Schauspiel frei nach dem Film E la nave va von Federico Fellini in

Schauspiel frei nach dem Film
E la nave va von Federico Fellini
in einer Fassung von Uli Jäckle
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Premiere am 24. März 2016, 19.30 Uhr
Staatstheater Darmstadt, Kleines Haus
Schiff der Träume
Schauspiel frei nach dem Film E la nave va von Federico Fellini
in einer Fassung von Uli Jäckle
Weiterentwicklung der Inszenierung im Theater Freiburg 2014
Ildebranda Cuffari, Sopranistin Karin Klein
Monika Cuffari, ihre Tochter Mia Zerwer | Elena Kaschub
Aureliano Fuciletto, Tenor Florian Federl
Sir Reginald Dongby, Generalmusikdirektorintendant Uwe Zerwer
Lady Violet, seine Frau Katharina Hintzen
Der Prinz Maria Radomski
Prinzessin Lerinia, seine Schwester Gabriele Drechsel
Ricotin, Stummfilmkomiker Arnd Heuwinkel
Kapitän Christian Klischat
Serbisches Kind Rosa Klischat | Selina Thalmann
Stimme der Zeitzeugin Sigrid Schütrumpf
Die gefährlichste Weltanschauung
ist die Weltanschauung der Leute,
die die Welt nicht angeschaut haben.
Alexander von Humboldt
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Katharina Hintzen und Uwe Zerwer
Inszenierung und Musik Uli Jäckle
Bühne Thomas Rump
Kostüme Elena Neuthinger
Dramaturgie Jutta Wangemann, Julia Naunin
Licht Thomas Gabler
Ton Sebastian Franke
Bühnenmeister Sven Scheffler
Regieassistenz Isa Schulz
Produktionsassistenz Lisa Bader
Kostümassistenz Silke Ehrhard
Inspizienz Jan Brell
Soufflage Sigrid Schütrumpf
Regiehospitanz Eva Kneer
Aufführungsdauer 100 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte Erben von Federico Fellini und Tonino Guerra,
vertreten durch die Società Italiana degli Autori ed Editori (S.I.A.E.),
Rom, Italien
Die Bühnenfassung basiert auf dem Drehbuch E la nave va von
Federico Fellini in Zusammenarbeit mit Tonino Guerra.
Ins Deutsche übersetzt von Renate Heimbucher-Bengs. Zürich 1984.
Besonderer Dank an das Theater Freiburg.
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Politische und private Dringlichkeiten in
der Inszenierung Schiff der Träume
Gespräch zwischen Uli Jäckle und Julia Naunin im Staatstheater
Darmstadt, März 2016.
Julia Naunin (JN): Gab es in der Entscheidungsfindung, Fellinis Film
E la nave va als Grundlage für die Inszenierung 2014 im Theater Freiburg
zu wählen, einen bestimmten Anlass, Ereignisse, Bilder, Aussagen,
Stimmungen, die Du rückblickend festhalten und beschreiben kannst?
Und wie lässt sich eine Dringlichkeit des Filmstoffs sowohl 2014 als
auch jetzt zusammenfassen?
Uli Jäckle (UJ): Im Jahr 2014, als ich das ‚Schiff ‘ in Freiburg inszenierte,
jährte sich der Erste Weltkrieg 100 Jahre. Der Film von Fellini spielt
ja in dieser Zeit. In Fellinis Film wird eine dekadente Opernwelt auf einer
Schiffsreise mit Flüchtlingen aus Serbien konfrontiert, die im Verlaufe
der Handlung von ihrem Schiff aufgenommen werden. Dies ist gewiss der
Grund, warum Schiff der Träume heute plötzlich so aktuell erscheint,
wobei sich die öffentliche Diskussion in den letzten zwei Jahren verschoben
hat: 2014 waren die Medien voll von Berichten über die ertrunkenen
Flüchtlinge im Mittelmeer und heute diskutieren wir über die Flüchtlinge,
die bei uns sind. Dies beeinflusst natürlich sowohl die Lesart meines
Stücks als auch die Darmstädter Neuinszenierung.
