WIR MÜSSEN VÖLLIG NEU DENKEN

LEUCHTTÜRME
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PATIENTENBUDGET
WIR MÜSSEN VÖLLIG
NEU DENKEN
Von Stefan Lummer
Was wäre, wenn der Megatrend der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr Individualisierung, Partizipation und proaktivem Verhalten jene Schutzzäune überwinden könnte, die
Ärzte und Krankenhäuser um ihre Vergütungen errichtet haben? Ein Versorgungsforscher und
ein Unternehmer, der Patienten dabei unterstützt, über den Therapieverlauf selber mitzuentscheiden, stellen die Sektorengrenzen der Versorgung radikal in Frage. Die zentrale These: Der
Patient der Zukunft wird Co-Manager in eigener Sache sein, ein Patientenunternehmer mit
eigenem Budget.
Roland Stoffregen, der Geschäftsführer der niedersächsischen CARE4U Gruppe ist ein
Quereinsteiger: Eigentlich kommt er aus der IT-Branche, Projektmanagement hat sein
Denken geprägt. Seit sechs Jahren ist sein Unternehmen am Markt, zunächst wurden vor
allem Senioren betreut. Inzwischen sind Verunfallte, chronisch Erkrankte und jeden Alters
in seiner Kartei, ein breiter Fächer von Indikationen wie ALS, Multiple Sklerose, Onkologie
oder Wachkoma.
Für diese Patienten übernimmt Stoffregens Team das klassische Entlassungs- und Überleitungsmanagement. CARE4U organisiert die nachklinische Versorgung: Kurzzeitpflege,
Rehabilitation und Pflegedienste, die fachlich so aufgestellt sind, dass sie eine langfristige
Betreuung der jeweiligen Patienten optimal leisten können. Für Sterbende wird eine Betreuung durch spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) in die Wege geleitet,
um Palliativpatienten die Lebensqualität und die Selbstbestimmung so weit wie möglich zu
erhalten. Für Kliniken, die zum Teil schon ein recht gutes Entlassmanagement entwickelt
haben, ist Stoffregen bereits während des Klinikaufenthaltes ein gefragter Partner, weil er
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Betriebskrankenkassen 01 | 2016
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»Das alte sektorale System ist zum Scheitern
verurteilt – wir brauchen ein prozessorientiertes System. «
Roland Stoffregen, Geschäftsführer CARE4U Gruppe
die Familien der Patienten und deren häusliches Umfeld genau kennt. Nicht selten werden
schon während des Klinikaufenthaltes Umbauarbeiten in der Wohnung organisiert; in der
Übergangsphase der nachklinischen Versorgung kann Stoffregen examinierte Pflegekräfte
einsetzen und auch später zur Entlastung der Angehörigen eine Überbrückung leisten.
Dazu gibt es Schulungen von Angehörigen. Pflegepersonal wird direkt in der häuslichen
Umgebung in die Aufgaben eingewiesen, die individuell auf den Patienten, die Indikation
und die Bedingungen in der Wohnung zugeschnitten sind.
Nicht zuletzt der Papierkram: Wenn es darum geht, die für die Versorgung erforderlichen
Finanzmittel bei den Kostenträgern zu sichern, von der Grundsicherung bis zur Beantragung von Pflegestufen und Rehabilitation, Korrespondenz und Abrechnung mit den Kostenträgern sowie Überweisungen an Fachärzte und Kliniken zu organisieren, ist Roland
Stoffregen ein kenntnisreicher und erfahrener Begleiter von Patienten und Angehörigen.
Stoffregen ist einer jener wenigen Experten in Deutschland, die eine Hand am Schalter
haben, um im deutschen Gesundheitssystem Patientenorientierung und sektorenübergreifendes Planen einer medizinischen Behandlung anzutreiben, die nicht vor allem durch
Finanzierungsinteressen der Leistungserbringer gesteuert ist.
Das Patientenbudget – mit dessen Hilfe können informierte Patienten oder eben deren
Angehörige, die sich durchaus Profis zur Unterstützung an ihre Seite holen können, selbst
erheblichen Einfluss auf den Therapiepfad nehmen. Mit dem Patientenbudget entscheiden Angehörige selbst, wen sie sich in Haus holen, wer die entsprechende individuell
angepasste Versorgung tatsächlich sicherstellen kann.
Zugleich bekommt die Idee der Gesamtverantwortung für die Behandlung eines Patienten,
als Lehrstück und Erfolgsmodell aus der Industrie, Rückenwind im Gesundheitswesen.
