Übung 1

Übung im Bürgerlichen Recht
für Fortgeschrittene
Prof. Dr. Martina Benecke
Prof. Dr. Wolfgang Wurmnest
Fall 1
Der 17 jährige M hat nach der Lektüre einer Computerfachzeitschrift spontan beschlossen, einen gebrauchten
Computer zu kaufen. Er fragt daher seinen zwei Jahre älteren Freund X, der gestern auf seiner
Geburtstagsparty war, ob er ihm seinen alten Computer für 250 € verkaufen könne. X ist damit einverstanden
und übergibt ihm den Computer. Als dieser aber am nächsten Tag nicht, wie vereinbart, den Kaufpreis bezahlt,
wird X misstrauisch. Er verlangt von M Zahlung, anderenfalls solle er ihm den Computer zurückgeben.
Die Eltern des M befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit einer Woche auf einer 14‐tägigen Schiffsreise.
Bei ihrem wöchentlichen Kontrollanruf hat M weder seine Kaufpläne noch den später neu erworbenen
Computer erwähnt.
Welche Ansprüche und Rechte hat X gegen M?
Abwandlung: Bevor M von X den Computer kauft, hat er vergeblich versucht, im Fachgeschäft des F erst ein
neueres Modell zu erwerben. F hat M darauf hingewiesen, dass er ohne das Einverständnis seiner Eltern keinen
Vertrag schließen dürfe. Auf der Geburtstagsfeier hofft M nun, dass X das Problem mit seinem Alter nicht so
eng nehmen werde. Dieser ist erwartungsgemäß mit dem Verkauf einverstanden und übergibt den Computer
sofort an M. Der Kaufpreis soll am nächsten Tag gezahlt werden. Auf dem Heimweg stürzt M so schwer, dass
der Computer völlig zerstört wird. Seine Eltern hatten ihm bereits mehrfach verboten, einen Computer zu
kaufen und teilten dies auch X mit, als sie vom Geschäft des Sohnes erfahren.
Hat X Anspruch auf Wertersatz?
Literatur zum Fall
• Kraus, JuS 2008, 697‐702
• Boemke/Schönfelder, JuS 2013, 7‐12 (Wirksamwerden von
Willenserklärungen gegenüber nicht voll Geschäftsfähigen (§ 131
BGB)
• Ludwig, Jura 2011, 9‐14 (Zur Problematik des Widerrufs eines
Vertragsangebots gegenüber einem beschränkt geschäftsfähigen
Minderjährigen)
• Giesen, Jura 1995, 281‐288 (Grundsätze der Konfliktlösung im
Besonderen Schuldrecht)
Fall 1: Fallanalyse
Analyse der Fallfrage:
Grundfall: offene Fallfrage, d.h. es ist nach allen Ansprüchen und
RECHTEN gefragt!
Abwandlung: es ist „nur“ nach Ansprüchen auf Wertersatz gefragt
Was sind Rechte?
Objektiv/subjektiv
Übersicht subjektive Rechte
Absolute Rechte
Persönlichkeitsrecht
Relative Rechte
Persönliche
Familienrechte
Herrschaftsrechte
Ansprüche
• An Sachen (§ 90
BGB)
• Immaterialgüterrechte (z. B.
Urheberrecht,
Patent)
Gegenrechte
Gestaltungsrechte
Mögliche Ansprüche:
Welche Ansprüche kann X haben?
1. Kaufpreiszahlung gem. § 433 Abs. 2 BGB
2. Herausgabe des Computers aus EBV oder Kondiktion
Welche Rechte kann X haben?
