Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
inprekorr
Inter nationa le Pr essekor r espondenz
ZEITENWENDE IM
SPANISCHEN STAAT?
Januar/Februar
1/2016
Ausgabe 1/2016
Dossier
Frankreich
Ökologie
Ökonomie
ZEITENWENDE
IM SPANISCHEN
STAAT?
Resolution der
NPA (Frankreich)
COP 21 –
viel Lärm
um nichts
Automobilindustrie – same
procedure …
Südamerika
Dieses Dossier bietet einen Überblick über die Strömungen aus der Bewegung
15-M und die Schwierigkeiten, vor denen Podemos, die übriggebliebene Erbin, heute steht.
Gegen den IS und
seine verabscheuungswürdigen Attentate! Solidarität mit den Opfern! Gegen Notstand und
Rassismus! Gegen den
Burgfrieden mit der Regierung!
„Die Exportquote
der Automobilindustrie beträgt 77 %, was
bedeutet, dass der gesamte Exportüberschuss
Deutschlands zu 60 %
automobilbedingt ist.“
(VDA)
Ein Dossier mit
6 Beiträgen
Politisches Komitee der
NPA
Der Klimagipfel endete erwartungsgemäß mit einem
Abkommen. Gleichzeitig müssen sich die kapitalismuskritischen Kräfte
der Ökologiebewegung
in ihren Befürchtungen
bestätigt sehen.
Die Krise des südamerikanischen
„Progressismus“, der die
Linke teilweise an den
bürgerlichen Staat gefesselt
hat, kann neuen revolutionären Aufbrüchen nützen,
wenn sie nicht nach rechts
gewendet wird.
4
26
30
Von Daniel Tanuro
34
Von Jean-Claude
Vessillier
Ende einer Ära
in Südamerika?
43
Von Frank Gaudichaud
I n h a lt
die internationale
Neue Strategie,
neue Partei?
Der Autor bilanziert die in die Krise geratenen Strategien der „linken Regierungen“ und der „breiten
Parteien“ in Südamerika
und Europa. Welche Wirkung haben sie auf das revolutionäre Bewusstsein?
52
Von Willi Eberle
Dossier
ZEITENWENDE IM
SPANISCHEN STAAT?
Dieses Dossier bietet einen Überblick über die Strömungen aus der Bewegung
15-M und die Schwierigkeiten, vor denen Podemos, die übriggebliebene Erbin,
heute steht.
Ein Dossier mit 6 Beiträgen
Spanien nach der
Wahl
Empörung trifft
auf Friedhofsruhe
Der Nachhall der
Empörung
Seite 5
Seite 5
Seite 8
Über die Kunst,
den Himmel über
Wahlen erstürmen
zu wollen
Seite 14
4 Inprekorr 1/2016
Katalonien –
Stunde der Wahrheit
Seite 20
Von Laclau zu
Iglesias – Theorie
und Praxis des
(Neo)populismus
Seite 22
Dossier
Spanien nach
der Wahl
„Sorge um Stabilität in Spanien“, so titelt die
SZ nach den Wahlen vom 20. Dezember, die
(zumindest vorläufig) das Zweiparteiensystem
– das zugleich Produkt und Garant des
postfranquistischen Übergangsregimes
(transición) war – aufgebrochen haben. MiWe
Die seit erst knapp zwei Jahren als „Partei der Bewegung“ bestehende Podemos („Wir können“) erhielt jede fünfte Wählerstimme und lag nur knapp hinter der sozialdemokratischen
PSOE. Diese ist gemeinsam mit der weiterhin stimmenstärksten PP (Volkspartei) tief in Korruptionsskandale verwickelt.1 Damit scheint ihr Abwärtstrend gestoppt, der Podemos
vorübergehend zur – demoskopisch – stärksten Partei hatte
werden lassen: Bei den katalanischen Regionalwahlen wurde
die Partei mit knapp 10 % der Stimmen klar distanziert und
lag noch hinter der linksautonomistischen CUP.
Eine Abfuhr erhielten die Systemparteien, die dem Neoliberalismus und den Konvergenzkriterien verpflichtet sind
und deren Austeritätspolitik zu einer nachhaltigen Verelendung weiter Teile der Bevölkerung geführt hat. Podemos
hingegen profitierte – außer vom Verdruss der Bevölkerung
an den Systemparteien – vor allem vom Elan der Bewegungen. Deren Potenzial ist weiterhin vorhanden, auch wenn ihr
Enthusiasmus und ihre sichtbare Präsenz in den letzten Jahren
abgeebbt sind. Schließlich sind die Ursachen, die zur Empörung geführt hatten, weiter vorhanden. Insofern kann die
Partei momentan auf eine breite soziale Basis blicken.
Daneben darf aber nicht übersehen werden, dass auch ein
wahltaktisches Kalkül mit ausschlaggebend war. Eine Analyse des schlechten Abschneidens bei den Regionalwahlen
in Katalonien hat den Podemos- Beraterstab, der das Abschneiden bei den Wahlen zum Wesen der Politik schlechthin
erklärt, zweifellos veranlasst, die fragwürdige Position in der
Nationalitätenfrage zu relativieren und eine Annäherung an
die basisorientierten Wahlblöcke in einzelnen Regionen zu
suchen, die bereits bei den Kommunalwahlen im Frühjahr
2015 erfolgreich waren. In Galicien, Katalonien und der
valencianischen Gemeinschaft kandierte Podemos auf den
Listen von En Comú Podem , En Marea, Compromis-Podem und
konnte so mit jeweils 25 % zur stärksten bzw. zweitstärksten Forma-
tion werden, was Iglesias in neuer Tonart vom „plurinationalen
spanischen Staat“ sprechen ließ.
Offen ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Heftes,
welche Allianzen sich bilden werden. Die folgenden, noch
vor den Wahlen verfassten Artikel geben in weiten Teilen
eine Antwort auf die eingangs zitierte Befürchtung des
bürgerlichen Lagers und erläutern, wieso ein ernsthafter
Bruch mit der neoliberalen Agenda nicht zu erwarten ist.
Zu eindeutig sind die von „Realpolitik“ geprägten Stellungnahmen an der Spitze von Podemos, die über kosmetische Korrekturen an der EU-diktierten Sparpolitik nicht
hinausweisen.
Auch wenn sich die Basis von Podemos zurecht zum erfolgreichen Abschneiden gratulieren darf, sind die Machtbasis
des Kapitals und die Ansprüche der Troika ungebrochen.
Insofern stehen die entscheidenden Kämpfe noch bevor und
müssen von der Basis aus gefochten werden – gemeinsam mit
allen Genossinnen und Genossen, auch denen von IU-Unidad
Popular, der wohl nach griechischem Vorbild umbenannten
Izquierda unida.
1 Infolge des undemokratischen Wahlsystems erhalten kleinere
Parteien wie die IU-PP, die unter Hinzuzählung ihrer Beteiligung an Wahlblöcken faktisch bei knapp 5 % liegt, eine unterproportionale Vertretung im Parlament. IU-PP erhielt demnach
– wie die linksnationalistische baskische Bildu – nur 2 Sitze. Die
vor der Wahl hochgejubelten und stark gepuschten Ciudadanos
blieben mit 14 % weit unter den Erwartungen.
