„Welche Anzeichen gibt es bei Kindern, die auf traumatische

Udo Baer
„Welche Anzeichen gibt es bei Kindern, die auf traumatische Erfahrungen
hinweisen können?“
Wenn Kinder von Eltern oder anderen Schläge und andere Gewalt erfahren, sind
meist blaue Flecken oder andere körperliche Anzeichen festzustellen. Diese werden
zwar oft zu verstecken oder weg zu erklären versucht, doch meist gibt es sichtbare
körperliche Spuren.
Unsichtbar bleiben jedoch meist die Spuren sexueller Gewalt. Über solche
traumatischen Erfahrungen dürfen Kinder und Jugendliche in der Regel genauso
wenig berichten wie über Prügel. Das Schweigegebot ist mächtig. Die Kinder
erzählen dennoch: durch und über ihr Verhalten.
Es gibt keinen Verhaltenskatalog, der auf traumatische Erfahrungen sexueller Gewalt
hindeutet. Keine Aufzählungen von Symptomen oder Störungen. Alle Versuche,
solche Kataloge aufzustellen, scheiterten an der Unterschiedlichkeit der Kinder und
Jugendlichen. Doch eine Wirkung ist fast immer festzustellen: nicht eine konkrete
Störung, sondern ein Verstört-Sein. „Stefan wirkt so verstört.“ oder „Liz ist in der
letzten Zeit verstört.“ Solche Beobachtungen machen Erzieher/innen im Kindergarten
oder Lehrer/innen in der Schule, Mitarbeiter/innen in Jugendeinrichtungen oder in
Angeboten der Jugendhilfe.
Was ist das: verstört sein? Es zeigt sich bei jedem Kind, bei jedem Jugendlichen
anders. Welches Wort man wählt, ist zweitrangig („neben der Kappe sein“, „durch
den Wind“, „total daneben“, „völlig verpeilt“ ...). Wesentlich ist, dass das Kind, der
Jugendliche anders ist als vorher, also eine deutlich sichtbare Veränderung
eingetreten ist. Bei manchen entwickelt sich die Veränderung langsam, bei den
meisten relativ schnell. Und wesentlich ist, dass die Veränderung eine anhaltende
und auffallende Verwirrung beinhaltet. Wenn zehn Menschen beschreiben sollten,
was „Verstört-Sein“ für sie ausmacht, würden zehn unterschiedliche Aussagen
herauskommen. Und doch wäre für alle eine bestimmte Qualität deutlich, die
Verstört-Sein ausmacht.
Warum ist das Verstört-Sein so wichtig?
Weil eine traumatische Erfahrung sexueller Gewalt Kinder und Jugendliche
existenziell erschüttert. Die Selbstverständlichkeit des Lebens und ihrer
Unverletzlichkeit wird zerstört, sie werden als Objekte behandelt und fühlen sich in
ihrem Erleben am oder im Abgrund. Das verändert die „Ordnung“ des Erlebens und
Verhaltens radikal. Viele versuchen eine Zeit lang diese Ordnung aufrecht zu
erhalten und so zu tun, wie es „vorher“ war. Doch den meisten gelingt das nicht oder
nicht lange.
Die „Ordnung“ des Erlebens, der zwischenmenschlichen Kommunikation, des
Verhaltens, manchmal der Sprache, des Gesichtsausdrucks, des Lernens ... all das
ist grundlegend gestört, die Kinder sind verstört.
Nun muss nicht jedes Verstört-Sein auf Erfahrungen sexueller Gewalt hindeuten. Es
kann andere Ursachen haben, zum Beispiel drohende Trennung der Eltern oder
ungelebte Trauer über den Verlust der Oma oder einer anderen geliebten Person.
Doch immer sollte Verstört-Sein ein Anlass sein, sich um das Kind oder den
Jugendlichen zu kümmern und dem nachzugehen. Mit eigenen
traumapädagogischen Angeboten oder der Vermittlung in geeignete Hilfsangebote.