Powerpointpräsentation von Heinz Fassmann

Stellungnahme zur aktuellen
europäischen Flüchtlingskrise
Prof. Heinz Fassmann
Universität Wien
5/12/2015
Vorbemerkung
• Ist es eine Krise?
• Krisenbegriff - Zuspitzung einer Situation, Destabilisierung eines Systems
• Krise für die flüchtenden Menschen
• Krise für das Asylsystem und die Europäische Asylpolitik
• Aber es ist keine umfassende Krise des Staates und des Gemeinwesens (Kirche im Dorf ..)
• 4 rhetorische Fragen, um die Krise des Asylsystems zu erläutern:
•
•
•
•
Was verstört?
Integration: Belastung oder Potential?
Was hat die Politik vor?
Welcher Rat kann gegeben werden?
Was verstört? Die Zahlen?
• Österreich
• 1-9/2015: 56.356 Anträge ohne
Resettlement; im Vergleich 19/2014 (17.010) mehr als eine
Verdreifachung
• Alleine 9/2015: rund 10.000
Asylanträge (= ein Drittel des
gesamten Jahres 2014);
• in der KW 45 (2.-8.11.) 3.456
Asylanträge; pro Tag 493
Neuanträge
Was verstört? Die Zahlen?
• Österreich
• Realistische Prognose für 2015: 8590.000 Asylanträge
• Die Zahl ist historisch
außergewöhnlich hoch, aber nicht
einmalig
• 1991/92 rund 80.000 de facto
Flüchtlinge (TPS) aus Kroatien,
Bosnien und Herzegowina
zusätzlich zu den
durchschnittlichen 20.000 Anträge
pro Jahr der Jahre 1989-1992
Was verstört? Die Zahlen?
• Deutschland
• 01-10/2015: 331.226 Asylanträge
im Vergleich 2014 mehr als eine
Verdoppelung; rund ein Drittel
aller Asylanträge der EU28
• Andere Herkunft: 1/3 aus Syrien,
1/3 Albanien und Kosovo, 1/3
Afghanistan, Irak, Pakistan, Iran, …
• Das BAMF rechnet mit einer
doppelt so hohen Zahl an noch
nicht registrierten Flüchtlingen;
Jahresschätzwert: 800.000
Was verstört? Die Zahlen?
• EU-Europa
• 01-09/2015: 895.000
Neuanträge (Eurostat in
BAMF Asylgeschäftsstatistik
09/15)
• 2015 (geschätzt): 1,4 Mio.
• Hohe Konzentration auf 4
Aufnahmestaaten (D, S, HU,
Ö) und ebenso Konzentration
auf 4 Herkunftsstaaten
(Syrien, Afghanistan, Irak und
Albanien)
Was verstört? Die Bilder?
• Ja
• Zahlen sind abstrakt; was
bedeuten 85-90.000 Asylwerber in
Ö in 2015?
• Mehr verunsichern die medial
vermittelten Bilder einer
ungeregelten und nicht
kontrollierbaren
„Massenmigration“
•  Kontrollverlust des Staates
Was verstört? Die Rechtsschwäche?
• Ja,
• Schengen-Acquis und das GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystem)
werden derzeit nicht eingehalten (auch nicht von Ö)
• Exkurs: Was ist das GEAS?
• Genfer Flüchtlingskonvention vertritt einen sehr eingeschränkten Flüchtlingsbegriff
(„Person, die sich außerhalb ihres Heimatlands befindet und eine wohlbegründete
Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Meinung
oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat.“ UNHCR.at)
• Also: keine Anerkennung als Kriegsflüchtling, als „Wirtschaftsflüchtling“, als
„Klimaflüchtling“, keine Anerkennung bei Verfolgung durch nichtstaatliche Stellen, keine
Anerkennung bei sexueller Gewaltanwendung etc.
Was verstört? Die Rechtsschwäche?