Empörung
trifft auf
Friedhofsruhe
Im Mai 2011 veränderte ein unerwarteter Ausbruch von Empörung die bis dahin von Apathie
und abflauenden Kämpfen geprägte politische
Szenerie. Ein Überblick über die damalige Bewegung und ihren Ursprung. Manuel Garí
Aus der unvermutet entstandenen Bewegung der Empörten
vom 15. Mai 2011 (15-M) entwickelte sich eine massive LegiInprekorr 1/2016 5
Dossier
timationskrise des politischen Regimes, das in der Übergangsphase der postfranquistischen Ära Mitte der 70er Jahre
entstanden war. Die revolutionäre Linke stand mit ihrer
Kritik des sozio-ökonomischen Systems und des politischen
Regimes schon nicht mehr allein. Zehntausende junge und
weniger junge Menschen strömten schon bald auf die Plätze
und skandierten: „Wir sind keine Ware der Politiker und
Banker“, „Wir bezahlen nicht für Eure Krise“, „Wir schulden nichts, wir zahlen nichts“, „Dies ist keine Krise, sondern
Betrug“ oder „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine“.
Mit dieser Rebellion hat der vorherrschende Konsens
über das „Übergangssystem“ [nach dem Franquismus] und
seinen demokratischen oder undemokratischen Charakter
sowie über die Rolle der vorherrschenden Parteien und des
Finanz- und Wirtschaftssystems Risse erhalten. Dafür war
dreierlei ausschlaggebend: erstens die Auswirkungen der
durch die EU vorgegebenen Austeritätspolitik mit steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen; zweitens die
Finanzskandale und unzähligen Korruptionsaffären der
großen Parteien und ihre Kumpanei mit den Nutznießern
öffentlicher Aufträge in den Konzernetagen; und v. a. drittens die Verknöcherung des politischen Systems. Wie Daniel Bensaïd meinte: “Die Empörung ist ein Anfang. Eine Art,
sich zu erheben und aufzubrechen. Man empört sich, erhebt
sich und danach sieht man weiter.“. Im Falle Spaniens hat
die Bewegung zu neuen Kampfes- und Mobilisierungsformen geführt, neue Bündnisse entstehen lassen und schließlich die Notwendigkeit eines Eingreifens in die Wahlen auf
die Tagesordnung gestellt.
Politischer Aufbruch
Durch diese Proteste ist ein Fenster geöffnet worden, das zu
einem demokratischen Bruch mit dem System und zu einer
neuen Verfassungsgebung führen konnte. Der Ausgang war
offen und sollte von den kommenden Veränderungen im
politischen Bewusstsein der Massen und in den Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen abhängen. Eine neue Seite
im politischen Buch war aufgeschlagen worden und vorbei
die Jahre des Stillstands und der Resignation.
Diese Bewegung war nicht organisiert, aber sie hatte
Massenunterstützung und war sehr gut in der Lage, Kämpfe zu organisieren. Keine antikapitalistische Bewegung,
aber dafür eine Bewegung, deren radikales Bewusstsein
mit jedem Tag wuchs, was die Entstehung alternativer
(wahl)politischer Organisationsformen mit anti-neoliberaler Ausrichtung ermöglichte. Dies führte schließlich zur
Gründung von Podemos und der verschiedenen „kommunalen Wahlplattformen für eine andere Politik“ oder
6 Inprekorr 1/2016
auch solcher Formationen wie der CUP in Katalonien und
anderswo.
Die Parlamentswahlen in Spanien am 20. Dezember gelten allgemein als richtungsweisend, zumindest aber als außergewöhnlich, da erstmals seit dem Ende des Franquismus
(außer in Euskadi und Katalonien, wo eigene, vielfältigere
und pluralistischere Parteien bestehen) die Wahlprognosen
nicht zugunsten der beiden großen Parteien, die sich bis
dato an der Regierung abgewechselt haben, ausfallen.
Bei den Wahlen von 1977 und anschließend, bis zum
ersten Wahlsieg der Sozialdemokraten 1982, suchten die aus
dem franquistischen Regime hervorgegangenen Parteien
mit einer breiten Unterstützung, die von den Unternehmern bis zu den traditionellen Arbeiterparteien und den
ihnen nahestehenden Gewerkschaften reichte, nach einer
Reformlösung, die keinen wirklichen Bruch mit der
Diktatur bedeutete. Der im Übergangssystem kodifizierte
Konsens führte dann dazu, dass jede abweichende Meinung
und soziale wie politische Fundamentalopposition mundtot
gemacht wurden. Auch neue Gesetze und Vorgaben über
territoriale, wirtschaftliche und politische Fragen wurden
darin haargenau festgelegt.
Wenn sich die alten Systemparteien PP und PSOE oder
ihre neue „Alternative“ Ciudadanos wieder durchsetzen,
wird auch am 20. Dezember kein demokratischer Bruch
auf der Tagesordnung stehen. Trotzdem gilt als ausgemacht,
dass diese Parteien substantielle institutionelle Veränderungen in Angriff nehmen müssen. Wenn Podemos diese
Situation ausnutzt und dafür breit in der Bevölkerung mobilisiert, und wenn die autonomistischen Parteien mitziehen,
dann könnte das Übergangssystem, das auf der Verfassung
von 1978 gründet, Risse bekommen. Dann könnte auch,
wenn neuerliche Massenmobilisierungen entstehen, ein
neuer verfassungsgebender Prozess in Spanien und den nach
Autonomie strebenden Regionen zustande kommen.
Daraus ergibt sich folgende Frage: Woran ist das zwischen 1976 und 1978 errichtete System aus demokratischer
Sicht gescheitert?
Eine ausbleibende Revolution
Aus dem politischen System in Spanien hat sich niemals
ein richtiges Zweiparteiensystem entwickelt, so wie es die
Modernisierer der franquistischen Diktatur erträumten,
oder auch die Sozialdemokraten, die durch die finanzielle
Unterstützung aus Deutschland zu einer Großpartei werden
konnten. Ausschlaggebend dafür waren die Wahlerfolge
der KP und später der Izquierda Unida (Vereinigte Linke,
IU) sowie der historisch gewachsenen Regionalparteien
Dossier
linker oder rechter Couleur in Katalonien, Euskadi oder
Galicien.
In der Praxis jedoch funktionierte der Wechsel an der
Regierung zwischen der Rechten (zunächst durch die inzwischen verschwundene UCD, später durch die – das entstandene Vakuum auffüllende – PP vertreten) und der Sozialdemokratie als perfekter Stabilisator des Übergangssystems
auf der Verfassungsgrundlage von 1978 und war in der Lage,
die ihnen zugedachte Funktion als Sachwalter der Kapitalinteressen gegenüber den Ansprüchen der arbeitenden Klassen
wahrzunehmen. Die PP fungierte dabei unmittelbarer im
Interesse des Kapitals und war auch stark in deren Geschäfte
verstrickt, während die PSOE dem Kapital als nicht ganz so
zuverlässig galt und eher in kritischen Momenten und für
die Drecksarbeit herangezogen wurde.
Sobald die demokratischen Freiheiten und gewerkschaftlichen Rechte wieder hergestellt waren, wurde ihr Ausbau
durch das Regime verhindert. Die Wiederherstellung der
Monarchie mit Francos Ziehsohn Juan Carlos als König und
die „nationale Versöhnung, die beispielhaft in den Worten
eines ihrer großen Protagonisten, des Eurokommunisten
Santiago Carillo („Amnestie im Austausch gegen Amnesie“)
zum Ausdruck kam, bedeutete am Ende eine Amnestie für
die Schlächter und den Verzicht auf personelle Säuberung
der franquistischen Staatsapparate von Faschisten und brach
sowohl Bewusstsein als auch Kampfkraft der Massen.
