2015 - Die Wahlen sind bald....._3 redaktionell überarbeitet_

Rentnerdemokratie in Deutschland?
Manfred G. Schmidt
2. Herrenhäuser Zukunftsdialog
„Wahlen sind bald – die Jugend läßt’s kalt“
Politische Beteiligung im 21. Jahrhundert
Schloss Herrenhausen
Mittwoch, 1. Juli 2015, 19 Uhr
Redaktionell überarbeitete Fassung des Vortrags
Meine Damen und Herren,
Zwei Gefahren drohen der Demokratie, wenn nur wenige junge Wahlberechtigte
wählen gehen und auch später Nichtwähler bleiben: erstens die Austrocknung der
Demokratie und zweitens die Verwandlung der Demokratie von einer Regierung des
Volkes, durch das Volk und für das Volk in eine Herrschaft von Alten, durch Alte
und für Alte. Oder in einer einprägsamen Kurzformel gesagt: Dann droht die Verwandlung der Demokratie in eine „Rentnerdemokratie“. Ob Deutschland auf eine
„Rentnerdemokratie“ zusteuert oder ob das nicht der Fall ist – davon handelt mein
Beitrag zum heutigen Gespräch.1
Größere potentielle Macht der Senioren …
Auf den ersten Blick scheint einiges für die Rentnerdemokratie zu sprechen. Denn
die potentielle Macht der Senioren in Deutschland ist größer als je zuvor – und mit
Senioren meine ich die mindestens 65-Jährigen. Die zunehmende Zahl der Älteren,
ihr wachsender Anteil an der Bevölkerung – derzeit 21 Prozent – und ihre rege
Wahlbeteiligung vergrößern das potentielle politische Gewicht der Senioren beim
1
Den Begriff hat vor allem Roman Herzog populär gemacht, vgl. Roman Herzog 2008: RentnerDemokratie. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 86, 12. April 2008, S. 9. Der vorliegende Beitrag
basiert auf zwei ausführlicheren Abhandlungen mit jeweils detaillierten Nachweisen: Manfred G.
Schmidt, Auf dem Weg in die Gerontokratie? Alter und Politik. Beitrag für Der Bürger im Staat Heft 23 (2015) (im Erscheinen); Manfred G. Schmidt 2012: Die Demokratie wird älter – Politische Konsequenzen des demographischen Wandels, in: Peter Graf Kielmansegg und Heinz Häfner (Hg.), Alter
und Altern. Wirklichkeiten und Deutungen, Heidelberg: Springer Verlag, S. 163-186.
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Kampf von Regierungs- und Oppositionsparteien um Wählerstimmen. In die gleiche
Richtung wirkt die überdurchschnittliche Mitgliedschaft der Älteren in Parteien und
in Verbänden.
Zudem stellen sich die Senioren von heute materiell weitaus besser als die Älteren in
früheren Zeiten. Ihre Absicherung im Alter heutzutage ist viel besser als in früheren
Jahren – infolge eines höheren Wohlstandes, eigener Ersparnisse sowie infolge der
Alterssicherungssysteme, des Gesundheitswesens und der Pflegeversicherung. Bis in
die späten 1950er Jahre hatte in der Arbeiterschaft eine panische Angst vor dem Älterwerden geherrscht, denn Älterwerden bedeutet damals für viele Absturz in die
Verarmung. Das ist heute in der Regel nicht mehr der Fall.
… Aber auch Grenzen der Seniorenmacht … weder Seniorenpartei noch Räte der Älteren
Die potentielle Macht der Senioren ist größer und ihre materielle Absicherung im
Alter ist besser geworden. Doch die Grenzen der Seniorenmacht sind ebenfalls nicht
zu übersehen. Von den Grenzen künden allein zwei auffällige Befunde: Trotz fortgeschrittener Alterung der Bevölkerung gibt es keine größere oder große Partei der Alten - weder hierzulande noch in den anderen Demokratien. Vielmehr sammeln sich
die Älteren – ihrem Stimmverhalten bei Parlamentswahlen nach zu urteilen – bei
Parteien der Mitte oder bei Mitte-links-Parteien, in Deutschland mit relativer Mehrheit bei der CDU und der CSU. Und trotz fortgeschrittener Alterung ist hierzulande
und anderswo kein Verfassungsorgan in Sicht, das einem einflussreichen Rat der
Älteren oder der Greise, wie ihn etliche Staatsformen der Antike kannten, gleichkäme.