Nun ist der Film freilich etwas ganz anderes als ein politisches Statement,
sondern vielmehr ein hochästhetisches und poetisches Werk, das auf
vielen formalen und narrativen Ebenen mit konkreten und abstrakten Wirklichkeiten spielt. Fellini verweigert sich bewußt konkreten politischen
Aussagen. Für ihn ist der Film das, was ist und weniger eine bestimmte
Interpretation einer jeweiligen Situation. Zum Beispiel wurde Fellini immer
nach dem Nashorn gefragt und welche Bedeutung es hat. Und er hat
immer geantwortet, warum nicht das Nashorn? Der Film vermittelt eine
völlig eigenständige ästhetische Dimension und verweigert sich einfachen
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Erklärungen. Das ist ja der Kern von Kunst. Wenn Du Kunst erklären
kannst, ist die Kunst vorbei.
JN: Welche entscheidenden Aspekte und Besonderheiten des Films,
beispielsweise der Musik von Gianfranco Plenizio, waren zentral in
Deiner Erarbeitung des Stücks?
UJ: Zunächst mal kann es nicht darum gehen, ein Meisterwerk zu imitieren,
wozu? Wichtig war für mich deswegen, ein eigenständiges Konzept zu
entwerfen. Das beginnt beim Bühnenbild von Thomas Rump. Uns war klar,
dass wir den genialen Tableaus von Fellini nicht nacheifern konnten
und wollten, sondern dass wir vielmehr eine eigene ästhetische, dem Theater
gemässe Grundbehauptung suchen mussten. Daraus entstand dann die
Idee eines abstrakten und trotzdem konkreten Raums mit 2000 Gläsern am
Boden, die gleichzeitig fast die einzigen Spielrequisiten sind.
Nun geht es im Film ja nicht nur thematisch um Oper und Musik
sondern auch atmosphärisch und formal spielt die akustische Dimension
eine wichtige Rolle. Und diese Ebene können wir natürlich wunderbar
mit ins Theater nehmen und damit etwas Eigenes schaffen.
JN: Also das Flüchtige betonen?
UJ: Ja, das Sich Verflüchtigende. Das ist eine große Chance und deswegen
spielen wir auch in der Inszenierung Pantomime sowie mit nicht vorhandenen Gegenständen. Wir behaupten Atmosphäre und Räume durch
akustische Einspielungen. Und wir gehen auch soweit, dass eben auch
die Arien akustisch eingespielt sind und die Darsteller synchronisieren sie.
Das ergibt insgesamt auch eine extrem künstliche, aber doch auch sehr
sinnliche Form, die die Themen ummantelt. Im Übrigen waren die Schauspieler des Filmes meist keine Italiener und wurden für die Originalfassung
des Filmes italienisch synchronisiert.
JN: Noch eine Nachfrage: Welchen Stellenwert hat Musik thematisch und
strukturell in Deiner Stückfassung und Inszenierung im Vergleich mit
dem Film? Anders gefragt, wie bist Du mit der grundsätzlich musikalischen
Strukturierung des Films, die ich auch als Reigen oder ‚Tanz auf dem
Vulkan‘ zusammenfassen möchte, in der Inszenierung umgegangen?
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Maria
Radomski
UJ: Inszenierung ist immer Musik, es hat immer was mit Rhythmus, mit
Leichtigkeit, Verdichtung und Wiederholung zu tun. Alles, was in der
Musik vorkommt, gilt auch für das Inszenieren, umso mehr, wenn sich diese
formalen Besonderheiten und Bedingungen im Thema widerspiegeln.
Das Stück spielt halt in der Opernwelt. Ein wenig problematisch finde ich,
dass diese Opernwelt in Italien noch einen ganz anderen Stellenwert
hat als bei uns. Oper ist in Italien eben noch viel mehr Volksgut als hier
in Deutschland.
JN: Ich würde noch gerne zum inhaltlichen und strukturellen Umgang
mit Musik nachfragen: Wenn in Fellinis Film noch des Diktum Heiner
Müllers und anderer gelten mag, dass man das, was man noch nicht sagen
kann, vielleicht schon singen kann, inwiefern verhandelst Du in deiner
Inszenierung verschiedene Ausdrucksformen und Medien des Theaters
reflexiv, also musikalisch-körperliche, stimmliche, medientechnische
und geradezu choreografische Ausdrucksformen? Damit meine ich u.a. das
Verhältnis von Sprechen und Pantomime, Lippensynchronisation und
Singen, Musik, Geräusche, Signale versus Stille.
