pdf-Leseprobe - des Machandel Verlag

Die Speckkartoffeln
Die Speckkartoffeln
Hubertus-Kraft Graf Strachwitz
Anthologie
Machandel Verlag
Original-Auflage Verlag Hermann Rauch. Wiesbaden, 1923
Neuauflage Machandel Verlag, C. Erpenbeck, Haselünne, 2015
Umschlag und Gestaltung der Neuauflage: C. Erpenbeck
unter Verwendung von Foto-Material der Webseite
www.cgtextures .com
Deko-Elemente innen: www.shutterstock .com
ISBN 978-3-939727-96-5
Fünf Kurzgeschichten
aus den „Goldenen Jahren“
des 20. Jahrhunderts
Die Speckkartoffeln
„M
artha – Martha!“ dröhnte die Stimme des Pfarrherrn
Matthias Gottwald ungeduldig durch den Flur nach
der offenstehenden Küchentür hinüber, der ein ganz wunderlicher Geruch gebratenen Specks entströmte. „Martha,
hörst du nicht?“
Martha, die bejahrte, ein wenig verhutzelte Pfarrwirtin
hörte wohl, aber sie steckte eben schwer sinnend ihre angeprökelte Nase in die Pfanne hinein. Speck, gebratenen Speck,
seit vier Jahren den ersten wieder im Pfarrhause, und heute
abend gab es Speckkartoffeln, nicht für sie, beileibe nicht,
höchstens einige Krumen. Alles war für ihn, den Herrn, den
immer gütigen. In Friedenszeiten war es seine Lieblingsspeise. Wie würde er sich freuen und seine Äuglein blinken lassen.
„Martha – Martha!“ „Nun ja doch, was gibt´s denn?“ Dabei schob sie genau berechnend wie ein Kupferstecher die
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Pfanne nach der Mitte der Feurung, wo die Eisenringe glühten. „Was gibt´s denn?“
„Nichts, ich will heute Abend nur Tee und trocken Brot
haben, – sonst nichts, absolut nichts.“ Mit diesem energischen Ausruf fiel ebenso rasch drüben die Tür des Wohnzimmers ins Schloß. Eine Stille trat ein, in der man nur den
Speck prutzeln und spritzeln hörte. Der Stiel der Pfanne erzitterte in Marthas knochiger Hand; nichts will er – wieder
einmal seine Marotte – grade heute muss er auf die verhirnte
Idee verfallen, sich zu kasteien ... Sie war versucht, die Pfanne umzudrehen und den speckigen Inhalt pritzelnd und
prasselnd in die Glut zu schütten. Aber das durfte sie der guten Frau Wagner nicht antun, die es sich abgespart hatte, um
dem Herrn Pfarrer auch einmal eine irdische Freude zu bereiten. Selbst essen – schon der Gedanke schien ihr strafbar,
zusammenschmelzen und aufheben, da verlor sie zuviel. Also
er musste doch essen. Sie stellte die Schüssel mit den Speckkartoffeln einfach vor ihn hin, der Geruch würde es ihm
schon antun, ihn überlisten –, dann aß er sie doch auf, trotz
aller Furcht, sein Gewicht ständig zu vermehren. Sie wollte
überhaupt nicht, dass er Pfunde abgebe, dann würden die
Leute im Städtchen meinen, sie könne nicht ordentlich kochen. Resolut brachte sie die Pfanne wieder über die Glut
und bereitete die Speckkartoffeln vor.
Herr Matthias Gottwald ging indessen in seinem Wohn8
und Studierzimmer unruhig auf und ab. Sein sonst so gutmütiges, freundliches, rund geformtes Angesicht erweckte heute
den Anschein ernster Bekümmernis. Der Pfarrherr blieb vor
dem Spiegel stehen, der über einer rötlichen Mahagonikommode hing und betrachtete prüfend seine Erscheinung. War
er nicht doch ein wenig schlanker geworden? Er knöpfte den
etwas knappen Rock über der Brust zusammen und presste
sich ein. Doch – ein wenig! Er fuhr mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Doppelkinn. Saß der Kragen nicht bequemer als früher? Ein starker Sektpropfen hätte wohl Platz –
aber früher auch. Er schlug mit den Händen um sich, drückte
seinen Leib wie einer, der sich massieren will; aber es half
nichts.