…Grenzen der Seniorenmacht auch im Spiegel des Alters von Abgeordneten, Ministern und
Regierungschefs und in Parteien und Gewerkschaften
Auf Grenzen der Seniorenmacht verweist auch die Präsenz der Älteren in der Politik.
Gewiss sind die mittleren und älteren Altersgruppen in den Parlamenten und in den
Regierungen überrepräsentiert. Doch die Repräsentationsunterschiede zwischen Alt
und Jung sind nicht größer geworden. Ein Beispiel ist das Durchschnittsalter der Abgeordneten des Deutschen Bundestages: Es liegt mittlerweile unter dem Stand der
1950er-, 1960er- und 1970er Jahre.
Sind vielleicht die Minister älter als früher? Die Antworte lautet ebenfalls nein! Das
Durchschnittsalter allein der Bundesminister spricht ebenfalls gegen die These von
der Altenherrschaft. Im internationalen Vergleich liegt Deutschlands Bundeskabinett
mit einem Durchschnittsalter von etwas mehr als 50 Jahren in der Mitte zwischen
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den jüngeren Kabinetten wie in Litauen und den Kabinetten in Japan, deren Mitglieder im Durchschnitt 60 Jahre alt sind.
Auch das Alter der Bundeskanzler zeigt nicht auf eine zunehmende Altenherrschaft.
„Kein Wunder!“ mögen Sie sagen, weil Deutschlands erster Bundeskanzler, Konrad
Adenauer, beim Amtseintritt mit 73 Jahren eine viel größere Lebenserfahrung als alle
Nachfolger mitbrachte. Mittlerweile sind die Kanzler bei Amtseintritt aber jünger.
Erhard wurde mit 68 Jahren Kanzler, Kiesinger im Alter von 62 und Brandt und
Schmidt jeweils mit 55 Jahren. Kohl, Schröder und Merkel schließlich gehörten bei
der Übernahme des Kanzleramtes mit 52, 54 und 51 Jahren zu den jüngeren Regierungschefs.
Nicht minder gewichtig sind Entkoppelungen der Politik von der Alterung der Gesellschaft in den Gewerkschaften und den Parteien. Gewiss: In den Gewerkschaften
ist der Anteil der älteren Mitglieder größer geworden. Oft gehören die Älteren dort
sogar zu den besonders kampfeslustigen Gruppen. Aber ihr Gewicht wird weitgehend neutralisiert. Eine „starke Randgruppe…. mit schwachen Mitgliedschaftsrechten“ seien die Rentner, so kann man bei Experten der Gewerkschaftsforschung –
Schroeder und Mitarbeiter – lesen (2011).2
Auch die Führungsgruppen der politischen Parteien grenzen sich von den alternden
Mitgliedschaften deutlich ab. Der tiefere Grund liegt im Parteienwettbewerb. Die
Parteien müssen sich regelmäßig dem Wählerurteil stellen. Sie streben nach möglichst großen relativen, wenn nicht gar absoluten Mehrheiten. Doch dafür benötigt
man mehr als nur die Stimmen der Senioren.3 Man muss vielmehr eine möglichst
große Zahl von Wählern bei den älteren, den mittleren und den jüngeren Gruppen
mobilisieren. Der Wettbewerb um Wählerstimmen zwingt die Partei zur wählergruppenübergreifenden Werbung. Insoweit bringt der politische Wettbewerb in der
Demokratie ein Gleichgewicht zustande - ähnlich der unsichtbaren Hand in Adam
Smith’s Lehre vom Wohlstand der Nationen. Der demokratische Marktmechanismus
erzeugt trotz Alterung der Bevölkerung ein relatives Gleichgewicht zwischen Alt
und Jung und wirkt gegen eine Altenherrschaft.
Grenzen der Seniorenmacht durch Stopp-Regeln
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Wolfgang Schroeder /Bettina Munimus/ Diana Rüdt 2011: Seniorenpolitik im Wandel. Verbände und
Gewerkschaften als Interessenvertreter der älteren Generation. Frankfurt a.M.-New York, S. 443.
3 Der Anteil der mindestens 60-Jähringen an den Wahlberechtigten liegt – Stand Bundestagswahl 2013
– bei 33,7 Prozent (Pressemitteilung des Bundewahlleiters vom 21.Februar 2013, Forschungsgruppe
Wahlen (FGW) 2013: Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 22. September 2013. Mannheim).
Der Anteil der Rentner an den Wählern von 2013 betrug laut FGW 22 Prozent - bei der Union 25 Prozent und bei der SPD ebenfalls 25 Prozent (FGW 2013: 99).
