Wie weit geht die Verschwiegenheitspflicht Univ.-Prof. Dr. Helmut Ofner Universität Wien Ärztliche Verschwiegenheitspflicht Grundlagen Schweigen ist „heilige Pflicht“ Hippokrates Regel: „Ärzte sind hinsichtlich aller in Ausführung ihres Berufs anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse zur Verschwiegenheit verpflichtet. „ Regelungen: Standes-, Vertrags- und Strafrecht Umfasst: Ärzte, ärztliches Hilfspersonal und Studenten Vertrauensverhältnis: erfordert Offenheit des Patienten Wirkt über den Tod hinaus (nicht Embryonen) Folgen: Unterlassung und Schadenersatz (Schmerzengeld) Ärztliche Verschwiegenheitspflicht Umfang Schutz der Privatsphäre: Identität des Patienten Krankheitsdaten, die unschwer auf einen bestimmten Patienten zurückverfolgt werden können. auch bei Forschungsprojekten und Lehre Gilt auch gegenüber einem selbst Schweigepflichtigen Ausn: Einwilligung des Patienten (=Consilium) bei zufälliger Kenntnisnahme bei vorheriger Kenntnis bei Information des Patienten an Dritte bei Ordinationsübergabe Ärztliche Verschwiegenheitspflicht Folgen Persönlichkeitsverletzungen Unterlassung Schadenersatz Entgangener Gewinn Schmerzensgeld Strafrechtliche Folgen Standesrechtliche Folgen Ärztliche Verschwiegenheitspflicht Einschränkungen Gesetzliche Grenze: Allgemeininteressen zB Infektionsschutzgesetz, RöV Qualitätssicherung) Einwilligung bzw Verzicht des Patienten konkludent – ausdrücklich Minderjährige: Grenze Einsichts- und Urteilsfähigkeit Bs: Ovulationshemmer 16jährige Patientin: Schweigepflicht auch gegenüber den Eltern Konkludenter Verzicht: von Patient als Zeuge benannt, oder von Patient verklagt Auch durch Klauseln in Formularen (Versicherungen) Problem: Kenntnisnahme jederzeit widerruflich Ärztliche Verschwiegenheitspflicht Einschränkungen Mutmaßliche Einwilligung Sozialadäquat Bewusstloses Unfallopfer: Verständigung der Angehörigen Nicht: Ordinationsübergabe, Meldung an die Verrechnungsstelle Üblichkeit – womit der Patient rechnen muss (Ordinationshilfe, Krankenkassen zur Abrechnung, …) Nicht: Information des Dienstherrn, privatrechtliche Verrechnungsstelle Verteidigung des Arztes: Erforderlich zur Wahrung der eigenen Rechte des Arztes Klage auf Schadenersatz Pressekampagne gegen den Arzt Ärztliche Verschwiegenheitspflicht Einschränkungen Interessenabwägung Höherrangige Interessen Einzelinteressen: DES-Fall: Gefahr eines Genitalkarzinoms wegen Hormonpräparat während der Schwangerschaft der Mutter Kindesmisshandlung Ansteckungsgefahr mit HIV (Partner, Ehegatte, …) Gesamtinteresse: Gefährlichkeit eines unberechenbaren psychisch Kranken Wiederkehrende Absencen bei Piloten: Arbeitgeber Beeinträchtigende psychische Erkrankung: Behörde – Führerscheinentzug, wenn er sich weigert Fortpflanzungsmedizinrecht Neuerungen Univ.-Prof. Dr. Helmut Ofner Universität Wien Costa and Pavan v. Italy EGMR rechtswirksam seit 12.2.2013 Costa and Pavan v. Italy EGMR Sachverhalt Italienisches Ehepartner beide gesunde Träger der Erbkrankheit Mukoviszidose erstgeborenes Kind des Ehepaares: Mukoviszidose zweite Schwangerschaft: Erbkrankheit diagnostiziert Abtreibung Begehren: künstliche Befruchtung mit Hilfe von IVF PID vor Einpflanzung in die Gebärmutter genetisch prüfen zu können Costa and Pavan v. Italy EGMR Rechtslage in Italien IVF-Behandlung nur bei Unfruchtbarkeit oder bei Vorliegen sexuell übertragbarer schwerer Infektionskrankheiten des Mannes zulässig. Präimplantationsdiagnostik untersagt Costa and Pavan v. Italy EGMR Urteil – Kleine Kammer „Die Verweigerung von IVF und PID im vorliegenden Fall verstößt gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.