„Schrecklich“, stöhnte er, „wenn ich auch nicht unförmig
bin, so doch unverändert. Mir wohl gleich, aber als Festredner ... kann es sein?“ Er schielte nach einem Schreiben hinüber, das wie weggeworfen auf der schrägen Platte eines altmodischen Sekretärs lag, „der schreibt`s, eine unangenehme
Sache!“
Pfarrer Gottwald hielt nämlich für sein Leben gerne Festreden und sonstige Ansprachen. Sein starker Körperbau, der
warme Klang seiner Stimme, der leichte Fluß seiner Rede
prädestinierten ihn hierfür geradezu. Da er studiert hatte
und auch sonst ein guter Kerl war, wurde er in weiten Kreisen eingeladen, als Festredner aufzutreten: wenigstens vor
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dem Kriege. Nun aber seit langen Jahren nicht mehr. Die verehrten Konfratres sahen mit einer gewissen Mißbilligung auf
seine unveränderte Korpulenz. Er wehrte sich gegen diese
Krankheit, wie man es spöttelnd nannte; er aß Kriegskost
und ging selbst dem sauren Kriegsbier aus dem Wege – aber
er war ein Stubenhocker, ein Bücherwurm, ein Schriftsteller;
und sobald ihn die Seelsorge beurlaubte, schob er sich unter
die Schreibtischplatte und arbeitete, arbeitete acht bis zehn
Stunden am Tage, da konnte er freulich nicht abnehmen. Im
Gegenteil, der Körper wuchs vom vielen Sitzen. Außerdem
betrog ihn die Martha beim Essen. Sie kochte immer noch
was Gutes und sparte es sich selbst vom Munde ab. Er merkte es kaum; es mundete ihm, und schon wieder saß er am
Schreibtisch,
Aber Festreden halten; das galt ihm als Bewegung. Da
mußte er auf die Bahn gehen, Fahrkarten lösen, sie einknipsen lassen, da mußte er in den Eisenbahnwagen klettern,
umsteigen, ankommen, sich begrüßen lassen, dann stundenlang stehen, reden und schließlich das Festessen schlucken.
Nun aber seit Jahren war es still, es gab keine Feste mehr. Bis
heute – dort lag der Brief seines spillerigen langen Freundes,
des Pfarrers Dr. Schmidt, drüben über den Bergen in der
reich bevölkerten Kreis- und Industriestadt. „... wir wollen
das Fahnenweihfest des katholischen Jünglingsvereins feiern.
Ich bitte dich, in deiner gewohnten frischen Weise die Festre10
de zu halten. Doch in Anbetracht dessen, daß in hiesiger Gegend zum ersten Male seit Menschengedenken ein katholisches öffentliches Volksfest gefeiert wird, hoffe ich, daß du
dir endlich ein kriegsgemäßes Äußeres beigelegt hast; denn
ich fürchte sonst die losen Münder der sozialdemokratischen
Jugend. Die Festrede soll auf dem Turnplatz vor etwa 3000
Menschen steigen. Also sieh dich vor, damit du nicht nur
dem Munde, sondern auch deinem Äußeren nach sozial
wirkst.“
Das war ein Hieb, der saß! Aber er würde reden ohne
Zweifel; er wollte sich kasteien, nichts essen, nur trocken
Brot und Tee.
Martha trat ein und deckte den Tisch. Der Pfarrherr nahm
ein Buch zur Hand, setzte sich unter die Lampe mit abgewandtem Gesicht. Er erwartete eine wortreiche Rede, in der
ihm das Unsinnige seiner Handlung vorgehalten würde: es
hülfe doch nichts, er würde nur seiner Gesundheit schaden,
die Sachen müßten verderben. Aber nichts von alledem.
