Demenz und Migration - Kongress Armut und Gesundheit

Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
Demenz und Migration: niedrigschwellige Betreuungsleistungen
für nicht-pflegeversicherte Personen
Schätzungen gehen von etwa 90.000 bis 120.000 Demenzkranken mit Migrationshintergrund
aus. Bei ihnen spricht man von einer dreifachen Fremdheit, es können Belastungen durch Migration hinzukommen. In aller Regel verblassen Deutschkenntnisse im Verlauf der Erkrankung
recht schnell, so dass eine Kommunikation nur in der Muttersprache möglich ist. Für eine gute
Versorgung sind kultursensible Diagnoseinstrumente und pflegerische Angebote unerlässlich.
Menschen, die keine oder nur kurz Beiträge in die Pflegekasse eingezahlt haben, haben keinen
Anspruch auf Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung. Nach § 33 Abs. 2 SGB XI müssen
Versicherte eine Vorversicherungszeit erfüllen, um einen Leistungsanspruch realisieren zu können. Diese liegt für alle Anträge auf Pflegeleistungen, die seit dem 01.07.2008 gestellt werden,
bei zwei Jahren innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren vor der Antragstellung. Für diese
Personen ist im Falle einer Pflegebedürftigkeit ausschließlich der Sozialhilfeträger zuständig.
Dieser übernimmt nach SGB XII viele Leistungen analog, nicht jedoch zusätzliche Betreuungsleistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz nach §45 ff. SGB XI.
In der Praxis werden zunehmend Beratungsstellen als auch örtliche Sozialämter mit Anfragen
von älteren Migranten konfrontiert, die die geforderten Vorversicherungszeiten nicht erfüllen.
Davon betroffen sind v.a. Flüchtlinge wie jüdische Migranten, die bereits in höherem Alter als
sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ zugewandert sind. Oft haben die Sozialberater Schwierigkeiten, solche Anfragen rechtskonform zu beantworten. Für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet dies, dass ihnen niedrigschwellige Hilfen bei Demenz, die bei einer kultursensiblen Gestaltung besonders gut angenommen würden, nicht zustehen.
Kontakt:
Dr. Claudia Kaiser
Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V.
Bonngasse 10
53111 Bonn
[email protected]
Elena Maevskaya
Demenz-Servicezentrum NRW für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
AWO Integratives Multikulturelles Zentrum
Paulstr. 4
45889 Gelsenkirchen
[email protected]
Gesundheit Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Dokumentation 20. Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2015
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Demenz und Migration: niedrigschwellige
Betreuungsleistungen für nicht-pflegeversicherte
Personen
Dr. Claudia Kaiser, BAGSO
Elena Maevskaya, Demenz-Servicezentrum NRW
für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
Fachforum Alter und Migration, Kongress Armut und Gesundheit,
5. März 2015, Berlin
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Ältere Migranten und Demenz
•
im Durchschnitt schlechterer Gesundheitszustand der
älteren Migranten => ggf. Erkrankung in jüngeren Jahren
•
Schätzung: bundesweit ca. 90 bis 120 Tausend
demenziell erkrankte Migranten
•
Dreifache Fremdheit: Alter, Demenz und Migration (Dibelius/Uzarewicz 2006)
•
Deutschkenntnisse verblassen => Kommunikation in Muttersprache
•
Belastungen durch Migration, z.B.:
•
Traumatische Erfahrungen, Trennung von Familie und sozialem Umfeld
•
Entwurzelung
•
Persönliche Bilanz: erfüllte oder unerfüllte Erwartungen
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Demenzkranke Migranten im Versorgungssystem
•
Betreuung und Pflege finden v.a. in den Familien statt
•
Kontakt zum Hilfesystem erst in fortgeschrittenem Stadium
•
Demenzkranke werden nicht frühzeitig und fachgerecht betreut
•
Fehl- und Unterversorgung, v.a. Medikalisierung
•
geringe Inanspruchnahme von unterstützenden Leistungen
•
Wenn Pflegeleistungen, dann v.a. Pflegegeldleistungen,
wenig ambulante Pflegesachleistungen
kaum Nachfrage nach stationären Pflegeeinrichtungen
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Migrationsspezifische Zugangsbarrieren
•
Sprach- und Kommunikationsbarrieren
•
Kulturell geprägte Altersbilder und Krankheitskonzepte
•
Kulturell geprägte Erwartungen an die Übernahme von Pflege
•
Scham, Tabuisierung von Demenz und psychischen Erkrankungen
•
Berührungsängste gegenüber deutschen Institutionen
•
fehlende Informationen über Leistungsansprüche, Versorgungsangebote und zuständige Stellen
=> Jedoch Gefahr der Kulturalisierung von sozialen Problemlagen!