• Seit 1999 (Tampere Prozess) schrittweise Etablierung von GEAS;
Kernelemente:
• Anerkennungsrichtlinie: erweitert die akzeptierten Fluchtursachen (Gewalt durch
nichtstaatliche Akteure, sexuelle Gewalt)
• Aufnahmerichtlinie: regelt die Aufnahmebedingungen (Unterkunft, Verpflegung,
Gesundheitsversorgung und Beschäftigung)
• Verfahrensrichtlinie: regelt die Art und Weise der Prüfung der Anträge
(Schnellverfahren, Grenzverfahren, Berufungsmöglichkeiten)
• Dublin Verordnung: klärt die Zuständigkeit für Asylverfahren (um ein „Asyl a la Carte“ zu
verhindern)
• EURODAC Verordnung: definiert alles im Zusammenhang mit den Fingerabdrücken
• [Massenzustromrichtlinie (2001): gewährt vorübergehenden Schutz und zeitweiliges
Aussetzung der Statusfeststellungsverfahren im Falle eines Massenzustrom]
Integration: Belastung oder Potential?
• Potential
• Potential aufgrund der
demographischen Struktur
• 31% der Asylwerber 01-09/2015 in
Deutschland sind unter 18 Jahre alt
49% sind im Alter zwischen 19 und 34
(beides Quelle: BAMF)
• Rund zwei Drittel sind Männer
• Ausgleich des durch die Alterung der
Baby Boomer hervorgerufenen
Rückgangs des Arbeitskräfteangebots
(wenn auch etwas zu früh)
Integration: Belastung oder Potential?
• Belastung
• Aufgrund der Qualifikation
• Anerkannte Flüchtlinge auf Jobsuche
9/2015:
• Syrien: ca. 65% nur Pflichtschule, ca.
7% höhere Qualifikation;
• Afghanistan: ca. 90% Pflichtschule
• Derzeit: Kompetenzcheck (Pilot
Studie in Wien – AMS):
Integration: Belastung oder Potential?
• Herausforderung:
• Langsamer Anstieg der
Erwerbsquote mit der
Aufenthaltsdauer
• Studie:Erwerbsbeteiligung von
anerkannten Flüchtlingen (FL) und
vorläufig Aufgenommenen (VA) auf
dem Schweizer Arbeitsmarkt
(www.bfm.admin.ch)
• Kohorte der Flüchtlinge, die zwischen
1997 und 2000 in der CH
aufgenommen wurde (25 – 50; 10 Jahr
Aufenthaltsdauer)
• www.sem.admin.ch/dam/data/sem/integration/bericht
e/va-flue/studie-erwerbsbet-va-flue-d.pdf
Integration: Belastung oder Potential?
• Herausforderung:
• Langsamer Anstieg der
Erwerbsquote mit der
Aufenthaltsdauer
• Studie: Gächter (ZSI): in Russland
Geborene, die Ö 2002-2005 erreicht
haben (meistens Tschetschenen)
• Nach 5 Jahren: Erwerbsquote der
Pflichtschulabsolventen verdoppelt
von 12% auf 23%!
• http://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/4
830120/Arbeit-als-Schlussel-zur-Integration
Integration: Belastung oder Potential?
• Herausforderung:
• Niedrige Erwerbsquote ausgewählter
Zuwanderer
• Studie: BAMF Migranten am Arbeitsmarkt in
Deutschland WP36
• Niedrige Erwerbsquote der Zuwanderer aus
Russland (Flüchtlinge inkludiert);
• Besonders die weibliche EQ nur die Hälfte der
deutschen EQ
• www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPa
pers/wp36-migranten-am-arbeitsmarkt-indeutschland.pdf?__blob=publicationFile
Integration: Belastung oder Potential?
• Folge und Zwischenfazit
• Arbeitsmarktintegration ist schwierig,
aber vorrangig
• Asylberechtigte haben Zugang zur
bedarfsorientierten
Mindestsicherung (~ 830 € pro
Monat)
• Zusätzliche 10.000 Bezieher der BMS
verursachen Kosten von 100 Mio. €
• Eine sozialpolitische
Verteilungsdiskussion kann erwartet
werden mit Akzentuierung von „wie
und die Anderen“
Integration: Belastung oder Potential?