Schweigsam gegen jede sonstige Gewohnheit verrichtete
Martha ihre Arbeit und verließ das Zimmer. Gottwald las weiter. Er hatte keine Sehnsucht nach trockenem Brot. Auf einmal stieg ihm etwas Spickiges aus der Richtung des Eßtisches
her in die Nase. – „Nanu?! –“ Es dampfte seinem Gesicht entgegen. – „Wie, wie?“ Er blähte die Nasenflügel mißtrauisch
auf, er hatte doch nur Brot verlangt. Roch es nach Gebrate11
nem, dann hatte Martha ihn betrogen. Er würde ihr schellen
– damit sprang er auf und wollte rücklings am Eßtisch vorbei, aber der wundersame Geruch zog seine Nase und mit
ihr das Gesicht herum und da – „Potztausend – Speckkartoffeln!“ Eine riesige Schüssel Speckkartoffeln, dampfend, pritzelnd, duftend. Er starrte sie zu Tode erschrocken an, als
wenn eine Handgranate vor ihm läge, deren Zünder bereits
in Brand gesetzt war. Speckkartoffeln! Dieses Weibsbild, diese Martha, eine Verführerin, eine Eva! – Er wehrte mit den
Händen ab, es durfte nicht sein, die Festrede, er sollte doch
sozial wirken. Seine Augen suchten den Brief seines Freundes, um eine Dosis Widerstandskraft zu gewinnen; aber mit
unheimlicher Magie zog es ihn wieder der Schüssel zu. Wie
der Dampf schmunzelte, die Spreckgriesen ihn anlachten,
die braune Tunke mit den Fettaugen lockte … da, auf einmal „ich pfeife der Festrede“, und dann saß er am Tisch, fältelte die weiße Serviette um den starken Leib und streckte
die Gabel nach der dicksten Speckkartoffel oben aus.
Draußen schlug die Gangglocke an. Niemand öffnete.
Martha war wie gewöhnlich während des Abendessens in
den Keller hinabgestiegen. Herr Matthias Gottwald legte die
Gabel wieder hin, schritt auf den Gang hinaus und öffnete
die klobige Holztür. Der alte Lautermann hockte vor ihm mit
abgestümmelten Gliedern, einem verzottelten Barte und triefenden Bettleraugen:
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„Herr, erbarmt Euch eines Armen!“
Pfarrer Gottwald griff in die Tasche.
„Nicht doch“, ächzte der Lautermann, „ich habe Hunger.“
„Hunger hast du“, fast ratlos sah der Pfarrer auf ihn. Doch
auf einmal kam ihm ein gesegneter Gedanke. Martha war
nicht da. Er stürzte nach seinem Zimmer, griff nach der gefüllten Schüssel, spießte die Gabel oben in die spickigen Kartoffeln ein und trug alles dem Lautermann hin, schob ihm
noch einen Stuhl zurecht und eilte in sein Studierzimmer zurück, als wenn er ein Unrecht begangen hätte. – Der betrachtete ganz verwirrt, fast ängstlich um sich blickend, die gefüllte Schüssel Speckkartoffeln; dann aber machte er sich daran
wie ein ganz Heißhungriger, aß alle auf, ließ keine übrig und
schleckte mit gieriger Zunge höchst appetitlich den Speck
aus der Schüssel. Dann trug er sie drüben an die Tür und
klopfte:
„Vergelt´s Gott viel tausendmal, Herr Pfarrer! Habt´s
doch gut. Ja, ja, wir armen Kerls! In Gottes Namen!“
Stellte die Schüssel auf einen Stuhl und schon eiligst
durch den Gang nach der Haustür ab, als ob er das Erscheinen des gestrengen Fräulein Martha fürchtete.
Pfarrer Matthias Gottwald langte die Schüssel inzwischen
nach dem Tisch hinüber und betrachtete sie mit einem nassen und einem trockenen Auge. Ja, der Lautermann, der würde nun im Städtchen erzählen, ich äße jeden Abend Speck13
kartoffeln. Das war der Dank! Er stand auf und sagte dem
Freunde in der Kreisstadt die Festrede zu.
