SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Der gescheiterte Drogenkrieg in
Lateinamerika
Uruguay legalisiert als erste Nation Cannabis
Von Karl-Ludolf Hübener
Sendung: Montag, 18. April 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Expo Musik, Stimmen
Erzähler:
Reihum wandert ein Marihuana-Joint, in Uruguay auch „porro“ genannt. Kurzes
Einatmen. Süßlicher Duft verbreitet sich um eine Gruppe von Zwanzig- bis
Dreißigjährigen. Die müssen sich nicht verbergen, sondern rauchen ihren Joint ganz
öffentlich auf der „Expo Cannabis“, der Cannabis-Messe in Uruguays Hauptstadt
Montevideo. Zielstrebig steuert die Gruppe auf einen der über 60 Stände zu. Er heißt
„Garden Highpro“ und preist einen Luxus-Schrank mit Belüftung und hochwertigen
Lampen an. Alles für die begehrte Pflanze.
O-Ton Dominguez / Übersetzer:
Eine Expo Cannabis wie diese ist in anderen Ländern der Region undenkbar. Aber
hier läuft das ganz normal ab. Keiner regt sich auf.
Erzähler:
Ein Saal auf der „Expo Cannabis“ ist für Vorträge reserviert. Beispielsweise über
Cannabis und Medizin. Anschließend berichtet ein mexikanischer Professor über die
Erfahrungen mit Drogen in seinem von Drogen und Gewalt gebeutelten Land.
Expo Cannabis
O-Ton Florencia Lemos / Übersetzerin:
Der Krieg gegen Drogen ist mehr als 40 Jahre alt. Das Ergebnis ist erschreckend, vor
allem für Lateinamerika. Der Subkontinent leidet unter den direkten Konsequenzen:
Menschen verschwinden in Mexiko. Es gibt Tote, Korruption und Staaten, die vom
Drogenhandel korrumpiert sind.
Erzähler:
Im Dezember 2013 erregte Uruguay weltweit Aufsehen. Es ist der erste Staat, der
Cannabis vollständig legalisiert, vom Anbau bis zum Vertrieb und Verkauf.
Expo Cannabis
Ansage:
Der gescheiterte Drogenkrieg in Lateinamerika –
Uruguay legalisiert als erste Nation Cannabis
Von Karl-Ludolf Hübener
Musik
Erzähler:
Ein musikalischer Meilenstein der Rockmusik ist 1969 das legendäre WoodstockFestival, vor mehr als 400.000 Besuchern. „Peace and Love“ ist die Devise. Die USA
führen Krieg in Vietnam. Berauscht sind die Fans nicht nur von der Musik. Unzählige
Joints machen ihre Runden. Dabei sind Rauschmittel in den USA seit 1914 verboten.
Nur zwei Jahre nach Woodstock wird nicht etwa das Verbot gelockert, sondern der
Kampf gegen Drogen verschärft.
2
O-Ton Richard Nixon
Erzähler:
Richard Nixon erklärt 1971 Drogen zum öffentlichen Feind Nr. 1 der Vereinigten
Staaten. Gelenkt wird der „Krieg gegen Drogen“ fortan von den USA. Schlachtfeld ist
vor allem Lateinamerika.
Der Kampf gegen Drogen stützt sich auf das Abkommen über Betäubungsmittel der
Vereinten Nationen von 1961. Es beschränkt Anbau, Verarbeitung, Handel und
Konsum von Pflanzen und Rohstoffen, aus denen Drogen hergestellt werden
können. Dazu zählt auch Cannabis, die am meisten angebaute und konsumierte
Droge in Lateinamerika.
[O-Ton Ronald Reagan
Erzähler:
1986 startet Präsident Ronald Reagan seine eigene Kampagne gegen Drogen:
Drogen bedrohten Gesellschaft und Werte, sagt er. Gleichzeitig verschweigt er, dass
seine Regierung die rechtsgerichteten Contras in Nicaragua mit Waffen und Geld aus
Drogengeschäften unterstützt.]
O-Ton Bill Clinton
Erzähler:
Bill Clinton will gegen Ende seiner Amtszeit mit dem „Plan Colombia“ angeblich die
Wurzeln allen Übels ausrotten. Kolumbien wird ab 2000 zum größten Empfänger für
die Drogenbekämpfung. Im Rahmen des „Plan Colombia“ fließen 7,5 Milliarden
Dollar ins Land. 80 Prozent davon als Militärhilfe. Der Plan zielt insbesondere auf die
Vernichtung der Guerilla.
