen mitverfolgt hat. Aufmerksamkeit
gebe es genug. „Was wir endlich
brauchen, ist eine Politik, die
den Werten Europas gerecht
wird.“ THEODORA MAVROPOULOS
Schwerpunkt
Krise der Linkspartei
MONTAG, 18. APRI L 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Im Westen stagniert sie, im Osten verliert sie, zeigten die letzten
Landtagswahlen. Dazu gibt es Streit beim Thema Flüchtlingspolitik
„Es nutzt der AfD, wenn man sie dämonisiert“
STRATEGIE Die Regierung treibt der Alternative für Deutschland die Stimmen zu, sagt Sahra Wagenknecht. Die Linkspolitikerin will
die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Ein Gespräch über Obergrenzen, Europa und inhaltliche Schnittmengen mit Rechtspopulisten
INTERVIEW STEFAN REINECKE
UND PASCAL BEUCKER
taz: Frau Wagenknecht, Bodo
Ramelow will bis zu 2.000
Flüchtlinge aus Idomeni nach
Thüringen holen. Unterstützen
Sie das?
Sahra Wagenknecht: Natürlich müssen die Menschen
raus aus diesem Schlammloch.
Und 2.000 Flüchtlinge sind für
Deutschland kein Problem, auch
mehr.
Sie haben vor einem Monat gesagt, dass es „Grenzen der Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung“ für Flüchtlinge gibt.
Diese Aussage klang wie: Das
Boot ist voll.
Ich habe nur darauf hingewiesen, dass die Stimmung vorherrscht: „Wir können nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen.“
Wer sagt „Das Boot ist voll“,
weist auch nur auf eine Stimmungslage hin.
Nein. Der sagt: „Es soll keiner
mehr kommen.“
Das haben Sie nicht gemeint?
Weder gesagt noch gemeint.
Als Merkel im Herbst die Grenzen öffnete, wie fanden Sie das?
Es war richtig, die Flüchtlinge
aus Ungarn nach Deutschland
zu holen. Aber dann hätte Merkel auf die europäischen Partner zugehen und eine gemeinsame Lösung suchen müssen,
statt im Alleingang zu entscheiden. Und sie hatte keine Strategie. Ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer wäre im Herbst
das Chaos ausgebrochen. Bis zu
eine Million Menschen zu integrieren, ist eine Mammutaufgabe. Aber die Regierung hält
weiter an der Schwarzen Null
fest und lehnt Reichensteuern
ab. Mit den meisten Kosten werden die Kommunen allein gelassen. Also müssen die zusätzlichen Ausgaben durch Kürzungen an anderer Stelle finanziert
werden. So hat Merkel dafür gesorgt, dass die Stimmung kippt.
Wollen Sie eine Obergrenze für
Flüchtlinge?
Die Debatte über Obergrenzen
ist verlogen, solange Fluchtursachen nicht bekämpft, sondern gefördert werden. Durch
Waffenexporte in Kriegsgebiete.
Durch subventionierte Agrarexporte. Da muss man sich nicht
wundern, dass sich immer mehr
Verzweifelte nach Europa aufmachen.
Soll Deutschland nun freiwillig Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen?
Wir haben immer legale Wege
für Asylsuchende gefordert.
Aber wir brauchen eine europäische Lösung. Und die gibt es
auch deshalb nicht, weil Merkel
seit der Eurokrise viele Länder
so vor den Kopf gestoßen hat,
dass sie sich jetzt revanchieren.
Auch der Deal mit dem Despoten Erdoğan war ein Alleingang.
Wer so agiert, muss sich nicht
wundern, dass keiner mitzieht.
Also nein?
Wir müssen Menschen, die vor
politischer Verfolgung und
Krieg fliehen, Schutz gewähren.
Vor allem aber muss Deutschland etwas dafür tun, dass nicht
immer mehr Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden.
Durch den schäbigen TürkeiDeal unterstützt Merkel ein Re-
Sahra Wagenknecht demonstriert im Dezember gegen Waffenexporte in Kriegsgebiete Foto: Stefan Boness/Ipon
gime, das islamistische Terrorbanden wie al-Nusra hochrüstet
und einen brutalen Krieg gegen
die Kurden führt.