“ Costa and Pavan v. Italy EGMR Begründung – Kleine Kammer Widersprüchlichkeit des italienischen Rechts Zulässigkeit der Abtreibung eines mit einer Erbkrankheit belasteten Fötus, Unzulässigkeit einer genetische Untersuchung vor der Einpflanzung in die Gebärmutter Abtreibung führt zu einer erheblichen Belastung der Mutter, da der Fötus weiter entwickelt ist als ein Embryo. Zur ethischen Vertretbarkeit: PID in 29 Konventionsstaaten unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt lediglich in 3 Staaten (Italien, Schweiz und Österreich) verboten. Entscheidung des EGMR rechtskräftig Italien hat innerhalb der kommenden drei Monate die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR beantragt. Die große Kammer hat am 12.2.2013 die Aufnahme des Falles jedoch abgelehnt. Die Entscheidung ist durch die Ablehnung der großen Kammer rechtswirksam geworden ist. Gesetzesänderung - Österreich Nationalratsbeschluss 21.1.2015 Eckpunkte: Zulassung der Samenspende für alle Methoden der medizinisch unterstützten Fortpflanzung Zulassung der Eizellspende Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (unter bestimmten Voraussetzungen) IVF und Samenspende auch für gleichgeschlechtlicher Partnerschaft von 2 Frauen Arzthaftung Update 2015 Univ.-Prof. Dr. Helmut Ofner Universität Wien Themen Aufklärungspflicht über PDA bei vaginaler Geburt Befunderhebungspflicht nach Tastbefund Behandlungsfehler - Pränataldiagnostik Behandlungsfehler - Dystokie Bindung an Leitlinien Aufklärungspflicht Aufklärung über PDA Aufklärung über PDA OLG Naumburg Fall: Vaginale Geburt Normale Schwangerschaft Keine vorgeburtlichen Anzeichen für Erforderlichkeit einer PDA Geburtsvorgang: Erschöpfung der Schwangeren nach 2 Stunden Wehentätigkeit Setzen einer PDA Begründung: Linderung der Schmerzen Entspannung des Beckenbodens Bradykardie Schaden: Aufklärungsfehler, Schmerzensgeld, Entwicklungsverzögerung Aufklärung über PDA OLG Naumburg Urteil: „Der Mutter sollen keine Entscheidungen für oder gegen mögliche Behandlungen abverlangt werden, solange es noch ganz ungewiss ist, ob eine solche Entscheidung überhaupt getroffen werden muss.“ „ Denn ansonsten würde jede Aufklärung notwendig auf unsicherer Grundlage stattfinden und weitgehend theoretisch bleiben.“ „Deshalb sind die Aufklärung und das Einholen der Einwilligung erst dann erforderlich, wenn deutliche Anzeichen für eine Entwicklung des Geburtsvorgangs hin zu einer zu rechtfertigenden Behandlungsalternative, hier in Richtung der PDA, bestehen.“ Aufklärung über PDA OLG Naumburg Urteil: „Unter der Geburt, so der Sachverständige, ist die werdende Mutter stets nicht mehr aufklärungs- und einwilligungsfähig.“ „ Kann die Mutter unter der Geburt nicht mehr über das Legen einer PDA entscheiden, ist für die Rechtfertigung des Eingriffs der mutmaßliche Wille der Patientin ausschlaggebend. Die Geburt konnte nicht unterbrochen werden, um die Einwilligung der Patientin einzuholen“ „Die Geburtshelfer mussten deshalb sorgfältig prüfen und beurteilen, wie sich eine verständige Gebärende in der Situation der Klägerin entschieden hätte. Die Klägerin hätte die PDA gebilligt.