BLICKPUNKTE PFORZHEIMER ZEITUNG MITTWOCH, 3. FEBRUAR 2016 3 „Ohne Schaum vor dem Mund“ PZ-INTERVIEW mit dem CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn über Ehrlichkeit in der Flüchtlingskrise DAS GESPRÄCH FÜHRTEN ALBERT ESSLINGER-KIEFER, MAGNUS SCHLECHT, ANGELIKA WOHLFROM CDU-Politiker Jens Spahn hatte gestern Abend nicht immer leichtes Spiel mit den spärlich erschienenen Mitgliedern und Gästen des Wirtschaftsrats. FOTO: KETTERL Unmut bei den Unternehmern Beim Treffen des CDU-Wirtschaftsrats geht es vor allem um Flüchtlinge. Die Fragen an den Referenten Jens Spahn machen deutlich: Bei den Wirtschaftslenkern kommt Merkels Flüchtlingspolitik zunehmend schlecht an. ANGELIKA WOHLFROM | PFORZHEIM J ens Spahn ist dieser Tage ein gefragter Mann. Innerhalb von zwei Wochen tritt er gleich zweimal in Pforzheim auf – vor Kurzem vor rund 70 Frauen der Frauen Union, gestern nun vor einem deutlich schlechter besuchten CDU-Wirtschaftsrat. Der Grund, weshalb man den 35-Jährigen aus dem Münsterland im baden-württembergischen Wahlkampf gerne an seiner Seite haben will, liegt auf der Hand: Der Mann hat einen Hang zu klaren Worten. Und er scheut sich nicht, sich hier und da mit seiner Partei anzulegen. Was den Umgang mit den Flüchtlingen angeht, sprach das CDU-Präsidiumsmitglied kürzlich gar von Staatsversagen. „Die Menschen fragen, ist der Staat noch in der Lage, meine Sicherheit zu gewährleisten? Weiß er überhaupt, wer im Land ist und wer nicht?“, sagte Spahn in einem Interview. Man merkt: Hier hat einer das Talent, die Sorgen der Leute auszusprechen. Ähnlichen Klartext wünschte sich Axel Sihn, Wisi-Geschäftsführer und Vorstandsmitglied im Wirtschaftsrat, auch gestern Abend. Spahn dürfte die Anwesenden großenteils nicht enttäuscht haben – allerdings mit Ansagen jenseits der Linie der Kanzlerin wartete er nicht auf. Bei allem Verständnis für die Sorgen der Deutschen, ist der Standpunkt des Parlamentarischen Staatssekretärs in Wolfgang Schäubles Finanzministerium, doch der, dass es eben – anders als beispielsweise die AfD suggeriert – keine einfachen Lösungen für dieses komplexe Problem gibt. „Glauben Sie mir, wir machen uns Tag und Nacht Gedanken“, wirbt er um Verständnis für die Bundesregierung. Bei den anwesenden Unternehmern hat sich einiges an Unmut aufgestaut. „Von 84 000 abgelehnten Asylbewerbern im vergangenen Jahr wurden nur 18 000 abgeschoben.“ In Berlin logierten Flüchtlinge in Hotels – „man hat das Gefühl, man ist in einer Bananenrepublik“, sagt einer. Ein anderer meint, er habe nichts gegen ausländische Mitarbeiter, diese seien oft sehr motiviert, aber die Sprachkenntnisse und Bereitschaft zur Integration seien eben erforderlich. Das Signal Deutschlands sei jedoch: „,Wir nehmen jeden.‘ Das ist, als ob wir die Leute ohne Bewerbungsgespräch einstellen würden.“ Ein Dritter meint: „Die Bürger sorgen sich um die gesellschaftliche Ordnung. Das hat etwas mit Kultur zu tun, aber auch mit Religion – auch wenn man sich das kaum mehr zu sagen traut.“ Und schließlich: „Was ist, wenn auf die sieben fetten Jahre sieben magere folgen und die Zinsen wieder steigen?