9. "Ich sehe uns eigentlich als Gruppe, als Kreis, alle sind gleich

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9. "Ich sehe uns eigentlich als Gruppe, als Kreis, alle sind gleichrangig." Die Kategorie "Gruppenstruktur"
9.1
Phänomen: Was versteht man unter Gruppenstruktur?
Zur Gruppenstruktur gehören zwei Aspekte. Der erste ist die Homogenität oder Heterogenität der Gruppe in Bezug auf bestimmte, von den Jugendlichen als relevant erachtete Merkmale. Dazu gehören die biographische Situation, gelegentlich das Geschlecht, Interessen,
Erfahrungen, Kompetenzen und Bedürfnisse. Zum anderen, und darum soll es in diesem
Kapitel in erster Linie gehen, beinhaltet Gruppenstruktur die Verteilung von "Positionen" in
der Gruppe. Eine Position soll definiert sein durch eine über längere Zeit stabile Übernahme
bestimmter Funktionen und Aufgaben in der Gruppe, kombiniert mit einem für diese
Funktionen typischen Grad an sozialem Status und an Macht. Status ist definiert als das
Ansehen
einer
Person
in
der
Gruppe,
Macht
als
Möglichkeit,
Einfluss
auf
Gruppenentscheidungen und Aktivitäten zu nehmen. Alle drei Komponenten einer
Gruppenposition hängen eng zusammen. Die übernommenen Funktionen und Aufgaben,
seien sie gruppendynamischer oder projektbezogener Art, begründen im wesentlichen den
Status. Gleichzeitig werden Funktionen und Aufgaben auch nach Status verteilt. Ein höherer
Status verhilft zu mehr Macht. Status und Macht gemeinsam machen die Position in der
Gruppenhierarchie aus.
Die "Verteilung von Positionen" umfasst die Fragen, welche Positionen in einer Gruppe überhaupt vorhanden sind, ob sich die Positionen der einzelnen Gruppenmitglieder eher ähneln
oder stark unterscheiden, und ob sich Funktionen und Aufgaben bei einzelnen Personen häufen oder es ein starkes Status- oder Machtgefälle gibt. Der Begriff der Gruppenstruktur ist eng
verknüpft mit dem in Kap.5 diskutierten Begriff der Aufgabenverteilung. Er geht aber darüber
hinaus, indem er statt der Aufgabenverteilung bei einer einzelnen Aktivität ein zeitlich stabiles
Muster von Aufgaben und Funktionen betrachtet und indem er Status- und Machtaspekte einbezieht.
Codiert wurden in einer ersten Runde Textstellen, in denen formale Merkmale der Gruppe erwähnt werden (wie die Verteilung von Geschlecht und Alter), in denen Positionen bezeichnet
werden (wie "Leiter", "harter Kern" etc.), in denen Gruppenmitglieder die Struktur ihrer Gruppe beschreiben (etwa mit Begriffen und Aussagen wie "selbst organisiert", "gleichberechtigt",
"wir haben einen harten Kern und einige drum herum", "wir haben einen Leiter", "wir sind uns
ähnlich / verschieden") oder in denen Gruppenmitglieder sich selbst oder andere Gruppenmitglieder in Bezug auf typische Aufgaben und Funktionen, Status oder Macht einschätzen. Ankerformulierungen für Aufgaben und Funktionen sind etwa: "Die schreiben dann immer die
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Artikel für die Zeitung", "die Leute, die sowieso immer was machen". Ankerformulierungen
für Status sind beispielsweise: "Der war für mich eine Persönlichkeit", "die haben uns was
voraus". Ankerformulierungen für Macht sind etwa: "Autorität", "Leiter sein", "Wir haben uns
immer darauf verlassen, dass sie […] uns eben sagt, was wir machen." In einer zweiten Runde
wurde festgestellt, was für die Jugendlichen Status oder Macht begründet, welche typischen
Aktionen zu bestimmten Positionen gehören und welche Handlungen die Befragten ausführen, um eigene oder fremde Positionen zu befestigen oder zu verändern. Eine ausführliche
Darstellung dieser Gründe, typischen Handlungen und Strategien erfolgt weiter unten (vgl.
Kapitel 9.3 und 9.5). Die Textstellen, in denen sie thematisiert werden, wurden ebenfalls codiert. Daraus ergaben sich insgesamt 612 auswertbare Zitate.
9.2
Eigenschaften
und
Ausprägungen:
Welche
Arten
von
Gruppenstrukturen tauchen auf?
9.2.1
Eigenschaften
Bei der Untersuchung der Gruppenstruktur wollen wir uns auf drei Eigenschaften konzentrieren, die mit vielen anderen Kategorien verknüpft und für die Befragten besonders brisant sind.
Es handelt sich um die Größe von Statusunterschieden, das Vorhandensein von Leitungsrollen und die Flexibilität der einmal erfolgten Positionszuschreibungen. Statusunterschiede bedeuten zeitlich relativ stabile Unterschiede des Ansehens, das eine Person in der Gruppe genießt. Flexibilität der Positionszuschreibungen bedeutet, wie leicht und schnell es möglich ist,
Positionen in der Gruppe zu wechseln, beispielsweise in einflussreichere Positionen "aufzusteigen", sich aus zentralen Positionen zurückzuziehen oder als Neuer in die Tätigkeiten der
Gruppe integriert zu werden.82 Eine Leitungsrolle entsteht durch die Konzentration bestimmter koordinierender Funktionen, der Leitungsfunktionen, auf ein oder wenige Gruppenmitglieder oder auf eine von außen an die Gruppe herangetretene Person. Den Begriff der Leitungsfunktionen wollen wir empirisch bestimmen: Als Leitungsfunktionen sollen solche Funktionen bezeichnet werden, für die nach Ansicht der Befragten ein Leiter benötigt wird oder die
von Personen, die als Leiter angesehen werden, in besonderem Maß erfüllt werden. Darunter
fallen folgende Funktionen: Der Leiter oder die Leiterin ist Ansprechpartner nach außen und
nach innen. Er oder sie hält den Kontakt zu anderen Organisationen und anderen Ebenen des
Verbands, nimmt beispielsweise Verbandspost entgegen oder führt andere Gruppenmitglieder
an den Verband heran, zum Beispiel durch Werbung für Veranstaltungen. Für viele Anliegen
82
Eine Integration in die Tätigkeiten der Gruppe unterscheidet sich noch von der sozialen Integration in die Gemeinschaft. Siehe zur Integration in die Gemeinschaft das Kapitel 5, speziell 5.5.1).
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anderer Gruppenmitglieder ist er oder sie der wichtigste Adressat. Da man ihm die meiste
Kompetenz und das größte Durchsetzungsvermögen zutraut, erwartet man von ihm am ehesten die Lösung von Problemen oder die Umsetzung von Ideen. Der Leiter oder die Leiterin ist
auch Vermittlungsstelle für alle wichtigen Informationen. Sie treffen bei ihm oder ihr ein und
werden nach Bedarf weitergegeben. Weiter übernimmt der Leiter oder die Leiterin lehrende
Funktionen. Er oder sie leitet andere Gruppenmitglieder an, gibt Feedback und nützliche Informationen und bringt ihnen notwendige Fertigkeiten bei. Er motiviert andere, ist die "treibende Kraft", die die Gruppe bei Aktivitäten mitzieht. Er ordnet und organisiert: Er setzt
Termine an, gibt sie bekannt, lädt ein und versucht, die anderen Gruppenmitglieder zur Teilnahme zu motivieren. Bei Treffen übernimmt er Sitzungsleitung und Moderation, sorgt für einen geordneten Ablauf und diszipliniert gegebenenfalls auch andere Gruppenmitglieder. Er
oder sie regelt Konflikte, indem er versucht, auf andere Gruppenmitglieder Einfluss zu nehmen oder in einem strittigen Fall selbst entscheidet. Dem Leiter oder der Leiterin obliegt oft
auch die Gesamtkoordination von Aktivitäten. Er oder sie fühlt sich für die Durchführung einer Aktion verantwortlich, behält den Überblick über die notwendigen Schritte und sorgt für
ihre Durchführung. Einige Befragte erwarten auch, dass der Leiter "den Anfang macht" und
beispielhaft Aufgaben übernimmt, oder dass er alles erledigt, was sonst von niemandem übernommen wird. Erwartet wird vom Leiter weiterhin, für verbindliche Ziele und Aktivitäten zu
sorgen. Damit sollen zeitraubende und potenziell konfliktbehaftete Diskussionen vermieden
werden. Bei der Koordination der Aktivitäten und der Festlegung verbindlicher Ziele hat der
Leiter verschiedene Möglichkeiten. Sie reichen von der unbeteiligten Moderation eines Entscheidungsfindungsprozesses bis zum selbstständigen Festlegen und Anordnen der Ziele und
Vorgehensweisen. Welche Möglichkeit der Leiter wählen soll, ist in den Gruppen heftig umstritten. Während einige Gruppenmitglieder sich klare Anordnungen wünschen, empfinden
andere das als hierarchische Struktur, die sie ablehnen. In der Praxis findet eine Zwischenform
statt: Der Leiter lenkt die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit in stärkerem oder schwächerem
Maß, indem er Projekte vorschlägt, indem er Alternativen definiert, die zur Wahl stehen, oder
indem er sich für ein bestimmtes Projekt verstärkt einsetzt und dessen Koordinierung übernimmt. Typisch für eine etablierte Leiterrolle ist es, dass die Gruppe die vom Leiter eingebrachten Inhalte und Prioritätensetzungen besonders leicht akzeptiert und übernimmt.
Außer diesen "gewollten" Leitungsfunktionen gibt es noch Verhaltensweisen und Funktionen
von Leitern, die als Nebeneffekte bezeichnet werden könnten. Sie werden so nicht von den
anderen Gruppenmitgliedern erwartet und bezweckt, ergeben sich vielleicht sogar unbemerkt.
Es sind das der Anspruch auf das Interpretationsmonopol und das Wertsetzungsmonopol.
Der Leiter übernimmt die Interpretationsmacht über Gruppenprozesse, Stärken und Schwächen, Anliegen und Bedürfnisse der Gruppe. Sichtbar wird das, wenn er im Interview wieder-
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345
holt über alle oder für alle Gruppenmitglieder spricht. Auch betrachtet er sich als berechtigt,
auf das Verhalten und die Einstellungen anderer Gruppenmitglieder erzieherisch einzuwirken
und seine eigenen Werte in der Gruppe durchzusetzen. Dieser Anspruch wird in Grenzen auch
respektiert. Die Erfüllung der Leitungsfunktionen verleiht Status und Macht und ist andererseits nur mittels einer gewissen Status- und Machtposition möglich.
9.2.2
Ausprägungen
Vereinfachend kann man für jede Eigenschaft zwei Ausprägungen annehmen: für die Leitungsrollen "Vorhandensein oder Nichtvorhandensein", für die Statusunterschiede "hoch oder
niedrig". Von "nicht vorhandenen" Leitungsrollen wollen wir auch dann sprechen, wenn die
Leitungsrolle aus rein formalen Gründen übernommen wird oder so flexibel ist, dass sie zwischen verschiedenen Personen wechselt. Kombiniert man diese Ausprägungen in jeder möglichen Weise, so erhält man vier theoretisch mögliche Typen von Gruppen.
1.
Gruppen ohne Leiter, aber mit hohen Statusunterschieden. In solchen Gruppen sind
die Leitungsfunktionen nicht auf eine Person konzentriert, sondern auf mehrere verteilt. Es ist
auch möglich, dass keine oder nur wenige Leitungsfunktionen wahrgenommen werden. Die
dennoch vorhandenen Statusunterschiede sind auf andere Weise begründet als durch die Übernahme von Leitungsfunktionen.
2.
Gruppen ohne Leiter mit niedrigen Statusunterschieden. In solchen Gruppen werden
Leitungsfunktionen gleichmäßig verteilt oder auch gar nicht wahrgenommen. Es gibt kaum
Statusunterschiede. Aus beidem folgt, dass die Gruppenmitglieder relativ gleichberechtigt
sind.
3.
Gruppen mit Leiter sowie hohen Statusunterschieden zwischen den übrigen Grup-
penmitgliedern. In diesen Gruppen herrscht auch zwischen den Gruppenmitgliedern, die nicht
Leiter sind, ein hohes Statusgefälle. Es gibt sozusagen eine "Kerngruppe" und eine "Randgruppe".
4.
Gruppen mit Leiter, aber niedrigen Statusunterschieden zwischen den übrigen
Gruppenmitgliedern. Diese Gruppe wird zwar von einer Person geleitet, die übrigen Gruppenmitglieder sind jedoch statusgleich.
Der erste Gruppentypus kommt in der Untersuchung nicht vor. Die anderen drei Typen finden
sich annähernd in dieser Form. Typus 2 wollen wir als "selbst organisierte Gruppe" bezeichnen, Typus 3 als "geleitete Gruppe" mit "Kern-Schale-Struktur" (je nachdem, ob mehr auf das
Leiter-Gruppe-Verhältnis oder auf das Verhältnis zwischen Kern- und Randgruppe abgezielt
wird), Typus 4 als "geleitete Gruppe". Bis auf die Steinkruger Gruppe, die noch sehr jung ist
und nur einmal kurz nach ihrer Entstehung interviewt wurde, machten alle befragten Gruppen
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Entwicklungen durch, in deren Verlauf sich die Rollenverteilung änderte. Dabei erwiesen sie
sich allerdings als unterschiedlich flexibel.