Soldaten marschieren
Erzähler:
Nicht nur in Kolumbien, auch in Bolivien wird der Krieg gegen Drogen und die
sogenannte Subversion den Streitkräften überlassen. Dort stößt die US-Politik auf
heftigen Widerstand der Gewerkschaft der Coca-Bauern. Ihr Anführer ist Evo
Morales. Der US-Botschafter, der sich in La Paz wie ein Prokonsul gebärdet,
beschimpft Evo Morales mehrfach als Boss der Drogenmafia.
Jeep, Funkspruch
Erzähler:
Fünf Uhr früh. Es ist noch stockdunkel im Chapare, dem Coca-Anbaugebiet in
Bolivien. Auf der Ladefläche des Jeeps haben sich Soldaten postiert.
Maschinenpistolen im Anschlag. Nach einer halbstündigen Fahrt heißt es: Absitzen.
Abmarsch. Bald stoßen die Soldaten inmitten des Dickichts auf eine Lichtung voller
Coca-Sträucher.
Eine halbe Hundertschaft Uniformierter umringt das Feld. Sie rupfen und reißen die
Sträucher aus, schlagen mit Macheten die Wurzeln ab. Damit keiner auf die Idee
kommt, den anspruchslosen Strauch wieder einzupflanzen! Nach kaum mehr als
3
zehn Minuten liegt das Feld wie platt gewalzt da. Auf Kommando rufen Soldaten
„Coca Cero“.
„Coca cero“
Erzähler:
2005 wählen die Bolivianer den Aymara-Indianer Evo Morales zum Präsidenten. Statt
„Null Coca“ heißt es nun „Coca ist kein Kokain“. Vor der UNO-Vollversammlung
kritisiert Evo Morales indirekt die UN-Konvention von 1961. Die stuft den CocaStrauch als Droge ein.
O-Ton Evo Morales / Übersetzer:
Es ist eine Ungerechtigkeit, das Coca-Blatt unter Strafe zu stellen. Das Blatt der
Coca ist grün. Grün und nicht weiß wie Kokain. Dieses Blatt repräsentiert die Kultur
der Anden und unsere Umwelt.
Erzähler:
Der Coca-Strauch war für die Inka eine „heilige Pflanze“, vor allem für rituelle
Zeremonien gedacht. Wie kein anderes Nahrungsmittel des Altiplano ist Coca reich
an Vitaminen und Kalzium. Bis heute erleichtert das Coca-Blatt die harte Arbeit auf
den Feldern und erhöht die Körpertemperatur der Menschen auf den kalten
Andenhöhen.
Musik: Andin, Akzent
Erzähler:
Die Drogenkartelle reagieren auf den Krieg gegen sie immer flexibler. Er gleicht
einem Katz- und Mausspiel. Sie weichen aus in andere Regionen und Länder.
Beispielsweise von Kolumbien nach Peru. Das Geschäft blüht. Abermilliarden Dollar
werden alljährlich umgesetzt. Die Gewinnspannen suchen ihresgleichen. Die
Schäden auch.
Milton Romani, Chef der Nationalen Drogenbehörde in Uruguay, kommentiert das so:
O-Ton Milton Romani / Übersetzer:
Man muss es deutlich sagen: Der Kreuzzug gegen die Drogen hat aus den
Menschenrechten einen Fetzen Papier gemacht, denn die Drogenbekämpfung hat
alles gerechtfertigt.
Musik: Narco-Corrido: Chapo Guzman
Erzähler:
Mexiko, von manchem bereits als „failed state“ eingestuft, schwebt vielen als
abschreckendes Beispiel vor. Im mexikanischen Drogenkrieg starben seit 2007 über
100.000 Menschen, fast 30.000 verschwanden spurlos. Neben Drogenkartellen
werden auch die staatlichen Sicherheitskräfte verdächtigt, Menschen zu foltern und
hinzurichten.
[Der mexikanische Professor Alejandro Madrazo berichtet auf der Expo Cannabis
von einem skandalösen Fall. Der Staat habe nach einem angeblichen Feuergefecht
22 tote Verbrecher gemeldet. Nur ein Soldat sei verletzt worden.