UJ: Für mich ist die Akustik eine der wichtigsten theatralen Mittel: Ich
kann damit Bühnenbilder und Stimmungen bauen, Atmosphäre behaupten
und Psychogramme erstellen. Ich kann Realität in Musik und Klänge
übersetzen und es kommt direkt emotional beim Zuschauer an. Ich denke
zum Beispiel an meine Arbeit im Landschaftstheater in Heersum. Da
ist die Frage zentral, wie kriege ich die Landschaft in Griff, wie kann ich
die Landschaft definieren, das Draußen als eine Bühne. Das funktioniert
am einfachsten, indem ich eine große Anlage aufstelle und dann entsprechend Musik in eine bestimmte Landschaft lege, sofort ist alles ein
riesengroßes Theater.
JN: Zu einem anderen Theatermittel: Bleibt den Figuren in Deiner
Inszenierung manchmal die Sprache weg? Ersetzen sie in Situationen,
die sie weder benennen noch besingen können, Sprache und Gesang
durch Körperbewegungen?
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Rosa Klischat und Mia Zerwer
UJ: Auf jeden Fall. Ich finde, Theater ist erstmal Situation. Was kann
ich ohne Text behaupten, wieviel Text brauche ich überhaupt? Die Situation geht direkt über mein Auge, Sprache nimmt den Umweg über
die Verarbeitung im Hirn. Ich habe ein großes Faible für stumme Stücke
und Stücke, die gar keine Sprache brauchen. Da kommt das Theater
zurück zu sich selbst.
JN: Durch welche konkreten Weiterentwicklungen, Eingriffe und
Umwertungen zeichnet sich die von Dir erarbeitete Stückfassung „frei“
nach dem Film von Federico Fellini aus?
UJ: Zunächst einmal habe ich das Personal auf 10 Personen reduziert, um
so den Figuren mehr Zeit zu geben, sich auch emotional zu entwickeln.
Es gibt im Prinzip nur einen Sänger und nur eine Sängerin, den Generalmusikdirektorintendanten, der den Theaterapparat repräsentiert, dessen
Frau Violet, den Käptn, der das Schiff am Laufen hält und auf der anderen
Seite die Politik, vertreten durch den österreichischen Prinzen und seine
blinde Schwester. Ausserdem spielen zwei Kinder mit, die Tochter der
Operndiva und das Flüchtlingskind. Zudem gibt es den Pantomimen, der
eine Art übergeordnete Instanz darstellt und letztlich das Spiel in der
Hand hat.
Das Stück spielt auf zwei Ebenen, es geht um eine politische Dimension
einerseits und andererseits um die private Dimension. Diese beiden
Ebenen wollen letztendlich zeigen, dass die Konflikte im privaten Bereich
die gleichen sind, die man auch auf der politischen Ebene verhandelt.
JN: Verstehe ich Dich dann richtig, dass die Konflikte, die die Figuren
miteinander austragen, eine Mikroperspektive im Hinblick auf das große
europäische Requiem ist?
UJ: Im Prinzip ja, denn auch im Privaten ist die Gemeinschaft zentral.
Auch im Privaten bilden sich immer neue Gemeinschaften, die irgendwann
an ihre Grenzen stossen oder in der sich die Mitglieder einer Gemeinschaft auseinander bewegen und andere Allianzen eingehen sowie Konflikte
entstehen. Genau diese sehr menschlichen Mechanismen sind eben
auch in der Politik zu finden und das finde ich das Interessante daran. Politik
fängt einfach im Privaten an. Es gibt nichts, was nicht politisch ist.
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JN: Nun interessiert mich noch mal der Blick auf das Stück, das Du
geschrieben hast. Kannst Du den Stellenwert von Wortwitz und Humor
erläutern und Momente, die geradezu einen Slapstickhaften Umgang
mit der politischen Konfliktsituation aufweisen?
UJ: Die Komödie ist ja schon aus ihrer theaterhistorischen Tradition
heraus das beste Mittel, auf dem Theater mit einem tragischen Ereignis
und mit einer tragischen Situation umzugehen. Jede Katastrophe birgt
auch eine Katharsis, die kathartische Wirkung der Weltkriege wirkt ja
zumindest in Europa bis heute noch nach, allerdings bröckelt sie heute
erheblich. Jetzt wird es wieder salonfähig, rechtsradikales Gedankengut
zu äußern, ohne dass man sofort eins auf den Deckel kriegt. Man merkt
daran, dass die Halbwertzeit der vergangenen Katharsis abgelaufen ist.