Darin liegt der grundlegende Unterschied zu Portugal,
wo nach der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 ein neues
Regime legitimiert wurde. In Spanien hingegen gab es keinen Neuanfang und keinen Bruch mit der Diktatur. Im Einverständnis mit der PSOE und der KP wurden die Probleme
unter den Teppich gekehrt. Der „Übergang“ bedeutete die
Niederlage einer kämpferischen und mächtigen Arbeiterbewegung, deren politisches Bewusstsein jedoch schwach war.
In den 80er Jahren verfestigten sich unter den sozialdemokratischen Regierungen von Felipe González die
restaurativen Tendenzen, die unter den PP-Regierungen
von Aznar in den 90er Jahren und in den ersten 2000er
Jahren noch stärker zum Vorschein traten, nämlich zunehmende Ungleichheit, Verbleib in der Nato und forcierte
Umsetzung der neoliberalen Agenda, als da sind: Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilisierung der Arbeit, Aufhebung des
Gegensatzpaares Rechts-Links, Deindustrialisierung und
Hinwendung zur Dienstleistungswirtschaft im Rahmen
der vom Kapitalismus Spanien zugedachten Rolle in der
internationalen Arbeitsteilung sowie Abbau und Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen. Die neoliberale
Politik des Sozialdemokraten Zapatero ebnete den Weg
für seinen konservativen Nachfolger Rajoy, unter dem mit
Beginn der internationalen Krise 2008 eine weitreichende
Umverteilung zulasten der Lohnabhängigen und zugunsten
der Reichsten vollzogen wurde.
Das Bindeglied zwischen gestern und heute
Das Zweiparteiensystem von PSOE und PP, das bis zu 80 %
der Wähler hinter sich scharen konnte, nahm eine Schlüsselrolle im politischen Leben Spaniens ein und war zugleich der
Garant für die Beibehaltung der Monarchie und der tragenden Institutionen des alten Regimes, die wie eh und je und
mit demselben Personal funktionieren (Armee, Justiz, Polizei etc.). Ebenso unangetastet blieb die wirtschaftliche und
politische Macht der Finanz- und Immobilienoligarchen, die
die Politik der Bourgeoisie als Ganzes maßgeblich bestimmen. Als Teil der neoliberalen Agenda dieser beiden Parteien
konnte eine Wirtschaftspolitik durchgesetzt werden, die
von den europäischen Institutionen, namentlich der EZB
und EU-Kommission als Hauptakteure […], dem IWF, den
französischen und deutschen Großbanken und – vermittels
der Handelsverträge – den USA diktiert worden ist.
Dadurch wurde die Ungleichheit drastisch verschärft.
Erstmals in der Geschichte des Landes liegen die Kapitaleinkünfte über den Arbeitseinkommen. Auch innerhalb der
Lohnabhängigkeit geht die Schere weiter auseinander, wie
die Spanne zwischen den 5 % Bestverdiener und den unteren
50 % zeigt. Der Gini-Index als Maß der ungleichen Einkommensverteilung liegt bei dem sehr hohen Wert von 0,347.
Nach einem kürzlich veröffentlichten Bericht der – sicherlich
nicht kapitalismuskritischen – Caritas garantiert ein Arbeitsplatz nicht mehr, der Armut entrinnen zu können. Nach Angaben der Statistikbehörde INE lebten 2013 im Spanischen
Staat 22,2 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle,
mit der schrecklichen Konsequenz, dass viele Familien nicht
mehr heizen können, die Zahl der Obdachlosen explodiert
und die Mangelernährung unter den Armen sprunghaft
zugenommen hat.
Die kommenden Parlamentswahlen werden den politischen Zyklus schließen, der 2011 mit zwei prägenden Phänomenen begonnen hat. Erstens der Bewegung der Empörten,
die die Korruption und Illegitimität des politischen Systems
angeprangert und somit den Protest der Bevölkerung gegen
die Folgen der Austeritätspolitik zum Ausdruck gebracht hat.
Über die „mareas“ griff diese Bewegung samt ihrer übergreifenden Mobilisierungsformen auf die arbeitenden Klassen über und mündete in den Kampf gegen die Verfassungsänderung der Regierung Zapatero, wonach inzwischen die
Gläubiger vorrangig vor den Sozialbudgets und öffentlichen
Inprekorr 1/2016 7
Dossier
Ausgaben bedient werden. Zweitens kam es zu einem Aufschwung der Unabhängigkeitsbestrebungen in Euskadi (wo
im selben Jahr die ETA das Ende ihrer bewaffneten Aktionen
verkündet hat) und in Katalonien.
Mit einem Mal tauchte alles, was in der Verfassung von
1978 als ein für alle Mal erledigt erschien, nach 33 Jahren als
Gespenst wieder auf. Bloß dass sich die Umstände mittlerweile völlig geändert haben: Über die Jahre hinweg sind die
Illusionen in die Demokratie geschwunden, Kämpfe gingen
verloren und die Gewerkschaften haben sich angepasst. Und
die linken Parteien sind nicht mehr stark wie einst, dafür
aber ist eine neue Generation erwachsen – ArbeiterInnen,
Studierende, prekär Beschäftigte und Erwerbslose – die nicht
mehr in den „institutionellen Konsens“ eingebunden sind,
der jahrelang dazu gedient hat, dass sich das Volk bescheidet und ergibt. Um eine Formulierung von Jaime Pastor
aufzugreifen, ist der Widerspruch zwischen dem „konstitutionellen Fundamentalismus“ der Systemparteien und der
demokratischen Legitimation unübersehbar geworden.
Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass das voraussichtliche Ende des Zweiparteiensystems die Krise des Übergangsregimes verschlimmert, zumindest nicht automatisch.
Einerseits hängt dies vom Ausgang der Parlamentswahlen ab,
andererseits auch davon, inwieweit die soziale Bewegung,
die 2011 entstanden ist, wieder auf die Straße zurückkommt.
Sicher ist bloß, dass das politische Leben – im Parlament und
außerparlamentarisch – nicht mehr so sein wird wie zuvor.
Das Regime ist angezählt
Die größte Schwachstelle ist die nationale Frage. Es ist nicht
mehr möglich, die Erwartungen weiter Teile der baskischen
und katalanischen Bevölkerung, über sich selbst bestimmen,
sich selbst uneingeschränkt regieren und zu einer souveränen
Nation werden zu können, im bestehenden Rahmen des
„Staats der Autonomien“ weiter zu kanalisieren. Diese Formulierung wurde in der postfranquistischen Ära erfunden,
um zu verhindern, dass die historisch gewachsenen Nationalitäten ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Mehrheit der Menschen in diesen Nationalitäten schlichtweg für Autonomie
und des autoritären, zentralistischen Gebarens von Rajoy leid
sind, dann werden sich die Unabhängigkeitsbewegungen in
Katalonien und Euskadi nicht mehr damit zufriedengeben,
dass ihre Regionalregierungen ein paar mehr Kompetenzen
übertragen bekommen. Ihre Forderungen zielen vielmehr
auf eine politische Unabhängigkeit, die nicht zwangsläufig
an eine „nationale Identität“ gekoppelt ist. Hier brechen alte
Wunden wieder auf, die 1978 schlecht verheilt waren, und
8 Inprekorr 1/2016
jetzt weiter schwären und diesmal das ganze System befallen
können.