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Begrenzt wird die Seniorenmacht auch durch Stoppregeln. Ein Beispiel: Die Amtsdauer von Richtern des Bundesverfassungsgerichts wird durch eine Altersgrenze - 68
Lebensjahre - und eine Höchstmandatsdauer von 12 Jahren geregelt. Lebenslange
Amtsführung der Verfassungsrichter wie im US-amerikanischen Supreme Court ist
somit in Deutschland unmöglich.
Grenzen der Seniorenmacht: tiefe Einschnitte in die Alterssicherungssysteme
Ein weiterer Mechanismus zeigt ebenfalls die Grenzen der Seniorenmacht an: Die
Alterssicherungspolitik der Regierungen in Deutschland. Sie ist in punkto Anpassung an den demographischen Wandel besser als ihr Ruf. Gewiss: Die Politik hat auf
die Alterung mit erheblicher Zeitverzögerung und mitunter halbherzig reagiert.
Aber die Politik hat hierzulande insbesondere die Alterssicherungssysteme an den
demographischen Wandel angepasst, und zwar beträchtlich.
Ablesen kann man das am Bruttorentenniveau – es liegt für den sogenannten Eckrentner (45 Versicherungsjahre) bei 47,8 Prozent (2010) gegenüber 53,2 Prozent
(1960)4. Noch informativer ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Alter und
Hinterbliebene und ihr Anteil am Sozialprodukt. Einerseits sind diese Ausgaben in
Deutschland hoch: derzeit rund 300 Mrd. Euro oder etwas mehr als 11 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes. Andererseits ist die Alterung der deutschen Bevölkerung
weit vorangeschritten – übertroffen wird sie nur noch von Italien und Japan. Doch
jetzt kommt das Interessante: Der internationale Vergleich des Zusammenhangs zwischen den Seniorenquoten und den Ausgaben für Alterssicherung in den wirtschaftlich wohlhabenden Demokratien deckt einen bemerkenswerter Sachverhalt auf.5
Deutschlands Ausgaben für die Alterssicherung sind sogar relativ niedrig - gemessen
an der Alterung seiner Bevölkerung und gemessen an den Verhältnissen in den anderen wohlhabenden Demokratien. Würde Deutschland den in anderen Demokratien üblichem Trrend folgen, würden seine Ausgaben für Alter und Hinterbliebene
nicht bei 10,0Prozent Liegen, so die OECD-Schätzung, sondern bei 12,32 Prozent also rund ein Fünftel höher!
Wie zu erwarten gibt es einen trendartigen Zusammenhang: Je höher die Seniorenquote, desto tendenziell höher der Anteil der Ausgaben für die Alterssicherung und
Hinterbliebene. Andererseits gibt es aber erhebliche Abweichungen von diesem
Trend. Diese Abweichungen sind spektakulär. Eine Gruppe von Ländern leistet sich
Gemessen am Anteil am Bruttoarbeitsentgelt vor Steuern (BMAS (Hg.), Statistisches Taschenbuch
2010, Tabelle 7.10).
5 Siehe das Schaubild 1 im Anhang. In diesem Schaubild sind auf der Waagrechten die Seniorenquote
abgetragen, also der Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Bevölkerung im Jahre 2013. Auf der
Senkrechten abgetragen ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Alterssicherungssysteme in Prozent des Sozialproduktes.
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außerordentlich hohe Alterssicherungsausgaben, viel zu hohe, relativ zu ihrer Wirtschaftskraft, allen voran Griechenland, aber auch Italien und Frankreich (und einige
andere Länder). Das sind die Problemstaaten der Alterssicherung. Unterhalb der
Trendlinie liegen die Reformstaaten der Alterssicherung: diese Staaten haben ihre
Alterssicherungssysteme an den demographischen Wandel angepasst haben. Zu diesen Staaten gehört auch die Bundesrepublik Deutschland.
Hinzu kommt ein zweiter Befund. Im Zeitverlauf wird eine bemerkenswerte Richtungsänderung erkennbar. Der Anteil der Ausgaben für Alter und Hinterbliebene
nimmt in Deutschland seit etwa einer Dekade wieder ab. Aber das geschieht in einem Zeitraum, in dem die Seniorenquote tendenziell steigt!6
Das ist ein bemerkenswerter Trendbruch. Seine Hauptursache liegt in einer Serie von
Umbau- und Rückbaumaßnahmen in der Alterssicherung, von teils kleineren, teils
mittelgroßen, manchmal auch großen Maßnahmen. Diese Maßnahmen verdrängten
allmählich die Ausbaureformen, die die Politik der Alterssicherung insbesondere
von 1957 bis Mitte der 70er Jahre geprägt hatte. Die Einschnitte und Umbaumaßnahmen in der Alterssicherung fanden sowohl unter bürgerlichen als auch unter sozialdemokratisch geführten Regierungen statt und sie summierten sich zu beträchtlichen Kürzungen der Renten in der Gesetzlichen Rentenversicherung und mit Zeitverzögerung bei den Pensionen der Beamten. Insoweit bescheinigen Experten der
deutschen Politik zu Recht, sie sei „der Eindämmung der Alterssicherungskosten
recht erfolgreich“7 gewesen, obwohl sie zahlreiche institutionelle Hindernisse und
einflussreiche Gegenspieler überwinden musste.