4
O-Ton Madrazo / Übersetzer:
Der Gouverneur des Bundesstaates México zollte dem Heer öffentlich Beifall – für
Mut und Effizienz. Zwei Monate später wurde die Aussage der einzigen
überlebenden Zeugin bekannt. Sie berichtete, dass beim Schusswechsel lediglich ein
mutmaßlicher Verbrecher getötet worden sei. Daraufhin hätten sich die anderen
ergeben. Heeressoldaten brachten sie Innerhalb der nächsten zwei Stunden um.]
Erzähler:
Fälle von Zusammenarbeit zwischen Soldaten, Polizisten und Politikern werden
immer wieder aufgedeckt. Die Drogenmafia wird allmählich zum Staat im Staate.
Ricardo Dominguez, Vertreter der Organisation Amerikanischer Staaten, OAS, sagt:
O-Ton Dominguez / Übersetzer:
Leider haben wir es in den letzten Jahren mit einer Entwicklung zu tun, die
besorgniserregend ist. Früher korrumpierten Drogendealer und Kartelle Beamte und
Politiker. Heute stellen sie sich bei Wahlen als Kandidaten auf. Vor allem auf der
Ebene der Kommunen.
Musik: Narco-Corrido: Chapo Guzman
Erzähler:
Immer mehr warnende Stimmen erheben sich in Lateinamerika. Sie äußern Zweifel
an der bisherigen Prohibitionspolitik. Milton Romani, Generalsekretär der Nationalen
Drogenbehörde Uruguays:
O-Ton Romani / Übersetzer:
In vielen Länder sind es immer mehr geworden, die sagen: Der Krieg gegen die
Drogen hat nur Schäden verursacht; lasst uns einen anderen Weg ausprobieren.
Erzähler:
Dieser Meinung sind auch aufgeklärte Konservative, wie Brasiliens Ex-Präsident
Fernando Henrique Cardoso oder der peruanischen Literaturnobelpreisträger Mario
Vargas Llosa.
O-Ton Mujica / Übersetzer:
Ich werde nicht zulassen, dass diese Welt von Verbrechern regiert wird. Deshalb
müssen wir dem Drogenhandel den Markt entreißen. Das ist die beste Methode, ihn
zu bekämpfen.
Erzähler:
… forderte der damalige uruguayische Präsident Pepe Mujica, ein ehemaliger
Tupamaro-Guerillero. Er schaffte 2013 den Durchbruch zu einer alternativen
Drogenpolitik.
Musik: Tango
Erzähler:
Erinnerungen an die Zeit vor der Prohibition werden wach:
Schon vor rund hundert Jahren verkauften Apotheken oder Drogerien in Montevideo
Joints. Ganz legal. Cannabis-Zigaretten seien gut „gegen Asthma, Schlaflosigkeit,
5
Bronchitis und zur Entspannung vom Stress des modernen Lebens“, hieß es in der
Werbung. Auch Kokain wurde als Pille zum Wachbleiben in Apotheken verkauft.
Ohne Rezept.
Erst als Diktator Gabriel Terra sich 1933 von Mussolini inspirieren ließ, war es vorbei
mit Legalität und Straffreiheit. Drogen galten fortan als „Gefahr für die Rasse“.
1961 schloss sich Uruguay der Drogenkonvention der Vereinten Nationen an. Die
Militärdiktatur, die von 1973 bis 1985 das kleine Land unterdrückte, erlaubte den
Konsum von Drogen, verfolgte aber brutal Anbau und Verkauf. Nach dem Ende der
Militärdiktatur waren Razzien gegen Jugendliche an der Tagesordnung. Vor allem in
den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Diego Peri, Mitglied von
„Proderechos“, hat die Zeit erlebt:
O-Ton Diego Peri / Übersetzer:
Wir hatten es mit einer Regierung der Rechten zu tun. Auch wenn wir nun in einer
Demokratie lebten, war die Polizei sehr repressiv. Der Polizeiapparat handelte nicht
anders als zu Zeiten der Diktatur. Es war eine schwierige Zeit. Razzien endeten auf
Polizeikommissariaten – mit Folter und Toten.