“ Am liebsten dürfte Spahn da der Einwand eines Unternehmers gewesen sein, der sich bei der Beschäftigung von Asylbewerbern schier unüberwindlichen bürokratischen Hürden ausgesetzt Jens Spahn Geboren am 16. Mai 1980 in Ahaus (Münsterland) Ausbildung zum Bankkaufmann, Studium der Politikwissenschaft an der Fernuni Hagen. Politik: Ab 1997 in der Jungen Union, seit 2002 Mitglied des Bundestags, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU (2009-15), seit Juli 2015 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Ehrenamt: u.a. Mitglied der Katholischen Jungen Gemeinde (KjG), Mitglied im Kreistag des Westmünsterlandkreises Borken Hobbys: Motorradfahren, Sport, Reisen Privat: Spahn ist mit dem Journalisten Daniel Funke liiert. pz sieht. Da rennt er bei Spahn offene Türen ein, der insgesamt für Erleichterungen am Arbeitsmarkt eintritt. Die Vorrangprüfung könne ganz weg. Wer es als Deutscher nicht schaffe, sich bei der Bewerbung gegen einen Syrer durchzusetzen, der die Sprache nicht spricht, sei sowieso nicht vermittelbar. Auch was Abschiebungen angeht, räumt Spahn ein: „Das müssen wir besser hinkriegen.“ Aber der 35-Jährige hält auch dagegen. Zur Hotelunterbringung von Flüchtlingen sagt er: „Wenn Sie in der Verantwortung sind, wollen Sie die Leute irgendwo unterbringen. Eines wollen wir schon noch: dass die Leute nicht auf der Straße schlafen.“ Um Verantwortung geht es auch beim Thema Grenzschließungen: Wolle man wirklich aus Griechenland einen so genannten „failed state“, einen gescheiterten Staat, machen? Oder auf dem Balkan einen neuen Krieg provozieren? Spahn empfiehlt, die Dinge zu Ende zu denken – auch mit Blick auf die Wirtschaft. „Wenn die EU auseinanderfliegt, wird das auch die Wirtschaft spüren“, sagt er an die Adresse der Unternehmer. „Nicht mehr wählbar“ Immer wieder ist am Dienstagabend bei Pilzsuppe und Wein in den Goldstadtstuben spürbar, worum es für die CDU im März geht. Angesichts der Flüchtlingskrise droht sich die klassische CDU-Klientel von der Partei abzuwenden. „Ich habe mein Leben lang CDU oder FDP gewählt. Aber im Moment sind die für mich beide nicht mehr wählbar“, sagt einer, der die „Experimental-Politik“ Angela Merkels ablehnt. Durchaus bemerkenswert in diesem Zusammenhang, dass Spahn dem europäischen Lösungsansatz nur noch Wochen geben will. Bis Mitte März solle absehbar sein, was die Europäer zustande bringen, sagt er in nebenstehendem Interview. Was er dabei nicht erwähnt: Mitte März ist auch klar, ob die CDU beispielsweise in Baden-Württemberg wieder an die Macht kommt. Wenn nicht, geht das auch Angela Merkel an. PZ: Herr Spahn, wie lange können wir noch auf eine europäische Lösung in Sachen Flüchtlinge warten? Jens Spahn: Jeder weiß, dass wir in den nächsten Wochen spürbare Fortschritte brauchen, wir müssen vor allem die Kontrolle über die EU-Außengrenze zurückgewinnen. Es ist ja deutlich zu spüren: Die Spannung in der Gesellschaft steigt, die Polarisierung nimmt zu. Wenn wir den Zuzug nicht bald deutlich reduzieren, wird es Deutschland überfordern, auch politisch und kulturell. Nach den Europäischen Räten Mitte Februar und März wird man Bilanz ziehen. Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass es zu einer europäischen Lösung kommt? Wer das Ganze auf ein deutsches Problem reduziert, der macht es sich ein bisschen einfach: In Afrika ist die Hälfte der Bevölkerung unter 20. Wenn wir diesen Menschen keine Perspektive in ihrer Heimat geben, war das nur der Anfang. Und das schafft kein europäisches Land allein. Das erkennen zunehmend auch unsere Nachbarn. Wie sieht denn Ihr Plan B aus? Erst mal arbeiten wir mit Hochdruck daran, dass Plan A funktioniert. Nationale Alleingänge helfen nicht weiter. Wenn Deutschland in der Mitte Europas – was ja einige fordern – die Grenzen einfach nur zumacht, dann hat das Folgewirkungen für Schengen und die Europäische Union. Europa wäre danach nicht mehr dasselbe. Nichts ist alternativlos. Aber Sie müssen immer abwägen, welche Alternative welche Folgen hat. Wir müssen diese Krise europäisch lösen. Am besten mit der gesamten EU, wenn das nicht geht, mit einzelnen Partnern. Kein Land profitiert mehr von der EU als Deutschland. Deshalb sollten wir alles un- Hans-Jochen Vogel, Muster-Sozialdemokrat und ehemaliger Parteichef, feiert heute seinen 90. Geburtstag Einer der letzten Texte von Helmut Schmidt galt ihm. „Unsere Freundschaft besteht bis heute“, schrieb der Altkanzler kurz vor seinem Tod im November über den langjährigen Weggefährten Hans-Jochen Vogel. Es war, es ist das Geleitwort zu Vogels Buch „Es gilt das gesprochene Wort“: eine Sammlung wichtiger Reden Vogels aus den vergangenen Jahrzehnten, zusammengestellt anlässlich des 90. Geburtstags des SPD-Politikers. „Es berührt mich, dass der letzte Text, den er zur Verfügung gestellt hat, ausgerechnet für mein Buch war – und auch das, was er geschrieben hat“, sagt Vogel. Heute wird Hans-Jochen Vogel 90 Jahre alt. Doch auch wenn er vor einiger Zeit seine ParkinsonErkrankung öffentlich gemacht hat, auch wenn er seit Jahren in einer Seniorenresidenz in München lebt, auch wenn er sich beim Gehen auf einen Stock stützt – wenn Vogel das Wort ergreift, sind ihm die 90 Jahre kaum anzumerken. Einige Tage vor seinem Geburtstag sitzt er in München auf der Bühne des Künstlerhauses am Lenbachplatz: Es geht um Vogels Buch, sein politisches Leben, es geht aber auch um hochaktuelle Fragen wie die Flüchtlingskrise oder die Gefahren, die von Pegida & Co. ausgehen. Und sofort wird deutlich: Vogel fühlt und leidet noch immer mit – mit der Politik, mit seiner Partei, auch mit seinen Nachfolgern. Das Ergebnis für Sigmar Gabriel auf dem letzten Parteitag habe er bis Hans-Jochen Vogel FOTO: GEBERT heute nicht verstanden. Ein schlechtes Ergebnis für den Parteichef, nur weil er zuvor die Juso-Vorsitzende abgekanzelt habe? „Ja, dann hätte ich noch nicht einmal 60 Prozent haben dürfen“, sagt Vogel. Vogel selbst hat die deutsche Geschichte ein Stück weit mitgestaltet: Mit 34 Jahren wurde der in Göttingen geborene ProfessorenSohn Oberbürgermeister in München – und damit jüngster OB einer deutschen Großstadt. Sein jüngerer Bruder Bernhard (heute 84) ging ebenfalls in die Politik – allerdings in die CDU. Er wurde Ministerpräsident gleich zweier Bundesländer, Rheinland-Pfalz und später Thüringen. Beide erzählten oft lachend, dass sie immer davon überzeugt waren, dass der jeweils andere in der falschen Partei ist. Die Karriere von Hans-Jochen Vogel war gezeichnet von vielen Glanzpunkten, aber auch Niederlagen: Bundesbau- und Bundesjustizminister, für knapp vier Monate Regierender Bürgermeister in Berlin, SPD-Partei- und Fraktions- Aber die Wähler erwarten Lösungen von Ihnen. 