Waldenberg. Die Waldenberger Gruppe war zur Zeit ihrer Gründung eine von einem externen
Leiter (Lehrer) geleitete Gruppe. Sie hatte sich aber schon eine Weile vor Beginn der Befragung von diesem emanzipiert. Ein Gruppenmitglied, Thomas, hatte Leitungsfunktionen übernommen. Zudem gab es eine ausgeprägte Kern-Schale-Struktur. Zwei länger aktive, mit Thomas gut befreundete Mitglieder, Annika und Martin, bildeten gemeinsam mit ihm den "harten
Kern". Die anderen, noch nicht so lange aktiven Mitglieder bildeten die "Randgruppe". Eine
Zwischenstellung nahm Heike ein, die zwar noch nicht lange aktiv war und sich selbst nicht
zur Kerngruppe zählen wollte. Doch wegen ihres starken Engagements und ihrer Beziehung
zu Thomas rechneten andere Mitglieder sowohl der Kern- als auch der Randgruppe sie zum
"Kern." Nach einiger Zeit entschieden sich alle drei Mitglieder der Kerngruppe für einen Umzug in andere Städte, in Verbindung mit ihren Studienplänen. Um diese Zeit und auch schon
vorher waren einige eher passive Mitglieder ausgeschieden. Unter den verbliebenen Mitgliedern bildete sich eine relativ selbst organisierte Struktur heraus. Solange die älteren Mitglieder
in der Gruppe mitwirkten, war die Flexibilität der Struktur gering. Erst ihr Weggang ermöglichte einen Übergang zu einer anderen Form. Die Kern-Schale-Struktur, die lange Zeit prägend
für die Entwicklung dieser Gruppe war, wird beschrieben von Nicole, einem Mitglied der
Randgruppe, und von Thomas, dem Leiter. Die beiden erläutern "ihr Bild von der Gruppe",
das sie auf ein Plakat gemalt haben:
Nicole: Zum Bild. (..) Die (,) Ausrufezeichen (.) sind (,) mehr oder weniger also Thomas und Martin und (..)
Annika und Heike. Jedenfalls (.) die, sagen wir mal, führenden Köpfe.
(Lachen)
Nicole: Und die Fragezeichen (.) ist halt (,) der Rest. (.) Und (,) Fragezeichen deshalb, weil, […] wenn jetzt die
(.) Ausrufezeichen weg sind, ob's dann (,) fällt oder (.) bestehen bleibt, oder wie sich das Ganze halt entwickelt.
Thomas: Es gibt so (.) einige Leute, mm (,) die so in dem Dreieck außen sind (,) die so (,) probieren (,) den andern zu zeigen, wo's langgeht (,) aber eigentlich das auch nicht wollen. Aber (.) die anderen (.) lassen sich dann
halt immer noch mitreißen, das sind dann (,) diese vielen kleinen Pünktchen. Einige von denen (.) sind noch aktiver als die anderen und (,) stehen noch ein bisschen mehr auf eigenen Füßen und probieren, sich so m (,) mehr
und mehr in die Gruppe (,) oder in die Organisation und das (,) Aktivwerden einzubringen. Aber im Großen und
Ganzen (,) sind's doch immer noch wenige, die […] sagen, wie's (,) gemacht wird (,) oder (,) wie's gemacht
werden KÖNNte, oder (.) die eigentlich so die, äh (.) Motivation (,) zur Aktion geben.
Sonnenau. In Sonnenau wurde die Gruppe unter der Leitung von Ronja gegründet. Ronja trug
die Verantwortung für die Organisation der Treffen und schlug Aktivitäten vor. Sie und andere
Gruppenmitglieder wurden jedoch mit dieser Situation zunehmend unzufriedener. Eine Aussprache führte dazu, dass die Gruppe sich anders organisierte. Sie arbeitete in der Folge weitgehend selbstorganisiert und gleichberechtigt. Die Gruppe bewies ausreichend Flexibilität, um
einen Strukturwandel zu vollziehen, ohne dass äußere Bedingungen oder dramatische Veränderungen der Mitgliedschaft es erzwungen hätten. Sonja beschreibt die Gruppe:
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
347
Sonja: Ich denke von vornherein, dass wir alle gleichberechtigt sind. Dass da keiner irgendwie eine übergeordnete Funktion hat. (,) Also, dass jeder gleich behandelt wird, und wenn jetzt einer sagt: (.) "Hier, ich hab' eine
Idee", (,) dass die diskutiert wird, und […] egal von wem sie kommt, die Idee immer gleich behandelt wird. […]
Und so ein bisschen als (.) als (.) unseren (.) Leiter oder Vorsitzenden haben wir Ronja erklärt. Aber (.) ich denke, dass es eigentlich auch nur formal ist.
Zschernitz. Auch die Gruppe in Zschernitz startete auf Initiative eines Externen, einer ABMKraft des BUND. Nach einer Weile, als die Stelle auslief und einige Gruppenmitglieder sich
auch wünschten, selbstständiger zu werden, organisierte der Gruppenleiter mit den Befragten
einen Ablösungsprozess. Der Übergang wurde möglich, weil der Leiter Flexibilität einerseits
verlangte, andererseits praktisch unterstützte. Unter den sehr wenigen Mitgliedern (drei bis vier
ständig Mitarbeitende) bildete sich danach sich eine weitgehend selbst organisierte Struktur
heraus. Allerdings übernahm Anna einige Leitungsfunktionen. Anna und Nadja berichten:
I: Und (,) jetzt würdest du sagen, dass ihr schon alle (.) drei (.) gleichermaßen verantwortlich seid, oder gibt's
jemand, der mehr (.) so das (.) mehr in die Hand nimmt, und
Anna (lacht): Also, ich würde schon SAgen, dass' da mm, noch (,) Unterschiede gibt! Also, ICH (,) bin halt derjenige, der so (.) der so (.) richtig (..) (lacht) Verantwortung halt (,) für alles Mögliche so übernimmt.
I: Und heißt das auch, dass ihr ziemlich gleichberechtigt seid? (..) Oder gab's dann doch so (.) (Wort unverständlich) Zugpferde, oder (..)
Nadja: Ja, rein theoretisch sind wir schon alle gleich(.)berechtigt, aber halt (.) die einen nehm (,) nehmen das
mehr wahr. […] Zum Beispiel (.) die Sarah, die (letztens) mit dabei war (.) Die hat halt immer (.) sich sehr hinten rangestellt. […] Bei der Anna zum Beispiel, die ist die, die immer auch schon bisschen zieht und: "Wir
müssen mal was machen!" und viel (.) Verantwortung übernimmt. Aber (,) im Grunde genommen wären wir
schon alle gleich. Aber wahrscheinlich braucht man in der Gruppe immer jemand (,) der so bisschen (.) zieht,
und so bisschen (.) die Leitung übernimmt.
Steinkrug. In Steinkrug gründete Anja die Gruppe. Als Sechzehnjährige stand sie einer Gruppe von überwiegend Zwölfjährigen gegenüber. Sie übernahm ausgeprägte Leiterfunktionen,
strukturierte die Treffen, setzte Vorgaben und definierte Freiräume, innerhalb derer die Gruppe
entscheiden konnte. Sie regte zur Meinungsbildung an und organisierte Abstimmungen. Sie
disziplinierte, forderte zum Reden auf, tadelte bei undiszipliniertem Gesprächsverhalten und
schlichtete Konflikte. Sie ermutigte die Gruppenmitglieder, Aufgaben zu übernehmen, beriet
und half dabei, vermittelte ansatzweise Arbeitstechniken und kontrollierte, ob die Aufgaben
erfüllt wurden. Durch Fragen und Erklärungen bildete sie ihre Gruppe weiter. Schließlich
nahm sie allgemeine "erzieherische" Funktionen wahr: Sie ermutigte zum Engagement auch
außerhalb der Gruppe und setzte Normen, z.B. bezüglich Verhaltensweisen wie "Bier trinken"
und "mit Tamagotchis spielen". Über Veränderungen dieser Gruppe sind keine Aussagen
möglich, da eine Langzeitbeobachtung fehlt.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
9.3
348
Ursachen: Wie kommt die Gruppenstruktur zustande?
Die Homogenität oder Heterogenität einer Gruppe ergibt sich aus ihrem Entstehungsprozess.
War es eine bestehende Clique, die die Gruppe gründete? Oder kam die Zusammensetzung
zufällig zustande? Welche Bedingungen, zum Beispiel in Bezug auf Alter, setzte der Gründer
für eine Mitgliedschaft? Die Verteilung von Positionen entwickelt sich in der Regel erst nach
der Gründung der Gruppe.83 Nach ihren Ursachen zu fragen, bedeutet, zu betrachten, wie diese Verteilung konstruiert wird. Die Aktiven erschaffen sie durch ihre Kognitionen und sozialen Handlungen. Sie beurteilen sich und andere Gruppenmitglieder und weisen ihnen einen
bestimmten Status zu. Sie respektieren oder belächeln andere Personen, beachten oder ignoriert sie. Sie beschreiben die eigene und fremde Position mit Worten, übernehmen bestimmte
Aufgaben oder lehnen sie ab, versuchen sich durchzusetzen oder ziehen sich zurück, akzeptieren die Selbstdefinition, Rückzüge und Machtansprüche anderer oder protestieren dagegen,
sind mit einer gegebenen Aufgabenverteilung zufrieden oder versuchen, sie zu ändern. Dieser
Prozess lässt sich als ein zweckorientiertes Geschehen betrachten. Die Jugendlichen erreichen
damit, dass bestimmte persönliche Bedürfnisse erfüllt und Gruppenfunktionen sichergestellt
werden. Daher lassen sich, strenggenommen, Strategien und Ursachen in diesem Fall nicht
trennen. Zusätzliche Komplikationen entstehen dadurch, dass es die erwarteten Folgen bestimmter Gruppenstrukturen sind, die oft zu Triebkräften werden, die jeweilige Struktur herstellen
oder verhindern zu wollen. Andere Folgen bestimmter Konstellationen mögen sich dagegen
zunächst ungewollt, vielleicht sogar unbemerkt einstellen. Doch legen sie wiederum die Anwendung bestimmter Strategien nahe, die dann wiederum zu Ursachen für eine Umverteilung
der bisherigen Rollen werden. Ursachen, Folgen und Strategien sind also auf das engste verkettet. Für eine analytische Trennung wollen wir davon ausgehen, dass die Verteilung von Positionen aus bestimmten Gründen, anhand bestimmter Kriterien und mit Hilfe verschiedener
Praktiken erfolgt. Gründe und Kriterien für die Verteilung von Positionen werden weniger absichtsvoll gewählt und weniger strategisch eingesetzt als Praktiken. Zudem verweisen sie stärker auf Zusammenhänge mit anderen Kategorien. Daher werden im folgenden Abschnitt die
Gründe und Kriterien der Verteilung von Positionen betrachten. Im Abschnitt "Strategien"
(Abschnitt 9.5) wird auf die Praktiken eingegangen.
83
Eine Ausnahme stellt der Fall dar, in dem eine bestehende Gruppe sich als Umweltgruppe organisiert, wie in
Sonnenau geschehen.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
9.3.1
349
Gründe für die Wahl einer bestimmten Gruppenstruktur
Betrachten wir zunächst den Aspekt des Statusgefälles. Für oder gegen ein hohes Statusgefälle werden nur wenige Gründe angeführt. Das liegt einerseits daran, dass die Verteilung von
Status in der Gruppe sich quasi "automatisch" herstellt, sobald bestimmte Statuskriterien vorliegen. Vor allem aber sind die Befragten sich relativ einig darüber, dass sie ein Statusgefälle
nicht wünschen – mit der wichtigen Ausnahme eines eventuelles Leiters. Als Gründe für eine
gleichberechtigte Struktur werden zum einen prinzipielle, moralische Argumente angeführt,
zum anderen die hohe Zufriedenheit aller mit der eigenen Position, da sich keiner benachteiligt
fühlen muss. Viel kontroverser wird diskutiert, ob in der Gruppe Leitungsrollen eingerichtet
und von bestimmten Personen ausgefüllt werden sollen oder nicht. Verschiedene Gründe dafür und dagegen werden genannt. Eine kurze Analyse der Argumente für und gegen geleitete
Gruppen, und der Situationen, in denen Leitung gewünscht oder abgelehnt wird, soll die jeweiligen Gründe sichtbar machen. Die Analyse beginnt mit einer ausführlicheren Betrachtung
einer Auseinandersetzung in der Waldenberger Gruppe. Dabei wird herausgearbeitet, dass es
eine spezifische Positionsverteilung ist, die das Bedürfnis nach Leitung weckt. Anschließend
werden weitere Argumente von Befragten für und gegen geleitete Gruppen übersichtsartig
dargestellt. Dabei werden die bestimmenden Kategorien herausgearbeitet.