Der Versorgungsforscher Prof. Holger Pfaff erklärt in seinem Artikel in dieser Ausgabe
(ab Seite 32) plausibel, warum es bei onkologischen Patienten besonders problematisch ist, wenn – wie in der Medizin üblich – niemand die Gesamtverantwortung für den
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Therapieprozess übernimmt und deshalb auch keiner bei Misserfolg zur Verantwortung
gezogen werden kann. Pfaff sieht aber ausgerechnet in der onkologischen Versorgung,
die Hauptanwendungsfeld der personalisierten Medizin ist, aber eben auch wegen der
quasi-industriellen Taktung der onkologischen Therapie die Chance, zu denken und den
Patienten als Unternehmer und Co-Manager mit eigenem Budget auszustatten. Ein Rezept gegen den Trend zur Desintegration und gegen starre Sektorengrenzen?
„Wir müssen völlig neu denken, denn das alte sektorale System ist zum Scheitern verurteilt“, sagt CARE4U-Geschäftsführer Roland Stoffregen. „Wir brauchen ein prozessorientiertes System, um jeden Patienten individuell optimal versorgen zu können. Das muss
von Anfang an mitgedacht werden“, sagt der IT-Mann Stoffregen, der gelernt hat, in Prozessen zu denken.
„Sauber generierte Prozessabläufe sind nicht auf IT beschränkt, sondern in allen Branchen
erforderlich, gerade auch im Gesundheitswesen und vor allem in der Pflege. Man kann
der Multimorbidität der Patienten nicht mit pauschal entwickelten Prozessen begegnen.
Damit es den Patienten auch nachhaltig besser geht, ist es sinnvoll, ihnen die Instrumente
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Roland Stoffregen, Geschäftsführer der niedersächsischen CARE4U Gruppe
in die Hand zu geben oder die erforderliche Unterstützung an ihre Seite, um als Manager
in eigener Sache zu handeln.“ Kann ein Patient selbst die Gesamtverantwortung für den
Therapieprozess übernehmen? „Sobald ein Patient oder seine Angehörigen selbst über
ein Patientenbudget entscheiden können, wird dieser Wechsel der Perspektive die Versorgung verändern. Das Patientenbudget erzeugt Gesamtverantwortung für den Erfolg der
Therapie.“
Kaum ein Patient weiß heute, welche Leistungen ihm im System zur Verfügung stehen.
Stoffregen sieht das Thema Beratung derzeit stiefmütterlich behandelt von der Politik.
Selbst Kostenträger haben das Patentenbudget noch nicht als machbare Option wahrgenommen. Deshalb ist dort weder Personal noch Zeit und Geld dafür vorhanden.
Der Politik stellt sich die Aufgabe, neue Versorgungsformen zu integrieren und vor allem
das verkrustete, fragmentierte System der Sektoren aufzubrechen. „Man muss Pflege
und Gesundheit gemeinsam denken, die pflegenden Angehörigen mitdenken und von Anfang an in den Prozess einbinden“, sagt Stoffregen. „Es ist sehr bedauerlich, dass die Pflege auf zwei Bundesministerien verteilt ist, Gesundheits- und Familienministerium. SGB V,
XI und XII widersprechen sich zum Teil.“ Die Zielmarke für Ronad Stoffregen: „Ein SGB
Versorgung, in dem die verschiedenen Sozialgesetzbücher im Sinne der Patientenversorgung und -sicherheit zusammengefasst werden.“
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CARE4U übernimmt zum Jahresbeginn 2016 die Begleitung von Patienten einer Klinik für
Beatmungspatienten. Vorteil für die Klinik: zu wissen, dass die koordinierte Betreuung des
Patienten nicht an der Kliniktür aufhört.
Auch für Kostenträger ist es besser, wenn Patienten nicht in die Situation einer schlecht
vorbereiteten Entlassung kommen. Die kurzfristige Freude über die Ersparnis von Verbandmaterial bei einer Ablehnung der Kostenübernahme erzeugt bei einer erneuten Einweisung ins Krankenhaus ein Vielfaches an Kosten.
„Wir sehen uns als Ergänzung, als Mediator in diesem System, der einen solchen Drehtüreffekt vermeidet“, sagt uns Roland Stoffregen im Interview. „Wir können erreichen,
dass unseren Patienten Krankenhausaufenthalte möglichst erspart bleiben. Das ist kein
Hexenwerk und es erfordert nicht zusätzliche Gelder der Politik.“ Das Geld ist da, davon
ist Roland Stoffregen überzeugt, es muss nur richtig gesteuert werden. Warum nicht vom
Patienten selbst?
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PATIENTENUNTERNEHMER
MIT EIGENEM BUDGET
Interview mit Professor Dr. Holger Pfaff, Institut für Medizinsoziologie,
Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft, Universität zu Köln
Spezialisierung, Verkürzung der Liegedauer und Personalisierung der Medizin. Diese
Trends fördern die Desintegration der Versorgung, die in Deutschland ohnehin von
Sektorengrenzen geprägt ist. Sektorengrenzen, die von Ärzten und Krankenhäusern
aufmerksam bewacht werden. In der Onkologie sind diese Trends beschleunigt, angetrieben durch die rasche Wissenszunahme in diesem Fachgebiet und dem Tempo
der industriellen Organisation. Professor Dr. Holger Pfaff, der an der Universität zu
Köln das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft leitet, bringt an diesem Punkt neues Denken ins Spiel, das geeignet
ist, die Sektorengrenzen endlich aufzubrechen: Patientenorientierung durch das Zukunftsmodell des Patientenunternehmers.