“ Befunderhebungspflicht nach Tastbefund Befunderhebung nach Tastbefund - OLG Köln Sachverhalt 1998 Vorsorgeuntersuchung : Abtasten und Sono. der Brust, erbsengroßer Knoten in der linken Axilla 17.08.1998, 11.05.1999 und 24.03.2000: gleicher Tast- und Sonographiebefund. August 2000 sowie im September 2005: Mammographien: keine Auffälligkeiten kein Hinweis auf Tastbefunde durch den Gynäkologen Gynäkologe erhält nur den Befund aber keine Bilder 02.08.2007 1,5 cm großer, derb verschieblicher Knoten in der linken Axilla Mammographie: haselnussgroßes Karzinom in der vorderen Axillarfalte links sowie zwei in der Axilla hinter dem Karzinom befindliche, kleine rundliche Verdichtungen, die als Lymphknoten eingestuft wurden. Stanzbiopsie: invasiv-duktales Mammakarzinom, grading G 2 bis G 3. brusterhaltende OP Lymphknoten bis Bohnengröße zwei Sentinel-Lymphknoten entfernt, tumorfrei adjuvante Chemotherapie, eine Strahlentherapie und eine Hormonbehandlung. Begehren: falsche Diagnosen seit 1998 und unzureichender Befunderhebung Verschlechterung der Heilungschancen. Befunderhebung nach Tastbefund - OLG Köln Urteil „Dem Beklagten kann selbst dann kein Behandlungsfehler vorgeworfen werden, wenn die radiologischen Bilder den hier interessierenden Bereich nicht abgedeckt hätten. Denn dies hätte dem Gynäkologen, der lediglich den Befund des Radiologen und nicht die dazu gehörigen Bilder erhalten hat, nicht auffallen können“. „Es besteht keine Verpflichtung die Radiologen auf den abzuklärenden Befund in der linken Axilla hinzuweisen. Eine Mammographie ist unabhängig von den Angaben des überweisenden Gynäkologen nach den European Guidelines durchzuführen ist. Danach solle immer auch der Pectorialsrand und somit die Region der vorderen Axiliarlinie bzw. der Axilla erfasst werden. Unabhängig von der Frage, ob die Radiologen die Mammographie überhaupt entgegen dieser Vorgaben durchgeführt haben, durfte der Gynäkologe jedenfalls auf die Einhaltung dieser Standards durch den Facharzt vertrauen“. Pränataldiagnostik Diagnosefehler Pränataldiagnostik - OGH Sachverhalt Schwangere: Gynäkologin: ÖGUM Level I Durchführung eines Vier-Kammer-Blicks Geburt: Blutkrankheit erstgeborenes Kind: Lippen-Kiefer-Gaumenspalte schwerer, besonders seltener Herzfehler Tod des Kindes nach 1,5 Monaten Begehren: Schadenersatz, FehldiagnoseSchwangerschaftsabbruch Pränataldiagnostik - OGH Urteil Kein Diagnosefehler: Vier-Kammer-Blick war darzustellen. Darstellung der Ausstrombahnen nicht erforderlich. Da sich der Herzfehler im Vier-Kammer-Blick oft nicht darstellt: kein Diagnosefehler Befunderhebungsfehler: Risikoschwangerschaft aufgrund der Fehlbildung des ersten Kindes sowie deren Blutererkrankung Überweisungspflicht an ein Zentrum für Pränataldiagnostik Schadenersatz Behandlungsfehler Dystokie Behandlungsfehler – OLG Oldenburg Sachverhalt 08. April 2010: 3 Tage nach dem errechneten Geburtstermin: Aufnahme mit einem Blasensprung und Wehen 14.15 Uhr: Vermerk im Geburtsbericht „Makrosomie“. 17.00 Uhr Dammschnitt 17.37 Uhr Geburt mit einem Gewicht von 4430 g Geburtsbericht: „Clavicula re Distalbruch“. 09. April 2010 Behandlungsunterlagen des Kinderarztes „A Schlaffe Lähmung rechter Arm. B Klassische Erb’sche Lähmung rechts. D ErbLähmung durch Geburtstrauma“. 