«Wir brauchen keine Sozialversicherungspolitik, sondern eine

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POINT DE MIRE
Interview mit Ruedi Prerost und Peter Wehrli
«Wir brauchen keine
Sozialversicherungspolitik, sondern
eine Sozialpolitik!»
■ Sie beide sind engagierte Sozialpolitiker und
gleichzeitig direkt betroffen. Wie nehmen Sie die
Diskussionen rund um die IV-Revision wahr?
Peter Wehrli: Im Grunde steht die IV seit ihrer
Gründung auf einem kranken Fuss: Dem Versicherungssystem liegt die Idee zugrunde, dass es zwei
grundsätzlich unterschiedliche Menschentypen, die
validen und die invaliden Menschen, gibt. Ärzte
sollen diese voneinander unterscheiden können.
Wir politisch aktive Betroffene versuchen schon
lange klar zu machen, dass viele Leute invalidisiert
werden, die unter richtigen Bedingungen durchaus
arbeiten könnten und möchten. Invalidität hat
immer mit den Rahmenbedingungen zu tun: Je
behindertenfreundlicher diese sind, desto weniger
«Invalide» – d.h. arbeitsunfähige Menschen – gibt
es. Das war ja die Grundidee der Volksinitiative
«Gleiche Rechte für Behinderte».
Was wir in der Schweiz brauchen, ist eine Sozialpolitik und keine Sozialversicherungspolitik!
Anstatt einer Politik zur Integration der Bürgerinnen und Bürger betreibt unsere Regierung eine
Politik zur Absicherung der Versicherungen. Statt
die Probleme in ihrer Gesamtheit anzugehen,
werden sie zerstückelt im Rahmen der einzelnen
Versicherungen abgehandelt. Für die Versicherungen, die ja alle den Auftrag haben, möglichst
wirtschaftlich zu handeln, ist das Problem gelöst,
wenn sie den Klienten oder die Klientin in eine
andere Versicherung verschieben können. Die
volkswirtschaftlichen Auswirkungen interessieren
sie nicht. Mit der Schaffung der IV konnte man
sich der Illusion hingeben, dass alles, was Behinderte angeht, in ihrem Rahmen abgehandelt
werden kann – so wurde ebenfalls auf politischer
Ebene argumentiert. Das ist einfach kurzsichtig!
■ Wie sehen Sie die vorgeschlagenen Lösungen?
Welche der geplanten Änderungen beurteilen Sie
positiv, welche negativ?
Ruedi Prerost: Gut ist, dass man sich endlich mit
dem brennenden Problem beschäftigt. Schlecht ist,
dass die vorgeschlagenen Lösungen einseitig die
SGG-REVUE / REVUE-SSUP NR. 3/06
Thesen und Vorurteile der SVP übernehmen.
Katastrophal ist die Wirkung von «scheininvalid».
Dieser Begriff setzt generell jeden ins Unrecht,
dem man die Behinderung nicht ansieht oder der
trotz Behinderung seinen Alltag ohne fremde Hilfe
bewältigt. Selbstverständlich sind «Gefälligkeitsrenten» wirkungsvoll zu verhindern. Die vierte
IVG-Revision hat hier mit der Einführung von
unabhängig überprüfenden, regional tätigen IVÄrzten bereits Fortschritte gebracht. Positiv scheint
mir, dass heute viele Entscheidungsträger auf Integration setzen – leider meint aber fast niemand
die notwendige, vollständige Integration der
Behinderten in alle Bereiche der Gesellschaft. Es ist
absehbar, dass die meisten der vorgeschlagenen
Integrationsmassnahmen nicht funktionieren
werden. So ist es schlichtweg nicht möglich, Integration über Arbeitsplätze zu betreiben, die es
nicht gibt. Und niemand wird Arbeitsplätze schaffen, um die Integration zu fördern!