40 Prozent der CDU-Wähler meinen, dass Ihre Partei die Flüchtlingsprobleme nicht offen anspricht. Was läuft da schief? Diese Krise ist seit langem die erste, die tatsächlich spürbar ist. Die Griechenland-Krise war eine Fernsehkrise: Während der Nachrichten stieg der Blutdruck und anschließend beim „Tatort“ war alles wieder gut. Das ist jetzt ganz anders. Es wäre ein Wunder, wenn es in einer solchen Lage in der Volkspartei CDU nicht auch kontroverse Debatten gäbe. Mein Eindruck ist, dass die meisten Deutschen sich wünschen, dass wir es schaffen. Aber, und da haben die Übergriffe von Köln wie ein Katalysator gewirkt, immer mehr haben Zweifel und Sorgen. Die schaffen wir nur aus der Welt, indem wir die Probleme in all ihren Facetten besprechen und lösen. Wir sollten aber mit Optimismus an die Sache herangehen. Immerhin leben wir in einem Land, das wirtschaftlich noch nie so gut dastand wie heute. Was die AfD macht, ist, das Land in die kollektive Depression zu reden. Aber jetzt machen Sie es sich auch recht einfach. Naja, die Politik hat in den letzten Monaten ja schon einiges bewegt: die Zahl der Migranten aus dem Balkan ist fast bei null, wir haben bessere Kontrollen, schnellere Verfahren, mehr Polizisten, um nur ein paar Dinge zu nennen. Und wir reden endlich ehrlich darüber, was es heißt, wenn in einer Flüchtlingsunterkunft 200 Männer untergebracht werden. Was bedeutet das für die Kommune, die benachbarte Disco oder das Schwimmbad? Wir müssen die Mühen der Integration klar benennen, aber bitte ohne Schaum vor dem Mund. Jens Spahn im Gespräch mit PZ-Verleger Albert Esslinger-Kiefer, PZ-Redakteurin Angelika Wohlfrom und Chefredakteur Magnus Schlecht (von links). FOTO: KETTERL Der Oberlehrer der SPD CHRISTOPH TROST | MÜNCHEN terlassen, was die EU auf Dauer beschädigen könnte. Es ist halt komplex: Diese einfachen Lösungen, wie sie nicht nur am Stammtisch gefordert werden, die gibt es in dieser Sache nicht. chef – und Kanzlerkandidat. Doch da unterlag er Helmut Kohl. Viele Klischees hafteten Vogel über die Jahre an: Muster-Sozialdemokrat, Parteisoldat, akkurater Einser-Jurist, akribischer Oberlehrer, Pedant mit der Klarsichthülle. Das Oberlehrerhafte habe er auch nie ganz abgelegt, sagt ein Münchner SPD-Mann schmunzelnd, der Vogel seit Jahren kennt. Ein Fortschritt sei ja, dass Vogel inzwischen selbst damit kokettiere. Bei der Vorstellung von Vogels Buch vor wenigen Tagen in München wird auch aus der letzten Rede zitiert, die er am 30. Juni 1994 im Bundestag gehalten hat. Darin rief Vogel eindrucksvoll zum Kampf gegen politischen Extremismus auf, egal ob von links oder von rechts. An der Stelle notierten die Protokollanten im Bundestag: „Beifall im ganzen Hause.“ „Kanzler wurde er nicht, aber dafür ist Hans-Jochen Vogel zu einem großen Vorbild nicht nur für sozialdemokratische Generationen geworden.“ Altkanzler Helmut Schmidt im Geleitwort zu Vogels Buch „Es gilt das gesprochene Wort“ „Man spricht über manches. Über manches spricht man auch nicht, weil es Zeitverschwendung wäre.“ Hans-Jochen Vogel über politische Gespräche mit seinem Bruder Bernhard, der in der CDU ist. PZ vom 03.02.2016 NUMMER 27
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