Sogar Horst Seehofer hat davon geredet, 200.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Warum
jetzt freiwillig Kriegsflüchtlinge aufnehmen?
Das Asylrecht ist inzwischen
faktisch abgeschafft, weil die
Eilverfahren in den griechischen Hot Spots keine faire Prüfung gewährleisten. Das ist ein
Skandal. Auch in Deutschland
wurde das Asylrecht geschleift.
Bedauerlicherweise mit Unterstützung eines Teils der Grünen.
Nur die Linke hat das geschlossen abgelehnt. Aber richtig ist
auch: Es gibt weltweit 60 Mil­lio­
nen Flüchtlinge und Millionen
Hungernde. Jeder weiß, dass wir
diesen Menschen nicht dadurch
helfen können, dass wir sie alle
nach Deutschland holen, aber
„Mit den meisten
Flüchtlingskosten
werden die Kommunen allein gelassen.
So hat Merkel dafür
gesorgt, dass die
Stimmung kippt“
Deutschland könnte viel mehr
tun, um ihre Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern.
Ist es aus humanitären Gründen nicht zwingend, dass
Deutschland Flüchtlinge aus
Syrien aufnimmt?
Ja, aber warum nur aus Syrien?
Warum nicht aus Afghanistan,
wo die Bundeswehr am Krieg
seit 2001 beteiligt ist? Warum
nicht aus dem Irak oder Libyen,
deren Staatsgefüge durch westliche Bomben zerstört wurde?
Ein Drittel der Linksparteiwähler in Sachsen-Anhalt findet, dass die Partei zu flüchtlingsfreundlich ist. Was folgt
daraus?
Das ist nicht erstaunlich. Es gibt
kaum noch sozialen Wohnungsbau. Flüchtlinge suchen Wohnraum in der Regel in ärmeren
Gegenden und werden dort als
Konkurrenz wahrgenommen.
Und die Regierung erleichtert es
den Unternehmen, Flüchtlinge
für Lohndumping zu missbrauchen. So treibt sie der AfD die
Stimmen zu.
In Sachsen-Anhalt gibt es kaum
30.000 Flüchtlinge. Kann man
da von begründeten Ängsten
der Bürger reden?
Es gibt in Sachsen-Anhalt Orte
mit Wohnungsleerstand, ja.
Aber dort ist die Arbeitslosigkeit und damit die Konkurrenz
um Jobs größer.
Muss die Linkspartei ihre
Flüchtlingspolitik ändern?
Wir müssen die Ängste ernst
nehmen. Es ist falsch, alle AfDWähler als rassistisch zu denunzieren. Aber nicht die Flüchtlinge sind schuld, sondern Merkels Politik.
Die Linkspartei hat in SachsenAnhalt verloren, im Westen
den Einzug in die Parlamente
schon wieder verfehlt. Wie tief
ist die Krise ihrer Partei?
Wir hatten in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei
Landtagswahlen leider noch
nie bessere Ergebnisse. Wer
noch nie im Landtag war, hat es
schwer, die Menschen landespolitisch zu überzeugen. Dramatisch verloren haben wir in
Sachsen-Anhalt. Offensichtlich
wird ein zu stark regierungs­
orien­tierter Wahlkampf von den
Wählern nicht honoriert.
Und nun?
Orientieren wir uns an dem
Wahlkampf 2009. Wir waren erfolgreich, weil wir knappe, klare
Botschaften hatten.
Die Protestpartei mit den knappen, klaren Slogans ist nun die
Alternative für Deutschland.
Die AfD hat es geschafft, sich als
die Opposition gegen alle anderen zu inszenieren. In der Realität steht die AfD für Sozialabbau
und Interventionskriege, und so
gesehen sind alle Parteien außer
„Die AfD hat es
geschafft, sich als
die Opposition
gegen alle anderen
zu inszenieren“
der Linken AfD-nah, denn sie
stimmen in diesen Grundsatzfragen mit ihr überein. Bei der
Vizepräsidentenwahl in Sachsen-Anhalt hat man ja auch gesehen, welche politischen Bündnisse gerade entstehen. Dass die
neue Kenia-Koalition dort eher
einen AfD-Mann wählt als einen Linken, zeigt, wer wem nahesteht.