In der Waldenberger Gruppe übernahm Thomas bereits einige Leitungsfunktionen. Dies reichte manchen Gruppenmitgliedern jedoch nicht aus. Sie wünschten sich stärkere, verbindlichere
Festlegungen. Im folgenden Auszug aus einer Gruppendiskussion werden einige wichtige Argumente angerissen:
Heike: Ansonsten ist mein Bild von der BUNDjugend, […] dass eben […] paar Leute (.) aktiv sind und die andern nicht so. […] Das […] spüre ich manchmal auch selbst (,) dass da eben ist: "Na ja, bist noch nicht so lange
bei…" […] Oder manchmal ist man auch gar nicht informiert über irgendwelche Dinge, dann haben das die (.)
Aktiven dann schon gemacht und man wird dann erst informiert, wenn's fertig ist. (..) Vielleicht (.) muss dann
einfach auch mal gesagt werden, (.) äh: "DU machst jetzt das, und DU machst DAS!" (.) So (.) dass es Kon- ...
Annika: Das Problem ist doch, wer wem das sagt!
Heike: Hä?
Annika: Soll das Thomas sagen? Das ist auch doof, Thomas kann ja auch nicht allen (.) (sagen): "Mach das und
mach das!"
Heike: Ja, aber SO werden wir uns auch nicht einig. (.) Ich weiß nicht, in, in jeder Gruppe gibt's irgendeiner, der
(,) was weiß ich, das Ganze leitet und so (..)
Thomas: Bei der BUNDjugend soll's das aber nicht geben!
Heike: Ja, aber (.) siehst doch, dass wir so auch nicht vorwärts kommen!
Thomas: Mhm. (.) WENN ich aber mal probiere, zu sagen: "Du machst das jetzt und du bist jetzt ruhig", dann
heißt es: "Ja, du bist schon wieder so autoritär!" (.) Und Heike: Ja, du musst's ja nicht in dem TON sagen!
Thomas: Jo, wenn beim ersten Mal, wenn ich das leise sage, keiner hört, dann (..) deprimiert das, oder ich werde
lauter.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
350
(Kichern)
Annika: Bloß, wenn's so ist, dass einer immer sagt: "Ja, du machst das und du machst das", dann (,) regt das
auch nicht unbedingt (,) das Diskussionsthema an und dann trauen sich nämlich die andern noch viel weniger zu
sagen. […]
Heike: Aber irgendwo muss doch eine gewisse LEITUNG sein! […] Gerade jetzt die NEUEN, ich meine (..)
ich (.) ich bin da (.) schließe mich da nicht aus, ich bin auch erst seit einem halben Jahr da, ich habe im Prinzip
noch keinen Blassen davon. (.) Vielleicht (,) wären (,) dafür wirklich auch mal so (,) Videoabende oder so (,)
äh, ganz gut, dass man (.) auch wirklich weiß, was man… (.) Denn (.) manchmal scheitert's auch am Wissen, so.
Eine (stärkere) Leitung wurde in Waldenberg vor allem von den Mitgliedern der Randgruppe
gewünscht: Vera, Feli, Diana und Kerstin. Dazu kamen Heike, die sich selbst zu den "Neuen"
zählte, und Anton, der schnell viele verantwortliche Entscheidungen getroffen hatte, aber nicht
die gleiche Erfahrung und Routine aufwies wie die Kerngruppenmitglieder. Dagegen wurde
von den Kerngruppenmitgliedern Annika und Martin und auch von Thomas, der faktisch Leitungsfunktionen übernahm, eine aktivere Leitung abgelehnt. Vera, Feli und Heike blieben
auch nach dem Weggang der Kerngruppe und dem Übergang in eine selbst organisierte Gruppenform aktiv. Als sie zu diesem Zeitpunkt befragt wurden, forderte keiner mehr eine Leitung.
Sie waren mit der augenblicklichen Rollenverteilung sehr zufrieden. Diese erstaunliche Konstellation wird verständlicher, wenn wir uns die Argumente der Beteiligten ansehen. Vera, Feli
und Heike provozierten die Diskussion, indem sie eine stärkere Leitung forderten. Sie argumentierten auf zwei Ebenen: einer ideologischen und einer an ihren Bedürfnissen orientierten.
Die ideologische bezog sich auf die "Natur". "In jeder Gruppe", auch im "Tierreich" gebe es
einen "Leithammel", der Mensch sei nun einmal ein "Rudeltier", eine Leitung bilde sich "automatisch heraus". Die Mitglieder der "Kerngruppe" stellten normativ dagegen: "In der BUNDjugend soll's das aber nicht geben". Ihre weiter fortgeschrittene Politisierung führte dazu, dass
sie hierarchische Strukturen ablehnten.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die ideologische Begründung die eigentliche Triebkraft
der Mitglieder der "Randgruppe" war. Die bloße Überzeugung, es sei "natürlich", einen Leiter
zu haben, hätte sie nicht motiviert, eine derartig heftige Auseinandersetzung zu initiieren,
wenn sie nicht mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden gewesen wären. Und unzufrieden
waren sie. Sie fühlten sich inkompetent, trauten sich nicht zu, sich in Aktivitäten einzubringen
und hatten den Eindruck, von den kompetenteren "Alten" übergangen zu werden. Außerdem
empfanden sie die Gruppe als zu wenig aktiv, weil es schwer fiel, sich auf Projekte zu einigen,
und weil niemand von sich aus Aufgaben übernahm. Von einem Leiter erhofften sie sich, dass
er durch eine straffere Organisation und verbindliche Aufgabenteilung für funktionierende Arbeit sorgen würde, dass er durch gutes Beispiel mit Aktivitäten voranginge und dadurch auch
andere motivieren könne und dass er sie in die Arbeit integrieren und ihnen notwendige Kompetenzen beibringen würde. Die Kerngruppenmitglieder hatten diese Probleme nicht. Sie waren selbstbewusst und erfahren genug, um selbstständig aktiv zu werden – und tatsächlich rea-
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
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lisierten sie auch Projekte ohne den Rest der Gruppe. Sie hatten kein Bedürfnis nach einem
Leiter, und so fiel es ihnen leicht, eine Leitung aus politisch-normativen Gründen abzulehnen.
Bei Thomas kam hinzu, dass er mit seiner faktisch leitenden Rolle unzufrieden war, da sie ihn
Zeit, Arbeit und Nerven kostete und ihm oft nicht gerade Dankbarkeit eintrug. Nach der Ablösung von der Kerngruppe hatten Feli, Vera und Heike sich genügend Kompetenzen angeeignet und besaßen ausreichend Gestaltungsspielraum, die Umweltarbeit nach ihren Wünschen
durchzuführen. Sie benötigten niemand mehr, der sie anleitete oder integrierte.
In anderen Gruppen wurden noch andere Argumente gegen Leitung angeführt. Die Sonnenauer Jugendlichen glaubten, dass eine hierarchiearme Form dem freundschaftlichen Charakter ihrer Beziehungen am besten entspräche. Diese Freundschaft, zusammen mit der überschaubaren Größe der Gruppe, erleichterte auch die Koordination, so dass "kein Leiter gebraucht" wurde (Ronja). Andere Argumente gegen eine geleitete Gruppe speisten sich aus den
erwarteten Folgen. Man erwartet, dass die nicht leitenden Gruppenmitglieder entmutigt würden und ihr Einsatz zurückginge, wenn jemand ihnen alle verantwortungsvolle Arbeit abnähme. Schließlich wurde bezweifelt, dass ein Leiter von der Gruppe akzeptiert werden würde.
9.3.2
Kriterien für die Verteilung von Positionen
Anhand von Kriterien wird entschieden, wer einen hohen Status, damit auch mehr Macht und
letztendlich so viel Macht erhält, dass er oder sie eine Leitungsposition ausfüllen kann. Die
Kriterien für hohen Status und für die Akzeptanz als Leiter oder Leiterin sind zunächst dieselben. Damit Leitungspositionen entstehen, müssen allerdings noch zwei weitere Bedingungen
hinzukommen: eine in der Gruppe geteilte Überzeugung, dass Leitungsfunktionen übernommen werden müssen sowie die Bereitschaft des "Kandidaten", die Leitungsfunktionen auszuüben.
Die beiden zentralen Kriterien für die Verteilung von Status und Macht sind Einsatz und
Kompetenzen. Annika fasst sie mit den Begriffen "wissen" und "machen" treffend zusammen:
Annika [berichtet über ihr erstes Gruppentreffen]: Ich kann mich dran erinnern, dass ich (.) Angst hatte vorher,
da hinzugehen, (.) zu dieser Versammlung. (.) Es geht mir eigentlich auch (.) heute noch so, dass, wenn irgendwas Neues, dass man erstmal Angst kriegt, dass die Leute da alle urst viel wissen und groß engagiert sind. (.)
Und du kommst da hin und weißt gar nichts, und machst nichts, und bist eigentlich (.) nun ja, NICHTS!
Einen hohen Status erhält, wer hohes Engagement für die Gruppe in Worten, aber vor allem
durch viele und anspruchsvolle Aktivitäten, durch das Einbringen eigener Ideen und durch die
häufige Übernahme von Aufgaben beweist. Auch muss er als kompetent im Sach-, Handlungs- und Sozialbereich und als respektable Persönlichkeit wahrgenommen werden. Dabei
geht es sowohl um die Selbst- als auch um die Fremdwahrnehmung. Empirisch kommen diese
Kriterien "Einsatz" und "Kompetenz" nur gemeinsam vor. Das ist verständlich, da Kompeten-
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352
zen hauptsächlich durch Engagement erworben werden und für die anderen Gruppenmitglieder nur erfahrbar sind, wenn sie sich in tatsächlichem Engagement niederschlagen.
9.3.3
Zusammenfassung:
beeinflussen
Kategorien,
die
die
Gruppenstruktur
Analysiert man die Gründe für die Wahl einer bestimmten Gruppenstruktur, und fasst man sie
mit den Kriterien für die Verteilung von Positionen zusammen, so erkennt man, welche anderen Kategorien bei der Konstruktion der Gruppenstruktur eine Rolle spielen. Abb. II-13 gibt
wieder eine Übersicht über die Einflussfaktoren:
Aktivitätenwahl
Einsatz
Gemeinschaft
und Konflikt
Identifikation mit dem Umweltengagement
Ziele und Erfolge
Organisation
Kompetenz(erwerb)
Kommunikation
Funktionierende
Arbeit
Biographie
Gruppenstruktur
Gelegenheitsstruktur
Verbandseinbindung
Abb. II-13: Kausalverknüpfungen der Kategorie "Gruppenstruktur"
Zusätzlich zu diesen Faktoren muss der Einfluss der bisherigen Gruppenstruktur beachtet werden. Wir haben gesehen, dass einer der Gründe, eine geleitete Gruppe zu befürworten, in
einem starken Statusgefälle liegen kann. Statusniedrige Gruppenmitglieder erhoffen sich durch
eine Leitung, integriert zu werden und Kompetenzen vermittelt zu bekommen. Das verweist
darauf, dass die Gruppenstruktur selbst ihre weitere Entwicklung beeinflusst. Genauer beschrieben werden die entsprechenden Prozesse unter "Konsequenzen" (Abschnitt 9.4). Im
Folgenden wird auf die übrigen Einflussfaktoren eingegangen.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
353
Einsatz. Wie wir gesehen haben, ist Einsatz ein zentrales Kriterium für die Zuweisung von
Status und die Legitimation von Macht. Außerdem wirkt Einsatz auch mittelbar über Kommunikation: Gruppenmitglieder mit hohem Einsatz beteiligen sich eher an Kommunikationsprozessen, mit den Folgen, die weiter unten beschrieben sind. Schließlich beeinflusst der Einsatz Strukturwandelprozesse wie etwa die Ablösung von einem Leiter, und die Perspektiven
der Gruppe danach. Ein hoher Einsatz erleichtert es, die Gruppe auf die eigenen Beine zu stellen (vgl. Kapitel 9.6.2).
Funktionierende Arbeit. Der Eindruck, dass Projekte nicht durchgeführt werden können wie
geplant, oder dass die Gruppe nicht arbeitsfähig ist, führt oft zu Rufen nach einem Leiter.
Auch können sich existierende Leiter dadurch verpflichtet fühlen, ihre Leitungsfunktionen
noch intensiver wahrzunehmen. Offensichtlich gelingt es den anderen Mitgliedern ja nicht, die
Gruppe zum Funktionieren zu bringen. Das kann auch dazu führen, dass leitende Gruppenmitglieder den Ausstieg aus ihrer Rolle nicht finden und die Betreuung und Koordination viel
länger aufrechterhalten, als eigentlich geplant:
Ronja: Ich habe mit Sonnenau auch nicht mehr so viel KonTAKT, und (.) ist halt BLÖD, wenn ich dann (.) extra deswegen immer HERfahren muss. […] Bloß, wenn ICH dann AUCH noch fehle, dann sind's wirklich bisschen wenig, gell?