•
z.T. niedriger Bildungsstand
•
Z.T. niedrige soziale Lage
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Strukturelle Zugangsbarrieren
•
Systematische Untererfassung des Bedarfs
•
Fremdheitsängste und Verunsicherung
•
Stereotypisierungen und Kulturalisierungen
•
Fehlende interkulturelle Kommunikationskompetenz
•
Kaum kultursensibel angepasste Angebote
•
Kaum bedarfsgerechte Zugangswege
•
z.T. keine Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung
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Nasch Dom – ein Projekt zur Verbesserung der
Versorgung russischsprachiger Demenzkranker
Projektlaufzeit: 2013 - 2015
Kooperation von BAGSO und PHOENIX e.V. Köln
Ziele:
• Stärkung und Förderung der Kooperation von
Migrantenorganisationen der Russischsprachigen mit den
bestehenden Akteuren der Seniorenarbeit und Pflege
• Gestaltung einer auf die speziellen Bedürfnisse von
russischsprachigen Demenzkranken abgestimmten
Versorgung
• Verbesserung der Lebenssituation der von Demenz
betroffenen Familien durch Beratung und Entlastung
Zweisprachige Homepage Deutsch-Russisch:
www.naschdom.de
gefördert vom
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Vierteilige Schulungsreihe
Konzept
• Teilnehmer aus 7 Bundesländern
© Kaiser
• „Wo sind die Bedarfe und was wollen Migrantenorganisationen für
russischsprachige Senioren, pflegebedürftige Menschen und Demenzkranke
erreichen?“
• Empowerment für die Umsetzung von Projekten und Angeboten vor Ort
Methodik
• Fachlicher Input u.a. durch muttersprachliche Referentinnen und Referenten
• Einbindung zahlreicher Praxisbeispiele
• Dialog und Diskussion, Erfahrungsaustausch
Vier Wochenenden
• 22. - 24. November 2013
• 11. - 13. April 2014
• 28. - 30. November 2014
• 1. Quartal 2015
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Umsetzung in Kommunen
Zeitraum zwischen den Schulungen:
•
Unterstützung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch das
Projektteam z.B. bei Vernetzung, Konzeption, Suche nach
Finanzierungsmöglichkeiten für eigene Projekte
•
Kooperation mit Alzheimer NRW – Schulung von Teilnehmern als
muttersprachliche Referentinnen und Referenten für das Projekt
„Leben mit Demenz“
•
Mitwirkung im Programm „Lokale Allianzen für Demenz“:
Förderrunde 2014: 5 Bewilligungen
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Das Demenz-Servicezentrum NRW für
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
•
•
•
Seit 2004 tätig
Seit 2007 ein Teil der Landesinitiative
Demenz-Service NRW
zuständig für ganz NRW
Gefördert von
• Ministerium für Gesundheit,
Emanzipation, Pflege und Alter des
Landes Nordrhein-Westfalen
• Landesverbände der Pflegekassen
Träger: Arbeiterwohlfahrt UB
Gelsenkirchen/Bottrop
www.demenz-service-migration.de
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Ziel und Zielgruppe
Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Demenz mit
Zuwanderungsgeschichte und ihrer Angehörigen
Pflegende
Angehörige
Strukturen des
Gesundheitswesens
Demenziell
erkrankte
MigrantenInnen
Migrantenselbstorganisationen
Strukturen der
Altenhilfe
Ehrenamtliche
Helfer,
Seniorenbegleiter
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Unsere Arbeitsbereiche
I. Unterstützung der Menschen mit
Migrationshintergrund, die selbst oder im familiären
Umfeld von Demenz betroffen sind.