1. Aufforderungsrecht ggü. den zur Erklärung dem gesetzl. Vertreter zur
Erklärung gem. § 108 Abs. 2 BGB
2. Widerrufsrecht gem. § 109 Abs. 1 S. 1 BGB
A. Ausgangsfall
I. Anspruch des X gegen M auf Kaufpreiszahlung aus
Kaufvertrag gem. § 433 Abs. 2 BGB i.H.v. 250 €
1. Antrag des M
a) Willenserklärung
b) keine Unwirksamkeit gem. § 108 Abs. 1 BGB
aa) Erforderlichkeit der Einwilligung gem. § 107 BGB
(1) nicht lediglich rechtlich vorteilhaft (+)
(2) Nichtvorliegen der Einwilligung i.S.d. § 183 BGB
bb) Rechtsfolge: schwebende Unwirksamkeit gem. § 108 Abs. 1 BGB
Forts. I. Anspruch des X gegen M auf Kaufpreiszahlung
aus Kaufvertrag gem. § 433 Abs. 2 BGB i.H.v. 250 €
2. Annahme des X
a) Zugang ggü. den Eltern gem. § 131 Abs. 2 S. 2 Var. 2 BGB
b) Zugang ggü. M gem. § § 131 Abs. 2 S. 2 Var. 1 BGB
3. Genehmigung der Eltern gem. § 184 Abs. 1 BGB
(P): Auslegung des § 131 Abs. 2 S. 1 BGB im Zusammenspiel mit § 108 Abs. 1
BGB
Sinn und Zweck des Minderjährigenschutzes wird durch die schwebende
Unwirksamkeit erreicht
4. Ergebnis: schwebende Unwirksamkeit
5. Aufforderung zur Genehmigung, § 108 Abs. 2 BGB (‐)
Forts. Ausgangsfall
II. Widerrufsrecht gem. § 109 Abs. 1 S. 1 BGB (‐), da Abs. 2 (‐)
III. Anspruch auf Herausgabe gem. § 985 BGB
1. Eigentum des X
2. kein Eigentumsverlust gem. § 929 S. 1 BGB
a) Einigung i.S.d. § 929 S. 1 BGB
aa) WE des X (+)
bb) WE des M
keine Unwirksamkeit gem. § 108 Abs. 1 BGB(+), da Einwilligung gem. § 107
BGB nicht erforderlich (+)
b) Übergabe (+)
c) Eigentum des X (-)
Forts. Ausgangsfall
IV. Herausgabeanspruch gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB
1. etwas erlangt (+), Eigentum und Besitz
2. durch Leistung (+)
3. ohne Rechtsgrund
(P): derzeit ja, aber schwebende Unwirksamkeit
Auslegen, ob die Möglichkeit der späteren Wirksamkeit einen Rechtsgrund
darstellt. Richtig: schwebend unwirksam = Unwirksam, anderenfalls würde
die Wirkung kondiktionsrechtlich in eine bedingte Wirksamkeit
umfunktioniert
4. kein Ausschluss gem. § 814 BGB (+), da nur positive Kenntnis der
RECHTSLAGE schadet
Forts. Ausgangsfall
5. Verstoß gegen Treu und Glauben gem. § 242 BGB
a) dolo agit qui petit quod statim rediturus est?
(‐), da nicht feststeht, ob zurückgewährt werden muss
b) venire contra factum proprium?
es ist widersprüchlich, mit einem Minderjährigen einen Vertrag
abzuschließen, aber während der Schwebezeit die Sache
herauszuverlagen (soll zugleich auch Wertung des § 109 Abs. 2 BGB
sein; fraglich)
6. Ergebnis: Es besteht ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB,
der aber z.Z. gem. § 242 BGB nicht durchsetzbar ist.
B. Abwandlung
I. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB (‐), da keine Rechtsgutsverletzung
II. Anspruch gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1, 818 Abs. 2 BGB
1. etwas, ohne Rechtsgrund, durch Leistung (s.o.)
2. Bereicherungsumfang gem. § 818 Abs. 1 BGB
Herausgabe und Eigentumsverschaffung (P): Schrott
3. Wertersatz gem. § 818 Abs. 2 BGB (+), da § 275 Abs. 1 BGB
Forts. Abwandlung
4. kein Ausschluss gem. § 818 Abs. 3 BGB
a) Entreicherung (+)
b) keine verschärfte Haftung gem. § 818 Abs. 4, 819 Abs. 1 BGB
aa) Kenntnis des M (+)
bb) Kenntnis des gesetzlichen Vertreters (‐)
cc) Streitentscheid: h.M. bei Leistungskondiktion analog § 166 Abs. 1
BGB gesetzlicher Vertreter, keine Nichtleistungskondiktion
Minderjähriger (dann aber analog § 828 Abs. 3 BGB)
5. Ergebnis: kein Anspruch auf Wertersatz
Fall 2
K sieht sich beim Gebrauchtwagenhändler V nach einem Pkw um. Auf der Ausstellungsfläche des V
begegnet er N. K verwechselt N mit einem Angestellten. Tatsächlich ist er Vs 17 ‐ jähriger Neffe, der
zufällig seinen Onkel besucht. N zeigt K einen Gebrauchtwagen. Durch sein Verhandlungsgeschick
kann M einen Kaufpreis von 10.000 € erzielen. K kauft das Auto und erklärt, er werde am nächsten
Tag kommen, um es abzuholen und zu bezahlen.
