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Russische Innenpolitik März 2016
Nr. 83
Folgende Themen werden behandelt:
•
Kürzung des Militäretats um 10 %
•
Neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission: Ella Pamfilowa
•
Pawlowskij: In der Umgebung Putins gibt es Leute, die ihn „mit allem
Möglichen in Schrecken versetzen“
Zusammenfassung
Am 11. März erklärte der Leiter der staatlichen Rüstungsholding „Rostechnologii“,
Sergej Tschemesow, in einem Interview mit dem Wall Street Journal, dass der russische Militäretat in diesem Jahr um 10 % gekürzt wird. Der Militäretat ist nach dem
Sozialhaushalt der zweitgrößte Ausgabenposten mit bisher 19,5 % vom Gesamtetat.
2015 machte er 4,2 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Russische Spitzenrüstungsprodukte sind die mobile ballistische Interkontinentalrakete Topol-M, die MIRV-fähig ist,
deren seegestützte Variante Bulawa, die Atom-U-Boote der Borej-Klasse und der
Kampfpanzer T-34 Armata. Nach Aussagen von Präsident Wladimir Putin auf der
Sitzung der Militärtechnischen Kommission am 29. März in Nowgorod exportierte
Russland 2015 Rüstungsgüter im Wert von 14,5 Mrd. $. Der Hauptabnehmer russischer Waffen, die insgesamt in 58 Länder exportiert werden, war 2014 Indien mit 3040 %, gefolgt von China mit rund 10 %. An dritter Stelle rangierte Algerien.
Am 28. März wurde die Trägerin des Dr. Friedrich Joseph Haass-Preises 2010 zur
Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission gewählt. Sie erhielt 14 von 15 Stimmen
und somit die Unterstützung aller Parteien. Die russischen Zeitungen sehen in ihrer
Wahl den Versuch, das Vertrauen in die Ergebnisse der Stimmabgabe auf der Grundlage der persönlichen Reputation Pamfilowa zu erhöhen. Um die Wähler davon zu
überzeugen, dass ihre Stimmen wieder etwas gelten und Einfluss haben, müsse Pamfilowa Heldentaten vollbringen. In ihrem Jahresbericht als Menschenrechtsbeauftragte
der Staatsduma stellte Ella Pamfilowa für 2015 u.a. fest, dass die Schere zwischen den
sehr Armen und sehr Reichen immer weiter auseinander geht, was eine der wichtigsten
Bedrohungen für die innere Sicherheit darstellt. Die Mittelklasse schätzt sie auf 15 %.
Am 30. März gab der langjährige Berater Putins (1996-2011), Gleb Pawlowskij, der
Tageszeitung „Moskowskij komsomolez“ ein langes Interview. Nach der Wahl Dmitrij
Medwedews zum Präsidenten entstand 2008 sofort Konkurrenz zwischen dem Kommando Putin und dem Kommando Medwedew. Das Tandem Putin-Medwedew war in
Ordnung für die Form der Machtübergabe, aber Gift für die Form der Leitung. Die
beiden Hälften waren dadurch geschwächt, dass die eine die andere nicht schlagen
konnte. Die Rochade 2012 von Medwedew zu Putin war 2007 nicht abgesprochen
worden. Die Entscheidung über die Rückkehr Putins 2012 in das Präsidentenamt war
zwischen beiden im August 2011 vereinbart worden. Auf dem Nominierungsparteitag
von „Einiges Russland“ am 24. September 2011 erwarteten Personen, die „sehr, sehr
eng mit Putin“ waren, dass Medwedew sich selbst aufstellen würde. Dass Putins Aufstellung beschlossen wurde, hat Medwedew „mehr als deprimiert“. Er „brach psychisch
zusammen“. Putin traut niemandem in „seinem“ Staat. Er strebt danach, „alles selbst
zu entscheiden“ und in Eile zu lösen. Dies führt zu „vereinfachenden und schwere Feh-
1
lern in der Politik“. Die im Laufe der Jahre unter den Teppich gekehrten Konflikte
werden jetzt sichtbar. Pawlowskij meint, dass das hohe Vertrauen des Volkes, das immer noch der Präsident genießt, eine gute Voraussetzung dafür ist, dass Putin selbst die
Transformation der Macht einleitet. Er sollte ein neues Kommando bilden und ihm den
Schlüssel zur Lenkung geben.