Musik: Vela Puerca: „La Semilla“: Miro de reojo... pa' fumar
Übersetzerin:
„... ich blicke verstohlen hin,
die Blätter kann man schon sehen,
wie auch die Blüten, die du geben wirst,
ich bin's zufrieden,
denn bald werde ich etwas zum Rauchen haben.“
Erzähler:
Die Rockband „La Vela Puerca“ aus Montevideo. Der Song war lange Zeit so etwas
wie die Hymne aller Marihuana-Fans. Auch für Julio Rey:
O-Ton Julio Rey / Übersetzer:
Ich habe mit 14 Jahren angefangen, mit gepresstem Marihuana. Damals war es sehr
schwer, an den Stoff heranzukommen.
Erzähler:
Gepresstes Marihuana wurde und wird aus Paraguay geschmuggelt. Die
grünbraunen Klumpen sind gepanscht – nicht selten mit Neopren, Teer, Hundefutter,
Exkrementen, Agrogiften oder Ammoniak. Mit Ammoniak können die getrockneten
Blüten leichter gepresst werden. Deshalb stinke es häufig nach Urin, meint Julio Rey.
Julio Rey hat viele Jahre im Landesinneren für die Legalisierung geworben. Er ist
heute Vorsitzender der Vereinigung der Marihuana-Anbauer in Uruguay. Die
Vereinigung hat ihren Stand auf der Expo Cannabis.
Expo Cannabis
Erzähler:
Marihuana macht den Löwenanteil des Drogenkonsums in Uruguay aus, mit 90
Prozent. Etwa acht Prozent der uruguayischen Drogenkonsumenten schnupfen
Kokain.
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Cannabis-Marsch
Erzähler:
2005 übernimmt die linke Frente Amplio erstmals die Regierung in Uruguay.
Demonstrationen werden in der Hauptstadt immer größer und häufiger. Doch über 60
Prozent der Drei-Millionen-Bevölkerung Uruguays lehnt die Legalisierung von Drogen
ab, vor allem die ältere Generation. Pepe Mujica kritisiert das in seiner wöchentlichen
Radiosendung:
O-Ton Mujica / Übersetzer:
Wir sind vor allem ein Land von alten Leuten und es fällt uns schrecklich schwer, der
jüngeren Generation zuzuhören und diese zu verstehen.
Erzähler:
Pepe Mujica ist Präsident der zweiten Regierung der linken „Frente Amplio“. Unter
ihm kommt Bewegung in die Drogenpolitik.
O-Ton Mujica / Übersetzer:
Es gibt ungefähr 3.000 Gefangene, die mit Drogenhandel zu tun haben. Aber der
Drogenhandel geht weiter. Weshalb wohl? Die Gewinnmarge ist einfach enorm. Und
es wird immer Leute geben, die auf den schnellen Profit setzen. Die enormen
Gewinne sind selbst in den Gefängnissen spürbar, denn die Dealer bestechen die
Sicherheitskräfte. Und es gibt immer mehr Finanzgeschäfte durch Geldwäsche. Für
die Wäsche von Schwarzgeld werden 30 Prozent Kommission bezahlt. Sogar
Wahlkampagnen werden damit finanziert.
Fernsehen
Erzähler:
Abendnachrichten im Kanal 4. Zunächst in aller Breite die „Cronica Roja“, die „Rote
Chronik“. Diebstähle, Überfälle, Morde. Drogen spielen dabei eine immer größere
Rolle.
Fernsehen
Erzähler:
Den Kampf um den illegalen Markt fechten rivalisierende Drogenbanden zunehmend
brutaler aus. Die jährliche Mordrate stieg in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent.
Umkämpft sind die Absatzgebiete für alle möglichen Drogen. [Zuletzt meldete die
Tageszeitung „El Pais“:
Zitator:
„Mindestens vier Tote, mehrere Verletzte, zwei Häuser mit Molotov-Cocktails
abgefackelt, zwei ausgebrannte Autos und drei Feuergefechte sind das Resultat
eines Krieges zwischen zwei Drogenfamilien.“]
O-Ton Florencia Lemos / Übersetzerin:
Bevor das Marihuana-Gesetz in Kraft trat, wurden 43 Prozent aller Häftlinge wegen
Drogenhandel verurteilt. Sie saßen für weniger als 10 Gramm einer Substanz ein. Es
handelte sich vor allem um junge Leute mit geringem Einkommen.
