Psychotonik und die Stimme lassen den Raum erklingen Die

Artikel fürs DLV aktuell, die Fachzeitschrift der Deutschschweizer Logopädinnen und Logopäden
zum Thema „Stimme“
Annelies Wieler Baumann, Oktober 2015
Psychotonik und die Stimme lassen den Raum erklingen
Die Stimme – hörbarer Körperausdruck
Übungen aus der Atem- und Bewegungslehre Psychotonik unterstützen die Stimmarbeit. Dabei
arbeitet Psychotonik an der nonverbalen Kommunikationsfähigkeit des Körpers und damit an der
Stimme. Diese körperbetonte Behandlungsweise öffnet das Bewusstsein zum eigenen Raum und
verstärkt die Wahrnehmung des Raumes eines Angesprochenen. In diesem Körperbewusstsein ist
die Stimme nicht isoliert, sondern Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. In der Übungssituation
gemachte Erfahrungen werden in den Alltag übertragen.
Das Vorgehen nach den Prinzipien der Psychotonik beinhaltet das Erleben und Bewusstmachen des
eigenen und des umgebenden Raumes. Dabei ist das Thema der Grenze und das Einnehmen des
persönlichen Raumes entscheidend. Erst wenn das Gefühl, aus dem eigenen persönlichen Raum heraus
handeln bzw. sprechen zu können, körperlich realisiert werden kann, verändert sich der Tonus und damit
auch die Atmung sowie die Stimme.
Der Begründer der Atem- und Bewegungslehre Psychotonik, Volkmar Glaser, dokumentierte in seiner
Doktorarbeit zur Medizin, dass bestimmte Verhaltensweisen mit charakteristischen Atemformen
einhergehen. So zeigt die Atemkurve des "Auf-den-Raum-eingestellt-Seins" eine verstärkte Atembewegung
mit fliessenden Übergängen zwischen Ein- und Ausatem, was Ausdruck einer elastischen
Rumpfmuskulatur ist. Eine schwingende, anpassungsfähige Atemform ist die beste Voraussetzung, um in
eine angepasste Sprechatmung zu kommen.
Das Gefühl für den umgebenden Raum geht über das Körperschema hinaus und umfasst nicht nur den
realen leiblichen Raumanspruch, sondern auch das Bewusstsein über die Handlungsmöglichkeiten im
Raum. Wo höre ich auf, wo beginnt die Umwelt. Wie und wohin kann ich mich oder anderes im Raum
bewegen.
Die Psychotonik orientiert sich an vier Merkmalen des Raumgefühls:
•
Ein Gefühl für die Begrenzung des Handlungsraumes, gebunden an die Fähigkeit, die
Handlungsräume eingrenzen oder ausweiten zu können.
•
Ein Gefühl der eigenen Anwesenheit, die Präsenz im Raum, gebunden an die Fähigkeit, sich auf
den gewählten Raum einlassen zu können, sich zu beteiligen.
Grenze und Präsenz sind wichtig, um sich gegenüber anderen Personen abzugrenzen und einen
Standpunkt einnehmen zu können.
•
Ein Gefühl für die eigene Anpassungsfähigkeit, die Reagibilität, gebunden an die Fähigkeit, sich
an Veränderungen im Raum anpassen zu können.
•
Ein Gefühl für die eigene Gestaltungsfähigkeit, die Spontaneität, gebunden an die Fähigkeit, den
Raum nach den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten verändern zu können und zu wollen.
Reagibilität und Spontaneität sind wichtig für eine angepasste Handlungsweise.
Körperlich zeigt sich das Raumgefühl über eine Tonusveränderung in allen Facetten des Körperausdrucks.
Also auch in der Klarheit, Tragfähigkeit und Modulierfähigkeit der Stimme. Gelingt es, sich gefühlsmässig
auf die Situation einzustellen, zieht der Körper mit und die Stimme lässt den Raum erklingen.
Psychotonik arbeitet über die nonverbale Kommunikationsfähigkeit an der Stimme
Die Stimme ist hörbarer Körperausdruck. Die Stimme wird wie kein anderer Körperausdruck zur
Kommunikation benutzt. Noch bevor die Sprache ihre Wirkung entfalten kann, hat die Stimme bereits
unmittelbar zum Ausdruck gebracht, ob Gedachtes und Gemeintes adäquat vermittelt wird und damit vom
Gegenüber unmissverständlich verstanden werden kann. Das heisst, über die Stimme kommt nicht nur die
Sprechabsicht zum Ausdruck, sondern auch die eigene Gestimmtheit und die Beziehung zum Gegenüber.