I: Und fühlst du dich jetzt auch ein bisschen verantwortlich für die in Waldenberg, oder sagst du, die müssen
sich jetzt mal selbst organisieren?
Thomas: (.) Äh, das ist schwierig, also, (.) ich merke (.) immer öfter, dass irgendwas falsch läuft. Also, zum
Beispiel regt sich Heike immer auf, dass da niemand montags kommt. Äh, und wenn irgendwas nicht klappt
und ich frage: "Hast du dem und dem BeSCHEID gesagt?", [...] dann meint sie: "Nee". [...] Das Problem dabei
ist auch, das hat noch nicht jeder raus, (.) ja: (.) "Rufe ich den dann an zum Treffen, rufe ich den an zur (.) Aktion oder rufe ich den überhaupt nicht an, weil er sowieso nicht kommt? [...] WIE weit kann ich dem anderen
glauben und wieweit (,) hätten die Leute Zeit zum Kommen?" Und (..) als ICH dann telefoniert habe mit drei,
vier Leuten, sind dann auch ZWEI von den dreien gekommen.
Kompetenzen. Wahrgenommene Kompetenzen sind erstens ein wesentliches Kriterium für die
Zuschreibung von Status und ein Legitimationsgrund für Macht. Eigene Kompetenzen steigern das Selbstbewusstsein und den Wunsch nach Anerkennung und Mitbestimmung. Man
wird sich um eine einflussreichere Position in der Gruppe bemühen und damit nicht selten das
ganze Gefüge der Gruppenstruktur verändern. Ein Kompetenzzuwachs einzelner Mitglieder,
insbesondere wenn er zu einer Veränderung des Kompetenzgefälles führt, zwingt daher oft zu
einer Flexibilisierung und Veränderung der Positionsverteilung. Zweitens spielt speziell Sozialkompetenz auch eine Rolle für den Prozess der Herausbildung einer Gruppenstruktur: Die
Sensibilität für Bedürfnisse und Fähigkeiten anderer hilft, eine geeignete Rollenverteilung in
der Gruppe zu finden.
Kommunikation. Wird viel über Projekte kommuniziert, so entwickelt sich bei denjenigen, die
in diese Kommunikationsprozesse einbezogen sind und ihre Vorstellungen einbringen kön-
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
354
nen, eine starke Identifikation mit dem Projekt und ein starkes Verantwortungsgefühl. Gegenseitige Unterstützung und Kontrolle werden etabliert. Damit wird es zum größten Teil überflüssig, Aufgaben wie Koordination oder Kontrolle an einen Leiter abzugeben. Die gute interne Abstimmung dient als funktionelles Äquivalent. Statusunterschiede werden abgebaut. Diese Gleichberechtigung gilt allerdings nur für diejenigen, die an dem Kommunikationsprozess
beteiligt sind. Die Beteiligung an Kommunikationsprozessen erfasst keineswegs immer alle
Gruppenmitglieder. Wie sie verteilt ist, ist zugleich Indikator und Einflussfaktor für die
Gruppenstruktur. Wenn innerhalb von Gruppenteilen, wie Cliquen oder der "Kerngruppe" in
einer Kern-Schale-Struktur, engere Kommunikation stattfindet als mit anderen Gruppenteilen,
so fördert dies die Abkoppelung und Verselbstständigung von Subgruppen:
I: Sarah, du hattest, glaube ich, gesagt, keine Ideen gibt's. […]
Nadja: Na also, ich muss sagen, WIR beide [Nadja und Anna] überlegen uns schon öfters mal was, wir haben
+schon mal+
Sarah: +Na, ihr+ BEIDE, aber trotzdem! […]
I: Aber die anderen (,) habt ihr nicht so mit (,) einbezogen?
Anna: Na, das ist halt das Problem, das (,) mit der ZEIT halt (,) dass wir uns nie alle sehen, und so. Also wir (.)
beide (..) Nadja und ich (lacht) (..) Wir wohnen jetzt bisschen näher zusammen, weil, sie ist umgezogen, und
dadurch ergibt sich das dann halt häufiger. […] Kommen wir öfters mal zusammen und reden halt.
Heike: Es soll natürlich nicht so sein, dass diese Leute, ja (.) Thommy, Annika, Martin und so (.) auf die anderen (.) äh, drauf zugehen und sagen: "Hier, du machst das, du machst das, du machst das." (.) Aber wenn ich
nicht weiß, was ansteht, ja, (..) die machen ja nun auch viel zu Hause und so, da (,) kriegt man (.) man kommt ja
gar nicht mit, weil man ja auch einfach nicht informiert wird. Dann weiß ich nicht, wie weit sie sind, und man
kann dann (.) auch selbst nichts machen.
Gemeinschaft. Innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft wird eine gleichberechtigte Gruppenstruktur sowohl erleichtert als auch gefordert. Eine Hierarchisierung der Beziehungen würde dem Prinzip der Freundschaft widersprechen, das auf Gleichberechtigung beruht. Auch
fördert eine enge Gemeinschaft Kommunikationsbeziehungen und trägt so zur Integration bei.
Auf diese Weise erleichtern gemeinschaftliche Beziehungen auch die Ablösung von einem
Leiter und steigern so die Flexibilität der Gruppenstruktur (vgl. Kapitel 9.6.2). Das bedeutet
freilich noch nicht, dass alle Gruppenmitglieder in diese gleichberechtigte Gemeinschaft integriert wären. Vielmehr greifen ähnliche Mechanismen, wie unter "Kommunikation" beschrieben: Es kann zu Subgruppenbildung kommen, zwischen denen wiederum ein Hierarchiegefälle besteht.
Verbandseinbindung. Verbandseinbindung einzelner Jugendlicher kann ein Kriterium sein,
das ihnen höheren Status verschafft. Personen mit nützlichen Kontakten zu anderen Verbandsebenen steigen im Ansehen und übernehmen zusätzliche Aufgaben. Außerdem haben
sie exklusiven Zugang zu Ressourcen, Informationen und Möglichkeiten zur Erweiterung der
eigenen Kompetenz. Dadurch kann eine bestehende Gruppenhierarchie gefestigt werden. Umgekehrt existiert ein Beispiel, wo eine Gruppenhierarchie unter anderem dadurch aufgebrochen
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
355
wurde, dass einzelne Mitglieder Kontakt zur BUND-Kreisgruppe aufnahmen und damit an
Status und Wichtigkeit für die Arbeit der Gruppe gewannen. Vor allem aber stellt die Verbandseinbindung auch personelle Ressourcen für eine Leitung bereit und schafft manchmal
auch vollendete Tatsachen. Der Mutterverband kann sich dafür entscheiden, Jugendgruppen
Personen zur Seite zu stellen, die sich als Leiter anbieten. Oder er kann von Anfang an eine
Jugendgruppe um einen Leiter herum neu aufbauen.
Biographie. Biographische Umbrüche bei einzelnen Mitgliedern können die Gruppenstruktur
erheblich verändern. Ein typisches Phänomen im Jugendalter ist, dass Teile der Gruppe studien- oder ausbildungsbedingt den Wohnort wechseln. Die Gruppe muss dann die Funktionen
neu besetzen, die bisher von diesen Personen eingenommen wurden, oder sich komplett umstrukturieren.
9.4
Konsequenzen: Was bewirkt die Gruppenstruktur?
Abb. II-13 zeigt Wirkungen von Gruppenstruktur auf Kommunikation, Einsatz, Gemeinschaft,
Verbandseinbindung und Organisation. Dabei wirken Statusunterschiede auf alle diese Kategorien. Leitung wirkt nur auf Organisation und Einsatz. Statusverteilung und Leitung wirken
beide mittelbar auf die Gruppenstruktur zurück. Die Effekte, die Statusunterschiede auf Verbandseinbindung und Organisation haben, werden in den Abschnitten 10.3 und 11.3 thematisiert, die übrigen Wirkungen an dieser Stelle.
9.4.1
Konsequenzen von Statusunterschieden
Statusunterschiede tendieren dazu, sich in einem komplizierten Prozess selbst zu verstärken.
Dabei spielen eine Reihe anderer Kategorien eine Rolle. Statusunterschiede beeinflussen Einsatz und Kommunikation, die wiederum über Aktivitätenwahl, Kompetenz und Gemeinschaft
zurückwirken. Der selbstverstärkende Prozess beginnt mit dem Einfluss der Statusunterschiede auf den Einsatz von Randgruppenmitgliedern. Existiert ein hohes Aktivitäts- und Kompetenzgefälle, so können diese Mitglieder den Eindruck bekommen, es sei bereits für alles gesorgt. Sie sehen keine Notwendigkeit, sich einzubringen, und verhalten sich als free rider. Außerdem werden sie auch entmutigt, da sie sich weniger kompetent fühlen. Sie überlassen deshalb Aktivitäten anderen, die sie für geeigneter halten:
Feli: Dadurch, dass jetzt die (.) Älteren halt (.) so 'ne großen Sachen machen (..) öh (.) man (..) scheu, scheut
sich halt 'n bissel davor und will das gar nicht so (.) haben. […] Weil man (.) damit sich nicht auskennt und so.
Falls Mitglieder der Randgruppe sich doch entscheiden, Vorschläge zu machen oder Meinungen zu äußern, fallen diese nur selten auf fruchtbaren Boden. Wegen der geringeren Erfahrung
dieser Mitglieder ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ihre Ideen von der Kerngruppe für un-
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
356
praktikabel gehalten oder ihre Meinungen korrigiert werden. Diese Erfahrung veranlasst sie zu
noch stärkerer Zurückhaltung. Die statushöheren Mitglieder der "Kerngruppe" sind außerdem
kommunikativ stärker vernetzt. Die Homogenität in Alter, Lebenserfahrung, Milieu und Kultur
fördert die Kommunikation, da gemeinsame Codes vorhanden sind, man sich verstanden fühlt
und die Chance sieht, über gemeinsam interessierende Themen zu sprechen. Diese Kommunikation bewirkt, dass die Kerngruppe besser über Planungen informiert ist. Für die Randgruppe
ist die mangelnde Information ein zusätzliches Handikap, aktiv zu werden. Außerdem beeinflusst die enge Vernetzung die Aktivitätenwahl. Die Kerngruppenmitglieder haben mehr Einfluss auf die Gestaltung von Aktivitäten und können sie so prägen, wie es ihren eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten am besten entspricht. Die Mitglieder der "Randgruppe" können
sich mit diesen Aktivitäten unter Umständen weniger gut identifizieren oder sind überfordert.
Aus all diesen Gründen verhalten sich die Statusniedrigeren abwartend und beteiligen sich an
Aktivitäten wenig.
Gruppenmitglieder, die sich weniger einsetzen, haben dadurch nun weniger Gelegenheit,
durch Übung Kompetenzen zu erwerben (vgl. Abschnitt 8.3.1.1). Auf diese Weise vertiefen die
Statushöheren ihren Erfahrungsvorsprung. Die Randgruppe bleibt hinsichtlich beider Statuskriterien, Einsatz und Kompetenz, auf niedrigem Niveau. Die Kerngruppe fühlt sich bestätigt
in ihrer Wahrnehmung, dass die Randgruppenmitglieder inkompetent und passiv seien. Sie
tendiert also noch stärker dazu, Vorschläge von Randgruppenmitgliedern abzulehnen, auf deren Beteiligung an Projekten zu verzichten und sich für deren Meinung wenig zu interessieren.
Es erscheint effizienter, ein Projekt alleine durchzuführen, als andere Gruppenmitglieder erst
"anzulernen". Damit verschärft sich die Auseinanderentwicklung. Die Gruppenstruktur verliert
an Flexibilität, der Prozess wird immer schwerer umkehrbar. Beide Teilgruppen sind mit der
Situation unzufrieden. Die Randgruppe fühlt sich bevormundet, ausgegrenzt und nicht ernst
genommen. Zudem ist sie mit sich selbst, den eigenen Leistungen und Kompetenzen unzufrieden. Die Kerngruppe, auf die der Großteil der Arbeit entfällt, fühlt sich überlastet und ausgenutzt. Sie vermisst die moralische und praktische Unterstützung durch die anderen Gruppenmitglieder, ihre Begeisterung und ihren Einsatz. Unter diesen Bedingungen sinken Motivation und Gemeinschaftserleben. Die Sonnenauer Gruppe befürchtet solche Entwicklungen bei
einem aufwändigeren Projekt:
Katja: Wirklich, das ist einfach so, dass wir halt alle immer ziemlich viel zu tun haben, das ist (.) irgendwie total schwierig. Und da sehe ich eigentlich auch das Problem bei dem neuen Projekt, also, ich habe (..) echt Bange, dass (.) dass es daran (.) irgendwo auch scheitert! Weil […] jeder (..) jeder, ähm (.) ganz unterschiedlich (.)
viel Energie da reinsetzt, oder so.
Ronja: Reinsetzen WILL, auch.