• Religiöser Hintergrund
• Risiko für Europa (Orban) oder
verstärkte Vielfalt?
• Frage ist schwierig zu beantworten, weil es
keine empirische Wertestudie der
Flüchtlinge
• Beides ist möglich:
• Annahme der europäischen Grundwerte
(Liberalität, Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit etc.), aber auch
Verharren, als Ergebnis selbstgewählter
oder gesellschaftlich erzwungener
Exkludierung
Was hat die Politik vor?
• Ein „Outsourcing“ der Kontrolle
• Errichtung so genannter „Hot
Spots“ (unterstützt von EASO)
• Registrierung der Asylsuchenden,
• Entscheidung über Berechtigung
einen Asylantrag zu stellen,
• Verteilung innerhalb Europas,
• Rückführung
• Verbesserte Grenzkontrolle durch
die Türkei und afrikanischen
Staaten („Modell Gaddafi“?)
Was hat die Politik vor?
• Bekämpfung der Fluchtursachen
(root causes Ansatz)
• Lebensbedingungen in den
existierenden Flüchtlingslagern
• Langfristig auch in den potentiellen
Herkunftsländern
• Diplomatische Initiativen zur
Konfliktbeilegung (sehr schwierig);
• gemeinsame EU-Außenpolitik ist
gefordert
Was hat die Politik vor?
• Verbesserung des Europäischen Asyl
Systems
• Verteilung der Asylwerber auf die EUMS (Burden Sharing) aufgrund der
Einwohnerzahl und der
Wirtschaftskraft (Königssteiner
Schlüssel auf Europa ausgeweitet)
• Erhöhung der Resettlement
Programme bei gleichzeitiger Kontrolle
und Limitierung des individuellen
Asylzugangs (kanadisches Modell)
• Finanzielles Transfer System
National government positions on the EU immigration quota
plan: Approval Opt-out (de facto refusal) Refusal Non-EU
state
Was hat die (nationale) Politik vor?
• Wettbewerb der Unfreundlichkeit
• Modell „Free Choice“ der Asylwerber
ist gescheitert; Staaten beginnen mit
Verschärfungen, um nicht die über
Gebühr die Aufgabe der
Asylgewährung zu tragen
• Asyl auf Zeit
• Sachleistungen ersetzen Taschengeld
• Rasche Rückführung bei Asylwerbern
aus sicheren Herkunftsstaaten
• Limitierung des Familiennachzugs
Welcher Rat kann gegeben werden?
• Generell und für Europa
• 1. humanitäre Aufgaben wahrnehmen (Asyl ist völker- und menschenrechtlich
abgesichert)
• 2. Rückkehr zu einer geregelten Durchführung der Asylprozedur ist politisch und
gesellschaftlich unbedingt notwendig; Rückkehr zu GEAS und damit auch Schengen reimplementieren;
• 3. Kollektive Aufnahmeverfahren (Resettlement, Aktivierung der
Massenzustromrichtlinie) sind in der Situation adäquater als das individualisierte
Asylverfahren
• 4. Europäisierung des Asylsystems vorantreiben (mit gemeinsamen Standards der
Durchführung, aber auch der sozialrechtlichen Absicherung)
Welcher Rat kann gegeben werden?
• Für Österreich
• 1. Rasche Entscheidung über Anträge; Klarheit vermitteln
• 2. Intensive Qualifizierungsmaßnahmen bei den Asylwerber mit hoher
Bleibewahrscheinlichkeit
• 3. Intensive Qualifizierungsmaßnahmen bei den Asylberechtigten; Ziel: Rasche Aufnahme
der Erwerbsarbeit – Männer und Frauen (!); Erwerbsarbeit ist der Motor der Integration
• 4. weitere Maßnahmen im 50 Punkte Plan zur Integration der Asylberechtigten –
darunter (pro domo): mehr Grundlagenforschung, um einen Blindflug der Politik zu
verhindern!
Herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!