In seinem Rücken räumte inzwischen Martha, wieder gegen jede sonstige Gewohnheit, stillschweigend das Geschirr
beiseite. Bei dem Anblick der ausgeschleckten Schüssel weiteten sich ihre Augen vor freudigem Erstaunen. – Na, schau
nur einer an, schluckerte sie in sich hinein; hat er doch Verstand gehabt und das dumme Gefaste gelassen: aber so ausgestippt und gesäubert! Ei, ei! Mein Herr Pfarrer, wie leicht
Eure Vorsätze umzuwerfen sind. Ja, ja! Ich weiß schon … Sie
schmunzelte ein auffallend freundliches „Gute Nacht, Herr
Pfarrer, wohl bekomms und in Gottes Namen.“ Dann verschwand sie, ein frohes Lächeln um die verherbten Lippen.
Der Pfarrer Matthias Gottwald schnallte inzwischen die Weste
enger: „Es wirkt, ich werde schon magerer.“ –
Heller, sonniger Mittag lag über der Stadt, als von dem
Schützenhaus her ein großartiger Zug festlich gekleideter
Menschen sich in Bewegung setzte. Vorneweg die pikfein
aufgedonnerten Abordnungen anderer Vereine und Städte
mit ihren wimpelnden und wehenden Fahnen, dann die rosettengeschmückte Jugend des festgebenden Vereins mit
künstlich wichtigem Schritt und fast lächerlich ernsten Mienen, Honoratioren, Würdenträger mit blankgeputzten Zylindern unbd dann die Bewohnerschaft der Stadt, schließlich
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die jugendlich plappernden Mädchen und halbwüchsigen
Burschen im Takte der Musikkapelle. Der Ortspfarrer blickte
vorsichtig um sich: keine Störung – der Umzug gelang, der
erste katholische seit Menschengedenken. Nur noch die Festversammlung – dann war alles gut verlaufen. Vor der aber
war er im Druck. Gottwald war vor einer Stunde angekommen, in fast unveränderter Frische und Rundung; trotzdem
er behauptete, wochenlang nur von Tee und trockenem Brot
gelebt zu haben. Der Arme, er kann eben nicht magerer werden, alles setzt sich bei ihm an, selbst das Kriegsbrot. Aber
nun heute, hier in der unzufriedenen Gegend, in der die
Leute so oft streikten, wie sie behaupteten, aus Hunger – die
Sache könnte übel enden. Nur gut, daß Gottwald erst auf
dem Festplatze erschien: so würde sein Anblick überraschend wirken, und gleich mußte er reden, da gewann er die
Leute mit seiner sonoren Stimme.
Mit krachenden Schellenbecken bog der Zug auf den Platz
ein. Die Fahnen, fast ein halbes Hundert, schwenkten zur
Phalanx. Die Sonne sengte die blitzenden Farben. Ein Gewimmel von nahezu dreitausend Leuten; ein Holzgerüst mit
dem Rednerpult an der rotleuchtenden Ziegelwand der
Turnhalle, die geschmückten Vorstandsmitglieder um das Podium … Wo war nur der Festredner? Auf einmal stand er da
oben, wirklich ein überraschender Anblick. Ein leises Gemurmel, ein Gespöttel, ein Gehöhne. Aus der Ferne rief eine fre15
che Frauenstimme: „Der ist auch nicht von Wagenschmiere
so fett geworden.“ Ein Junge dagegen: „Halt´s Maul.“ „Oho
– oho!“ schrie es durcheinander. Da der Festredner: „Einen
Augenblick! Eine Frau behauptete, ich wäre nicht von Wagenschmiere so fett geworden; ich habe das nie behauptet
und gebe der Frau vollkommen recht.“
Verblüffende Stille – dann brausendes Gelächter, übermütiges Händeklatschen. Und schon sprach der Festredner
von der Not des Vaterlandes, den heiligen Aufgaben der Jugend, der christlichen Pflicht, an der Erhebung des Vaterlandes wieder mitzuarbeiten. Beifall rauschte auf, jugendliche
Herzen gelobten unentwegte Treue. Musik trat in Märschen
an, und die Jugend schwenkte leuchtenden Auges in den
Festzug ein. Der Pfarrherr Matthias Gottwald wurde in die
Mitte gerissen und im Triumph nach der Festwiese oben an
der Berglehne über der Stadt geführt. Niemand dachte an die
Korpulenz des Festredners, niemand sah sie und selbst kein
Roter wagte den Festtrubel zu zerstören.