7
Erzähler:
So Florencia Lemos von „Proderechos“, die sich wie auch Mitglieder anderer sozialer
Bewegungen für die Legalisierung des Kiffens eingesetzt hat.
Cannabis-Marsch
Erzähler:
Der Druck der Demonstrationen zeigt Wirkung. Im August 2013 kündigt Mujica das
Cannabis-Projekt an:
O-Ton Mujica / Übersetzer:
Das Gesetz, das wir verabschieden möchten, sieht einen regulierten Markt vor. Es
bedeutet keineswegs „jetzt können wir die Sau rauslassen.“ Wir wollen etwas
regulieren, was längst existiert, direkt vor unserer Nase, vor Schulen, an
Straßenecken. Der Markt soll so der Illegalität entrissen werden.
Erzähler:
Wenige Monate später ist es so weit. Im Dezember 2013 stimmt der uruguayische
Kongress zu. Auf den Zuschauerrängen Beifall vieler junger Leute.
Parlament, Ansage, Beifall
Erzähler:
Was es mit einem regulierten Markt auf sich hat, erklärt Milton Romani, Leiter der
Nationalen Drogenbehörde:
O-Ton Romani / Übersetzer:
Das Gesetz sieht drei Zugänge vor: den Anbau von bis zu sechs Pflanzen für den
Eigengebrauch. Dafür muss man sich in einem staatlichen Institut, dem Institut für
Regulierung und Kontrolle von Cannabis, registrieren lassen. Dasselbe gilt auch für
den zweiten Zugang: Die Cannabis-Clubs müssen sich ihre Rechtspersönlichkeit
vom Staat bestätigen lassen. Der dritte Zugang ist noch nicht fertig: In Apotheken
kann man künftig eine Dosis von 40 Gramm pro Monat kaufen.
Erzähler:
Der Konsument muss sich für eine der drei Alternativen entscheiden. Er muss
außerdem offiziell registriert sein. Er muss einen uruguayischen Personalausweis
besitzen. Uruguay soll nicht zu einem internationalen Kifferparadies werden.
Die Zahl der Cannabis-Kiffer in Uruguay wird auf 150.000 geschätzt. Staatlich
kontrolliert werden fast 5.000 Einzelanbauer. Bislang haben sich rund 20 CannabisClubs registrieren lassen oder eine Genehmigung beantragt.
Die neue Drogenpolitik verschiebt den Fokus von Repression und Gefängnis auf
Menschenrechte und Gesundheit.
O-Ton Vitale / Übersetzer:
Es handelt sich um eine Politik der Schadensbegrenzung, es hat nichts mit einer
Förderung des Konsums zu tun. Es erkennt die Existenz von Konsumenten an und
gibt ihnen einen sicheren Zugang. Es bietet Hilfe an, wenn es sich um einen
problematischen Konsum handelt. Gleichzeitig gibt es Erziehungskampagnen.
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Erzähler:
Augusto Vitale ist Generalsekretär des neu gegründeten „Instituts für Regulation und
Kontrolle von Cannabis“, kurz IRCCA, und überwacht die Einhaltung der
Gesetzesbestimmungen. IRCCA wie auch die Nationale Drogenbehörde haben auf
der Expo Cannabis ihre Stände aufgebaut.
Expo, Beratung, Urugrow
Erzähler:
Ein „Grow Shop“ bietet auf seinem Stand sogenannte „Home-Boxes“ an. Für die
Wohnung oder den Balkon. Sie sehen wie Kisten aus, sind aus Plastik, mit
reflektierenden Wänden und mit Zipp-Reißverschlüssen. Kleine Boxen sind 30 mal
60 Zentimeter groß; begehbare 2 mal 3 Meter groß. 400-Watt-Leuchten produzieren
Hitze und grelles Licht. Zum Preis von rund 400 Dollar.
Expo
Erzähler:
Der Eigenanbau dürfte für Bewohner der Armenviertel zu teuer sein. Die Clubs
kommen noch weniger infrage, erheben doch einige von ihnen Mitgliedsbeiträge in
Höhe von bis zu 300 Dollar.
O-Ton Vitale / Übersetzer:
Deshalb meinen wir, dass die Apotheke kostenmäßig günstiger sein dürfte.
Erzähler:
Einen Vorteil hat der Joint aus der Apotheke auf jeden Fall: Er ist nicht gepanscht.