Katja: Oder auch reinsetzen WILL, genau! (.) Und das frustriert die anderen dann gleich wieder. Und dadurch
(.) wird's (.) wahrscheinlich kaputtgehen. […] Wird's einen Zoff geben.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
357
Bereits eingetreten ist der "Zoff" in Waldenberg. Ein Auszug aus dem ersten Gruppeninterview zeigt die Unzufriedenheit. In wechselseitigen Schuldzuweisungen erkennen die Beteiligten jeweils den Teil des Problems, der bei den "anderen" liegt. Die Gesamtdynamik, in der sich
die Verhaltensweisen beider Gruppenteile zu der frustrierenden Situation aufschaukeln, bleibt
verborgen:
(Thomas hat gerade darüber gesprochen, dass er zum Studium umziehen möchte, aber Sorge um die Entwicklung der Gruppe hat, wenn er sie nicht weiter betreut.)
I: Wenn du sagst, es ist eigentlich dein (,) Ziel, (.) äh (,) dass die Gruppe selbstständig sein soll, wenn du weggehst, (..) da ist es vielleicht besser, mal weniger zu machen und dafür Leute eben in die (.) Lage zu versetzen,
selbstständig zu sein, hm?
Thomas: Jaaa, […] ich WEISS immer noch nicht, wie ich das MACHEN soll! ENTWEDER, ähm (..) ICH sage:
(.) "Wir könnten ja das und das machen!", und alle sagen: "Ja". Oder (.) es passiert GAR nichts, da habe ich bisher immer noch das Gefühl. (...) Weil, irgendwie traut sich auch keiner zu sagen: "Ich habe jetzt mal Lust DAund DAZu" und (.) äh (.)
Heike (laut): Das KAM schon! Und da wurde auch wieder gesagt: "Das ist jetzt […] UNwichtig", oder so, "wir
machen jetzt DAS!" (.) Was IHR vorgeschlagen habt. (.) Und dass DANN keiner mehr den Mund aufmacht (.)
ich weiß nicht. (.) Hab' ich nur Verständnis für. (5)
Annika: Ich weiß nicht, es kam ja neulich von VERA, gerade das mit der DEMO (3-4 Worte unverständlich).
[…] Es war aber (,) eigentlich genauso, (,) (lacht) als wenn WIR einen Vorschlag gemacht haben, also, alle haben (halt) gesagt: "Jaa (...) mhm, jaa. Mhm! Dann macht mal!" (lacht)
Feli: Ja, ich glaube, Vera traut sich dann AUCH nicht so, ähm
Heike: Es fehlt da eben an (.) an ERFAHRUNG [...]
Annika: +(Ja, Mensch, die) Erfahrung+, (.) die macht ihr doch nur, wenn ihr was macht! (..) Findest du nicht?
Feli: Na JA, ich glaube schon, dass sie's gerne machen WOLLE, die Demo, aber, (.) ähm, (.) ich schätze mal,
damit (.) hat sie auch ein bissel (.) Schiss. (.) Die viele Verantwortung, weißte?
Gleichberechtigte Gruppen dagegen ermöglichen nicht nur mehr Kommunikation, sie erfordern auch mehr Kommunikation, da Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Bei der
Planung des Projektes wird Wert darauf gelegt, dass alle ihre Vorstellungen einbringen, dass
darüber gesprochen und ein tragbarer Konsens gefunden wird. Diese Kommunikationsprozesse fördern wiederum die Gleichberechtigung (vgl. S.356).
Wenn man diesen Prozess betrachtet, kann man also direkte Effekte der Gruppenstruktur auf
Kommunikation und Einsatz feststellen. Die Effekte auf Aktivitätenwahl, Kompetenz und
Gemeinschaft sind dagegen indirekt. Die Gruppenstruktur hat allerdings auch direkte Wirkungen auf Gemeinschaft: Viele der Strategien und Verhaltensweisen, die dazu dienen, eine bestimmte Position in der Gruppe zu halten, auszufüllen oder zu erobern und damit die Einbindung oder Ausgrenzung anderer zu forcieren, stoßen auf Widerstand und sind daher ausgesprochen konfliktträchtig.84 Je mehr also um Positionen gekämpft wird, desto fragiler die Gemeinschaft (vgl. dazu Kapitel 9.5).
84
Das Gleiche gilt für Aktivitäten von Leitern, die versuchen, das Verhalten anderer Gruppenmitglieder zu normieren oder ein Deutungsmonopol beanspruchen.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
9.4.2
358
Konsequenzen von Leitung
Eine geleitete Gruppe erweist sich als sehr effektiv für die Organisation. Da die Verantwortlichkeiten klar sind, werden Leitungsfunktionen rechtzeitig wahrgenommen. Die Folgen für
den Einsatz sind komplexer und widersprüchlicher. Sie sollen im Folgenden diskutiert werden. Anschließend wird gefragt, was Leitung für die weitere Entwicklung der Gruppenstruktur
bedeuten kann.
Man kann unterscheiden zwischen der Wirkung, die eine geleitete Gruppe auf den Einsatz des
Leiters und auf den Einsatz der übrigen Gruppenmitglieder hat. Die effiziente Organisation, für
die ein Leiter sorgen kann, motiviert die Gruppenmitglieder. Unübersichtlichkeit und Arbeitsaufwand werden gesenkt und so die Mitarbeit erleichtert. Ob das allerdings auch langfristig, und insbesondere für den Fall gilt, dass der Leiter einmal sein Amt aufgibt, hängt von den
zukünftigen Entwicklungen der Gruppenstruktur ab, die weiter unten beschrieben werden.
Für den Leiter selbst bringt eine Leitungsposition zwar Vorteile, aber auch Belastungen mit
sich. Anna fasst sie treffend zusammen:
Anna: Einfach, weil (.) weil ich halt organiSIEREN kann, ich habe was zu TUN, ich kann (,) wieder RUMrennen und irgendwas halt erLEdigen, und dann mit den LEUten (.) so. (.) Und deswegen habe ich auch SPASS da
dran. [...] Also, ich muss sagen, das ist irgendwo ein SCHÖnes Gefühl, dass ich halt irgendwo geBRAUCHT
werde und so. Aber MANCHmal nervt's auch halt, wenn du keine ZEIT hast, oder (.) wenn du IRgendwelche
SAchen (..) also, halt (.) erledigen musst, wo du überHAUPT keinen BeZUG hast.
Zu den Belastungen gehören außerdem hohe, mitunter gegenläufige Erwartungen: Die Gruppe
erwartet vom Leiter, funktionierende Arbeit und Erfolge sicherzustellen und kritisiert ihn,
wenn dies nicht gelingt. Andererseits kann sie im konkreten Fall die Ausübung von Leitungsfunktionen als unangenehm empfinden. Sie ist beispielsweise nicht bereit, Anordnungen hinzunehmen. Unter Umständen sind Leiter sogar zusätzlich mit Erwartungen von außen konfrontiert, etwa durch den Verband. Hinzu kommt die Angst, in der Leiterrolle nicht akzeptiert
zu werden und damit nicht nur an Status und Selbstbewusstsein, sondern auch an Einbindung
in die Gemeinschaft zu verlieren. Für Befragte, die eigentlich "demokratische", gleichberechtigte Strukturen anstreben, ist die Leitungsposition unvereinbar mit dem eigenen Selbstverständnis:
Annika: Ich will auch nicht irgendwie da Verantwortung übernehmen, und denen dann irgendwie sagen, was sie
tun sollen, und plötzlich machen sie's dann nicht! […] Da komme ich mir dann vor, irgendwie so erwachsen
oder so, oder so (..) wie 'ne Anführerin, das WILL ich gar nicht!
Gruppenstruktur. Kann ein Leiter leisten, was oft von ihm erwartet wird: nämlich ein bestehendes Statusgefälle abbauen und die Integration der Gruppe herbeiführen? Kann er zur
Gleichberechtigung der übrigen Gruppenmitglieder untereinander beitragen? Kann er sich vielleicht sogar selbst überflüssig machen? Oder produziert er nur ein neues Statusgefälle, zusätzlich oder an Stelle des alten? Kurz, welche Weichenstellungen ergeben sich aus einer geleiteten
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
359
Gruppe für die spätere Gruppenstruktur, und damit mittelbar für Gemeinschaft und Einsatz?
Eine Durchsicht der Fälle ergibt, dass es im Sample nur einen Fall gibt, in der ein Leiter in einer Kern-Schale-Gruppe agiert – die Waldenberger Gruppe. In diesem Fall gelang der Abbau
von Statusunterschieden nicht. Ob er überhaupt gelingen kann, und welche Faktoren dabei
förderlich sind, kann daher nur Gegenstand der Spekulation sein. Dagegen entwickelten sich in
allen geleiteten Gruppen tendenziell zwischen Leiter und Gruppe dieselben Mechanismen, wie
oben für das Verhältnis zwischen Kern- und Randgruppe beschrieben. Ein Leiter kann Gruppe
und Aktionen sehr effizient managen und damit hohe Zufriedenheit erzielen. Gerade dann besteht aber wenig Notwendigkeit und Gelegenheit für andere Gruppenmitglieder, selbst organisatorische Kompetenzen zu erwerben. Sie werden, wie Nadja es nennt, "faul" und vom Leiter
abhängig. Ein Übergang in eine andere Form wird erschwert. Diese Tendenz zur Monopolisierung von Aufgaben durch den Leiter einerseits, zur Passivierung der anderen Gruppenmitglieder andererseits ist in den verschiedenen Gruppen allerdings unterschiedlich stark. Sucht man
nach Schlüsseln für diese Unterschiede, so findet man sie einerseits in der Frage, ob es sich
um einen "externen" oder "internen" Leiter handelt, andererseits im strategischen Verhalten
des Leiters. Im Folgenden soll auf die externe oder interne Position des Leiters eingegangen
werden, während sein strategisches Verhalten unter "Strategien" diskutiert wird (vgl. Abschnitt
9.5).
Unter einem externen Leiter soll ein Leiter verstanden werden, der der Gruppe von außen vorgegeben ist. Das heißt, in der Gruppe findet kein Entscheidungsprozess darüber statt, wer Leiter sein soll. Oft ist der externe Leiter der Gründer der Gruppe. Auch ist er häufig vom Verband eingesetzt oder leitet seinen Auftrag aus einer Verbandsfunktion ab. Er ist "Vorgesetzter"
im doppelten Sinne: als hierarchisch Übergeordneter und als Person, die der Gruppe von außen "vor-gesetzt" wird. Damit die Gruppe einen solchen Vorgesetztenstatus auf Dauer akzeptiert, muss der Leiter sich auch durch weitere Merkmale legitimieren. Das ist in erster Linie ein
höheres Lebens- und "Dienstalter", das ein Symbol für höhere Kompetenz darstellt. Daraus
ergibt sich, dass sich der Leiter typischerweise in einer anderen biographischen Situation befindet als die Gruppe. Auch in seinem Selbstverständnis sieht sich der externe Leiter nicht als
Mitglied der Gruppe, sondern als Moderator, Lehrer oder Initiator. Er kann die Absicht haben,
die Gruppe "auf eigene Füße zu stellen" und sich dann von ihr zu trennen. Beispiele für externe Leiter sind der Lehrer, der die Gruppe in Waldenberg gründete, der ABMler, der die
Zschernitzer Gruppe aufbaute und die ältere Schülerin, die die Gruppe in Steinkrug initiierte.
Ein interner Leiter dagegen ist "primus inter pares". Er ist Mitglied der Gruppe in verschiedener Hinsicht. Er teilt mit anderen Gruppenmitgliedern weitgehend dieselbe biographische Situation. Sein Lebens- und Dienstalter unterscheiden sich von dem der anderen wenig. Er unterhält (nicht nur, aber auch) gleichberechtigte soziale Beziehungen mit ihnen und er arbeitet in
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
360
der Gruppe mit, schon bevor er zum Leiter wurde. In die Leiterrolle gelangt er durch formale
Wahl oder durch die in Abschnitt 9.5 beschriebenen informellen Prozesse. Interne Leiter sind
Ronja in Sonnenau, Thomas in Waldenberg und bis zu einem gewissen Grad Anna in Zschernitz.
Einem externen Leiter fällt es erstens leichter, ein bestehendes Statusgefälle abzuschwächen
und zweitens ist das verbleibende Statusgefälle für Leiter und Gruppe weniger belastend als
bei einem internen Leiter. Der Abbau fällt leichter, weil der Leiter dank seiner größeren Erfahrung über mehr Strategien zur Lösung dieser Aufgabe verfügt. Vor allem aber ist er emotional
distanzierter von der Gruppe. Da die persönlichen Beziehungen weniger eng sind, ist der externe Leiter weniger angewiesen auf die Anerkennung und das Selbstwertgefühl, das die
Gruppe liefert, und kann daher leichter Status abgeben. Ja, unter Umständen kann es sogar
sein Selbstwertgefühl und die Anerkennung unter seinen Bezugspersonen (etwa Mitgliedern
des Erwachsenenverbandes) steigern, wenn es ihm gelingt, die Gruppe "auf eigene Füße zu
stellen". Für einen internen Leiter sind Statuskämpfe dagegen immer zugleich Kämpfe um die
Anerkennung wichtiger Bezugspersonen. Aus ähnlichen Gründen sind die verbleibenden Statusdifferenzen im Falle eines externen Leiters weniger belastend. Sie sind durch formale Kriterien wie "Alter" oder "Amt" gerechtfertigt und müssen nicht persönlichem Erfolg oder Versagen zugerechnet werden. Und sie belasten keine engen persönlichen Beziehungen.