Am nächsten Morgen auf dem Bahnhof umarmten sich
die Freunde. „Gut geredet hast du“, hob Dr. Schmidt an.
„Vielen Dank, aber schade ist es doch, daß du kein soziales
Aussehen besitzt.“ Der aber lachte: „Lieber Freund, wenn ich
ein Gerippe wie du wäre, könnte ich nicht so laut schreien,
nicht so große Strapazen aushalten und nicht so viele Feste
mitmachen. Merke es dir, bei jeder Festrede wird man di16
cker, denn die Lunge weitet sich aus, der Brustkasten wächst,
die Wangen werden zur Wölbung, die Stimme schwillt an,
der Appetit steigert sich ins Ungeheure.“ „Höre auf, lieber
Freund, und habe nochmals Dank.“ Gottwald winkte noch
einmal aus dem Abteil: „Morgen esse ich aber Speckkartoffeln!“ …
Fräulein Martha stand am Herd und bereitete dem Hochwürdigen sein Abendessen. Am Nachmittag war er heimgekommen, einen ganzen Koffer übermütiger Laune mit sich bringend.
„Ich sage dir, Martha, das war ein Fest. Sie hätten mich
auf Händen getragen, wenn sie es gekonnt hätten. Nun
kannst du bis zur nächsten Festrede wieder kochen, was du
willst, meinetwegen auch Speckkartoffeln!“
Das war ein Wink. Nicht bloß mit dem Zaunpfahl. Schon
mehr mit einem Mastbaum. Martha verstand ihn. Sie rannte
zur Frau Wagner, und richtig, die gute Seele brachte aus irgendeinem geheimen Winkel noch ein Stückchen Speck hervor. Nun prietzelte und pratzelte es wieder. Hui, das sollte
ihm schmecken, wie damals vor vierzehn Tagen. Als sie heute
den Tisch deckte, wandte sich Herr Pfarrer Matthias Grünwald nicht ab, sondern äugte seelenfroh hinüber und
schmunzelte. Bald dampfte die Schüssel mit den Speckkartoffeln auf dem Eßtisch. Kaum war er allein und hatte das
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Gebetlein gesprochen, als es draußen anschellte. Wieder öffnete niemand; eine scheußliche Angewohnheit der Martha,
immer während des Essens in den Keller zu gehen. Seufzend
ließ der Pfarrer die Gabel mit der aufgespießten spickigen
Kartoffel fallen und machte sich daran, die Haustür zu öffnen.
„Wie, Lautermann, wieder da?“
„Ach Herr, mir hungert wieder so sehr. Ich konnte die
Speckkartoffeln nicht vergessen und ich dachte vielleicht ...“
„Unverschämter“, brüllte ihn Gottwald an, „du denkst
wohl, ich esse alle Abende Speckkartoffeln!“
Der Lautermann hob die triefenden Bettleraugen in die
Höhe: „Herr, gebt, was ihr habt, und wenn es nur trocken
Brot ist.“
„Hm.“ Der Pfarrer schob ihn in den Gang, wie damals,
und brummte noch einmal: „Unverschämt.“ Dann kantete
sein Blick am Kreuz über dem inneren Eingang hinweg. –
„Hungerst du wirklich?“
„Seht mich an, Herr!“ Es war wirklich zum Erbarmen. Da
stürzte Gottwald in das Zimmer zurück und brachte wieder
die ganze Schüssel voll der köstlichsten Speckkartoffeln an.
Voller Gier verschlang der Lautermann die seltene Speise,
trug dann die leere Schüssel wieder in das Zimmer hinein,
fein poliert und geleckt:
„Gott vergelt´s Euch tausendmal, hochwürdiger Herr –
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habt´s doch gut – alle Abend Speckkartoffeln! – In Gottes
Namen!“
Am nächsten Tage wußten sie es alle im Städtchen, der
Herr Pfarrer ißt alle Abend Speckkartoffeln, kein Wunder,
daß er so aussieht.