Hierzu wird einerseits Beratung angeboten,
andererseits Informations- und Aufklärungsarbeit in
Vereinen und Moscheen, Russischen Centern und
Organisationen von Spätaussiedlern oder Jüdischen
Gemeinden durchgeführt.
© Demenz-Servicezentrum
II. Förderung der Vernetzung von
Versorgungsstrukturen
Aufklärung und Sensibilisierung zum
Themenspektrum Demenz & Migration. Hier werden
Behörden und Unternehmen, Dienste und
Einrichtungen, Kranken- und Pflegekassen,
Krankenhäuser, Ärzte usw. angesprochen und
sensibilisiert.
Vermittlung, Netzwerkarbeit, Aufbau von
Kooperationen auch im Ausland
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Unsere Arbeitsbereiche
III. Initiierung und Aufbau von kultursensiblen
Angeboten
Beratung, Begleitung, Unterstützung der
Migrantenorganisationen bei der Entwicklung
bedarfsgerechter Angebote vor Ort
Aufbau von präventiven Angeboten für ältere Menschen
mit und ohne Demenz wie Bewegungsgruppen,
Gruppen für Gedächtnistraining
Konzeptionelle Unterstützung und fachliche Begleitung
beim Aufbau von niedrigschwelligen
Betreuungsangeboten (NBA)
V. Entwicklung von Produkten und Materialien zur
Beschäftigung mit dementiell erkrankten Menschen wie
auch zur Information über die Krankheit und den Verlauf.
Dazu gehören Filme, Broschüren, Musik-CD's, unsere
so genannten „Erinnerungskarten" mit russischen,
polnischen und türkischen Sprichwörtern und anderes
mehr.
© Demenz-Servicezentrum
© Demenz-Servicezentrum
© Demenz-Servicezentrum
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Kulturell angepasste Broschüre
„Hilfen zur Kommunikation bei Demenz“
in russischer und türkischer Sprache
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Dokumentarfilme in russischer und türkischer Sprache
mit deutschen Untertiteln über das Leben mit Demenz
in russisch- und türkischstämmigen Familien
„Нам остается любовь.
Uns bleibt die Liebe“
© Demenz-Servicezentrum
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„Kalp unutmaz.
Das Herz vergisst nicht“
© Demenz-Servicezentrum
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Niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote
nach 45 SGB XI für Menschen mit Demenz
Niedrigschwellige Betreuungsangebote sind Angebote, in denen Helferinnen und Helfer
unter fachlicher Anleitung die Betreuung von Pflegebedürftigen mit erheblichem Bedarf an
allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung in Gruppen oder im häuslichen Bereich
übernehmen sowie pflegende Angehörige entlasten und beratend unterstützen.
Zusätzliche Betreuungsleistungen nach §45 SGB XI:
104 Euro monatlich (Grundbetrag)
208 Euro monatlich (erhöhter Betrag)
Schulung von ehrenamtlichen Helfern
Bei Migranten: die Betreuung von Personen aus dem gleichen Kultur- und Sprachraum
3 Schulungsreihen in russischer und türkischer Sprache zu Senioren- und
Demenzbegleitern
© Demenz-Servicezentrum
© Demenz-Servicezentrum
Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
Ansprüche nicht pflegeversicherter Menschen mit Demenz
am Beispiel jüdischer Migranten auf zusätzliche Betreuungsleistungen analog §45a ff SGB als Sozialhilfeleistungen
Nicht pflegeversicherte Migranten insbesondere ältere jüdische Migranten* aus
der ehemaligen Sowjetunion haben keinen Anspruch auf zusätzliche
Betreuungsleistungen nach §45 SGB XI.
