Psychisch krank: "Dann bricht das Kartenhaus zusammen

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Psychisch krank: "Dann bricht das
Kartenhaus zusammen"
INTERVIEW
GÜNTHER OSWALD
58 POSTINGS
27. November 2015, 05:30
Psychotherapeut Peter Stippl über mögliche Ursachen für die
vielen psychisch bedingten Frühpensionen
STANDARD: Seit Jahren steigt die Zahl psychisch bedingter
Frühpensionierungen. Bei den unter 50-Jährigen, die
vorübergehend arbeitsunfähig sind, sind es bereits 70 Prozent.
Wie erklären Sie sich diese Zahlen?
foto: reuters
Die ständige Erreichbarkeit – auch am Strand im Urlaub
– wird für viele Arbeitnehmer zu einer nicht mehr
bewältigbaren Belastung
Stippl: Die Arbeitsbedingungen, Stress, die Anforderung nach
lebenslangem Lernen – all das überfordert viele. Diese
Menschen sind nicht krank im Sinn von Schizophrenie,
Suchterkrankung oder Borderline. Aber sie kommen mit dem
Zeitdruck, dem ständigen E-Mail-Anschauen und der Erwartung,
dauernd via Handy erreichbar sein zu müssen, nicht zurecht.
STANDARD: Das klassische Burnout.
Stippl: Wobei das klassische Burnout ja kein sehr spezifisches
Symptom ist. Man müsste vielmehr von Überlastungsstörung
sprechen. Wenn sich das chronifiziert, verlieren die Menschen
die Regenerierungsfähigkeit. Wenn jemand schwer an Burnout
erkrankt, dann ist das meist ein Krankenstand von mindestens
sechs Monaten. Ab einem gewissen Alter fehlt auch oft die
Motivation für grundlegende Änderungen. Wenn man in
Richtung 50 geht, Schulden und die Erwartung nach einem
gewissen Lebensstandard hat, aber das Gefühl, nicht mehr
mitzukommen, kann das schnell kippen: Dann bricht das
Kartenhaus zusammen.
STANDARD: Aber erklärt das wirklich diesen Anstieg: Vor 20
Jahren sind nur zehn Prozent aller neuen Pensionen auf
psychische Erkrankungen zurückgegangen.
Stippl: Das ist jedenfalls das, was wir in der Praxis ganz
vermehrt antreffen und wo es keine Antworten gibt. Es gibt
keine gut bezahlten einfachen Jobs. Und bei den einfachen
Jobs nimmt man auch keinen 50-Jährigen. Außerdem gibt es
keine gescheiten Teilzeitmodelle, die einigermaßen
Einkommensmöglichkeiten schaffen. An dieser Ausweglosigkeit
gehen die Leute zugrunde.
STANDARD: Kann es nicht auch sein, dass manche
psychischen Krankheiten nur behauptet werden? Sie sind ja
sicher schwerer nachzuweisen als physische.
Stippl: Es gibt sicher Grenzfälle, wo es schwer ist zu sagen, wie
viel ist Übertreibung, Hypochondrie und wie viel ist wirklich
diagnostisch relevant. Aber eines möchte ich schon sagen: Bei
psychischen Erkrankungen gibt es vonseiten der
Sozialversicherung Ansprüche, die es bei keiner anderen
Erkrankung gibt. In allen anderen Fällen ist die Reduktion der
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Häufigkeit der Erkrankung, die Reduktion der Spitalsaufenthalte,
der Arztbesuche und der Medikation ein wichtiges Heilungsziel.
Das wird bei einer psychischen Erkrankung nicht anerkannt. Da
gibt es nur: alles oder nichts. Bei vielen Krankheiten ist man
auch bereit, Patienten ein Leben lang zu begleiten. Bei
psychischen Krankheiten gibt es 100 Stunden. Wenn man dann
nicht funktioniert, kriegt man nichts mehr. Das ist ein brutales
Denken, dass man diese Patientengruppe anders behandelt.
STANDARD: Man müsste also mehr differenzieren: Sagen: Du
kannst vielleicht nicht Vollzeit arbeiten, aber einige Stunden.
Stippl: Richtig. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Es ist auch nicht richtig, dass man ständig im Gehalt steigt und
kurz vor der Pension die höchsten Bezüge hat. Das entspricht ja
nicht der Leistungskurve. Wir müssen auf andere Modelle
kommen, die es ermöglichen, dass die Menschen im
Erwerbsprozess bleiben und diesen auch mit Lebensfreude
erleben können.
STANDARD: Auffällig ist auch, dass es in einigen
Bundesländern – etwa der Steiermark und Kärnten – wesentlich
mehr dokumentierte psychische Erkrankungen gibt, die zu
Arbeitsunfähigkeit führen. Lässt sich das rational erklären?
Stippl: Nein. Aber es gibt verschiedenste medizinische
Maßnahmen, wo es unerklärliche Unterschiede gibt und wo das
noch viel deutlicher ist: Bei der Bundesbahn kriegt jeder vierte
Mitarbeiter einmal im Jahr eine Kur, bei den
Metallschwerarbeitern jeder 1700ste.
STANDARD: Also liegt es am vorhandenen
Behandlungsangebot?
Stippl: Ich deute aber an, wo ich vermute, dass der Hase im
Pfeffer liegt: Die Beamtenversicherung zahlt für Psychotherapie
einen Zuschuss von 40 Euro, alle anderen Krankenkassen
zahlen 21,80 Euro. Wenn es also einer Krankenkasse finanziell
besser geht, kann sie großzügiger sein. Wenn sie unter
chronischem Geldmangel leidet, muss sie strenger mit den
Leistungen sein. (Günther Oswald, 27.11.2015)
Zum Nachlesen:
Die Rückkehr aus der Invalidität gelingt fast nie
Peter Stippl (63) ist Präsident des Österreichischen
Bundesverbands für Psychotherapie. Er arbeitet als
Einzel- und Paartherapeut sowie als Supervisor,
Trainer und Mediator.
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