21. September 2010 operative Revision des Plexus brachialis rechts. Begehren: Schadenersatz „trotz des im Geburtsbericht dokumentierten Verdachts der Makrosomie keine Aufklärung über die Alternative einer Sectio Notwendigkeit einer sonografischen Untersuchung zur Schätzung des Gewichts des Kindes Übersehen einer Schulterdystokie Schaden 13.076,79 € und Feststellung der Ersatzpflicht künftiger Schäden in Anspruch genommen. Behandlungsfehler – OLG Oldenburg Urteil Grober Behandlungsfehler: .., weil er in der Schlussphase der Geburt eine Schulterdystokie entweder nicht erkannt oder nicht ordnungsgemäß auf diese reagiert hat.“ „.. die bei dem Kind eingetretene Verletzung des Plexus brachialis sind nur durch eine Schulterdystokie zu erklären“. „Durch die intrauterine Lage könne es zwar zu einer Dehnung des Plexus kommen, nicht jedoch, wie bei L S, zu einer Schädigung aller Wurzeln im Bereich C5-C8 und damit einem Abriss des Plexus. Dafür seien enorme Kräfte erforderlich, die intrauterin nicht wirkten.“ „Eine Schulterdystokie sei, ohne Weiteres zu erkennen und stelle einen absoluten klinischen Notfall dar.“ „Sollten sich die Schultern nicht mit der zweiten oder dritten Wehe nach Geburt des Kopfes entwickeln, komme als Ursache dafür nur eine Schulterdystokie, ein Festhängen der Schultern hinter der Symphyse, in Betracht. Behandlungsfehler – OLG Oldenburg Urteil „Bei Vorliegen einer Schulterdystokie seien umgehend folgende dokumentationspflichtige Maßnahmen zu ergreifen: 1. Mc Roberts-Manöver 2. Abstellen eines evtl. laufenden Wehentropfes 3. Ggf. Wehenhemmung 4. Großzügige Erweiterung der Episiotomie 5. Ggf. suprasymphysärer Druck 6. Innere Rotation der vorderen Schulter (Rubin-Manöver) 7. Lösen der hinteren Schulter (Woods-Manöver). „Solche Maßnahmen seien hier nicht dokumentiert, weswegen man davon ausgehen müsse, dass sie nicht ergriffen worden seien. „Der Gynäkologe habe die Schulterdystokie also entweder nicht erkannt oder nicht ordnungsgemäß auf diese reagiert. Beides stelle einen groben Diagnose- bzw. Behandlungsfehler dar“ Bindung an Leitlinien Bindung an Leitlinien - BGH „Leitlinien fassen nicht nur das zusammen, was bereits zuvor medizinischer Standard war.“ „Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind.“ „Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten .“ „Entsprechendes gilt für Handlungsanweisungen in klinischen Leitfäden oder Lehrbüchern. Sie geben nicht stets einen bereits zuvor bestehenden medizinischen Standard wieder.“ Bindung an Leitlinien – OLG Koblenz Sachverhalt: 2004: Zwillingsschwangerschaft: 6. Monat 2x 8 mg Celestan® appliziert Frühgeburt im 6. Monat Hirnschädigung mit multiplen Ausfällen und Behinderungen Leitlinien aus 2004: 2 x 12 mg Celestan® (Wirkstoff: Betamethason) Begehren: Schadenersatz wegen falscher Dosierung. Bindung an Leitlinien – OLG Koblenz Urteil: 2003 erschienenes Lehrbuch für Geburtshelfer, das eine Dosierung von 2 X 8 mg Celestan® als ausreichende RDS Prophylaxe bezeichnet „In Kenntnis des in den Focus gerückten Expertenstreits über die „richtige“ Dosierung des Medikaments Celestan® hat der Sachverständige bei seiner mündlichen Anhörung ohne Wenn und Aber die zurückhaltende Einstellung als nicht fehlerhaft qualifiziert.“„Das steht in Einklang mit den Erkenntnissen der jüngst (Juni 2014) veröffentlichten Dissertation ….“ „Es trifft demnach nicht zu, dass nur die Gabe von 2x 12 mg in Fachkreisen als sachgemäß erachtet wird.“ Vielen Dank für die Aufmerksamkeit
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