Und verhilft dem Recht auf Gesundheit zur Geltung. Der Preis soll mit den illegalen
Angeboten konkurrieren können, zur Debatte steht etwas mehr als ein Dollar pro
Gramm.
Ein etwa zehn Hektar großes Gebiet außerhalb der Stadt wurde für den Anbau
bestimmt. Polizisten bewachen das Gelände, private Firmen bauen Cannabis an.
Wenn im Juni die Cannabis-Blüten reif sind und geerntet werden, kann sich jeder
staatlich registrierte Konsument monatlich seine 40 Gramm abholen. Über 100
Apotheken wollen die getrockneten harzhaltigen Cannabis-Blüten verkaufen.
Augusto Vitale:
O-Ton Vitale / Übersetzer:
Es sind keine psychoaktiv starken Sorten. Die wichtigsten Cannabis-Wirkstoffe, vor
allem THC, CBD und CBN, sind im Gleichgewicht.
Erzähler:
Der THC-Wert sollte 15 Prozent nicht übersteigen, erklärt die Ärztin Raquel
Peyraube:
O-Ton Peyraube / Übersetzerin:
Ursprünglich waren die natürlichen Sorten nicht genmanipuliert. Das ist geschehen,
um Cannabis mit höherer THC-Konzentration anbieten zu können. Diese Sorten sind
am gefährlichsten für die Gesundheit. Sie enthalten eine hohe Konzentration von
THC, aber ohne den ausgleichenden Effekt von anderen Wirkstoffen wie CBD. Ein
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Verhältnis von 1:1 von THC und CBD verspricht eine „angenehme Reise“ und schafft
keine Probleme. Das ist allerdings nicht der Fall, wenn es an CBD mangelt.
Erzähler:
Für den Apothekenverkauf haben Wissenschaftler eine unverwechselbar
uruguayische Cannabis-Pflanze entwickelt. Milton Romani:
O-Ton Romani / Übersetzer:
Wir werden ein original uruguayisches Cannabis-Gen produzieren. So können wir
stets den Weg zurückverfolgen. Wenn dieser genmanipulierte Cannabis-Stoff
woanders auftaucht, kann er leicht identifiziert werden.
Erzähler:
Zum Beispiel wenn er auf illegalem Wege in Nachbarländer gelangt.
Musik: Estoy de Marconi (Escuchen bien lo que … la vida estan perdiendo)
Zitator:
„... Hört gut zu, was ich euch zu sagen habe: Viele Kinder verlieren sich auf der
Straße. Wie viele Mütter leiden doch, weil ihre Kinder Drogen nehmen. Und ganz
allmählich ihr Leben auslöschen …“
Erzähler:
Liedtexte einer Hip-Hop-Gruppe aus dem Armenviertel Borro. Neben zahlreichen
einfachen Häusern mit Vorgärten stehen dort windschiefe, oft feuchte Bauten, mit
Dächern aus Zinkblech und Fußböden aus Erde oder Zement, kalt im Winter und
unerträglich heiß im Sommer. Ein Labyrinth von unbefestigten Wegen, staubig bei
Hitze, nicht selten voller Schlamm bei Regen, führt in und durch das Viertel.
Abwässer fließen entlang der Wege; die dienen gleichzeitig als Spielplatz für Kinder.
[Dort wohnt auch Judith, eine 50-jährige Frau:
O-Ton Judith / Übersetzerin:
Die Tür wird uns vor der Nase zugeschlagen, wenn wir auf die Frage, wo wir
wohnen, antworten: in Borro. Dann geben sie uns nichts, erst recht keine Arbeit. Sie
haben Angst vor unserem Viertel.
Carrito
Erzähler:
Judith zieht jeden Morgen mit ihrem Carrito, einem von Pferden gezogenen Wagen,
los, um im Müll der Millionenstadt nach Verwertbarem zu wühlen.]
Fahrt mit Juan Carlos
Erzähler:
Juan Carlos hatte mich nach Borro gefahren. Der 40-Jährige ist dort aufgewachsen.
Beiläufig erwähnt er, dass er vorbestraft ist. Den Lebensunterhalt verdient er sich mit
Gelegenheitsarbeiten. Dafür hat er einen alten klapprigen Lastwagen als Transporter
hergerichtet, aus Ersatzteilen von allen möglichen anderen Autos.