Nebst der nonverbalen Vokalisierung, also der Stimme, werden Mimik, Gestik, Blick, Körperhaltung,
Bewegung, räumliches Verhalten und andere Attribute wie Kleidung, Haare und Schmincke zur
Verständigung benutzt (vgl. M. Argyle, Körpersprache & Kommunikation, Junfermann Verlag, Paderborn
1996, 7. Aufl.). Sie alle sind Träger der Botschaft und haben einen starken Einfluss auf die Bewertung der
Situation und rückwirkend auch auf das persönliche Körpergefühl in der Situation. Gelingt die
Situationsbewältigung und das begleitende Gefühl gut, sehen wir meistens keinen Anlass, weiter darüber
nachzudenken. Erst im Zusammenhang mit wiederholt auftretenden Störungen "wann immer diese gewisse
Störung eintrifft, bleibt die Stimme weg" werden die Zusammenhänge zwischen körperlichen und
psychischen Aspekten der Situation oder in der Kommunikation offensichtlich.
Der körperliche Aspekt der Kommunikation ist in starker Abhängigkeit zur Muskulatur zu betrachten. Die
Muskulatur arbeitet in jedem Moment des Lebens als sensorisches, wahrnehmendes und motorisches,
ausführendes Organ. Der ständige Informationsfluss aus der gesamten Muskulatur des
Bewegungsapparates wird im Hirn mit allen anderen Informationen zu einem Eindruck verarbeitet, auf dem
die nächste Aktion geplant und ausgeführt wird. Die Psychotonik verwendet dafür den Begriff
Bereitschaftstonus und meint damit sowohl die psychische als auch die physische Verfassung. Im
Bereitschaftstonus zeigt sich die Einstellung auf die Situation. Der Bereitschaftstonus entscheidet über die
Qualität der nachfolgenden Handlung.
Dem Spannungszustand, dem Tonus der Muskulatur gebührt grosse Aufmerksamkeit in jeglicher Therapie,
in der es in irgendeiner Weise um Kommunikation geht – oder anders ausgedrückt: Eine Therapie, die
keine nachhaltig verbesserte Tonusaktivität mit sich bringt, ist nutzlos.
Wahrnehmung Kontaktaufnahme
In der folgenden Übung geht es darum, die eigene Kommunikations- und Kontaktbereitschaft über die
Stimme zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird der Kontakt über die Füsse hergestellt. Diese Kontaktnahme
ist uns zwar vertraut, aber die Art und Weise, wie wir das tun, läuft oft sehr unbewusst ab.
Kleine Gegenstände sind auf dem Boden verteilt. Die übende Person geht langsam mit geschlossenen
Augen durch den Raum. Tritt sie auf einen Gegenstand, soll der Kontakt mit der Stimme bestätigt und
bejaht werden. Zu Beginn wird mit Gegenständen geübt, die voraussichtlich als angenehm empfunden
werden, nach und nach kommen ungewohnte oder unangenehme Gegenstände hinzu.
Die übende Person soll dann beschreiben, was sich verändert. Dabei gilt die Aufmerksamkeit allen
wahrnehmbaren Phänomenen wie Körpergefühl, Stimmung, Atmung, Stimme oder anderem, was ins
Bewusstsein tritt.
Die Übende beschrieb in diesem Beispiel, dass sie sich wacher, angeregt, aber nicht aufgeregt fühlt und
dass sie ihren Stimmklang als unmittelbar und ohne Druck empfunden hat.
Übungen dieser Art ermöglichen es – ausserhalb von tatsächlichen realen Situationen und damit losgelöst
von möglichen Konsequenzen –, über die eigenen Kontaktgewohnheiten zu reflektieren und
Veränderungen zu erkennen. Mit etwas Übung gelingt es auch, für zukünftig reale Situationen ein
adäquates Bereitschaftsgefühl aufzurufen und den Körper in einen entsprechenden Tonus zu versetzen.
Raumgefühl
Die folgende Übung soll deutlich machen, wie sich in der Stimme das Bewusstsein für den eigenen Körper
und die Umgebung zeigt und wie sich in ihr Präsenz, Grenze und Veränderungen manifestieren.
Die übende Person wird aufgefordert, auszuprobieren, wie es klingt, wenn sie mit der Stimme ihren Raum
begrenzen und ihre Anwesenheit markieren will. Oder wie es klingt, wenn sie ihre Stimme unauffällig ins
Stimmengewirr im Restaurant einfügt, um nicht von jedem gehört zu werden; oder sich über das
Stimmengewirr erheben möchte, um etwas zu bestellen.