Peter Wehrli: Es wird neue Arbeitsplätze für
nichtbehinderte Betreuer geben…
Ruedi Prerost: Ja, mit etwas Sarkasmus können
die etwa 250 neuen Arbeitsplätze bei der IV
ebenfalls als positiver Effekt gesehen werden, ganz
besonders, wenn man Behinderte anstellt… Der
wahre Ungeist der Vorlage zeigt sich jedoch in der
vorgegebenen Reduktion der Neurentner-Zahl um
20 Prozent. Die IV ist eine Versicherung: Bei einer
Versicherung gibt es Menschen, die einen Anspruch auf sie haben, und solche, die keinen
haben. Die im Voraus fixierte Kürzungsquote ist
mit dem Versicherungsgedanken unvereinbar.
Diese Kürzungsvorgabe ist das Eingeständnis, dass
man ohne Rücksicht auf die gesetzliche Berechtigung eine bestimmte Anzahl von Personen in die
Fürsorge abschieben will. Auch mit wem man das
machen kann, steht fest: Es soll Menschen mit
nicht klar diagnostizierbaren Leiden treffen, in
erster Linie psychisch Behinderte.
Peter Wehrli: Vorgeschlagen werden technische
Vorkehrungen, die Betroffenen den Zugang zu IVLeistungen erschweren, darunter – und das ist
besonders bedenklich – auch der Zugang zu den
Gerichten, wo die Rechtmässigkeit der Entscheide
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Ruedi Prerost
Ruedi Prerost ist Gleichstellungsbeauftragter bei der
Pro Infirmis Schweiz.
Peter Wehrli ist Geschäftsleiter des Zentrums für
Selbstbestimmtes Leben,
Zürich.
Peter Wehrli
überprüft werden könnte! Gleichzeitig wird zur
Denunziation potenzieller IV-Empfänger aufgerufen. Implizit gehen alle vorliegenden Revisionsvorschläge vom Verdacht aus, dass die Antragsteller kein Anrecht auf Leistungen haben, sondern
bloss faule Säcke sind. Gedanklich wird die Gesellschaft gleichzeitig jedoch weiterhin in arbeitsfähige
und arbeitsunfähige Menschen geteilt und Letztere
sind «selber schuld», wenn sie keine Arbeit finden.
Die Frage, wie die Gesellschaft umgestaltet werden
müsste, damit möglichst alle an ihr teilhaben
können, bleibt ausgeklammert. Es genügt nicht,
nur die IV selber auf Integration zu trimmen. Wir
brauchen eine kohärente Gesamtpolitik. Doch
gerade diese wurde durch das blochersche
Ablenkungsmanöver verhindert. Absurderweise
sind es die gleichen Kreise, die damals unsere auf
Integration zielende Volksinitiative bekämpften,
die jetzt von der IV drastische Sparmassnahmen
verlangen. Doch wenn die gesellschaftlichen
Probleme in die IV abgeschoben werden, ist es
logisch, dass dort hohe Kosten entstehen. Letztlich
scheint es diesen Kreisen nicht wirklich um das
Wohl der Behinderten zu gehen, sondern um die
Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung aus der
frühen Reformationszeit: Behinderte sind möglichst billig zu «versorgen» damit es die Tüchtigen
umso leichter haben!
■ Was für Auswirkungen erwarten Sie, falls die
heute vorgeschlagenen Änderungen
durchkommen sollten?
Peter Wehrli: Bei den äusserst vage beschriebenen
«Integrationsmassnahmen» befürchte ich, dass
damit im Endeffekt bloss der Apparat an Segregationsmassnahmen erweitert wird – sprich mehr
«geschützte Lern- und Werkstätten» geschaffen
werden. Wenn Menschen jedoch einmal an einem
solchen «geschützten» Ort sind, zeigt die Erfahrung, dass sie nie mehr wegkommen. Sie lernen
dort nicht, in der normalen Gesellschaft zu leben,
sondern ihre Rolle als «Invalide». Und wenn die
Behinderten in Ghettos abgeschoben werden,
lernt auch die Gesellschaft nicht, mit ihnen zusammen zu leben. Wenn Behinderte schon gezwun-
gen werden, sich – auch gegen ihren Willen – solchen Massnahmen zu unterziehen, dann müsste
zumindest nachgewiesen sein, dass sie wirklich zur
Integration führen. Auf unsere diesbezügliche
Forderung wurde vom Parlament überhaupt nicht
eingegangen.