Kürzung des Militäretats um 10 %
Am 11. März erklärte der Leiter der staatlichen Rüstungsholding „Rostechnologii“, Sergej Tschemesow, in einem Interview mit dem Wall Street Journal,
dass der russische Militäretat in diesem Jahr um 10 % gekürzt wird, offensichtlich wegen der schwierigen Finanzsituation. 1 Ursprünglich betrug er 3145 Mrd.
Rubel (37 Mrd. €), was einem Anteil von 19,5 % am Gesamthaushalt von 16099
Mrd. Rubel (192 Mrd. €, Defizit 2,36 %) entsprochen hätte. Die Militärausgaben bildeten bisher den zweitgrößten Haushaltsposten nach dem Sozialhaushalt
von 4448 Mrd. Rubel (53 Mrd. €), der um 2,97 % zunahm. Dem Haushalt ist
ein Ölpreis von 50 $ pro Barrel zugrunde gelegt worden. Gesamtwirtschaftlich
betrachtet machten die russischen Militärausgaben 2015 4,2 % des Bruttoinlandsprodukts aus.
Das im Dezember 2010 beschlossene russische Rüstungsprogramm sieht vor,
dass von 2011 bis 2020 23 Billionen Rubel (350 Mrd. $) in die Modernisierung
der russischen Rüstung investiert werden. Bis zu jenem Jahr sollen nach Aussage von Premier Medwedew am 20. März 2013 70 % der russischen Rüstung erneuert sein. 2 In dieser Summe sind 3 Billionen Rubel enthalten, die der Staat in
die russischen Rüstungsbetriebe investieren will.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stand die russische Rüstungsindustrie vor großen Problemen, denn auf einmal befand sich ein Viertel ihrer
Betriebe außerhalb des Landes, die Produktionsketten waren zerschlagen und
zudem in einem veralteten technologischen Zustand. Ein Drittel aller Rüstungsbetriebe waren praktisch bankrott. Die Investitionen in Forschung und
Entwicklung waren zehnmal niedriger als in den entwickelten Ländern, die
Grundfondsausstattung war zwei- bis dreimal geringer. Der Maschinenpark
war zu 100 % abgenutzt. Die spezialisierten Fachkräfte waren überaltert und
konnten nicht durch jüngere ersetzt werden. 3 Der Staat hatte kein Geld für die
Erteilung von Rüstungsaufträgen. Die Rüstungsbetriebe hatten nur zwei Möglichkeiten, um überleben zu können: entweder Export oder Konversion.
Inzwischen hat sich die russische Rüstungsindustrie, in der laut Premier Dmitrij
Medwedew am 20. März 2013 in 1.300 Betrieben 2 Mio. Menschen arbeiteten 4,
erholt. Trotzdem hat sie nicht geringe Probleme. Nach Aussage des Auditors
der russischen „Gesellschaftlichen Kammer“, Alexander Piskunow, vom Februar 2013 nähern sich nur 20 % der russischen Rüstungsbetriebe den internationalen technologischen Standards an. Bei mehr als der Hälfte sei es sinnlos, sie
zu erneuern. Sie sollten besser geschlossen werden. 5 Nach Putins Plan vom
März 2012 sollen 500 strategisch wichtige Rüstungsbetriebe modernisiert wer-
1
http://www.wsj.com/articles/wsj-q-a-with-sergei-chemezov-1457657218
2
http://www.rg.ru/2013/03/20/opk-site.html
3
http://www.vniiprim.ru/shop/cat_show.php?cat_id=29
4
http://www.rg.ru/2013/03/20/opk-site.html
5
http://www.ej.ru/?a=note&id=12699
2
den 6, was angesichts der westlichen Sanktionen gegen Russland illusorisch geworden sein dürfte.