Als N seinem Onkel V von dem erfolgreichen Geschäftsabschluss berichtet, zeigt sich V zunächst
über Ns eigenmächtiges Vorgehen erbost. Als er aber von der Höhe des Kaufpreises erfährt,
gratuliert er N zu seinem Erfolg.
Später kommt K die Begegnung mit N seltsam vor, da N einen sehr jugendlichen Eindruck hinterließ
und er ihn noch nie in Vs Laden gesehen hatte. K ruft bei V an. Er erreicht aber nur Vs Assistentin A.
V hatte sie während seiner Abwesenheit mit der Entgegennahme von Kundenanrufen beauftragt. K
erkundigt sich bei A, ob N bei V angestellt sei und ob er auch Verträge abschließen dürfe. A, die erst
seit kurzem bei V arbeitet und N nicht kennt, verspricht die Frage an V weiterzuleiten. Dies vergisst
A aber zu erledigen. Da K keine Antwort von V erhält, sucht er am nächsten Tag V persönlich auf. Er
verdeutlicht ihm, dass er von dem Kauf nichts mehr wissen wolle, nachdem er einen Tag auf Vs
Rückruf gewartet habe und ihm die ganze Sache mit N komisch vorkommt. V entgegnet ihm, Vertrag
sei Vertrag. Er wolle nun sein Geld, der Wagen stehe zur Abholung bereit.
Wie ist die Rechtslage?
Literatur
• Forster, Jura 2011, 778‐781 (gekürzt)
• Kneisel, JA 2010, 337‐342 (Rechtsscheinhaftung im BGB und HGB ‐
mehr Schein als Sein)
• Petersen, Jura 2010, 904‐907 (Vertretung ohne Vertretungsmacht)
• Über den Fall hinaus Preiß, JA 2010, 6‐14 (Die Berechtigung zur
Anfechtung einer Willenserklärung in Mehrpersonenverhältnissen)
Fallanalyse:
• Es besteht eine absolut offene Fallfrage.
• Was sind auffällige Informationen? Welche Bedeutung haben Sie?
• Verwechselung mit Angestelltem: Rechtsschein?
• Neffe hatte keine Vollmacht: Vertreter ohne Vertretungsmacht?
• Neffe ist 17: Minderjähriger Vertreter?
• Nachträgliche Zustimmung zum Geschäft: Genehmigung oder
Bestätigung?
• A gibt die Frage nicht weiter: Aufforderung zur Genehmigung?
I. Anspruch des V gegen K auf Kaufpreiszahlung aus
Kaufvertrag gem. § 433 Abs. 2 BGB i.H.v. 10.000 €
1. Willenserklärung des K (+)
2. Willenserklärung des V (‐)
3. § 164 Abs. 1 BGB zugunsten des V
a) eigene Willenserklärung des N (+)
b) im fremden Namen (+), aus den Umständen
c) mit Vertretungsmacht
aa) Vollmacht (‐)
Fall 2 Forts. Vertretungsmacht
bb) Ermächtigungsfiktion des § 56 HGB
(1) Laden eines Kaufmanns (+), § 1 Abs. 1, 2 HGB
(2) Angestellter (‐)
cc) Rechtsscheinsvollmacht (‐), da kein zurechenbarer Rechtsschein
gesetzt
d) ZWE: schwebende Unwirksamkeit, § 177 Abs. 1 BGB
e) Wirksamkeit aufgrund Genehmigung gem. § 177 Abs. 1, 182 Abs. 1,
184 Abs. 1 BGB (+)
Fall 2 Forts.
f) Rückführung in die schwebende Unwirksamkeit gem. § 177 Abs. 2 S. 1 BGB?
aa) Aufforderung (+), auslegen
bb) Zugang analog § 130 Abs. 1 S. 1 BGB
(1) bei V selbst (‐)
(2) mit Wirkung ggü. V gem. §§ 164 Abs. 3, 1 BGB
• Ermächtigung zur Entgegennahme (+)
(3) ZWE: Zugang (+)
cc) ZWE: Aufforderungswirkung schwebend unwirksam (+)
g) Widerruf der Willenserklärung gem. § 178 S. 1 BGB
• auslegen (konkludent)
4. ZWE: kein wirksamer Vertrag
II. Ergebnis: kein Anspruch des V