Wie schwierig es für einen internen Leiter sein kann, Statusunterschiede abzubauen und mit
verbleibenden Statusunterschieden umzugehen, zeigt das Beispiel von Thomas. An mehreren
Stellen sprach er sich engagiert dafür aus, Statusunterschiede abzubauen und die Gruppe
selbstständig zu machen. Er litt unter der Belastung, für alles verantwortlich zu sein. Zugleich
fiel es ihm schwer, von seinem durch Einsatz erworbenen Status "abzugeben". Das führte zu
Verhaltensweisen, die dem angepeilten Ziel, die Gruppe selbstständig zu machen, völlig zuwiderliefen. Besonders gut ist das in der ersten Gruppendiskussion in Waldenberg zu beobachten. Einerseits forderte Thomas immer wieder andere Gruppenmitglieder auf, eigene Ideen
einzubringen. Andererseits zeigte er in keinem einzigen Fall eine ermutigende Reaktion auf
solche Beiträge. Vielmehr reagierte er jedes Mal entweder mit einem Argument, warum dieser
Vorschlag unpraktikabel sei, oder mit dem Hinweis, er habe die gleiche Idee auch schon gehabt, woraufhin er die Wortführung übernahm und die Idee weiter ausführte.
9.5
Strategien: Gruppenstrukturen aufbauen und verändern
Statusdifferenzen und Leitungsrollen werden durch bestimmte soziale Praktiken aufgebaut
oder abgeschwächt. Soziale Praktiken können erstens an den Gründen für die Wahl einer bestimmten Gruppenstruktur ansetzen, zweitens an den Kriterien, nach denen die Positionen
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
361
verteilt werden, und drittens kann versucht werden, bestimmte Positionen zu okkupieren, indem man die entsprechenden Funktionen übernimmt.
Bei Praktiken, die an den Gründen für die Wahl einer bestimmten Gruppenstruktur ansetzen, wird die Gruppenstruktur selbst transparent gemacht und zur Diskussion gestellt. Gründe,
eine bestimmte Gruppenstruktur zu wählen, werden ausgetauscht, bekräftigt oder in Frage gestellt. Es wird versucht, eine begründete Entscheidung für eine bestimmte Struktur herbeizuführen. Beispiele dafür finden sich in Abschnitt 9.6.2. Auf die übrigen Praktiken soll in den
folgenden Abschnitten näher eingegangen werden.
9.5.1
Praktiken, die an den Kriterien für die Rollenverteilung ansetzen
Auch hier gibt es zwei Varianten. Eine erste Gruppe von Praktiken wirkt darauf hin, dass bestimmte Gruppenmitglieder die Kriterien für hohen Status oder gar Leitungsrollen besser oder
weniger gut erfüllen. Dabei wird an den zentralen Kriterien "Einsatz" und "Kompetenz" angesetzt. Diese Praktiken fördern oder hemmen also den Einsatz, steigern Kompetenzen oder unterlassen dies.
Förderung oder Behinderung von Einsatz. Am leichtesten verändern lässt sich natürlich die
eigene Aktivität. Wer sich bemüht, einen höheren Status in der Gruppe zu erwerben, wird den
eigenen Einsatz erhöhen. Er wird mehr und anspruchsvollere Aufgaben übernehmen, aber
auch eigene Ansichten in die Gruppendiskussion einbringen und ihnen Geltung verschaffen –
etwa durch ausführliche Argumentation, mehrfache Wiederholung oder Lautstärke. Ob Jugendliche die Bereitschaft aufbringen, eigenen Ansichten Geltung zu verschaffen, hängt wiederum ab von ihrem Selbstbewusstsein, von einer vertrauensvollen Gruppenatmosphäre und
davon, wie aufwändig diese Durchsetzung erscheint.
Zweitens können andere gefördert werden, Aufgaben zu übernehmen und sich einzubringen:
durch Lob, aufmunternde Bemerkungen, Interesse für ihre Projekte, durch Erläuterung von
Wegen, wie eine Aufgabe erfüllt werden kann, indem ihnen vermittelt wird, dass sie dringend
gebraucht werden, und vor allem, indem notwendige und wichtige Aufgaben gezielt delegiert
werden. Gruppenleiter, die an der Verselbstständigung ihrer Gruppe interessiert sind, beginnen
frühzeitig mit diesem gezielten Delegieren. Die entgegengesetzte Praxis besteht darin, Aufgaben zu monopolisieren und andere zu entmutigen und von der Übernahme von Aufgaben abzubringen, sie damit allerdings auch zu entlasten. Heike berichtet darüber, wie das in ihrer
Gruppe geschieht:
Heike: Wenn man dann fragt, na ja, […] weil man sich da immer schön doof vorkommt, (parodierend, kindlich): "Na, kann ich AUCH mal was machen?", oder so, ja? (...) (Parodierend, von oben herab) "Joa, öh (.)
WISSEN wir nicht, kannst ja Jeti-Tour [Radtour zu den "Jugend-Energie-Tagen"] organisieren." So total doof
dann manchmal. [...] Ich weiß nicht, die SEHEN das manchmal nicht, dass (.) dass wir arbeiten gehen und öh,
dass (.) dass wir letzten Endes Z, Ze, äh, doch nicht so viel Zeit haben wie (.) sie als Studenten.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
362
(Ein Interview später):
[Da] hat (,) sich eigentlich nichts geändert. (.) Auch gerade mit der gRADwanderung hat man wieder gesehen:
[…] Ich habe (,) also meine Hilfe angeboten und (.) da wurde gesagt: "Nee und so, brauchst nicht" und (..) letzten Endes [...] haben sie dann (.) das, was sie sich vorgenommen hatten, NICHT geschafft.
Auch die Termingestaltung kann eine Abschwächung oder Steigerung des Aktivitätsgefälles
zwischen verschiedenen Gruppenmitgliedern bewirken:
(Thomas hat vorgeschlagen, die Gruppe solle sich öfter treffen. Sie diskutiert darüber.)
Thomas: Ja, man kann sich aber auch (.) w, wenn bloß DREI jedes Mal [zum Zusatztermin] kommen, und dann
bloß montags [zum regulären Termin] ein bisschen mehr kommen.
Heike: Aber dann gehen wieder die Diskussionen (,) äh (,) los, meinetwegen, DU könntest vielleicht immer erscheinen, du hast keinen (.) keine festen (,) Arbeits+zeiten oder so was+
Thomas: +Da muss doch nicht jeder kommen!+
Heike: +Weißte (.) dann geht's wieder los+ (.) äh, ja: "DER macht SOviel, der macht so (.) viel!" (laut, erregt)
(irgendwo auch die) KONKURRENZ (unverständlich), und das finde ich SO DOOF!
In Zschernitz wird das Gefälle an Einsatz gering gehalten, indem Treffen nur dann stattfinden,
wenn alle kommen können. Diese Lösung ist aber nur in sehr kleinen Gruppen praktikabel.
Förderung von Kompetenz.85 Kompetenzförderung beginnt mit der einfachen Aufforderung,
sich etwas anzulesen, geht weiter mit Weitergeben notwendiger Informationen im Gruppenalltag und endet mit aufwändigen Formen des Anlernens (vgl. den Bericht von Barbara S.397).
Andere beim Kompetenzerwerb zu unterstützen, aber sich dabei nicht als überlegen zu
präsentieren und sie nicht abhängig zu machen, kann eine schwierige Gratwanderung sein.
Ronja versucht sie, indem sie andere Gruppenmitglieder auffordert, sich weiterzubilden und
weiterzuentwickeln, jedoch zugleich ihre Eigenständigkeit respektiert – nicht zuletzt auch, um
sich Aufwand zu sparen und eine gute Gruppenatmosphäre zu erhalten:
Ronja: Die Leute sind irgendwo nicht so richtig bereit, sich auch mal was anzulesen, das gehört (ja wohl) dazu.
[...] Aber das kann ich ihnen nicht vorkauen. […] Das (,) habe ich schon öfter gesagt, und wenn sie sich das
nicht annehmen wollen, dann… (..) Ich, ich kann ja nicht (,) sagen: "Hier, lest das bitte (,) alle durch!"
Eine zweite Gruppe von Praktiken ändert nicht direkt etwas daran, wie gut Gruppenmitglieder
bestimmte Kriterien erfüllen. Sie dient vielmehr dazu, die Erfüllung oder Nichterfüllung herauszustreichen, in die Diskussion zu bringen und die Anwendung eines bestimmten Kriteriums auf eine bestimmte Person zu forcieren. So können eigene Kompetenzen demonstriert
oder Kompetenzen anderer bestritten werden. Jugendliche weisen darauf hin, dass sie selbst
die beste Lösung zu einem Problem haben oder gehabt hätten. Sie zweifeln die Kompetenz
anderer an, übergehen deren Beiträge oder werten sie ab, korrigieren andere oder weisen sie
auf die Undurchführbarkeit ihrer Vorschläge hin. Dabei handelt es sich keineswegs durchweg
um aggressive Verhaltensweisen. Gerade die Korrektur von Meinungen und die Kritik an Vor-
85
Praktiken der Behinderung von Kompetenzentwicklung wurden nicht gefunden; allerdings oft das Unterlassen
der Förderung.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
363
schlägen kann in konstruktivem Stil erfolgen und im Dienste einer möglichst erfolgreichen Arbeit stehen. Trotzdem, oder gerade deshalb, wird dadurch der Status des Korrigierenden angehoben. Alle Verhaltensweisen, in denen die Kompetenz anderer anerkannt wird, heben dagegen den Status des Gegenübers. Dazu gehören Lob, die Bitte um Stellungnahme oder um den
Rat anderer, wobei oft ausdrücklich auf deren Kompetenz hingewiesen wird. Schließlich kann
auch die eigene Kompetenz bestritten werden: So beklagt Feli, konfrontiert mit der Anforderung, sich stärker zu engagieren, sie könne "noch nicht einmal eine Topfpflanze pflegen". Die
folgenden Interviewauszüge bieten Beispiele für das Demonstrieren bzw. Bestreiten von
Kompetenzen:
Martin (erläutert sein Bild von der Gruppe): Also erstmal hier [...] die ALTE Gruppe; und (,) [auf der anderen
Seite] […] die (,) Neuen, die halt (.) natürlich, äh (..) noch nicht, äh (.) über alles genauso Bescheid wissen
können, natürlich noch nicht so unbedingt überall (,) mitdiskutieren können, auch wenn (.) einige das über Gebühr tun (lacht).
Nadja (erzählt von der Zeit mit Gruppenleiter John): Und dann noch 'ne Zeit (.) mal, in der er [John]: "Ja, wir
können uns AUCH nochmal (,) unsere Ideen mit einbringen!" (..) Und dann lief's aber immer (.) so da drauf
hinaus, dass (,) die doch nicht so gut waren, die Ideen, die WIR hatten.
Ebenso wie Kompetenzen können die Jugendlichen auch ihr "Dienstalter" und ihre Erfahrung
demonstrieren bzw. bestreiten. Das folgende Zitat zeigt einen Versuch, durch Berufung auf die
Dauer des eigenen Engagements mehr Respekt zu gewinnen:
Heike: Ja, und bin jetzt erst seit einem halben Jahr dabei. Also auch noch Thomas: (im Hintergrund): So lang (,) schon! (4)
(Lachen)
Heike: Schön, dass du das sagst. Kann ich dir das nächste Mal dann vorhalten, wenn du sagst, ich habe keine
Ahnung.
9.5.2
Praktiken der Funktionsübernahme
Ein hoher Status kann auch erworben werden, indem eine Person Funktionen übernimmt, mit
denen ein hoher Status verbunden ist oder die gar als Leitungsfunktionen angesehen werden.
Dabei muss der Versuch der Funktionsübernahme vom Rest der Gruppe akzeptiert werden.
Die Akzeptanz hängt wiederum davon ab, inwieweit es dieser Person gelingt, Kompetenzen zu
demonstrieren. Ein bereits vorhandener höherer Status gibt der Person einen "Vorschuss" an
Respekt und erleichtert es, ihre Position auszubauen. Besonders leicht kann man Leitungsfunktionen während des Gründungsprozesses der Gruppe übernehmen, denn zu diesem Zeitpunkt existiert noch kein Konkurrent. Es werden bevorzugt solche Funktionen übernommen,
die nicht zu aufwändig zu realisieren sind und die dennoch das Statusgefälle deutlich wiederspiegeln. Beispielsweise betätigen sich Jugendliche als Sprecher der Gruppe nach außen, leiten
Informationen weiter oder äußern sich disziplinierend, lehrend oder kontrollierend. So bringt
Thomas die andere Gruppenmitglieder im folgenden Interviewausschnitt in eine Art Prüfungssituation:
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
364
I: Jetzt, äh (,) wollte ich noch mal wissen, was ihr (..) in der letzten Zeit gemacht habt, beziehungsweise im
Moment macht und plant. [...]