Die sieben größten russischen Rüstungskonzerne (in Rangfolge) stellen folgende Rüstungsgüter her:
- Almas-Antej: bodengestützte Raketen kurzer, mittlerer und großer Reichweite, seegestützte Raketen, Radarsysteme zur Erdaufklärung und zur Erkennung von Luftzielen sowie Automatisierte Lenkungssysteme 7,
- United Aircraft Corporation (OAK): Langstreckenflugzeuge, taktische Bomber sowie Jagflugzeuge der fünften Generation 8,
- Russian Helikopters deckte 2014 den Weltmarkt zu 35 % für Kampfhubschrauber und zu 50 % für Militärtransporthubschrauber ab,
- United Shipbuilding Corporation: U-Boote der Amur-Klasse und 38 verschiedene Typen von Überwasserschiffen, darunter auch Raketenträger 9,
- United Engine Corporation (ODK): Triebwerke für Militärflugzeuge,
- Tactical Missiles Corporation (JSC): Luft-Boden-Raketen (Cruise Missile mit
einer Reichweite von 110 km), Anti-Schiffs-Raketen (Reichweite 70 km),
Luft-Luft-Raketen für kurze, mittlere und lange Strecken, Unterwasserraketen (Torpedos) und luftgestützte Anti-U-Boot-Raketen 10,
- Uralwagonsawod: Kampfpanzer, Panzerunterstützungsfahrzeuge, Pionierpanzer, Brückenpanzer, Minenräumpanzer und Bergepanzer 11.
Konzern
Almas-Antej
United Aircraft
Russian Helicopters
United Shipbuilding
United Engine
Tactical Missiles
Uralwagonsawod
Rüstungsumsatz
Zivile
2010
Produktion
(in Mrd. $)
(in %)
3,9
11
3,4 (2014)
22
2,5 (2014)
28,7
1,0
33
1,2
56
1,7
0,725 (2014)
60
Export
(in %)
Beschäftigte
48
65
49
33
24
?
?
90.400
95.900
38.500
71.000
69.600
?
?
An russischer Spitzenrüstung ist zu nennen die mobile ballistische Interkontinentalrakete Topol-M (dt. Pappel), die MIRV-fähig, schnell verlegbar und
schwer zu lokalisieren ist. Sie soll auch gehärtete Raketensilos und unterirdische Kommandobunker bekämpfen können. 12
Die seegestützte Variante von Topol-M ist Bulawa (dt. Streitkolben), die auch
aus dem getauchten U-Boot abgeschossen werden kann mit einer Treffer-
6
http://archive.premier.gov.ru/events/news/18490/
7
http://www.almaz-antey.ru/catalogue/millitary_catalogue/
8
http://www.uacrussia.ru/en/aircraft/lineup/military/
9
http://www.oaoosk.ru/en/products/
10
http://eng.ktrv.ru/production_eng/
11
http://uralvagonzavod.com/products/special_products/
12
http://www.globalsecurity.org/wmd/world/russia/rt-2pmu.htm
http://missilethreat.com/missiles/rs-12m1-topol-m-ss-27/?country=russia#russia
3
genauigkeit von unter 350 m. Sie kann zehn Sprengköpfe tragen und hat eine
Reichweite von 8-10.000 km. 13
Das Atom-U-Boot der Borej-Klasse, von denen acht beschafft werden sollen, kann
16 Bulawa-Raketen tragen. Diese Raketen können aus einer Tiefe von 65 Meter ausgestoßen werden bei einer Fahrt von bis zu 15 Knoten.
Nicht zu vergessen ist der auf der Siegesparade am 9. Mai 2015 zum 70. Jubiläum des Kriegsendes auf dem Roten Platz in Moskau vorgestellte neue Kampfpanzer T-34 Armata, der laut russischer Presse ein „Wunderpanzer“ sei, der allen derzeit eingeführten westlichen Kampfpanzern weit überlegen sein soll und
der den russischen Streitkräften auf diesem Gebiet langfristig einen erheblichen
Vorsprung sichern werde.
Laut dem SIPRI-Handbuch von 2015 hatte Russland von 2010 bis 2014 einen
Anteil am weltweiten Rüstungsexport von 27 % (nach den USA mit 31 %). An
dritter Stelle lagen China, Deutschland und Frankreich mit je 5 %. 14 Nach Aussagen von Präsident Wladimir Putin auf der Sitzung der Militärtechnischen
Kommission am 29. März in Nowgorod exportierte Russland 2015 Rüstungsgüter im Wert von 14,5 Mrd. $. 15 Der Hauptabnehmer russischer Waffen, die
insgesamt in 58 Länder exportiert werden, war 2014 Indien mit 30-40 %, gefolgt von China mit rund 10 %. An dritter Stelle rangierte Algerien.