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Motor, Juan Carlos
Erzähler:
Auf der Fahrt durch Borro hält er nicht an: Mit mir, mit meinem Gesicht! Zu gefährlich!
Überfälle seien hier an der Tagesordnung. Dann deutet er auf ein Auto der
gehobenen Klasse. Drogenhändler! An einer Ecke werde mit Kokain gedealt, an
einer anderen mit Marihuana oder Pasta Base. Boca, übersetzt Mund oder Schlund,
werden die Verkaufsplätze der Dealer genannt. Das kann eine Straßenecke sein, ein
verlassenes verwildertes Grundstück oder eine Hütte.
O-Ton Florencia Lemos / Übersetzer:
2002 war Pasta Base, in anderen Ländern auch unter dem Namen Crack bekannt, in
unser Land gelangt. Als kein Marihuana da war, boten die Dealer diese Droge an.
Erzähler:
Pasta Base ist ein Abfallprodukt der Kokainherstellung. Manchmal wird auch Benzin,
Koffein und Phenacetin zugemischt. Paste Base ist billiger und schneller wirksam als
andere Drogen. Doch der Rausch ist kürzer, verursacht eine starke und schnelle
Abhängigkeit.
[Rafael, inzwischen clean, hat seine Erfahrungen gemacht:
O-Ton Rafael / Übersetzer:
Ich hatte eine Familie. Lebte zunächst mit meiner Familie, den Drogen und der
Arbeit. Bis ich eines Tages so süchtig war, dass ich Arbeit und Familie sausen ließ.
Mit einem Rucksack zog ich los, quer durch das Land. Ich nahm alle möglichen
Arbeiten an, um an Drogen oder Alkohol zu gelangen.“
Erzähler:
Schließlich finanzierte er seine Sucht mit Diebstählen.]
O-Ton Martin Collazo / Übersetzer:
Pasta Base ist in den Armenvierteln stärker verbreitet. Die dort lebende Bevölkerung
wird viel stärker kriminalisiert. Es ist gerade ein Gesetz verabschiedet worden, das
die Strafen für den Handel mit Pasta Base verschärft.
Erzähler:
Martin Collazo stemmt sich gegen diese Entwicklung. Auch Diego Peri, wie Collazo
Mitglied bei „Proderechos“. Die Verschärfung treffe Schwächere.
O-Ton Diego Peri / Übersetzer:
Es passiert in vielen Armenvierteln: Da lässt sich ein großer Narcodealer nieder. Er
spannt nun alleinstehende Frauen mit Kindern für den Handel mit kleinen Mengen
ein. Diese Frauen sind großen Gefahren ausgesetzt, denn sie dealen mit den Drogen
von zu Hause aus. Etwas anderes bleibt ihnen auch nicht übrig, denn eine Mutter mit
Kindern kann sich nicht jemanden leisten, der auf die Kleinen aufpasst.
Erzähler:
Im größten Frauengefängnis sind 80 Prozent der Insassinnen wegen kleiner
Drogendelikte eingesperrt. Oft alleinstehende Mütter aus ärmeren Stadtvierteln.
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O-Ton Diego Peri / Übersetzer:
Und wenn dann eine Boca für Pasta Base oder ein Verkaufsplatz auffliegt und die
Frau ins Gefängnis kommt, werden die Kinder in staatliche Einrichtungen gesteckt
oder zu den Großeltern geschickt.
O-Ton Florencia Lemos / Übersetzerin:
Viele Probleme von Drogenkonsumenten gehen über den Handel mit Stoff hinaus.
Probleme sind vielmehr der gesellschaftliche Ausschluss, der niedrige Verdienst,
unzureichende Erziehung und fehlende Unterstützung.
Erzähler:
Sozialhilfe sei keine endgültige Lösung, meint Florencia Lemos: Der Staat müsste für
sichere und ordentlich bezahlte Arbeitsplätze sorgen.
Proderechos, Stimmen
Erzähler:
Allwöchentlich trifft sich die Drogengruppe von „Proderechos“. Zuerst drehen sich alle
ihren Joint, ehe die Diskussion beginnt.
O-Ton Florencia Lemos / Übersetzerin:
Während der Kampagne und bevor das Gesetz verabschiedet war, haben wir nicht
öffentlich gesagt, dass wir alle Drogen legalisieren möchten.