Annika: Ansonsten wollen wir uns, (.) glaube ich, (.) ziemlich viel mit Gorleben (Wort unverständlich). Und (.)
dann wollten wir eigentlich ja eine (.) Demo organisieren irgendwie gegen Morsleben. […]
Thomas: Lass mal eben (.) die anderen machen, mal sehen, was (,) die anderen (,) wissen, was wir so machen,
was wir eigentlich GEDACHT haben, was wir machen könnten.
(Lachen)
Thomas: So, mich würde jetzt mal interessieren, wieviel so (.) von uns rübergekommen ist, was man da alles
machen kann.
Eine prominente Stelle nimmt der Versuch ein, Normsetzungsfunktionen zu übernehmen.
Gruppenmitglieder versuchen, Gruppennormen zu definieren oder zu bekräftigen, indem sie
das Verhalten anderer kritisieren, loben oder subtiler mit wertenden Attributen belegen, wie es
Annika im folgenden Ausschnitt mit dem Begriff "was Konstruktives" tut:
Annika (erläutert ihr gezeichnetes Bild von der Gruppe): Das soll erst mal der große Tisch [sein]. (.) Es steht
erst mal dafür, dass wir relativ oft am Tisch sitzen, (...) äh, (.) und doch nix machen, außer (,) erzählen. (..) Und
dann (.) die (,) drei Sprechblasen, das steht dafür, dass eigentlich meistens immer nur (,) weiß ich nicht, halt
PAAR Leute (..) was sagen, also (.) Konstruktives.
Die Normierung von Verhalten und die Bewertung anderer finden nicht nur in der direkten
Auseinandersetzung statt, sondern auch, indem Gruppenmitglieder sich untereinander über
das Verhalten Dritter verständigen:
(Vera und Heike diskutieren über die Bereitschaft einiger nicht anwesender Mitglieder zum Engagement)
Vera: Wenn ich irgendwo, äh (.) sage, ich mache mit (,) dann MUSS ich auch mitmachen. […] Wenn man jetzt
Schule hat, oder lernen muss, [...] dann packste eben deinen (.) Unterricht… (.) Lernste einen Tag vorher oder
so. Du (,) sitzt doch nicht nur zuhause, das kann (,) mir keiner erzählen, und lernst und lernst!
Heike: Vor allen Dingen GUCK mal: (.) Ich habe (.) mein (.) meine Arbeit, ich habe meine Schule, (für die ich
lernen muss). Dann müsste ich noch meinen Haushalt auf die Reihe kriegen, ja? […] +Ich verSTEHE die Leute
nicht! (.) Die kriegen zu Haus+
Vera: +Man muss es probieren, später musste AUCH arbeiten und (Teilsatz unverständlich)+
Heike: v, ALLES vorgesetzt, die müssen sich um NICHTS kümmern, WARUM haben sie keine Zeit? [...] Sollen sie mal den FERNseher ausmachen!
Die Konstruktion einer Rollenverteilung ist keine konfliktfreie Angelegenheit. Auf die Definition einer Rolle für sich oder andere kann Protest und können Gegendefinitionen folgen. Die
resultierende Rollenverteilung ist ein Ergebnis von Konflikt-, Verhandlungs-, und Konsensbildungsprozessen. Als Statuskonflikt lässt sich beispielsweise auch der folgende Konflikt um die
Waldenberger Umfrageaktion lesen:
Heike: Diese UMfrage "Mehrweg - Einweg". (.) Also im Nachhinein frage ich, was hat's jetzt eigentlich gebracht? […] Diese Zettel liegen jetzt hier irgendwo und (..)
Birgit: Und bei den Leuten haben wir bestimmt auch nichts erreicht.
Heike: Nee, sicher+lich nicht+. […]
I: Und was wolltet ihr damit machen, oder war das +nicht klar?+
Thomas: +Also, ich habe (.)+ überlegt, man MUSS ja (..)
(Lachen, Unruhe)
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
365
Thomas: Um Aktionen zu machen, muss man wissen, wie (.) die Leute drauf sind. Na, und da dachte ich, na,
wenn wir die Leute erstmal fragen, ob sie Einweg kaufen und ob NICHT, also, wenn sie bloß Mehrweg kaufen,
dann brauchen wir gar keine Aktion. […] Also, es sollte bloß eigentlich eine Voraktion werden, vielleicht ist
das jetzt (..) falsch (.) rübergekommen, aber Feli: Kann ich noch was dazu SAGEN? […] Es hat ja nicht viel GEBRACHT, aber in dem Sinne fand ich's
auch ganz gut, dass wir (.) eben (.) also (.) na ja, so uns (.) EINgelaufen haben. [...]
Heike: Na, für UNS hat's jetzt vielleicht was gebracht an Erfahrung, aber nicht (.) für die Umwelt! […]
Martin: Also, ich finde, es hat SCHON was gebracht, und zwar war eine HALBE Seite in der (,) Zeitung mit
+(.) BUNDjugend davor+
Heike(?): +Ja, DAS!+
(Durcheinanderreden)
Heike(?): Aber (.) die hättste vielleicht auch so ge+kriegt.+
Thomas:+Und (,)+ wir haben eine Aktion gemacht. [...] Und DA kam's mir eigentlich drauf an, dass (,) wir mal
(,) aktiv was machen und nicht bloß im Büro sitzen, vor allem. […]
I: Aber EIGENTLICH wollt ihr das wissen, um hinterher eure Aktionen (.) drauf abstimmen zu können? [...]
Aber ihr WOLLT noch was damit machen, oder (.) nicht mehr? […]
Heike: Tja, (unverständlich)
Feli: Ja, aber man könnte ja vielleicht hinterher (.) tabellarisch irgendwas machen.
Während Feli und Heike erst im Laufe dieser Textpassage klären, was die – bereits gelaufene –
Aktion bewirken oder bewirkt haben könnte, stellt sich Thomas schnell als eigentlicher Initiator der Aktion heraus, mit der er klare Ziele verfolgte. Indem er in die "Ich"-Form verfällt, zeigt
er an dass die anderen Gruppenmitglieder an Aktionsplanung und Zielbestimmung nicht beteiligt waren. So geht es in dieser Passage nicht nur darum, die Aktion zu evaluieren, sondern
auch, Thomas' Kompetenz in seiner leitenden Funktion zu testen und sich nachträglich in Überlegungen zu einer Aktivität einzubringen, aus denen man im Vorfeld ausgeschlossen war.
Nicht nur durch kritische Fragen, sondern auch durch Gelächter und Nebengespräche wird
Thomas' Leitungsfunktion herausgefordert. Eine treibende Kraft dabei ist Heike. Als Thomas'
Partnerin hat sie unter dem Statusgefälle zwischen den beiden besonders zu leiden: Sie kann
weniger leicht Abstand nehmen und zu anderen Bezugsgruppen wechseln als andere Gruppenmitglieder. Thomas reagiert, indem er die Definitionsmacht weitestgehend übernimmt, unfertige Überlegungen abschneidet und sich als derjenige präsentiert, der die Orientierung auch
über künftige Planungen besitzt. Unterstützt wird Thomas von Martin, einem anderen Mitglied
der Kerngruppe. Aufgebrochen wird die klare Rollenverteilung – Thomas und Martin als Verteidiger der Aktion, die anderen als Kritiker – als Feli Vorteile der Aktion hervorhebt, denen
auch andere zustimmen können. Zudem macht sie Vorschläge zur Weiterarbeit, die der Aktion
nachträglich einen Sinn verleihen könnten ("tabellarisch was machen"). Sie sind zwar nicht
sehr ausgereift, aber können als Versöhnungsangebot und als Versuch gewertet werden, sich
Status eher durch konstruktive Zusammenarbeit als durch Kritik an Aktivitäten der "anderen"
zu erwerben.
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
9.6
Zusammenfassung und Bezug zur Kernkategorie
9.6.1
Zusammenfassung
366
Unter dem Begriff "Gruppenstruktur" wurde in diesem Kapitel die Frage verstanden, wie homogen oder heterogen eine Umweltgruppe ist und wie typische Funktionen und Aufgaben,
Status und Einfluss verteilt sind. Vor allem unterscheiden sich Gruppen darin, ob es große Statusdifferenzen gibt, ob die Gruppe geleitet oder ungeleitet ist und ob die Positionen, die Jugendliche einmal erworben haben, verändert werden können. Idealtypisch gibt es vier mögliche Typen von Gruppen: Gruppen mit einem "harten Kern" und einer "Schale", die ungeleitet
oder geleitet sein können, geleitete Gruppen mit ansonsten gleichberechtigten Mitgliedern sowie selbst organisierte Gruppen, in denen alle Mitglieder gleichberechtigt sind. Die untersuchten Gruppen konnten in etwa dem zweiten bis vierten Typus zugeordnet werden.
Gruppenstrukturen werden durch die Wirklichkeitskonstruktionen und die sozialen Handlungen der Gruppenmitglieder geschaffen. Zwar kann die Einbindung in die BUNDjugend dazu
führen, dass eine bestimmte Ausgangslage entsteht. So kann etwa ein Leiter vorgegeben sein.
Doch die Gruppe selbst bestimmt die weitere Entwicklung. Dabei erfolgt die Verteilung von
Gruppenpositionen aus bestimmten Gründen, anhand bestimmter Kriterien und mit Hilfe verschiedener Praktiken bzw. Strategien. Die Gründe für die Wahl einer bestimmten Gruppenstruktur können darin liegen, dass die Gruppe möglichst effizient arbeiten soll, dass möglichst
viele Mitglieder integriert werden sollen oder dass Werte wie Demokratie oder Gleichberechtigung verwirklicht werden sollen. Während Effizienzwünsche eine Entscheidung für eine geleitete Gruppe nahe legen, sprechen Wertüberlegungen eher für eine egalitäre Form. Integrationsziele können, je nach Ausgangssituation, zu unterschiedlichen Entscheidungen führen.
Verschiedene Faktoren beeinflussen die Ausgangslage, in der eine solche Entscheidung getroffen wird, und damit möglicherweise die Präferenzen. In einer Gruppe mit starkem Statusgefälle können statusniedrige Mitglieder eine stärkere Leitung wünschen, um besser integriert zu
werden. Schlecht funktionierende Arbeit legt den Ruf nach einem Leiter nahe. Dagegen fordert und ermöglicht eine enge Gemeinschaft flache Hierarchien. Dichte Kommunikation
macht Leitung in Teilen überflüssig. Die Positionen in der Gruppe werden nach bestimmten
Kriterien verteilt. Die wichtigsten sind der Einsatz und die Fähigkeiten der verschiedenen Mitglieder. Je stärker sich Einsatz und Fähigkeiten unterscheiden, desto eher wird sich eine hierarchische Struktur herausbilden.
Hohe Statusunterschiede haben oft problematische Folgen. Die Praktiken, mit denen um Status gekämpft wird, produzieren meist Konflikte. Statusunterschiede tendieren dazu, sich mittels verschiedener Ausschluss- und Abgrenzungsmechanismen zu verfestigen. Dabei werden
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
367
Motivation und Gemeinschaftserleben oft geschwächt. Ein Leiter kann Gruppe und Aktionen
effizient managen, eine gute Organisation ermöglichen und damit hohe Zufriedenheit erzielen.
Gerade dann besteht aber wenig Notwendigkeit und Gelegenheit für andere Gruppenmitglieder, selbst organisatorische Kompetenzen zu erwerben. Ein Leiter kann allerdings gezielt andere Jugendliche qualifizieren, um dieser Entwicklung vorzubeugen. Das gelingt besonders gut,
wenn er nicht selbst Mitglied der Gruppe ist.
Statusunterschiede und Leitungsrollen werden durch bestimmte soziale Praktiken aufgebaut
oder abgeschwächt. Jugendliche können die Gruppenstruktur transparent machen und versuchen, eine begründete Entscheidung für eine bestimmte Struktur herbeizuführen. Sie können
eigene und fremde Fähigkeiten, eigenen und fremden Einsatz verstärken oder zu bremsen, auf
sie hinweisen oder sie bestreiten. Auch können sie versuchen, Status zu gewinnen, indem sie
Rollen und Funktionen übernehmen, die als respektabel gelten.
9.6.2
Entwicklung einer Identifikation mit dem Umweltengagement
Die Bedeutung der Gruppenstruktur für die Identifikation mit dem Umweltengagement erschließt sich zum einen aus ihrer Bedeutung für Einsatz, Kompetenzen und Gemeinschaft.
Zum anderen liegt sie in der Frage, ob die Gruppenstruktur die Möglichkeit bietet, sich selbst
als handelnd, gestaltend und Verantwortung tragend im Umweltbereich zu erleben. Je stärker
die Gruppenstruktur diese Erfahrungen erlaubt, desto eher erleichtert sie die Identifikation. Eine Chance für die Identifikation bieten Umbrüche in der Gruppenstruktur, etwa durch die
Ablösung von einem Leiter oder einer Kerngruppe. Diese Umbrüche "mischen die Karten
neu". Sie verlangen von den anderen Mitgliedern mehr Verantwortung und höheren Einsatz,
wenn die Arbeit erhalten bleiben soll. Dadurch können sie zu Motoren für die Identifikation
werden. Umgekehrt versuchen Jugendliche, die sich zunehmend mit dem Umweltengagement
identifizieren, die ihren Einsatz verstärken und Kompetenzen erwerben, an zentralere
Positionen in der Gruppe zu gelangen. Bisherige Neu- oder Randgruppenmitglieder fordern
mehr Teilhabe. Diese Versuche können ihrerseits die Umstrukturierung der Gruppe nötig
machen.