Auf der Sitzung der Militärtechnischen Kommission forderte Putin Europa zur
Kooperation mit Russland auf, denn davon würden beide Seiten profitieren. Er
hofft, dass die Sanktionen nur ein „temporäres Phänomen“ sein werden. 16 Mit
Sanktionen belegten die USA und die Europäischen Union den Konzern „Almas-Antej“, indem seine Aktiva blockiert wurden, ihm die amerikanischen Finanzsysteme verschlossen sind, mit ihm amerikanische juristische als auch physische Personen keine Geschäfte durchführen dürfen und ihm europäische Firmen keine Waren und Technologien liefern dürfen, die sowohl zivil als auch
militärisch genutzt werden können. 17 Gegen das „Uralwagonsawod“ haben nur
die USA Sanktionen verhängt.
Neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission: Ella Pamfilowa
Die Trägerin des Dr. Friedrich Joseph Haass-Preises 2010 des DeutschRussischen Forums, Ella Pamfilowa, wurde am 28. März zur Vorsitzenden der
Zentralem Wahlkommission gewählt. 18 Pamfilowa erhielt 14 von 15 Stimmen
und somit praktisch die Unterstützung aller Parteien. Die russischen Zeitungen
schreiben, sie sei Staatsfrau und gleichzeitig Fürsprecherin für das Volk. Ihre
Wahl wird als ein symbolischer Schritt und Versuch interpretiert, das Vertrauen in die Ergebnisse der Stimmabgaben auf der Grundlage der persönlichen
Reputation Pamfilowas zu erhöhen. Pamfilowa habe den Posten des Menschenrechtsbeauftragten auf eine neue Ebene gehoben. Um die Wähler davon zu
13
http://www.globalsecurity.org/wmd/world/russia/3m14.htm
http://www.astronautix.com/lvs/bulava.htm
14
http://www.sipri.org/yearbook/2015/downloadable-files/sipri-yearbook-2015summary-in-german
15
http://izvestia.ru/news/607983
16
http://izvestia.ru/news/607983
17
http://www.rbc.ru/economics/20/03/2016/56eeb0869a794763d60f8dfb
18
http://tass.ru/politika/3155586
4
überzeugen, dass ihre Stimmen wieder etwas gelten und Einfluss haben, müsse
Pamfilowa Heldentaten vollbringen.
Unter ihrem Amtsvorgänger Wladimir Tschurow, der bis 2007 Mitglied der
Staatsdumafraktion der nationalpopulistischen Schirinowskij-Partei war, war es
öfter zu Wahlmanipulationen gekommen, weil er diese entweder zugelassen
oder selbst angeordnet hatte.
Ella Pamfilowa, Jahrgang 1953, war unter Boris Jelzin von 1991 bis 1994 Ministerin für Sozialfürsorge gewesen und hatte 2000 gegen Wladimir Putin für
das Präsidentenamt kandidiert und 1,01 % der Stimmen erhalten. Von 2002 bis
2010 war sie Vorsitzende der Menschenrechtskommission beim Präsidenten
bzw. nach deren Umorganisation des entsprechenden Rats beim Präsidenten
gewesen. Unter Präsident Dmitrij Medwedew legte sie sich öfter mit der Regierung Putin an und kritisierte die Machtpartei „Einiges Russland“, dabei vor allem deren Jugendorganisation „Naschi“ („Die Unseren“). Diese hatte auf einem ihrer jährlichen Sommerlager am Seligersee bei Moskau Fotos der Köpfe
von Menschenrechtlern und Regierungskritikern auf Pfähle gesteckt und als
Verräter Russlands beschimpft. Im Jahr 2014 wählte die Staatsduma auf Vorschlag Putins Ella Pamfilowa zur Menschenrechtsbeauftragten des Parlaments.
Am 23. März verabschiedete sich Pamfilowa von ihrem Amt des Ombudsman
für Menschrechte bei einem Treffen mit Putin und legte dem Präsidenten den
246 Seiten umfassenden Menschenrechtsbericht 2015 vor. 19 Die russische Presse berichtete, dass die Lage bei den Schulden schlechter geworden sei. Pamfilowa sei gegen die Aufteilung der Menschenrechtsproblematik auf unterschiedliche Gremien. Wichtig sei es bei dieser Thematik, direkt mit dem Präsidenten
sprechen zu können.