Nun werden etliche Beobachter einwenden, dass die „Rente mit 63“ und die „Mütterrente“, die 2014 von der derzeit amtierenden dritten Großen Koalition eingeführt
wurden, das Rad der Alterssicherung wieder in die alte Richtung drehen. Ja, so wäre
es - wenn die Politik der Bundesregierung bei diesem Kurs bleiben sollte und allenthalben auf weiteren Ausbau der Alterssicherung streben sollte. Dann wäre 2014 in
der Tat ein neuer Trendbruch. Es sieht aber nicht danach aus. Zudem sind die Kosten
der Mütterrente und der Rente ab 63 gewiss beachtlich – 9 Milliarden allein 2015 laut
Schätzung der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute von 2104.
Doch relativ zu den ganz großen Summen, die in der Alterssicherung bewegt werden, sind das 2015 knapp 3 Prozent aller öffentlichen Ausgaben für Alter und Hinterbliebene.8
Siehe das Schaubild 2 im Anhang.
Isabell Schulze /Sven Jochem 2007: Germany: beyond policy gridlock, in: Ellen M. Immergut/ Karen
M. Anderson /Isabelle Schulze (Hg.) The Handbook of West European Pension Politics. Oxford, S. 660712, Zitat S. S. 697, Übersetzung d. Verf.
8 Geschätzt auf der Basis der Zahlen für 2013 (307,3 Mrd. Euro) in BMAS (Hg.) 2015, Übersicht über
das Sozialrecht, Nürnberg, S. 1211.
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Ich fasse zusammen: Deutschland ist trotz einer spürbaren Alterung der Gesellschaft
und einer insgesamt zunehmenden potentiellen Macht der Älteren9 nicht auf dem
Weg in eine Rentnerdemokratie. Und: Die Politik hat maßgeblich dazu beigetragen,
die gerontokratischen Tendenzen abzumildern, zurückzustauen und zwar in einem
Ausmaß, das laut internationalem Vergleich sehr beachtlich ist.
Ich komme zu der Überlegung zurück, die am Anfang meines Vortrages stand: die
Gefährdungen der Demokratie. Von den zwei potentiellen Gefährdungen kann man
hierzulande jedenfalls die eine streichen: die Gefahr einer Rentnerdemokratie, einer
Politik der Alten, von Alten und für Alte.
Die Senioren sind keineswegs die einzige Macht im Staat. Und ferner sind Jung und Alt – wie Umfragen zeigen – nicht in einen unversöhnlichen Generationenkonflikt verstrickt. Gleiches gilt für mögliche Spannungen zwischen Altersrentnern und Erwerbstätigen. Und selbst potentiell explosive Spaltungen wie die zwischen der Seniorenmehrheit für die bürgerlichen Parteien und der Mehrheit der
jüngeren Wähler für das nichtbürgerliche Lager sind nicht eruptiv. Zudem haben beträchtliche Anpassungen der Alterssicherungssysteme an den demographischen Wandel den potenziellen Konflikt
zwischen Alt und Jung gelindert.
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Anhang
Schaubild 1:
Ausgaben für Alterssicherung und Hinterbliebene und Seniorenquote im OECDOECD
Länder-Vergleich 2011
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Schaubild 2: Seniorenquote und Alterssicherungsausgaben in der
Bundesrepublik Deutschland 1950-2013
1950
Quellen: BMA (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) (Hg.),, Statistisches Taschenbuch.
Arbeits- und Sozialstatistik (verschiedene Ausgaben); BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) 2014: Sozialbudget 2013, Bonn; Manfred G. Schmidt 2012: Die Demokratie wird älter – Politische Konsequenzen des demographischen Wandels, in: Peter Graf Kielmansegg und Heinz Häfner
(Hg.), Alter und Altern. Wirklichkeiten und Deutungen, Heidelberg: Springer Verlag, S. 163-186.
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