Nach dem 15-M und den „mareas“ konnte die soziale
Bewegung keine großen Erfolge einfahren, sieht man von
vorläufig aufgeschobenen Privatisierungsmaßnahmen im
Gesundheitswesen einzelner Regionen und der erfolgreichen Verhinderung vieler Zwangsräumungen ab. Aus diesem Grund ist die Einsicht gewachsen, dass die Bewegung
auch eine (wahl)politische Alternative braucht, was schließlich zu Podemos geführt hat. […]
Die Bewegung der Empörten, die „mareas“ und die
„Märsche für die Würde“ haben gezeigt, dass der soziale
Protest und das politische Interesse wieder vorhanden sind.
Ohne sie ließe sich nicht begreifen, warum inzwischen neue
linke Parteien und Bündnisse entstanden sind und wie es
um die aktuelle politische Situation in Spanien bestellt ist.
Um mit den Worten unserer Genossin Teresa Rodríguez zu
schließen: „Es ist Zeit für eine neue Politik, wir brauchen
sie.“
Manuel Garí ist Leitungsmitglied der
Anticapitalistas (Sektion der IV. Internationale im Spanischen Staat).
Der Nachhall
der Empörung
Die Krise, die Spanien 2008 erfasst hat,
führte über ihre katastrophalen sozialen
Folgen zu einem politischen Erdbeben, aus
dem die Massenbewegung der Empörten
hervorgegangen ist. Antoine Rabadan
Die Empörten haben einen neuen Mobilisierungszyklus
eingeleitet, ihn aber aufgrund des hartnäckigen Widerstands des Systems nicht fortführen können. Angesichts
der Schwierigkeit, sich einen politischen Ausdruck zu
schaffen, ist die – inzwischen rückläufige – Bewegung an
einen Scheidepunkt angelangt, wo Podemos beansprucht,
legitimer Erbe zu sein und eine radikale Alternative anbieten zu können.
Dossier
Der 15. Mai 2011 war die Geburtsstunde der 15-M,
basierend auf einer Welle von Platzbesetzungen in Madrid.
Binnen Stunden und Tagen breitete sich die Bewegung auf
zahlreiche andere Städte aus. Die Aufmerksamkeit der spanischen, aber auch weltweiten Medien war umso größer,
als darin ganz offensichtlich ein Hinüberschwappen der
Schockwelle des Arabischen Frühlings (auch in der Form
der Platzbesetzungen) zu sehen war, was schlussendlich
im September auch zu Occupy Wall Street in den USA
führte.
Die Mobilisierung flaute ziemlich rasch wieder ab, als
die Zeltstädte, die die Kontinuität der Platzbesetzungen
(Puerta del Sol in Madrid, Plaza de Catalunya in Barcelona
etc.) gewährleisteten und von denen eine besondere Anziehungskraft auf viele Menschen ausging, verschwanden.
Viele damalige AktivistInnen und SympathisantInnen der
15-M empfanden dann die Entstehung von Podemos im
Januar 2014 quasi als „göttliche Fügung“, nämlich dass
„die Sache“ weitergeht.
Auf dem Boden der (wahl)politischen Realitäten
Seit 2004 regierten (unter der Führung von José Luis
Zapatero) die Sozialdemokraten (PSOE), die bei den
Wahlen 2008 an der Regierung bestätigt wurden. In
diesem Jahr brach auch die weltweite Wirtschaftskrise aus,
die in Spanien in Form der geplatzten Immobilienblase
besonders stark widerhallte. Diese Blase stand – wie wir
sehen werden – in enger Verbindung zu den ungünstigen
Kräfteverhältnissen, die unter der Diktatur zulasten der
Lohnabhängigen geschmiedet worden waren und durch
den Übergangsprozess zur Demokratie (transición) aufrecht erhalten wurden.
Im Jahr 2011 fanden zwei Wahlen statt. Zunächst – am
22. Mai und damit nur eine Woche nach Beginn der 15-M
– die Kommunal- und (Teil)regionalwahlen in 13 der 17
autonomen Gemeinschaften plus Ceuta und Melilla (die
spanischen Exklaven in Marokko). Die Bewegung stellte
dabei umgehend die Parole auf: „Gib ihnen Deine Stimme nicht!“ Dies war ein Schuss vor den Bug der Sozialdemokraten, die prompt über 7 % verloren, während die
siegreiche PP zwei dazu gewann und mit 37,5 % die PSOE
um 10 Punkte hinter sich ließ. Bei den Parlamentswahlen
im November (Abgeordnetenkammer und Senat) bestätigte sich der Einbruch der PSOE zugunsten der Rechten,
die mit nunmehr 15 Prozentpunkten Abstand die absolute
Mehrheit erzielte.
Der historische Tag am 11. Mai begann unter dem
Leitmotiv Democracia Real Ya („Echte Demokratie jetzt!“)
unter Abwandlung des berühmten Slogans: „Sie vertreten uns nicht“ und endete im Anschluss an eine riesige
Demonstration mit der Besetzung des großen zentralen
Platzes Puerta del Sol – zugleich Auftakt und Höhepunkt
einer breiten landesweiten Mobilisierung. Dieser von Beginn an demokratische Charakter der Massenaktion kam
dann auch in den Plattformen zum Ausdruck, die im Laufe
der Mobilisierung als Ergebnis intensiver Diskussionen
in zahlreichen Kommissionen und Vollversammlungen
in der Zeltstadt auf dem Puerta del Sol entstanden. Dieses
Modell wurde in den zahlreich entstehenden Zeltstädten
vieler anderer Städte übernommen. Mit ihrer Kritik an der
repräsentativen Demokratie, die gleich von Anfang an und
wohlweislich in Hinblick auf die eine Woche später stattfindenden Kommunalwahlen vorgetragen wurde, warfen
sie den Konsens, der seit der „transición“ in der politischen
Landschaft Spaniens vorherrschte, über den Haufen.
Aufkündigung des postfranquistischen Konsenses
Dieser Übergang war der kalte Vollzug des Ausstiegs
aus der franquistischen Diktatur zwischen dem Tod des
Caudillo 1975 und dem Referendum von 1978, in dem die
Verfassung als parlamentarische Monarchie angenommen
wurde. Zur Verfestigung der Institutionen trug dann die
„demokratische Wiederauf bereitung“ des Modernisiererflügels im Franquismus bei, dessen Protagonisten Juan
Carlos und der „Zentrumsvertreter“ Adolfo Suárez waren.
Suárez war der letzte Generalsekretär des Movimiento Nacional, der Einheitspartei des Franquismus.
Mit der Regierungsübernahme der PSOE unter
Felipe González 1982 wurde die europäische Integration Spaniens 1986 in die EG (dem Vorgänger der EU) als
symbolträchtiger Akt vollzogen – ein zentrales Anliegen
der Großbourgeoisie in Industrie und Banken in ihrem
„demokratischen Wandel“. In der Tat hatte sie durchaus
hellsichtig die machtvolle soziale und politische Protestbewegung, die auch für sie zunehmend gefährlich zu werden
drohte, ernst genommen und zugleich erkannt, dass auch
ein Franquismus ohne Franco kaum in der Lage wäre, die
für die Interessen der Bourgeoisie dringend gebotene Öffnung nach Europa zu vollziehen. Dies erklärt auch, warum
die Reichsten aus der Zeit der Diktatur auch in den Zeiten
der Demokratie zumeist noch immer die Reichsten sind.