Professor Dr. Holger Pfaff
Herr Professor Pfaff, Sie sagen, der onkologische Patient von morgen könnte ein
Wegbereiter für eine durchgreifende Patientenorientierung des Gesundheitswesens in Deutschland werden. Warum könnten diese Patienten zuerst Patientenunternehmer mit eigenem Budget werden?
im Konsens mit einem Arzt über die Therapieschritte entscheidet. Sie wollen jetzt
über das Konzept des shared decision making hinausdenken und den Patienten mit
einem Budget für ein Einkaufsmodell ausstatten. Wird das funktionieren?
hinderungen. Und hier sehen wir: Es ist praktikabel und zielführend, wenn dem Patienten
ein von der Krankheit abhängiges, zweckgebundenes, persönliches Budget zur Verfügung
gestellt wird. Nicht mehr der Leistungserbringer sondern der Patient selbst entscheidet über einzelne Leistungspakete, Qualität und Koordination. Das wird die Versorgung
zwangsläufig radikal auf die Interessen der Patienten ausrichten. Finanzierungsinteressen
der Leistungserbringer verlieren dann enorm an Einfluss auf Entscheidungen über Therapiepfade. Der Patient wird sich je nach Versorgungsstruktur unterschiedlich positionieren,
als Co-Therapeut, Co-Manager und in der Konsequenz zum Patientenunternehmer. Das
wird die Versorgung radikal verändern: Prävention, Diagnose, Behandlung und Rehabilitation können präzise auf den einzelnen Patienten mit seinen speziellen Präferenzen und sozialen Umständen zugeschnitten werden. Der Patient als Einkäufer von Leistung garantiert
den Blick auf das individuelle Interesse und auf den Gesamtprozess statt auf Teilprozesse.
Die Effizienzreserven unseres sektoralen Versorgungssystems liegen in der Beziehung
zwischen den einzelnen Gesundheitsdienstleistern. Das Management dieser Beziehung
wird immer wichtiger. Und wir brauchen eine überzeugende Antwort auf die zentrale Frage: wer ist für den Prozess und das Endergebnis einer Therapie verantwortlich? Weil Ärzte
das Management der Leistungen nicht übernehmen, sondern um Vergütungsanteile streiten, wird der Patient das künftig selbst tun.
fünf Tagen, drei Tage sind keine Seltenheit. Dies führt dazu, dass die ganzheitlichen Leistungsangebote der Kliniken nur noch eingeschränkt genutzt werden können. Dazu kommt
einhergehend mit einem enormen Tempo der Wissenszunahme in der Onkologie eine
organbezogene Spezialisierung und eine prozessbezogene Spezialisierung in Screening,
Brustzentren, Rehakliniken, Nachsorge und Palliativmedizin. Zudem wird gerade in der
Onkologie die Personalisierung der Medizin vorangetrieben und die Versorgung den Prinzipien der industriellen Organisation unterworfen. Diese industrielle Taktung der onkologischen Versorgung wird wiederum angetrieben durch immer kürzere Liegezeiten. Diese
Trends verhindern, dass jemand die Gesamtverantwortung für den Therapieprozess übernimmt und deshalb auch bei einem Misserfolg zur Verantwortung gezogen werden kann,
was bei onkologischen Patienten besonders problematisch ist. Wer sich auf Teilprozesse
konzentriert, verbaut den Blick auf den Gesamtprozess. Dies führt zu Unübersichtlichkeit
und am Ende des Tages zu einer Form der organisierten Unverantwortlichkeit. Dabei kann
die Medizin von der Industrie lernen: Gesamtverantwortung in der Versorgungskette. Es
ist durchaus denkbar, eine Gesamtvergütung an den zu zahlen, der die Verantwortung für
den Gesamtprozess übernimmt. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Geben wir dem
Patienten ein Budget in die Hand, damit er – oder ein von ihm autorisierter Vertreter – die
Verantwortung für den gesamten Prozess und das Gesamtergebnis übernehmen kann.
«
«
Herr Professor Pfaff wir danken Ihnen für das Gespräch.
Dieses Zukunftsmodell erfordert einen Patienten der Zukunft, der mehr Verantwortung für seine Gesundheit übernimmt und auch seine Genesung aktiv betreibt und
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Betriebskrankenkassen · Magazin für Politik, Recht und Gesundheit im Unternehmen.
» Es gibt das Patientenbudget bereits und zwar in der Versorgung von Menschen mit Be-
» Die Liegedauer in deutschen Brustzentren wird immer kürzer. Im Schnitt liegt sie bei