Ruedi Prerost: Nicht zu Unrecht wird bei der Berentung von Ermessenspielräumen gesprochen.
Wenn alle – Ärzte, IV-Stellen, Gerichte und in
gewissem Sinne die Betroffenen selbst – bei ihren
Entscheidungen an den unteren Rand der möglichen Bandbreite gehen, ist es durchaus möglich,
dass die Zuwachskurve schon deswegen abflacht.
Sollte in den nächsten Jahren die Zahl der Neurentnerinnen und -rentner deutlich zurückgehen,
werden alle mit dem Finger auf sich zeigen
können. Die SVP kann zudem behaupten, es
werde weniger betrogen. Wenn aber die Zahl der
Neurentner sinkt, ohne dass die massgebenden
Ursachen feststehen, folgt unweigerlich der Ruf
nach weiteren Einsparungen auf dem eingeschlagenen Weg. Lässt sich nicht genug sparen,
drohen Rentenkürzungen, weil «man ja alles
versucht hat». Auf der Strecke bleibt die umfassende Integration der Behinderten, die über
Bildung und Selbstbestimmung am sichersten zu
einem Arbeitsplatz führt.
Peter Wehrli: Eine Kürzung der IV-Renten war ja
bereits Thema. Vielen ist jedoch überhaupt nicht
bewusst, wie niedrig eine IV-Rente ist: sie ist
bereits heute nur zusammen mit Ergänzungsleistungen existenzsichernd.
■ In welchem Zusammenhang mit den anderen
Netzen der sozialen Sicherheit sehen Sie die IV?
Ruedi Prerost: Es gibt einen Bereich, wo die
Arbeitgeber ohne jede staatliche Vorgabe das
Richtige tun werden: bei den Prämien der zweiten
Säule. Steigen diese an, sind die Arbeitgeber
interessiert, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
im Arbeitsprozess zu halten. Ohne diesen Anreiz
kann die «Entsorgung» eines Mitarbeiters in die IV
durchaus attraktiv bleiben. Im Übrigen erwarte ich
die grössten Erfolge bei Firmen, die «Früherkennung» schon wesentlich früher ansetzen, als es
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die IV-Revision vorsieht. Ich denke an firmeninterne Stellen, wo sich Menschen hinwenden
können, wenn die allerersten Probleme auftreten.
Die in der IV-Revision geplante «Früherkennung»
kommt jedoch erst zum Zug, wenn Angestellte zu
Hause bleiben müssen und beim Arzt schon ein
dickes Dossier entstanden ist. Mit jedem Tag
Abwesenheit vom Arbeitsplatz verringert sich die
Chance erfolgreicher Eingliederung.
Peter Wehrli: Integration verlangt eine Politik, die
darauf abzielt, dass alle Bürgerinnen und Bürger
dieselben Chancen bekommen. Geht man jedoch
davon aus, dass die Menschen entweder «richtig»
und «falsch» – invalid – sind, und entsprechend
entweder belohnt oder bestraft und ausgegrenzt
werden müssen, verhindert man diese Chancengleichheit. Diese unterschiedlichen Weltsichten
kommen auch in den Versicherungssystemen zum
Tragen. Unser System ist grundsätzlich kausal
ausgerichtet – das heisst, es behandelt die
Menschen unterschiedlich, je nach Behinderungsursache und Zeitpunkt an dem die Behinderung
eingetreten ist. Sogar innerhalb der IV selber
bestehen gravierende Unterschiede. Ein Arbeiter,
der nach zwanzig Arbeitsjahren behindert wird, ist
viel besser geschützt, als jemand, der behindert
auf die Welt kommt. Wenn das Ziel wirklich die
Integration dieser Menschen wäre, bräuchten wir
eine final ausgerichtete Versicherung: sie muss von
der gegenwärtigen Situation ausgehen und auf
bestmögliche Integration zielen, ganz unabhängig
davon, was der Betroffene vorher war oder was
seine Behinderung verursacht hat.
