Auszug aus der Ansprache unseres Vorstandsmitglieds Dr. Monika Niedermayr zum „Tag des Lebens“ 2015 in der Pfarre Brixlegg Vor 40 Jahren wurde aktion leben tirol gegründet, für uns ein Grund zum Danken. Unser Jubiläum steht unter dem Motto „Leben leben lassen“. Dieser Satz drückt vorderhand wortwörtlich genommen unser Vereinsziel aus: Wir setzen uns ein für den Schutz des menschlichen Lebens von seinem Anfang bis zu seinem natürlichen Ende. Ich sehe in diesem Satz darüber hinaus eine Aufforderung an uns alle, das tagtäglich umzusetzen, nicht unbedingt in großen dramatischen Lebensrettungsaktionen, sondern in jeder Sekunde unseres eigenen Lebens. Wie kann das gelingen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich eine Erfahrung mit euch teilen, die mir geschenkt wurde. Einmal pro Woche besuche ich mit meinem zum Therapiehund ausgebildeten Hund eine Einrichtung, in der behinderte Erwachsene tagsüber betreut werden. Wir treffen uns zur Spielgruppe, an der 6-8 Personen teilnehmen. So auch an diesem Tag. Begrüßt werden wir immer von Michi. Michi hat das sonnigste Wesen, das man sich vorstellen kann, er ist der freudvollste Mensch, den ich kenne. Er hat das Down-Syndrom (Trisomie 21). Zur Begrüßung umarmt er jeden, den er gerne hat. Manche Menschen sind dadurch irritiert. Ihnen hilft er über ihre Befangenheit hinweg, indem er strahlend erklärt: „Weißt, ich mag dich.“ In der Gruppe wartet auch Maria auf den Hundebesuch. Sie plagen an diesem Tag große Sorgen, ganz stereotyp wiederholt sie in einem fort zwei Sätze: „Wie spät ist es? Was gibt es morgen zum Essen?“ Diese beiden für sie unlösbaren Fragen überschatten ihr Dasein, man merkt, sie ist wirklich belastet. Michi spürt das und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Ganz ruhig sagt er zu ihr: „Maria, gestern ist vorbei und morgen ist noch nicht da. Aber jetzt, jetzt ist der Hund zum Spielen da, und wir sind im Jetzt!“ - Mit einem Schlag wird es mucksmäuschenstill im Raum. Das Stimmengewirr verstummt, alle merken, Michi hat soeben etwas ganz Bedeutsames zu Marias Trost gesagt. Was hat er in ganz einfachen Worten gesagt? Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die einzige Zeit, in der wir wahrhaft leben können, auf das Jetzt. Er sagt, wir sind immer im Jetzt, aber wo ist unsere Aufmerksamkeit? Wie oft schieben wir einen Bissen nebenher in den Mund und registrieren gar nicht, wie die Nahrung wirklich schmeckt? Wie oft führen wir ein Gespräch und unsere Gedanken sind überall nur nicht bei unserem Gegenüber? Wie oft sitzen wir am Sonntag in der Kirche und planen dabei den Stress der kommenden Tage? Und: Wie wohl tut uns das Gegenteil! Wir sind fasziniert von Kindern, die wir tief versunken in ihr Spiel beobachten, nichts kann sie ablenken, und ihre Holzklötze werden zu lebendigen Wesen. Wir können mühelos auch komplizierte oder unliebsame Arbeiten verrichten, wenn wir uns im Fluss befinden, alles gelingt ohne größere Anstrengung, die Zeit verfliegt dabei. Wir fühlen uns wunderbar, wenn uns jemand im Gespräch die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung schenkt und alle Sinne für uns öffnet. All dies erfüllt uns mit tiefer Freude und Zufriedenheit, weil wir dann ganz den Augenblick leben und weil wir spüren: nur im Jetzt sind echte Begegnungen möglich. Begegnungen mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit Gott. Begegnungen, die gestern stattgefunden haben, sind nur mehr Erinnerungen, Begegnungen, die morgen vielleicht stattfinden, sind nur Hoffnungen. Aber ein ruhiger, nicht ständig herumirrender Geist, der im Jetztsein weilt, ermöglicht erfüllende Begegnungen in der Gegenwart. In diesen Augenblicken lassen wir das Leben leben, es kann fließen, in uns selbst pulsieren und durch unsere Präsenz anderen zufließen. Wir können unmittelbar unsere eigene Einmaligkeit und Kostbarkeit wahrnehmen, unser Leben als Geschenk spüren, und auch das Einmalige und Wertvolle im anderen Menschen erfahren. Die Aufforderung von Michi an Maria: „Komm doch ins Jetzt!“ möchte ich uns allen zurufen und wünschen, dass uns die Umsetzung immer besser gelingen möge. Damit wir das Leben immer öfter leben lassen können ohne Ängste, sondern mit Vertrauen jeden neuen Augenblick.
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