Also keine Angst vor der AfD?
Es nutzt der AfD, wenn man sie
dämonisiert. Man muss sich
mit ihr inhaltlich auseinandersetzen. Die AfD hat nicht das
Ziel, sozialen Wohnungsbau
zu fördern, Altersarmut zu bekämpfen oder Leiharbeit abzuschaffen. Sie will weder Erbschafts- noch Vermögenssteuern, sondern Steuersenkungen
für Millionäre.
AfD-Chefstratege Alexander
Gauland findet viele ihrer politischen Position gut – und dass
Sie in der falschen Partei sind.
Letzteres gebe ich gern zurück.
Es ist schwer verständlich, dass
Herr Gauland, der früher in der
taz publiziert hat, sich heute
an der Seite von Halbnazis wie
Björn Höcke und anderen völkischen Nationalisten wohlfühlt.
Umso erstaunlicher, dass es
Schnittmengen bei Eurokritik
und beim Nationalstaat zwischen Gauland und Ihnen gibt.
Wenn es regnet, und die AfD
sagt, es regnet, werde ich nicht
behaupten, dass die Sonne
scheint. Dass der Euro Europa
spaltet und den deutschen Exportnationalismus fördert, habe
ich thematisiert, als es die AfD
noch gar nicht gab. Und dass die
aktuellen europäischen Institutionen Demokratie zerstören,
konnte im letzten Jahr jeder in
Griechenland besichtigen. Natürlich fordert die Linke nicht
mehr Troika, sondern mehr Demokratie.
Aber die Forderung ist die gleiche – weniger EU?
Wir fordern weniger Sozialdumping, weniger Steuerdumping
und weniger Lohndumping. In
Brüssel funktioniert die Demokratie nicht, weil sie viel zu weit
von den Bürgern entfernt ist.
Deshalb haben dort Lobbygruppen und Konzerne ein leichtes
Spiel. Es ist falsch, noch mehr
Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern.
Fordern Sie ein Europaparlament mit mehr Kompetenzen
– als Schritt zu mehr Demokratie in der EU?
Leider haben die Lobbyisten im
europäischen Parlament noch
mehr Einfluss als im Bundestag. Zudem gilt das demokratische Prinzip „one man one vote“
dort nicht, aus guten Gründen.
Aber das zeigt, dass Europa eben
kein Staat ist, sondern ein Bund
von verschiedenen Staaten und
Kulturen.
Gauland scheint nicht so falsch
zu liegen, wenn er viel Überstimmung mit Ihnen sieht.
Wie bitte? Die AfD will zurück
zum Blut-und-Boden-Prinzip,
das in Deutschland geborenen
Kindern von Migranten die
Staatsbürgerschaft vorenthält.
Wenn sie von Nationalstaat redet, geht es nicht um Demokratie, sondern um Ethnien und Abstammung. Mit solchen Thesen
habe ich nichts zu tun.
Katja Kipping, Chefin Ihrer
Partei, will die Vereinigten
Staaten von Europa. Sie auch?
Wir brauchen europäische Abstimmung und Zusammenarbeit. Aber das heutige Europa
basiert auf den Konzepten des
beinharten Neoliberalen von
Hayek. Seine Kernidee war, dass
ein europäischer Bundesstaat
sehr viel schwächer und daher
weniger in der Lage ist, dem Kapitalismus soziale Regeln aufzuzwingen, als einzelne Staaten.
Tatsächlich hat Brüssel meist so
interveniert, dass soziale Standards gesenkt und Privatisierungen vorangetrieben wurden.
Sahra Wagenknecht
■■46, gilt als Kopf des linken
Flügels der Linkspartei. Die
promovierte Volkswirtin führt
gemeinsam mit dem Reformer
Dietmar Bartsch die Bundestagsfraktion der Linken an. Zuvor war
sie stellvertretende Parteivorsitzende. Kürzlich erschien ihr Buch
„Reichtum ohne Gier“.