■ Welche Voraussetzungen braucht es, damit
Integration gelingen kann?
Peter Wehrli: Im Kontext der Gesetzesrevision
wird das Wort Integration heute missbraucht.
Immer öfter wird darunter verstanden, dass Menschen in Behindertenghettos zusammengefasst
und dort zu Arbeiten gezwungen werden, die
nicht einmal anständig entlöhnt werden.
Segregation wird in Integration umbenannt!
Integration, die von Fachleuten für irgendeine
Gruppe von Menschen gemacht wird, muss mit
grosser Wahrscheinlichkeit scheitern. Ein Integrationsprozess kann man nicht für die betroffenen
Menschen organisieren, sondern nur mit diesen
Menschen. Der Dialog ist Teil dieses Prozesses.
Dieser ist kein einfacher Weg, unter anderem
auch, weil die Betroffenen mangels Chancen und
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Gelegenheiten selten diejenigen Voraussetzungen
mitbringen, die sich die Fachleute untereinander
gewohnt sind.
Ruedi Prerost: Hier müssen wir auch Selbstkritik
üben. Eine grosse Zahl Schweizer Behinderter
bestimmt nicht selbst über das eigene Leben, ist
nicht emanzipiert. Behindertenemanzipation heisst
Befreiung von der Bevormundung durch diejenigen, welche über die Geldmittel bestimmen,
die zugunsten Behinderter fliessen. Dass in der
Schweiz Behindertenemanzipation – wenn
überhaupt – paradoxerweise von oben betrieben
wird, hat nicht zuletzt mit der Behindertenbewegung selbst zu tun. Es fehlt bis heute die «kritische
Masse» radikaler Behinderter, die es braucht, um
die Gleichstellung Behinderter «von unten»
wirkungsvoll voranzutreiben.
Peter Wehrli: Ich meine das auch noch in einem
anderen Sinn: Es ist typisch für die Art, wie bei uns
der Staat mit allem Fremden umgeht. Gerade
wenn sich eine Gruppe nicht aktiv betätigt, ist es
meines Erachtens im Interesse der Gesellschaft,
den Dialog zu suchen und diese Gruppe zu
stärken. In Irland wurde das gemacht; es wurden
auf allen politischen Ebenen Behindertenbeiräte
geschaffen, weil die Politiker erkannten, dass die
Behinderten als Mitglieder und Mit-Gestalter der
Gesellschaft gebraucht und einbezogen werden
müssen, weil diese sonst nicht richtig funktionieren
kann. Letztlich geht es in allen diesen Diskussionen
rund um die Sozial- und Invalidenversicherungen
um Individuen, die im Alltag mit den Gesetzesartikeln leben müssen. Die Politiker begreifen erst
wirklich, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen haben, wenn sie einen Behinderten vor sich
haben. Deshalb ist ohne den Einbezug der Betroffenen keine integrative Politik möglich. Leider
müssen wir oft erleben, dass Diskussionen, die
behinderte Menschen betreffen, ganz ohne diese
stattfinden – zum Beispiel heute bei der IV-Revision: Sie wird hauptsächlich als eine Angelegenheit
zwischen Finanzierenden und Dienstleistern
diskutiert. Und dann wundert man sich nachher,
dass Menschen – als «Invalide» – übrig bleiben,
die in keinen gesellschaftlichen Rahmen passen.
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