Deswegen habe ich mich im zweiten Teil meiner Fassung von Fellini
entfernt. Im Film kommen Flüchtlinge auf das Schiff, die ziemlich schnell
das Akkordeon in die Hand nehmen und folkloristische Musik spielen.
Schwer vorstellbar, dass die Flüchtlinge heute so agieren würden. Daher
sind in meinem Stück die Flüchtlinge ertrunken und nur noch durch
ihre aufgefischte Kleidung präsent. Nur ein kleines Kind überlebt, an dem
sich die Gemüter mit ihren Vorurteilen abarbeiten.
JN: Welche theatralen Elemente gibt es denn Deiner Meinung nach
in einem Abgesang eines Europas, das Du auch im Stück beschreibst?
UJ: Jeder Aufmarsch, jede Kundgebung, jede verbale oder komische
Zuspitzung von Parolen im öffentlichen Raum, jede Veranstaltung,
die Zuschauer generiert, ist im Grunde ja schon Theater. Egal welche
politische Ausrichtung dahintersteckt. Das ist für mich nicht wirklich
relevant. Als Künstler will ich gesellschaftsrelevante Themen ästhetisch
verhandeln. Wir können nur Zustände aufzeigen, Fragen stellen, Situationen herstellen, die uns nochmal die Fragestellung deutlich machen.
Das theatrale Ereignis findet nicht auf der Bühne statt, es findet eben
zwischen Zuschauer und Bühne statt, also im unsichtbaren dritten Raum.
Dort wird das Geschehen verhandelt und dort entsteht das Theaterstück.
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JN: Noch mal zurück zur politischen Relevanz des Films im Theater heute
mit einer abschließenden komplexeren Frage. Federico Fellini spricht
in Interviews zu dem Film E la nave va auch davon, im Film eine Beziehung
zur Wirklichkeit zu thematisieren, genauer: eine von ihm 1982/83 konstatierte „kalte, gläserne, starre, passive, dumpfe Gleichgültigkeit“ zu verhandeln. Diese Gleichgültigkeit verbinde sich seiner Meinung nach mit
einem „absurden Wunsch nach einer Katastrophe, einem Unglück […],
das uns aus unserer Trägheit aufrüttelt, uns in eine ganz neue Beziehung
zur Realität treten lässt und uns die Möglichkeit gibt, neue Wege auszuprobieren“. Ursachen dieser Gleichgültigkeit sieht Fellini in einer Informationsflut aus Ungeheuerlichkeiten und Banalitäten, die „dein Heim,
deine Sensibilität und Reaktionsvermögen [überschwemmt]“ 1.
Siehst Du heute die Gefahr einer Abstumpfung im Umgang mit Bildern
von flüchtenden Menschen? Ich denke auch an die Aussagen Alexander
Gaulands im ZEIT Magazin (Februar 2016) mit dem Titel „Wir können uns
nicht von Kinderaugen erpressen lassen“. In dem Interview plädiert
Gauland für eine strikte Grenzschließung, die grausamen Bilder müsse man
halt aushalten. Das ZEIT Magazin erläutert, dass Gaulands Tochter, eine
evangelische Pfarrerin, die Aussagen ihres Vaters nur schwer aushält: „Ich
finde es schrecklich, was er sagt“ 2, wird sie zitiert.
UJ: Es ist erstaunlich, dass Fellini das in den 1980er Jahren so gesagt hat,
denn es ist ja eine ganz heutige Sicht auf die Virtualität unserer Welt.