Keine Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) aufgrund fehlender
Vorversicherungszeiten, sondern
Leistungen im Rahmen der Sozialhilfe (SGB XII) analog der
Pflegeversicherung
Demzufolge: Keine Unterstützung für demenziell erkrankte MigrantenInnen und
keine Entlastung für pflegende Angehörige!
*Jüdische Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion haben einen unbefristeten Aufenthaltserlaubnis
bzw. eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland
Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
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Ansprüche nicht pflegeversicherter Menschen mit Demenz
am Beispiel jüdischer Migranten auf zusätzliche Betreuungsleistungen analog§45a ff SGB als Sozialhilfeleistungen
Ablehnung von Anträgen auf „zusätzliche Betreuungsleistungen“ (in
Anlehnung an §45a SGB XI) durch örtliche Sozialhilfeträger
Nicht-Pflegeversicherte, die an Demenz erkrankt sind und einen
grundsätzlichen Anspruch auf Leistungen nach dem 7. Kapitel SGB XII haben,
erfahren bei Anträgen auf „zusätzliche Betreuungsleistungen“ (in Anlehnung an
§ 45a SGB XI) in aller Regel eine Ablehnung.
Die pauschalierten „zusätzlichen Betreuungsleistungen“ des SGB XI sind in
gegebener Form nicht auf das SGB XII übertragbar.
Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
Fallbeispiele für Ablehnung und Bewilligung von Sozialträgern
zusätzlicher Betreuungsleistungen analog §45 SGB XI
Fallbeispiel für Ablehnung
Begründung der Ablehnung:
Hilfe zur Pflege, §61 Abs. 2, Satz 2 SGB XII, umfasst
•
Pflegesachleistungen (§36 SGB XI),
•
Pflegehilfsmittel und technische Hilfen (§40 SGB XI),
•
Tagespflege und Nachtpflege (§41 SGB XI),
•
Kurzzeitpflege (§42 SGB XI),
•
vollstationäre Pflege (§43 SGB XI)
§45 SGB XI ist hier normativ nicht aufgezählt, somit scheidet eine Anwendung in
diesem Fall aus.
„Aufgrund der geltenden Rechtslage ist somit leider die Gewährung von zusätzlichen (nicht
im SGB XII) vorgesehenen Betreuungsleistungen nach §45b SGB XI an nicht
pflegeversicherte Personen nicht möglich.“
„Der Gesetzgeber hat im Sozialgesetzbuch XII keine Rechtsgrundlage für die Gewährung
zusätzlicher Betreuungsleistungen geschaffen.“
Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
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Fallbeispiele für Ablehnung und Bewilligung von Sozialträgern
zusätzlicher Betreuungsleistungen analog §45 SGB XI
Fallbeispiel für Bewilligung
Begründung der Bewilligung:
Möglichkeit der Übernahme der zusätzlichen Betreuungsleistungen im Rahmen §65 Abs. 1
Satz 2 SGB XII, wenn die zeitweilige Entlastung der Pflegeperson geboten ist.
Die Voraussetzungen sind analog des SGB XI zu prüfen.
Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
Fazit
Erstrebt sind gesetzliche Veränderungen im SGB XII, die
Inanspruchnahme der zusätzlichen Betreuungsleistungen zur
Unterstützung von Menschen mit Demenz und zur Entlastung ihrer
Angehörigen ermöglichen;
d.h. Schaffung der eindeutigen Rechtsgrundlage im SGB XII für
Gewährung zusätzlicher Betreuungsleistungen auch für Nichtpflegeversicherte MigrantenInnen
Dr. Claudia Kaiser und Elena Maevskaya
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Vielen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Claudia Kaiser
Bundesarbeitsgemeinschaft der
Senioren-Organisationen e.V.
Bonngasse 10
53111 Bonn
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Elena Maevskaya
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Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
AWO Integratives Multikulturelles
Zentrum
Paulstr. 4
45889 Gelsenkirchen
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