Der Appetit des Vogels

13. September 2015
Der Appetit des Vogels
Einen Vogel zu haben, ist nicht immer beglückend. Wer nach Ansicht von
Kolleginnen oder Nachbarn merkwürdig tickt oder dubiose Marotten pflegt,
erfährt meist Skepsis und Distanz. Ein vom Pech verfolgter Mensch
mutiert gar zum Vogel. Ähnlich kann es jemandem ergehen, der sich
einen speziellen Vogel hält: Irgendwann gilt er selbst als komischer Vogel.
Fast ohne näheres Hinsehen ergibt und verstärkt sich dieser Eindruck,
wenn der Betreffende von Themen fasziniert ist, die der Allgemeinheit
schwer verständlich sind. In Fachkreisen mag man bei erfolgreichem
Engagement mit Anerkennung von ihm und seinen Leistungen sprechen,
vielleicht ein wenig über Eigenheiten lächeln oder hin und wieder spotten.
Aber Laien neigen dazu, ungewöhnliches Verhalten herauszustellen, sich
hieran zu ereifern und es vorzüglich zu werten, oft Unsicherheit
vertuschend, was den Kern der Tätigkeit der beobachteten Person
anbelangt.
Gewiss gab Walter Rudolf Hess (1881 bis 1973) zu reden. Als
Wissenschaftler hatte er den Vogel abgeschossen, genauer: Der
Medizinprofessor an der Universität Zürich hatte 1949 „für seine
Forschungen am Zwischenhirn den Nobelpreis“ erhalten. Um Hess ranken
sich Anekdoten, die im Abstand amüsieren, im Alltag eher anstrengten
oder störten. „Papagei Joko sass mit Vorliebe auf der Schulter von Walter
Rudolf Hess und zerbiss immer wieder die Kabel seines Hörgeräts. Der
Vogel durfte sich alles erlauben, zum grossen Ärger von Frau Hess.“
Es ist zu hoffen, dass dieser Spleen – die Einschätzung sei gewagt – nicht
weiter bekannt wird, womöglich zur Nachahmung anregt. Sollten
andernfalls Hörgeräteakustiker vorsorglich warnen und CI-Versicherer
entsprechende Risiken einschliessen?
Bleiben wir gelassen. Zu einer Massenbewegung wird es nicht kommen.
„Den Professor interessierten die Hirnleistungen des Papageis, die er eifrig
trainierte. So brachte er ihm etwa bei, bei passender Gelegenheit „Guten
Appetit“ zu sagen.“ Welcher Vogelnarr hat schon solche Ambitionen und
Talente? Jedenfalls, so spinnert wie nach dem ersten Anschein agierte der
Professor wohl nicht.
Die Zitate sind dem von Margrit Wyder verfassten Buch „Einstein & Co.
Nobelpreisträger in Zürich“ (Zürich 2015, S. 182 ff.) entnommen. Der Ruf
der Stadt als Finanzmetropole besteht zu Recht, aber er ist einseitig und
verdrängt mitunter kulturell und wissenschaftlich Herausragendes. Die
Lektüre kann helfen, ein verbreitetes Vorurteil zu revidieren und
kurzweilig Wesentliches und Randläufiges über „zahlreiche spannende
Persönlichkeiten“
erfahren.
(Stadtpräsidentin
Corinne
Mauch
im
Vorwort)
zu
Das Buch lässt sich selektiv lesen. Das Motto „Friss Vogel oder stirb“ wäre
hier verfehlt, selbst wenn es professionelle Rezensenten als Kriterium für
Literatur akzeptieren würden.
©Susi Ungricht REX