Die Entstehung der 15-M erfolgte genau am Schnittpunkt zwischen diesem lang anhaltenden Übergangsprozess zur Demokratie und der Änderung des Wählerverhaltens 2011. Für diese Bewegung ist dieser ständige Wechsel
an der Regierung zwischen „Linken“ und Rechten seit
Inprekorr 1/2016 9
Dossier
dem Ende des Franquismus schlicht Ausdruck eines
tödlichen Zweiparteiensystems. Die dadurch gegebene
Kontinuität – sieht man mal von, nicht unwichtigen,
„gesellschaftspolitischen“ Fragen ab wie dem Abtreibungsrecht oder den Homosexuellenrechten, letztlich also dem
Verhältnis zur Kirche – ergab sich aus dem Grundkonsens
dieser Parteien darüber, dass Gesellschaft und Wirtschaft
liberal-kapitalistisch und im Rahmen der EU in ihrer
jetzigen Verfasstheit zu sein haben.
Vorbei das „Wirtschaftswunder“
Mitten in diese Geschichte platzte 2008 die Wirtschaftskrise und traf umso härter, als damit binnen kürzester Zeit
der Mythos vom spanischen „Wirtschaftswunder“ zerstob,
von dem Politiker und Medien stets in einem Atemzug
mit der „vorbildlichen“ Demokratie gesprochen haben –
ein Wunder, das bei sehr weiten Teilen der Bevölkerung
begeistert aufgenommen wurde, ohne dass sie die sich
anbahnende Krise sahen.
Noch 2006 konnte man in der Einleitung zu dem Buch
Géopolitique de l’Espagne von Barbara Loyer lesen: „Nach
den vorläufigen Bilanzen hat Spanien zu den reichen Ländern aufgeschlossen: Das Pro-Kopf-Einkommen nähert
sich dem europäischen Durchschnitt an und liegt in einigen Regionen sogar darüber. Wirtschaftlich unterscheidet
sich das Land in nichts mehr von den anderen westlichen
Nationen der EU.“
Auf der anderen Seite sorgte bereits Anfang 2008 „der
schwache Sozialstaat“ in Spanien für Schlagzeilen. Le Monde wies darauf hin, dass das Land „eine niedrige Abgabenquote von nur 37 % des BIP und mit der Ausnahme Irlands
die geringsten Sozialausgaben in der Eurozone hat (20,3 %
des BIP vs. 26,2 % im EU-Durchschnitt) und dass die Löhne am untersten Ende der Bandbreite liegen. Damit liefert
das spanische Modell – völlig unabhängig davon, wer
gerade die Regierung stellt – die Grundlage für das starke
Wachstum der vergangenen 15 Jahre.“ Diese Feststellung:
„völlig unabhängig davon, wer gerade die Regierung
stellt“ war dann auch drei Jahre später der Kernpunkt der
Kritik der 15-M an den Symbolen des „Systems“.
Im Laufe des Jahres 2008 „kam dann der Schock:
Der europäische ‚Tiger‘, der unangefochten an der Spitze
der dynamischsten Länder der Eurozone lag, mühte sich
plötzlich mit einem Immobilienkrach, der alles mitgerissen hat.“ Plötzlich schien man zu entdecken, dass „das
Wirtschaftsmodell Spaniens sich allzu lange auf zwei
Worte beschränkt hat: „Sonne“ und „Bauen“. Erstmals seit
15 Jahren geriet Spanien 2009 in eine Rezession. Die tiefe
10 Inprekorr 1/2016
Krise betraf nicht nur die Ärmsten, sondern auch viele, die
sich zur Mittelklasse zählten, diese für eine unverrückbare
Errungenschaft hielten und am stärksten an das sog. Wirtschaftswunder geglaubt hatten.
Die Arbeitslosigkeit explodierte und lag mit 21,5 %
bei fünf Millionen und damit doppelt so hoch wie beim
Regierungsantritt der Sozialdemokraten 2004 – ein Wert,
der seit 1994 nicht mehr erreicht worden war und 2014 die
Marke von sechs Millionen (26%) erreichte. Im Oktober
2011, also knapp einen Monat vor den Parlamentswahlen,
gab es anderthalb Millionen Haushalte, in denen niemand
eine Stelle hatte. Nach vier Jahren Krise hatte allein die
Bauwirtschaft als Schlüsselsektor fast anderthalb Millionen
Arbeitsplätze zerstört (El País vom 29/10/2011).
Die Einkommensunterschiede wachsen unaufhaltsam
und machen Spanien zu einem Sonderfall innerhalb der
Industrieländer: Während der ersten vier Krisenjahre ist
das Durchschnittseinkommen der 10 % Ärmsten 7,5 Mal
so stark zurückgegangen wie das der 10 % Reichsten,
deren Einkommen zwischen 2007 und 2011 ohnehin
nachgewiesenermaßen de facto nur geringfügig gesunken
war. Unter den 30 Mitgliedsländern der OECD findet
sich kein Land, in dem sich die Krise in dem beobachteten
Zeitraum so ungleich ausgewirkt hat. Zwischen 2008 und
2014 haben die Löhne, deren Durchschnitt ohnehin in der
EU an letzter Stelle lag, jährlich zwischen 1,7 und 2 % an
Kaufkraft verloren. […]
Die Bewegung der Empörten
Die Entstehung der 15-M lässt sich zum einen unmittelbar
auf diese Krise mit ihren verheerenden sozialen Folgen
zurückführen und zum anderen auf die exponentielle Zunahme der sozialen Ungleichheit, die zwar ebenfalls mit
der weltweiten zusammenhängt, ihre besondere Prägung
und Verschärfung aber durch den spanischen Staat erfahren hat, dessen Sozialstaatlichkeit seit der „transición“ auf
niedrigstem Niveau dümpelt. Die inflationäre Vergabe von
Hypothekendarlehen in den Vorkrisenjahren sollte dazu
dienen, durch den Zugang „Aller“ zu Wohneigentum die
geringe Binnennachfrage zu stärken und über leicht erhältliche Kredite kurzfristige Profite zu generieren, letztlich
also die Quadratur des Kreises zu schaffen.
Insofern war die 15-M die erste Massenmobilisierung
gegen das System seit der Niederlage der Oppositionsbewegung gegen den Franquismus und der allgemeinen Desillusionierung über den „Demokratisierungsprozess“ seit
Mitte der 80er Jahre, als die Zustimmung der beiden traditionellen Arbeiterparteien zur Verfassung und – gemein-
Dossier
sam mit den beiden größten Gewerkschaften CCOO und
UGT – zu den im Pakt von Moncloa kodifizierten antisozialen Maßnahmen und die nachfolgende Hinwendung zu
Europa zu einer Entradikalisierung geführt hatten.