In ihrem Jahresbericht als Menschenrechtbeauftragte der Staatsduma stellte Ella Pamfilowa für 2015 u.a. fest, dass die Schere zwischen den sehr Armen und
den sehr Reichen immer weiter auseinander geht, was eine der wichtigsten Bedrohungen für die innere Sicherheit darstellt. Nach Angaben des Sozialministeriums hat die Zahl der Russen unterhalb des Lebensminimums im letzten Jahr
um 3 Millionen zugenommen und jetzt 19 Mio. Personen erreicht. 60 bis 70 %
von ihnen sind Familien mit Kindern. Im Jahr 2015 hatten 22,1 % der Bevölkerung ein Einkommen von 27-45.000 Rubel (338 € - 563 €), 18,8 % von 1927.000 Rubel (238 € - 338 €), 15,3 % von 14-19.000 Rubel (175 € - 238 €) und
13 % von 10-14.000 Rubel (125 € - 175 €). Die größten Klüfte zwischen Armen
und Reichen bestehen in Moskau (39,3 %), Tschetschenien (40,1 %) und Dagestan (38,6 %).
Russland ist ein Land mit einer sehr hohen sozialen Differenzierung. Eine höhere weist nur noch China aus. Das Verhältnis zwischen den durchschnittlich
10 % höchsten Einkommen und den 10 % niedrigsten Einkommen wuchs von
4,5 im Jahr 1990 auf 16,5mal im Jahr 2013. Im Jahr 2015 nahm es wieder etwas
ab. Beim Fortbestand der gegenwärtigen Tendenzen wird im Jahr 2017 das
Verhältnis von 16,5 auf 20 anwachsen.
Bei der Untersuchung der sozialen Schichtung spielt die Frage der Definition
der Mittelklasse eine besondere Rolle. Die Mittelklasse ist ein Garant für die
soziale Stabilität des Staates und wird auf 15 % geschätzt.
19
http://ombudsmanrf.org/www/upload/files/docs/appeals/d2015w.pdf
5
Pawlowskij: In der Umgebung Putins gibt es Leute, die ihn „mit allem
Möglichen in Schrecken versetzen“
Der Berater Putins von 1996 bis 2011, Gleb Pawlowskij, gab am 30. März der
Tageszeitung „Moskowskij komsomolez“ ein langes Interview. 20 Dass im Jahr
2008 Wladimir Putin nach dem Ende seiner beiden ersten Amtszeiten nicht erneut für das Amt des Präsidenten kandidierte, war für Pawlowskij ein Wunder.
Ihm schien der Übergang zu Dmitrij Medwedew bedeutend sowie die Erwartungen an dessen Präsidentschaft. Noch höher waren die Hoffnungen der „faulen, der politisch arbeitsunfähigen Gesellschaft, die gewöhnt war an die Jahre
des ölbedingten Nichtstuns“. Sie überschätzten Medwedews Bereitschaft, zu
liberalisieren oder – umgekehrt – zu mobilisieren.
Die Konkurrenz zwischen dem Kommando Putins und dem Kommando Medwedews entstand sofort. Im Lande bestanden praktisch zwei „Höfe“. Das Tandem Putin-Medwedew war in Ordnung für die Form der Machtübergabe, aber
Gift für die Form der Leitung. Die Macht bestand plötzlich nicht mehr aus einem einzigen lenkenden Kommando. Sie teilte sich in zwei, und beide Hälften
waren speziell dadurch geschwächt, dass die eine nicht die andere schlagen
konnte.
Putin vertraute nicht Medwedew, Medwedew versuchte Putin zu „begradigen“.
Unter Präsident Medwedew war die Präsidialadministration so gebildet worden, dass Medwedew sie nicht unter voller Kontrolle hatte. Für Medwedew war
das schlecht, und schlecht auch, dass Medwedew das zugelassen hat.
Die Rochade 2012 von Medwedew zu Putin war zwischen beiden 2007 nicht
vereinbart worden. Es war zwar eine solche Möglichkeit ins Auge gefasst worden, aber nur für den Notfall. Im Jahr 2007 konnte nicht abgeschätzt werden,
ob die Bevölkerung eine solche Machtübergabe annehmen würde und ob Medwedew wie ein Präsident handeln würde. Pawlowskij schloss aus, dass 2007 eine
Präsidentschaft „in der Warteschleife“ vorgesehen war. Das wäre eine Сlownerie gewesen, der höchsten staatlichen Institution unwürdig. Medwedew, den
Pawlowskij kennt, hätte so etwas nicht mitgenmacht.