Aber was ist denn überhaupt Realität, auch hinsichtlich der Berichterstattung über die ganze Flüchtlingsproblematik. Die erscheint mir wie ein
komplett virtuelles Ding. Das heißt, erst in dem Moment, in dem wir hier
Flüchtlingen begegnen, wird es zu einer anderen Realität. Vorher ist es
eine reine vorurteilsbeladene, manchmal auch nur fremd beurteilte Welt,
der wir da begegnen. Wir können kein Urteil fällen, wenn wir das nur
mit den ‚gefilterten‘ Informationen, die wir kriegen, versuchen. Ein darauf
basierendes Urteil ist deswegen immer falsch. Denn egal wie bemüht die
Medien sind, kriegen wir nur ausgewählte Bilder, es gibt keine Verhältnismäßigkeit, sondern reine Willkür von Bewertungen, von Vorgängen
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Karin Klein
und all das enthebt uns eigentlich dem Recht, Urteile zu fällen oder
über Menschen zu richten, die flüchten. Eine selbstständige Medienmaschinerie baut uns eine Realität zusammen, auf deren Basis wir
unseren politischen Willen formulieren. Das ist einerseits erschreckend,
aber nicht zu ändern. Das ist eben der Lauf der Dinge. Ich bin auch
keineswegs gegen die Medien. Man muss sich jedoch immer klar darüber
sein, das es eben keine Objektivität geben kann.
1. „Sehnsucht nach einer Katastrophe“. Federico Fellini im Gespräch mit Journalisten
(1982/1983), u.a. mit Lietta Tournabuoni und Giovanni Grazzini. In: E la nave va.
Drehbuch von Federico Fellini in Zusammenarbeit mit Tonino Guerra. Übersetzt von
Regina Heimbucher-Bengs. Zürich 1984, S. 187–190.
2.URL http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-02/alexander-gauland-afd fluechtlingskrise-fluechtlingspolitik-grenzen (15.03.2016).
14 Drechsel, Maria Radomski, Elena Kaschub, Karin Klein,
Gabriele
Christian Klischat, Uwe Zerwer, Katharina Hintzen, Florian Federl
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Nicole Hegener
Reserveanker
In der Flut von Bildern, die täglich über uns strömt, fällt der Anker als
ikonisches Zeichen auf. Der Anker ist, welche materiellen, formalen und
funktionalen Varianten auch immer er während der Entwicklung der
Seefahrt im Zeitraum von fast fünf Jahrtausenden erfuhr, ein kollektives Symbol, das jeder versteht: Im konkreten maritimen Sinn steht er für
die Lebenssicherung oder Rettung, im übertragenen religiösen oder
metaphysischen Sinn für Glaube und Hoffnung, Anker fixieren das schwimmende Schiff an einem bestimmten Punkt. Wenn nicht im Hafen, dann
geht das Schiff in der Übergangszone von Land zum Meer vor Anker, jenem
mythischen Ort, der die Schwelle zwischen Leben und Tod bedeutet.
Hier ist der Mensch den Mächten der Natur und den Göttern ausgeliefert.
Die Zeit zwischen Aufbrechen und Anlanden bestimmt das ewige Prinzip
Hoffnung. Halten die Hauptanker und die Nebenanker nicht oder gehen
sie verloren, dann setzt man jenen letzten und schwersten Anker, den
man in der Antike den heiligen Anker (ancora sacra) nannte. Diesen Reserveanker warf man nur, wenn es um Leben und Tod ging. Liegen heilige
Anker am Meeresgrund, deuten sie auf Seenot oder Schiffbruch. Wurde
der heilige Anker bei einer Seeschlacht von oben auf das gegenerische
Schiff geworfen, war dies ein Zeichen eines militärischen Triumphs. Er
galt als letzte Instanz und höchste Autorität. Doch wer als blinder Passagier über die Ankerkette heimlich in die dunklen Ankerkammern klettert,
dem droht beim Lichten und Setzen des Ankers große Gefahr, wenn
nicht der Tod. Das gefährdete Menschenleben auf der einen und ein Leben
nach dem Tod auf der anderen Seite symbolisieren ungezählte Anker,
die in Gefallenenmonumenten der Marine integriert sind. Von jeher zieren
sie die Kappen und Knöpfe von Kapitänen und Matrosen. Das Schiff
auf dem Meer zählt zu den mächtigen Metaphern des Lebens, der Anker
als das des Schiffes Pars pro toto ist das Symbol für die Sicherheit der
Seelen. Die symbolische Kraft des Ankers beruht auf der Kombination der
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Zweiheit von Wasser und Erde. Er steht daher auch für die Verbindung
von Unvereinbarem wie Himmel und Meeresgrund, Endlichkeit und
Unendlichkeit, Körper und Geist. Anker sind schwer und symbolisieren
doch jene unsichtbar fliegenden Wünsche und Träume, welche die
Menschen über die Meere und Zeiten hinweg verbinden. Anker sinken
zur Sicherung des Menschen, während diese an Bord bleiben. Der
Mensch „klammert“ sich an die unsichtbaren Anker der Gedanken. Die
Entstehung des Mottos „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ dürfte auf einem
in Not geratenen Schiff zu verorten sein. Anker verbildlichen jene zwischen
Anfang und Ende des menschlichen Lebens wachsende Spannung, die
nur durch Hoffnung auszuhalten ist.