Die neue Protestbewegung, die gelegentlich für ihre
Naivität („wie kann man sich nur Empörte nennen!“)
verspottet worden ist, musste de facto fast bei null beginnen und zwangsläufig im Trüben fischen. Vor einem
Hintergrund, wo sich alle Parteien und Gewerkschaften
durch ihre Zugeständnisse an das Zweiparteiensystem aus
Sozialdemokratie und Rechten diskreditiert haben und
die radikale Linke und die kämpferischen Gewerkschaften
dem nichts entgegensetzen konnten, mühte sie sich ab,
Anzeichen für einen Widerstand gegen die bestehende
Ordnung, die zur Unordnung geworden war, ausfindig zu
machen. Verständlich, dass ihre politische Orientierung
eher unscharf blieb.
Ausgangspunkt dieser starken kritischen Stimmung
war anfangs zunächst eine Handvoll junger Internetnutzer, woraus zu Beginn des Jahres 2011 rasch ein Netzwerk
entstand und ein Demonstrationsaufruf für den 15. Mai.
Dieser fand massenhaften Zuspruch, in erster Linie von
Jugendlichen, die viel mehr als andere Bevölkerungskreise
von der Arbeitslosigkeit betroffen waren: Nach statistischen Angaben lag die Quote 2012 bei 50,5 % – noch
vor Griechenland und bei mehr als dem Doppelten des
EU-Durchschnitts. […] Für den 7. April hatte die Plattform Juventud Sin Futuro (Jugend ohne Zukunft), die an
den Madrider Universitäten entstanden war, einen Marsch
gegen die Wirtschaftskrise und die „Parteienherrschaft der
PPSOE“ organisiert.
Diese jungen Leute aus den Universitäten, denen
keine berufliche Zukunft, sondern Arbeitslosigkeit oder
allenfalls prekäre Jobs winkten, organisierten sich in den
sozialen Netzwerken und von ihnen ging die Platzbesetzung an der Puerta del Sol aus, an der anfänglich bloß
40 Leute teilnahmen, die aber rasch darüber hinausging
und Menschen aller Altersgruppen, darunter viele prekär
Beschäftigte, einschloss. […] Die daraufhin einsetzende
polizeiliche Repression konnte – mit Ausnahme des Polizeiangriffs in Barcelona am 27. Mai – weitgehend mithilfe
der Bevölkerung abgewehrt werden.
Geringe Resonanz unter der Arbeiterklasse
Die Autoren von Planeta Indignado, J. M. Antentas und E.
Vivas1, merkten an, dass sich die Protestbewegung vorwiegend auf die öffentlichen Räume beschränkte, weil in erster Linie von der massenhaften Arbeitslosigkeit betroffene
Arbeitslosenquote und Zahl der
Arbeitslosen
III Quartal
2011
Methodenwechsel
Jugendliche beteiligt waren. „In den Betrieben herrschen
Angst und Resignation wegen der Arbeitslosigkeit, der
Prekarisierung und den Veränderungen in der Unternehmensorganisation.“2 Hinzuzufügen wäre die Inaktivität
der Gewerkschaften durch die fehlende Bereitschaft ihrer
Führungsetagen in CCOO und UGT, den Unternehmerangriffen entgegenzutreten, sodass sich relativ wenige
ArbeiterInnen an der Bewegung beteiligten.
GewerkschafterInnen waren in der Bewegung kaum
vertreten, obwohl dort die Forderung nach Arbeitsplätzen
einen zentralen Stellenwert hatte, da die Aktiven selbst
von Arbeitslosigkeit oder prekären Jobs betroffen waren.
So wurde im Punkt 10 des „Programmpapiers“, das am
20. Mai auf der Vollversammlung auf Platz an der Puerta
del Sol erarbeitet wurde, eine „wirksame Regulierung der
Arbeitsbedingungen unter staatlicher Aufsicht“ gefordert.
Einige der bekanntesten Parolen der Bewegung zielen –
oft mit beißender Ironie – auf Arbeitslosigkeit, Prekarität
und Sozialabbau: „Enkelkinder in die Arbeitslosigkeit,
Großeltern an die Arbeit“, „Keine Wohnung, keinen Job,
keine Rente, keine Angst“ oder „Gewalt ist, von 600 Euro
leben zu müssen“. (siehe Grafik)
Zwangsläufig blieb der programmatische Text der
Bewegung beim Thema Arbeitslosigkeit sehr vage: Im
„Manifest der Empörten in 25 Punkten” finden sich bspw.
kaum Forderungen nach Lohnerhöhung oder Verteilung der Arbeit auf Alle. Die Feststellung, dass man von
600 Euro – dem durchschnittlichen Monatslohn der
Jugendlichen – nicht leben könne, führte rasch zu einer
Polarisierung in der Debatte über die politischen Verantwortlichkeiten für die Zerrüttung des Arbeitsmarktes; im
Besonderen ging es um die von der sozialdemokratischen
Inprekorr 1/2016 11
Dossier
Regierung unter Zapatero 2010 durchgesetzte Reform zur
Liberalisierung des Arbeitsmarktes sowie das Einfrieren
der Renten und Löhne und die Kürzung des Arbeitslosengeldes.
Die Kritik richtete sich gegen das Austeritätsregime,
von dem zwar Banken und Unternehmer profitieren, für
das der Staat jedoch hauptverantwortlich ist. Zum Ausdruck kam dies in den Parolen: „Wir wollen eine echte
Demokratie, und zwar sofort!“, „Wir sind keine Waren in
den Händen der Politiker und Banker“, „Es ist nicht die
Krise, sondern das System“ oder „Es fehlt nicht an Geld,
sondern es gibt zu viele Diebe“. Diese neue Generation
durchlief einen beschleunigten Politisierungsprozess und
übernahm die Stafette der Bewegung gegen die FrancoDiktatur […] und der späteren Antiglobalisierungsbewegung der 90er Jahre, attackierte aber in erster Linie die
politischen Verhältnisse, die für die horrende soziale Lage
in diesem „System“ verantwortlich seien.
Politik durch Empörung?
Daraus ergaben sich die Forderungen gegen das bestehende Wahlrecht als Inbegriff des verhassten „Zweiparteiensystems“, gegen die Privilegien der Politiker, gegen
das Steuerwesen, gegen die Korruption, die als wahre gesellschaftliche Plage empfunden wurde, für die Begrenzung der Macht der Banken und Finanzmärkte sowie
des IWF und der EZB, aber auch für eine vollständige
Trennung zwischen Kirche und Staat, für den „Zugang
der Bevölkerung“ zu den Medien, für eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Jurisdiktion,
für die Begrenzung der Rüstungsausgaben und eine
stärkere Kontrolle der Polizei, für eine totale Transparenz
der politischen Parteien usw.
Der Soziologe Zigmunt Bauman folgerte schonungslos aus dem, was ihm als Katalog frommer Wünsche
vorkam, dass die „Empörten“ „eine emotionale Bewegung ohne Theorie [seien], was sie dazu verdammt, eine
vorübergehende Erscheinung ohne Perspektive zu sein“.