Herr Matthias Gottwald lachte über den Ärger Marthas,
die es nicht begreifen konnte, daß man von den Speckkartoffeln überhaupt etwas wußte. Er tröstete sich mit dem großen
Heiligen Thomas von Aquin, der so stark war, daß man ihm
den Schreibtisch ausrunden mußte. Auch er saß Tag und
Nacht am Schreibtisch. – Freilich, ob der Heilige es nötig hatte, Festreden zu halten und dazu ein soziales Äußere zu besitzen, das wußte Herr Pfarrer Gottwald nicht.
Noch eine Genugtuung. Der Blätterwald der Industriestadt
rauschte auf in Beifallsrufen zu seiner Festrede. Selbst die
Roten schrieben: „Der plötzliche Anblick des korpulenten
Herrn Pfarrers war für uns Hungerleider geeignet, von vornherein unseren Neid zu erregen und uns gegen seine Körperfülle einzunehmen. Man könnte glauben, daß er jeden
Abend Speckkartoffeln esse. Seine Rede aber war so meisterhaft und gewandt gesprochen, daß wir den Schwarzen neideten, ihn als den ihrigen betrachten zu können. Wir mußten
selbst Beifall klatschen und vergaßen über der Idee und Begabung die Materie.“ Da war Matthias Gottwald getröstet.
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Eine Festrede, zwei gute Werke und niemals Speckkartoffeln, obgleich das ganze Städtchen davon sprach.
„Martha!“, rief er nach einigen Wochen über den Gang in die
Küche hinein, als ihm wieder ein gewisser wunderlicher Geruch entgegenstieg, „sollte es heute wieder Speckkartoffeln
geben, so gehst du mir während des Abendessens nicht in
den Keller, und kochst für den Lautermann ein eigenes Gericht. Einmal in meinem Leben möchte ich doch wieder
selbst Speckkartoffeln essen.“
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Hubertus-Kraft Graf Strachwitz
Hubertus-Kraft Graf Strachwitz wurde am 18. Dezember 1870 in
Gleiwitz geboren. Nachdem einer Ausbildung als Rechts- und Regierungsreferendar wurde er Priester. In seiner Familie waren
geistliche Berufe nicht unüblich. Bei ihm wurde bereits früh der
Keim dazu gelegt, wie er selbst erzählt: „...Daher standen meine
viel frommen Tanten voll seelischer Begehrlichkeit an meiner Wiege und brachten ihre heiße Sehnsucht, in mir einst einen Priester
der Kirche zu sehen, als unerbetenes Patengeschenk dar ... Meine
Mutter, eine sächsische Protestantin, äußerte nichts, sie war gewohnt, alles Gott zu überlassen. Sie lächelte wohl über den Eifer
der Tanten. Dann nahm sie mich in die Arme, zeichnete ein Kreuz
über die kleine Stirn und nannte mich Kraft Gottes ...“
In den zwanziger Jahren machte Graf Strachwitz sich mit Romanen aus der Welt der Kirche und des Adels einen Namen als
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Schriftsteller. Der schlesische Adelsroman aus dem 19. Jahrhundert „Sidonia" (1950) und seine Autobiographie (Bd. l Wie ich
Priester wurde, 1931, Bd. II Eines Priesters Weg durch die Zeitenwende, 1935) geben ein gutes Bild soziologischer und kulturhistorischer Verhältnisse.
Graf Strachwitz starb am 20. Mai 1957 in Bad Tölz, wo er sich
schon vor dem Zweiten Weltkrieg niedergelassen hatte.
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Inhaltsverzeichnis
Die Speckkartoffeln..................................................7
Der Herr Zensor.....................................................21
Eine seltsame Pflege...............................................35
Die Gehaltsaufbesserung........................................83
Des greisen Lehmanns Weihnachtsfest..................89
Über den Autor ….................................................97
Anmerkung:
Dieser Nachdruck entspricht in Inhalt und Rechtschreibung
der historischen Vorlage. Lediglich die Zeichensetzung wurde
ein wenig dem heutigen Gebrauch angepasst.