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Dekadenz, Apokalypse, Heroismus
Kurt Lenk versteht den Dreiklang von Dekadenz, Apokalypse und
Heroismus als einen „Evergreen aus der langen Tradition des revolutionären
Konservatismus“. Und: „Im Kern der faschismusaffinen Krisensemantik
[…] findet sich das Syndrom Dekadenz-Apokalypse-Heroismus, dem die
Idee einer Art ‚Wiedergeburt‘ zugrunde liegt. Zwar sind bei den einzelnen
Autoren Ursachen Symptome und Folgen der Dekadenz variantenreich
beschrieben, doch gleichen sie sich in ihrer Dramaturgie. Stets geht es letzlich
um eine Entscheidung zwischen Untergang und Rettung durch irgendwelche heroische Taten. Die […] Autoren versetzen ihre Adressaten häufig
in eine Art paranoide Situation, bei der es letztlich – wie in einem
permanenten Ausnahmezustand – um Leben oder Tod zu gehen scheint“.
Florian
Federl
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Anfertigung der Dekorationen und Kostüme in
den Werkstätten des Staatstheaters Darmstadt.
Technische Gesamtleitung Bernd Klein Bühneninspektor Uwe Czettl Leiter
der Werkstätten Gunnar Pröhl Assistent Technischer Direktor / Technischer
Leiter der Kammerspiele Jonathan Pickers Technische Assistenz Konstruktion
Christin Schütze Leiterin Kostümabteilung Gabriele Vargas-Vallejo Leiter des
Beleuchtungswesens Dieter Göckel Leiter der Tontechnik Alfred Benz Chefmaskenbildnerin Tilla Weiss Leiterin der Requisitenabteilung Ruth Spemann Leiter
des Malsaals Armin Reich Kaschierwerkstatt Lin Hillmer Leiter der Schreinerei
Matthias Holz Leiter der Schlosserei Jürgen Neumann Leiter der Polster- und
Tapezierwerkstatt Roland Haselwanger Gewandmeisterei Lucia Stadelmann,
Roma Zöller (Damen), Brigitte Helmes (Herren) Schuhmacherei Anna Meirer
Maske Manuela Kutscher, Christoph Pietrek Requisite Manuela Oberndorfer,
Julia Gräser Ton Sven Altwein, Peter Hirsche, Wendelin Hejny
Textnachweise:
S. 16/17: „Reserveanker“ ist ein Auszug aus dem Artikel „Glaube, Hoffnung, Anker“ von
Nicole Hegener in mare No. 79, 4/2010. | S. 19: „Dekadenz, Apokalypse, Heroismus“
bezieht sich in Auszügen auf den Beitrag von Kurt Lenk: Das Problem der Dekadenz seit
Georges Sorel. In: Heiko Kauffmann/Helmut Kellershohn/Jobst Paul (Hg.): Völkische
Bande. Dekadenz und Wiedergeburt. Analysen rechter Ideologie. Münster: Unrast 2005,
S. 49–63, hier S. 61. || Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden gebeten,
sich zwecks nachträglicher Rechteabgeltung zu melden.
Für die freundliche Unterstützung danken wir dem Blumenladen
fleur in.
fleur in
Schulstraße 10
IMPRESSUM
Spielzeit 2015 | 16, Programmheft Nr. 28 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt | Telefon 06151. 2811 — 1 |
www.staatstheater-darmstadt.de | Intendant: Karsten Wiegand |
Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz | Redaktion: Julia Naunin, Isa Schulz |
Fotos: Jonas Götz | Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt |
Ausführung: Hélène Beck | Hersteller: DRACH Print Media GmbH, Darmstadt
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