Dies ist ein hartes Urteil, das die Dynamik der raschen,
wenn auch politisch noch unausgereiften Radikalisierung außer Acht lässt, die Tausende von Menschen
durchlaufen haben, und zwar nicht nur während der
zweimonatigen Platzbesetzungen, sondern nachfolgend
in ihrem Engagement in den Vierteln, was wohl weniger
spektakulär als die Besetzungen war, aber entscheidend
dafür, die Bewegung aus den „Gettos“ der Plätze in die
soziale „Realität“ hinauszutragen. Dabei entwickelten
sie einen erstaunlichen Erfindungsreichtum und konnten
12 Inprekorr 1/2016
sich so den Kriminalisierungsversuchen (Vorladungen
und Verhaftungen) widersetzen und absolvierten zugleich und mit den dortigen BewohnerInnen durch die
intensiven Diskussionen in Kommissionen und Vollversammlungen eine tolle praktische Schule in politischer Bildung. Dadurch konnte die Bewegung über die
Initiatoren hinaus auf die Bevölkerung übergreifen. Dies
war sicherlich sehr heterogen und anfangs stark moralisch
geprägt, war aber rasch einer politischeren Sicht gewichen, […] wenn auch auf gewisse soziale Schichten und
Altersgruppen beschränkt.3 Die Veröffentlichung des
Essais von Stéphane Hessel „Empört euch!“ auf Spanisch
im März 2011 wurde in seiner Bedeutung für diese Bewegung oft überschätzt.
Andere Formen des Widerstands
Neben den „Empörten“ gebührt zwei anderen Bewegungen Aufmerksamkeit, die mit 15-M zusammenhängen, sich zugleich jedoch durch ihre soziale Verankerung
von ihr unterscheiden: die PAH (Plataforma de Afectados
por la Hipóteca, Plattform der von Hypotheken Betroffenen) und die „mareas“ (Fluten). Ihr sozialer Wirkungsort
waren nicht die öffentlichen Plätze, sondern die Vernetzung an den Wohnorten und in den Betrieben, zumindest was die beiden größten „mareas“ angeht.
Die PAH ist 2009 entstanden und war quasi die
„Vorwegnahme“ der Bewegung der Empörten, allerdings verankert in der konkreten sozialen Problematik,
die zwar nur einen Ausschnitt, aber zugleich das Herz der
Krise repräsentiert, nämlich die desaströse Verschuldung
mit Hypothekendarlehen. Hier ist nicht der Platz, auf die
ganze Vielfalt dieser Organisation einzugehen, die eine
erstaunlich positive Resonanz unter der Bevölkerung
gefunden hat (bis zu neunzigprozentige Zustimmung),
trotz der heftigen Anfechtungen aus der Politik, die diese
Bewegung wegen ihrer präzisen Argumente gegen den
„Hypothekenschwindel“ und ihre radikalen und effizienten Methoden erfahren hat.
Eine der ProtagonistInnen dieser Bewegung und
deren langjährige Vorsitzende, Ada Colau, amtiert seit
Mai 2015 als Bürgermeisterin von Barcelona auf der
Basis eines Bündnisses von unten, an dem ihre eigene
Organisation Guanyem Barcelona, sowie der katalanische
Podemos-Ableger Podem und weitere Organisationen
beteiligt sind. Eines der Ergebnisse dieser herausragenden Mobilisierung der PAH zur Wohnungsproblematik
in Spanien war, dass „im Februar 2013 der Europäische
Gerichtshof das spanische Hypothekengesetz als unver-
Dossier
einbar mit europäischem Recht erklärt hat“4. Die PAH
kämpft weiter für die Umsetzung einer Volksinitiative
(ILP), wonach die Schulden auf diese Immobilien annulliert werden sollen im Austausch für die Überlassung der
strittigen Wohnung, für die die Betroffenen dann eine
Sozialmiete zahlen. In Katalonien wurde diese Initiative
bereits im Juli vom Parlament verabschiedet.
Weitere Beispiele für die Handlungsfähigkeit dieses Verbandes, allen Widrigkeiten zum Trotz, sind die
Blockade von Zwangsräumungen oder die zeitweilig praktizierten „Escraches“ (Spontandemos vor den
Häusern oder Büros von Abgeordneten, die von den
von Zwangsräumungen Betroffenen an ihre politische
Verantwortung „erinnert“ werden; eine aus Argentinien stammende Praxis). Diese Aktionsform brachte der
PAH den Vorwurf des Terrorismus ein, was vor dem
Hintergrund der ETA-Aktionen in Spanien besonders
schwer wiegt, oder gar des Nazismus, wird aber von der
Bevölkerung durchaus als legitim angesehen angesichts
der menschlichen Katastrophen, die durch die Immobilienblase erzeugt worden waren, und der sozialen Dramen durch die massenhaften Beschlagnahmungen und
Zwangsräumungen.
Durch ihr Engagement in den Reihen der 15-M
gelang es der PAH, die Wohnungsfrage zu einem der
meistdiskutierten Themen auf den besetzten Plätzen zu
machen, zumal die Jugendlichen faktisch keine Möglichkeit haben, eine angemessene Wohnung zu finden. […]
Der wichtigste Beitrag der PAH in der Bewegung war
der lebendige Beweis, dass entgegen der vorherrschenden Resignation in dieser „kastrierten“ Demokratie alles
möglich ist („sí se puede“) – ein Slogan, der später von
Podemos neu buchstabiert wurde. Die „mareas“ in ihren verschiedenen Farben (grün
für die Beschäftigten im Erziehungswesen, weiß für
jene im Gesundheitswesen usw.) kämpften gegen die
Haushaltskürzungen mit nachfolgendem Stellenabbau und Verschlechterung der öffentlichen Dienste
sowie gegen die Privatisierung der Krankenhäuser.
Sie profitierten von dem Schneeballeffekt der 15-MBewegung, die allerdings zu diesem Zeitpunkt mit
dem Ende der Platzbesetzungen bereits ihren Höhepunkt überschritten hatte. Die „marea verde“, die
besonders stark in Madrid verankert war, konnte im
Juli 2011 eine Protestwelle unter breiter Beteiligung
der Eltern an Streiks und Demonstrationen initiieren,
die sich nachfolgend auch gegen die Bildungsreform
der Regierung richtete, ohne allerdings das Gesetzes-
vorhaben von Minister Wert auf halten zu können.
Die ebenfalls in Madrid im November 2012 entstandene „marea blanca“ mobilisierte Beschäftigte
und Nutzer des Gesundheitswesens in Vollversammlungen unter der Losung: „Das öffentliche Gesundheitswesen steht nicht zum Verkauf, sondern muss
erhalten werden!“ An einer „Bürgerbefragung“, die
unter Beteiligung von 20 000 Freiwilligen in 200
Kollektiven im Mai 2013 organisiert wurde, nahmen
fast eine Million Menschen teil, die zu 94 % auf die
Frage: „Sind Sie für ein allgemein zugängliches und
qualifiziertes Gesundheitswesen in öffentlicher Hand
und gegen dessen Privatisierung und entsprechende
Gesetze?“ mit „Ja“ antworteten.
Die Aktiven in dieser Bewegung sehen sich in der
Tradition der 15-M und deren basisdemokratischem
Selbstverständnis und ihren Methoden des zivilen
Ungehorsams und der direkten Demokratie. Davon
zeugen übrigens auch die Organisationsformen der
Vollversammlungen der Beschäftigten in Krankenhäusern und Gesundheitszentren bzw. der betroffenen BürgerInnen, wo über die Vorhaben und die
Vorgehensweisen entschieden wird.