[O-Ton Martin Collazo / Übersetzer:
Eigentlich müssten alle Drogenmärkte reguliert werden. Beispielsweise auch der
illegale Kokainhandel. Wenn wir diesen Markt regulieren könnten, würde sich wohl
auch der problematische Konsum von Pasta Base verringern.
Erzähler:
Denn Kokain würde auf einem regulierten Markt billiger und nicht mehr gepanscht, so
die Hoffnung von Martin Collazo.]
Regierungsvertreter weichen allerdings der Frage nach einer Legalisierung aller
Drogen aus. Sie wollen die ohnehin schwierige Umsetzung des Cannabis-Gesetzes
nicht zusätzlich belasten. Aber so viel ist Milton Romani, dem Chef der Nationalen
Drogenbehörde, zu entlocken:
O-Ton Romani / Übersetzer:
Wenn dann tatsächlich eines Tages das uruguayische Experiment erfolgreich ist,
könnte es als allgemeine Orientierung dienen und zeigen, dass es möglich ist,
schädliche Substanzen auf andere Art und Weise als bisher zu kontrollieren.
Erzähler:
Ein kleiner Durchbruch ist bereits erzielt. 2013 legte die OAS, die „Organisation
Amerikanischer Staaten“, in der alle Staaten Nord-, Zentral- und Südamerikas
organisiert sind, eine umfangreiche Bestandsaufnahme zur Drogenpolitik vor. Der
Bericht deutet eine neue Politik an. OAS-Vertreter Dominguez:
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[O-Ton Dominguez / Übersetzer:
Der Bericht stellt fest, dass nicht alle Länder des Kontinents gleich denken und
dieselbe Politik durchführen. Alle hätten jedoch ein Recht darauf, ihre Politik, aus den
verschiedensten Gründen, als legitim anzusehen.
Erzähler:
Die OAS fordert eine engere Zusammenarbeit. Nicht ohne Grund, meint der OASVertreter Dominguez. Es gehe doch nicht um Kleinkriminelle:]
O-Ton Dominguez / Übersetzer:
Der Feind ist ein multinationales Kartell, das ebenso multinational bekämpft werden
muss.
Musik: Narco Corrido, Chapo Guzman
Erzähler:
Der inzwischen erneut verhaftete mexikanische Drogenboss Chapo Guzman brüstete
sich mit einer Flotte von U-Booten, Flugzeugen, Lastwagen und Schiffen. Wahrlich
ein Großunternehmen.
Die Multis des organisierten Verbrechens mischen nicht nur im Drogengeschäft mit.
O-Ton Romani / Übersetzer:
Sie sind auch in den Waffenhandel verwickelt. Anders ausgedrückt: Kokain wandert
vom Süden in den Norden, dafür kommen Waffen aus dem Norden in den Süden …
Das organisierte Verbrechen mischt auch im Menschenhandel mit.
Erzähler:
Milton Romani hat eine Menge Heuchelei ausgemacht:
O-Ton Romani / Übersetzer:
Wir reden von verbotenen Substanzen, vom Kampf gegen das Verbrechen, vom
illegalen Markt, aber wenig über Gewinne und entsprechende internationale
Geldflüsse. Die werden doch über renommierte Banken abgewickelt.
Erzähler:
Unerwartet haben die USA eine leichte Kursänderung signalisiert. Empfänger war
das Außenministerium in Montevideo: Verträge müssten flexibel sein und den
Ländern erlauben, Gesetze „im Einklang mit ihren Bedürfnissen“ zu verabschieden.
Die leisen Signale aus Washington sind wohl nicht zufällig. In einigen Bundesstaaten
der USA werden Produktion und Verkauf von Marihuana inzwischen erlaubt. Dort
floriert das Marihuana-Geschäft. Milliarden werden bereits umgesetzt. Allerdings wird
das Geschäft nicht so reguliert wie in Uruguay.
Das kleine Land fühlt sich mit seiner Politik bestätigt.
O-Ton Romani / Übersetzer:
Es muss ein Recht auf verschiedene Standpunkte geben, gemäß den kulturellen
Eigenheiten der Länder. Es darf einfach nicht wieder so weit kommen, dass CocaKauen in Bolivien als Verbrechen eingestuft wird. Sind wir denn damals alle verrückt
gewesen?!
*****
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