Ablösungsprozesse und Umbrüche in der Gruppenstruktur bieten jedoch nicht nur Chancen,
sondern beinhalten auch Risiken. Auf eingespielte Praktiken kann nicht mehr zurückgegriffen
werden. Bisherige Randgruppenmitglieder können mit den neuen Aufgaben überfordert sein –
eventuell so sehr, dass keine funktionierende Arbeit in der Gruppe mehr möglich ist. Es lohnt
sich daher, die Bedingungen für eine gelungene Umstrukturierung näher zu betrachten. In allen untersuchten Gruppen mit Ausnahme der jungen und neu gegründeten Steinkruger Gruppe fand vor dem oder während des Untersuchungszeitraums eine Ablösung vom jeweiligen
Leiter statt – sei es, indem der ehemalige Leiter seine Mitarbeit in der Gruppe komplett beendete, oder sei es durch Neuverteilung von Leitungsfunktionen. Einer kurzen Schilderung und
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
368
Analyse der jeweiligen Verläufe folgt nun eine zusammenfassende Darstellung von Faktoren,
die einer gelungenen Ablösung förderlich sind.
In Sonnenau existieren zwei leicht unterschiedlich akzentuierte Darstellungen. Die Leiterin
Ronja betont eher, dass sie selbst der geleiteten Struktur überdrüssig war. Die Rolle entsprach
nicht ihrem Selbstverständnis und brachte eine zu hohe Arbeitsbelastung mit sich. Das Gruppenmitglied Katja hebt stärker hervor, dass die Gruppenmitglieder mit ihrer passiven Rolle
nicht mehr zufrieden waren und einige von Ronjas Vorschlägen auch inhaltlich ablehnten. Offensichtlich bestand die Unzufriedenheit also auf beiden Seiten. Die Ablösung vollzog sich in
Form unterschiedlicher, miteinander verbundener Prozesse, die wiederum von verschiedenen
Seiten unterschiedlich gewichtet werden. Katja betont, dass Gruppenmitglieder begannen, eigenständig Vorschläge zu machen und dass sie sich über die gewünschte Rollenverteilung informell verständigten. Ronja hebt besonders die Rolle einer großen Aussprache hervor. Bei
dieser Gelegenheit hatte sie deutlich gemacht, dass sie nicht mehr bereit war, die Leitungsrolle
zu übernehmen. Andere Gruppenmitglieder hatten eingesehen, dass sie Alternativen finden
mussten, wenn sie die Umweltarbeit fortsetzen wollten. Leitungsfunktionen und Aufgaben
waren neu verteilt worden.
Betrachtet man diesen Prozess genauer, so kristallisieren sich eine Reihe fördernder Faktoren
für die Ablösung heraus. Die engen persönlichen Bindungen ermöglichten es, eine gemeinsame Situations- und Problemdefinition zu entwickeln, die Aufgaben und Belastungen der
Leiterin kennen zu lernen, ihre Rollenprobleme als die Probleme einer Freundin zu erfahren
und sich dafür verantwortlich zu fühlen. Die vertraute Gruppenatmosphäre bot einen ermutigenden Rahmen, um die Initiative zu ergreifen. Zugleich war in der Gruppe das Gefälle von Alter und Kompetenzen gering. Es war daher einfach, Aufgaben gleichmäßig aufzuteilen. Einige
Mitglieder waren hoch motiviert zur Umweltarbeit. Zugleich machte die ehemalige Leiterin
deutlich, dass diese Umweltarbeit nur in einer Form weitergehen könnte, in der sie selbst keine
Leitungsrolle mehr inne hätte. Es bestand also ein hoher Anreiz, nach anderen Formen zu suchen. Auch existierten Zukunftsperspektiven in Form konkreter, bereits in Planung befindlicher Aktionen. Schließlich blieb die ehemalige Leiterin weiter Mitglied der Gruppe und stand
als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Bei der Gruppe in Waldenberg planten alle Mitglieder der Kerngruppe, den Ort Waldenberg
zum Studium zu verlassen. Annika tat das durch einen Auslandsaufenthalt früher als die anderen. Die Gruppe war darüber bereits drei Monate vor Annikas Weggang und ein Dreivierteljahr
vor dem Weggang der anderen Kerngruppenmitglieder informiert. Gelegentlich wurde in verschiedenem Rahmen darüber gesprochen. Da die Beziehungen zwischen Kern- und Randgruppe konflikthaft waren, erlebte die Randgruppe den geplanten Weggang ambivalent: als
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
369
Verlust, aber auch als Chance, eigene Ideen stärker zu verwirklichen. Kurz vor dem Weggang
von Thomas und Martin beriefen diese eine Versammlung ein, auf der ein -formaler- neuer
Leiter gewählt und die anstehenden Aufgaben besprochen wurden. Zugleich gaben sie sich
große Mühe, andere Gruppenmitgliedern für die Übernahme verantwortlicher Funktionen zu
gewinnen. Die Resonanz blieb gering, was bei Thomas und Martin zu deutlich bekundeter
Frustration und Resignation führte. Diese Reaktion wiederum spornte andere Gruppenmitglieder wie Feli an. Sie fühlte sich herausgefordert, selbst die Initiative zu ergreifen und zu beweisen, dass die Gruppe etwas leisten konnte. Kurz vor und kurz nach dem Weggang der
Kerngruppe schieden einige eher passive Gruppenmitglieder aus. Die Arbeit der Verbliebenen
war zunächst von organisatorischen Schwierigkeiten geprägt. Immer wieder half Thomas etwa
bei der Organisation von Treffen aus. Anhand eines Projektes, des Umweltjahrmarktes, gelang
es der Gruppe aber, sich zu einem selbstständig arbeitenden und weitgehend gleichberechtigten Team zusammenzufinden. Diese Struktur führte zu hoher Zufriedenheit und Motivation.
Wichtig für das Gelingen dieser wenig geradlinigen und teilweise widersprüchlichen Entwicklung waren folgende Faktoren: Die übriggebliebenen Gruppenmitglieder waren sehr motiviert,
weil sie sich auf eigene Gestaltungsmöglichkeiten und auf ein Ende der Statuskonflikte freuten. Dennoch konnten sie von den Statushöheren profitieren: Durch Beobachtung hatten sie
sich einige Kompetenzen angeeignet, wenn auch oft noch nicht praktisch umgesetzt, und die
Unterstützung von Thomas half die Übergangsphase überbrücken. Weitere Unterstützung bot
die Betreuung durch einem Zivildienstleistenden in der Landesgeschäftsstelle. Durch den
Ausstieg der Kerngruppe einerseits, passiverer Mitglieder andererseits war die Zusammensetzung nach Alter und Kompetenz relativ homogen geworden, so dass Arbeit gleich verteilt
werden konnte. Die Gruppe war klein und überschaubar und es wurde ein attraktives Projekt
gefunden.
Die Zschernitzer Gruppe wurde von einer ABM-Kraft des BUND gegründet, organisiert und
geleitet. Nach etwa einem Jahr orientierte sich der externe Leiter beruflich neu. Zudem nahm
das Streben von Gruppenmitgliedern nach Selbstständigkeit zu. Der Leiter begann schrittweise, Gruppenmitglieder in Aufgaben einzuführen. Beispielsweise wurden sie zu Kreisjugendring-Sitzungen mitgenommen und mit den dortigen Abläufen vertraut gemacht. Die Gruppe
fuhr für ein Wochenende in ein Tagungshaus, um den Übergang zu organisieren. Mit Hilfe eines moderierten Brainstormings sammelte sie Ideen, definierte Ziele und verteilte Aufgaben
und Verantwortlichkeiten. Anschließend arbeitete die Gruppe relativ problemlos, wenn auch
nicht übermäßig aktiv, selbst organisiert weiter. Gelegentlich wurde sie von der BUNDOrtsgruppe unterstützt. Als entscheidende Faktoren erscheinen hier die sehr kleine, übersichtliche und homogene Gruppe, der organisierte Erwerb von Kompetenzen, die Existenz von Zukunftsperspektiven in Form konkreter, bereits angelaufener Aktionen, die geordnete Überga-
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
370
be mit langer Vorbereitungszeit und Gesprächen zur Einstimmung sowie die Unterstützung
durch Mitglieder der BUND-Ortsgruppe.
Die Zusammenfassung der Fälle ergibt einen Kanon von Faktoren, die die Ablösung von einem Leiter fördern. Einige davon liegen nur in Grenzen in der Hand des Leiters: kleine, relativ
homogene Gruppen, gute persönliche Beziehungen oder hohe Motivation. Andere können
von Leitern als gezielte Strategien eingesetzt werden. Dazu zählt die planvolle Förderung des
Kompetenzerwerbs. Wichtig erscheinen insbesondere Kompetenzen zur Aktionsplanung, Projektorganisation, Organisation von Gruppentreffen und zum "Lernen lernen", also die Vermittlung des Wissens darüber, wie und wo man sich weitere Kompetenzen aneignen kann. Zudem
muss die Gruppe von ihren Kompetenzen subjektiv überzeugt genug sein, um sich den Schritt
der Ablösung zuzutrauen (wie die Zschernitzer Gruppe feststellt: "Wir sind jetzt weit genug,
dass wir das alleine können"). Weiter kann der Leiter dafür Sorge tragen, dass ein attraktives
Projekt vorliegt, das bereits ein Stück weit geplant ist, und an dem die Gruppe weiterarbeiten
kann. Außerdem hilft eine geordnete Übergabe mit Aufgabenverteilung sowie eine Weiterbetreuung der Gruppe beziehungsweise die Vermittlung eines Kontaktes zu anderen Ansprechpartnern und Beratern.
9.6.3
Thesen zur Intervention
1. Einflussnahme auf die Gruppenstruktur muss zwei Rahmenbedingungen im Auge behalten.
Erstens kann ein und dieselbe Gruppenstruktur eine Identifikation mit dem Umweltengagement sowohl fördern als auch hemmen. So kann eine qualifizierte Leitung zu Effizienz und
funktionierender Arbeit beitragen und dadurch die Motivation erhöhen. Zugleich kann sie die
Weiterentwicklung anderer Gruppenmitglieder behindern. Ein starkes Statusgefälle kann Lernchancen schaffen, aber auch blockieren. Zweitens sind einige Einflussfaktoren der Gruppenstruktur nur in Grenzen zu beeinflussen. Dazu gehört vor allem die homogene oder heterogene
Zusammensetzung der Gruppe in Bezug auf Alter, Wissen und Können.
2. Unter diesen Voraussetzungen gilt es vor allem, die Gruppenstruktur möglichst flexibel zu
gestalten. Die Jugendlichen sollen in die Lage versetzt werden, Strukturen anzupassen und
nach ihren Bedürfnissen umzugestalten. Auf sich wandelnde Gruppenzusammensetzungen,
Entwicklungsprozesse und Kompetenzzuwächse einzelner Mitglieder sollen sie rasch und angemessen reagieren können.
3. Dazu beitragen kann erstens eine Qualifizierung der "randständigeren" Gruppenmitglieder.
So wurde in einer Gruppe der Vorschlag gemacht, jedem unerfahrenen Mitglied ein erfahreneres als eine Art "Mentor" zuzuordnen. Zweitens hilft Aufklärung über die Bedeutung der
Gruppenstruktur und gemeinsame Reflexion der eigenen Strukturen. Drittens empfiehlt sich
Mobilisierung Jugendlicher zum Umweltengagement
371
ein Training für Leiter, in dem sie ihre Rolle reflektieren und Techniken zum "Empowerment"
und für eine gelungene Ablösung lernen. Wird die Gruppe von einem externen Leiter geführt,
sollte dieser die Voraussetzungen für einen gelungenen Ablösungsprozess schaffen (vgl.
S.371f).
4. Eine weitere Lösung besteht darin, funktionale Alternativen für Strukturen zu schaffen, die
für bestimmte Aufgaben scheinbar benötigt werden, in anderen Bereichen aber dysfunktional
sind. Eine funktionale Alternative für Leitungsfunktionen "in einer Hand" ist die Aufteilung
bestimmter notwendiger Funktionen zwischen Gruppenmitgliedern. Die Einholung von Informationen kann auf verschiedenen Gruppenmitglieder verteilt werden; in dafür freigehaltenen Phasen eines Treffens können diese Informationen zusammengetragen werden. Moderation und Gesprächsleitung können abwechselnd wahrgenommen werden. Ziele müssen nicht
von einem Leiter festgelegt werden, damit ein für alle verbindliches, gemeinsames Ziel feststeht. Sie können auch durch Konsensgespräche oder notfalls durch Mehrheitsentscheid bestimmt werden.