Doch: Was passiert, wenn nichts passiert? Die Stimme will nicht erklingen oder tönt immer gleich, der
begleitende Körperausdruck vermag nichts über die Absicht zum Ausdruck zu bringen und es stellt sich
kein Gefühl ein.
Jetzt gilt es, konkrete Erfahrungen zu machen. Mit einer weiteren Übung zu erleben, wie es sich anfühlt,
wenn der Körper eine Grenze erfährt und sich an dieser Grenze entlang bewegen darf; zu erfahren, wie
dann die Stimme klingt und welches Gefühl dabei auftaucht.
Die übende Person erhält dafür einen Ball. Den Ball muss sie mit dem Rücken an die Wand drücken und
mit ihm kreisende Ornamente an die Wand zeichnen. Die Bewegung des Balls wird mit der Stimme
begleitet.
Über das Wahrnehmen der Bewegung des Balls an der Wand kann die übende Person ihren Rückenraum
als belebten Raum wahrnehmen und erfährt sowohl die Begrenzung als auch die Möglichkeiten ihrer
Handlung durch den Kontakt an der Wand.
Nach Beendigung der Übung wird die Situation in Erinnerung gerufen. Fragen wie "Hat sich etwas
verändert? Wenn ja was? Wie ist das Körpergefühl jetzt? Wie hat die Stimme geklungen?" machen die
Veränderungen bewusst.
Die übende Person beschrieb im Anschluss, dass sie nach längerem Üben ihre Stimme variantenreicher
erlebt. Die Beschäftigung mit der Ballführung verhinderte überschiessende Aktionen mit der Stimme.
Kontaktnahme zum Menschen
Gelingt die Kontaktnahme im Sachbezug, üben wir die Kontaktnahme zu Menschen. Die Therapeutin rollt
einen Ball über den Rücken der übenden Person. Solange der Ball ihren Körper berührt, soll sie mit der
Stimme tönen. Ist der Ball nicht mehr da oder kann sie ihn nicht mehr wahrnehmen, muss sie sofort
aufhören zu tönen. Der Ball dient der Kontrolle des Kontaktes und gibt die Erlaubnis zur Stimmgebung. Mit
der Stimme zeigt die berührte Person, dass sie die kontaktende Person wahrgenommen hat, und über den
selbst erschaffenen Ton zeigt sie sich und macht ihren Raum für andere wahrnehmbar.
Auch hier gehört im Anschluss die Fragestellung "Was hat sich verändert?" zur Reflexion und Manifestation
des Erlebten. Interessant dabei ist die Beobachtung, je aufmerksamer die Berührte an der Ballbewegung
bleibt, umso unangestrengter, entspannter wird die Stimmgebung und passt sich den Impulsen der
Ballführung an.
Manifestation des Körpergefühls
Jetzt geht es darum, ohne konkreten Körperkontakt ein Gefühl für die Kontaktnahme aufzurufen. Auch
hierfür werden Gegenstände eingesetzt, um die Kontaktnahme zu verdeutlichen.
Die Therapeutin sitzt der übenden Person gegenüber. Sie rollen sich gegenseitig und abwechselnd kleine
Bälle zu und nehmen wahr, wann genau diese beim Gegenüber ankommen. Das Rollen der Bälle wird mit
der Stimme begleitet, zu Beginn mit Tönen, dann mit ganzen Sätzen.
Laut Aussage der Übenden ändert sich das Gefühl für die Weite des Raumes oder anders ausgedrückt, für
die Begrenzung des Raumes. Hörbar trägt die Stimme im Raum bis zum Empfänger, also bis zur vorher
wahrgenommenen Grenze. Der gesprochene Satz wird auf die Raumweite zwischen Sender und
Empfänger angepasst.
Alle Übungen zielen darauf ab, eine Übereinstimmung zwischen Körperausdruck, Handlungsabsicht und
Gefühl für die Situation herzustellen.
Abschliessend lässt sich sagen: Die Stimme lässt den Raum erklingen. Das heisst, die Stimme muss einen
Raum herstellen, in welchem das Sprechen selbst zu einer Verbesserung der Stimme führt. Gelingt dies
nicht oder nicht mehr, braucht es therapeutische Unterstützung.
Das systematische Üben der Kontaktnahme und das Bewusstmachen des Raumgefühls sind Angebote,
welche die Atem- und Bewegungslehre Psychotonik bietet. In der Psychotonik ausgebildete
Therapeutinnen haben gelernt, Übungssituationen so zu gestalten, dass sie gute Anreize bieten, um das
gesamte Potenzial zur Entfaltung zu bringen.