Die Entscheidung der Rückkehr Putins in das Präsidentenamt wurde im August
2011 während des gemeinsamen Fischens gefällt. Auf dem Parteitag von „Einiges Russland“ am 24. September 2011, auf dem der Präsidentschaftskandidat
der Machtpartei nominiert wurde, erwarteten Personen, die „sehr, sehr eng mit
Putin“ waren, dass sich Medwedew selbst als Kandidat aufstellen würde. Nach
diesem Parteitag war Medwedew „mehr als deprimiert“. Der Parteitag fällte eine Entscheidung, mit der er sich „nicht abfinden konnte, mit der er sich dann
aber abfand“. Medwedew „brach psychisch zusammen“, er wurde „ein anderer
Mensch, in ihm war etwas passiert“.
Medwedew bestand darauf, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem Kreml
die Regierung leitet. Pawlowskij geht davon aus, dass das nicht die Idee Putins
war. Für Medwedew hatte er andere Optionen. In den Jahren 2012 und 2013
sprach Putin mit dem Premier Medwedew „demonstrativ abweisend“. Die Regierung schien nicht zu existieren. Gouverneure fragten im Kreml nach und
versuchten herauszufinden, ob es notwendig sei, die Anordnungen des Premiers
auszuführen. Nun ist Putin mit Medwedew „im Einklang“, aber das ist kein
Tandem.
20
http://www.mk.ru/politics/2016/03/29/zagovor-po-zapugivaniyu-putina-glebpavlovskiy-prepariroval-politiku-prezidenta.html
6
Die Rückkehr Putins 2012 in das Präsidentenamt hält Pawlowskij für eine
schlechte Idee. In den 15 Jahren habe sich Putins Sichtweise auf den Staat und
seinen Platz in ihm stark verändert. Putin vertraut niemandem in „seinem“
Staat. Er strebt danach, „alles selbst zu entscheiden, in Eile alle Probleme Russlands für die Zukunft zu lösen, solange er noch im Kreml ist.“ Dies führt zu
„Vereinfachung und schweren Fehlern in der Politik“. Früher wurde die Politik
mehr oder weniger schlecht ausgearbeitete und geplant, und niemand sah darin
eine Einmischung in die Prärogative des Präsidenten. Heute ist das nicht mehr
so.
Laut Pawlowskij befindet sich Russland in diesem Jahr in einem Übergangsstadium. Es wurde ein Regime geschaffen, welches Stabilität und „gelenkte Demokratie“ genannt wurde. In der Tat war es aber ein Regime der Entpolitisierung. Unter dem Strich wurden die Konflikte von der politischen Bühne entfernt und auf jede beliebige Weise gelöst, nur nicht öffentlich. Jetzt kehre man
wieder zur Epoche der Politisierung zurück. Allerdings bedeutet die Politisierung der Konflikte eine weniger kontrollierende Macht. Russland ist voller
Konflikte, die seit Jahren von den Eliten unter den Teppich gekehrt wurden,
die aber jetzt hervortreten. Pawlowskij erwartet von den diesjährigen Staatsdumawahlen einige Überraschungen.
Pawlowskij stellt fest, dass es in der Umgebung Putins Leute gibt, die ihn „mit
allem Möglichen in Schrecken versetzen“. Der Präsident genießt immer noch
das Vertrauen des Volkes, was eine gute Voraussetzung dafür ist, um seinen
Abgang vorzubereiten. Er sollte selbst die Transformation der Macht einleiten,
ein neues Kommando bilden und ihm den Schlüssel zur Lenkung übergeben.
Die Veränderungen, die nach der gegenwärtigen Amtszeit Putins 2018 stattfinden könnten, werden sich laut Pawlowskij bereits 2017 im Sinne einer „schnellen Reanimation von Politik“ ereignen. Dabei fragt er sich, ob die Entwicklung
in eine gute Richtung gehen wird, in Richtung Verfassung und Rechtsstaatlichkeit. Das Projekt „Medwedew“ gehört der Vergangenheit an.
Herausgeber
Deutsch-Russisches Forum e.V.
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Autor
Prof. Dr. Eberhard Schneider
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Die hier wiedergegebene Meinung ist stets die des Autors und repräsentiert
nicht unbedingt die Meinung des Deutsch-Russischen Forums. Die Rechte liegen beim Autor. Zitate sind nur mit Autorenangabe und Nennung des
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