Beide Bewegungen, die zu den größten unter den
im Gefolge der 15-M entstandenen „mareas“ zählen,
konnten sich bisher nicht entscheidend oder gar endgültig [...] durchsetzen und sind zwischendurch auch
abgeflaut. Der Wahlsieg der Rechten im November
2011 mit absoluter Mehrheit, die nachfolgende Verschärfung der von den Sozialdemokraten eingeläuteten Austeritätsmaßnahmen sowie die Probleme, die
Regierungsblockade trotz starker Mobilisierungen
zu überwinden, aber auch die oft konfliktgeladenen
Beziehungen der „mareas“ zu den Gewerkschaften
haben die Grenzen dieser Bewegungen aufgezeigt,
die politische und soziale Lage nachhaltig beeinflussen zu können. Dies hat zu Diskussionen unter
den aus der 15-M hervorgegangenen Kollektiven
geführt, bei denen es um den Nutzen einer politischen Organisation ging, mit deren Schaffung man
die politische Hegemonie der Institutionen infrage
stellen kann.
Kurs auf Wahlpolitik?
„Jetzt geht es darum, einen Block zu schaffen, der mit
der Politik von PP und PSOE bricht und der Mehrheit
der Menschen dieses Landes wieder Hoffnung gibt. Dieser Block muss zu einem Wandel führen, indem er neue
Inprekorr 1/2016 13
Dossier
Mobilisierungen organisiert, in denen wir gemeinsam
gegen die angekündigten Sparmaßnahmen kämpfen.
Dies beinhaltet auch eine Mobilisierung für die Wahlen,
um darüber eine kritische Vertretung in den Institutionen
zu erreichen“ – so die Stadtteilversammlungen von San
Blas-Canillejas, La Elipa und La Concepción im August
2013.
Es entstanden Organisationen wie „Bürgernetz Partei
X“, „Zusammenfluss“, „Vernetzt“ oder „Alternativen von
unten“, die die ersten Versuche aus den Reihen der 15-M
darstellten, den Sprung in die (Wahl)politik zu vollziehen,
ohne dem Elektoralismus anheimzufallen. Aber erst mit
der Entstehung von Podemos im Januar 2014 gab es eine
Organisation, die diesen Ansatz am besten verkörperte
und die anderen Organisationsansätze als strahlender Sieger – allerdings mit einigen Makeln – beiseite drängte.
Im März 2014 fand in Madrid der „Marsch für die
Würde“ statt, der an die Bewegung 15-M anknüpfen wollte, die am 15. Oktober 2011 für ihren Marsch unter dem
Titel: „Vereint für den weltweiten Wandel“ 500 000 Menschen mobilisiert hatte. Trotz des Medienboykotts, der
Hetze der Rechten, des Wegduckens der PSOE und der
Gleichgültigkeit der beiden großen Gewerkschaften, die in
Verhandlung mit der Regierung steckten, konnten knapp
drei Jahre nach diesem Ereignis zwischen 300 000 und
500 000 Menschen mobilisiert werden, die von mehreren
Städten des Landes aus in die Hauptstadt marschierten.
Ausgegangen war der Aufruf von der kämpferischen
andalusischen Gewerkschaft SAT und wurde dann aufgegriffen von anderen radikalen Gewerkschaften, zahlreichen Verbänden, der PAH und den noch bestehenden
Kollektiven der 15-M. Zentrales Anliegen war die Kritik
an der Austeritätspolitik der PP-Regierung, die sich als
Vasall der Troika gebärdete. In lauten Sprechchören wurde
nach argentinischem Vorbild das Abtreten der Regierung
(„que se vayan todos“) gefordert: „Wir fordern, dass sie alle
abtreten. Die PP-Regierung und alle anderen Regierungen, die Sozialabbau betreiben und mit der Troika zusammenarbeiten, sollen zurücktreten.“
Aber trotz dieser vehementen Proteste ging die Bewegung nicht weiter und erst Podemos schaffte es wieder,
in einer für eine solch junge Organisation gewaltigen
Kraftanstrengung 300 000 Menschen am 31. Januar 2015
in Madrid auf die Straße zu bringen und heftiger denn je
gegen die Mächtigen, jetzt „Kaste“ genannt, zu protestieren. „Der Wind der Veränderung beginnt über Europa
zu wehen“, hatte damals Pablo Iglesias verkündet. Zehn
Monate später jedoch, nach dem Einknicken von Syriza
14 Inprekorr 1/2016
im Sommer, ist die Euphorie verflogen und man fragt sich
allmählich: Hat sich nicht auch für Podemos der Wind
gedreht?
1 Deutsch: Die Welt der Empörten, Neuer ISP Verlag, Köln
2014.
2 a. a. O. S. 79
3 Nach einer Studie vom Juli 2011 zeigte die Bewegung folgendes Profil: Alter zwischen 19 und 30, Hochschuldiplom,
arbeitslos und links. 56 % Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen vom 22. Mai mit 79 % der Stimmen für eine
der „kleineren“ Parteien, 6 % für die PP oder die PSOE und
15 % ungültigen Stimmen. Eine Umfrage im Juni/Juli 2011
ergab, dass zwischen 6 und 8,5 Millionen an der Bewegung
teilgenommen haben, entweder an den Zeltstädten oder den
Demonstrationen. Davon beschrieben 0,8 bis 1,5 Millionen
ihr Engagement als intensiv. 67 % dieser Gruppe bezeichneten sich als links, 20 % als Mitte, 3 % als rechts, während 10 %
sich in diesen Etikettierungen nicht wiederfinden konnten.
4 Ada Colau und Adriá Alemany in ihrem Buch Sí se puede !
Über die Kunst,
den Himmel
über Wahlen
erstürmen zu
wollen
Bereits im Gründungsjahr 2014 verbarg
sich unter dem Enthusiasmus über den
Durchbruch bei den Europawahlen der Keim
für die gegenwärtige Desorientierung oder gar
Enttäuschung weiter Teile der Anhänger und
Sympathisanten von Podemos. Antoine Rabadan
Das schlechte Abschneiden bei den Regionalwahlen in
Katalonien am 27. September und damit knapp 3 Monate
vor den zum zentralen Anliegen erklärten Parlamentswahlen gereicht denen, die eine Alternative zur kapitalistischen
Austeritätspolitik aufzubauen angetreten sind und soviel
Dossier
– vielleicht zuviel – Hoffnung in diese Partei setzen, nicht
gerade zur Beruhigung.
Bei der Bürgerversammlung im Vistalegre-Palast in
Madrid im Oktober 2014, dem Gründungskongress von
Podemos, sprach Pablo Iglesias einen vielzitierten Satz,
der in Windeseile über die sozialen Netzwerke die Runde
machte: „Den Himmel erobert man nicht im Konsens,
sondern im Sturm“. In dieser von Marx und dessen Bewunderung für die Taten der Pariser Kommunarden von
1871 inspirierten Ansprache des wichtigsten Führers von
Podemos kam der radikale und unumwundene Anspruch
einer Partei zum geballten Ausdruck, die seit ihrem Anfangserfolg bei den Europawahlen im Mai entschlossen
war, der herrschenden Austeritätspolitik im spanischen
Staat den Kampf anzusagen.
Die Verhältnisse zum Tanzen bringen
In dieser Ansprache klang wieder, was im Januar 2014, also
noch vor ihrer Gründung, mit der Ausrufung der Kandidatur der jungen Partei zu den Europawahlen im Mai
angeklungen war. Der Wahlaufruf mit dem Titel: „Lasst
uns die Verhältnisse zum Tanzen bringen und lasst aus der
Empörung politische Veränderung werden“ ging einher
mit einem Forderungskatalog, der zwar nicht strikt antikapitalistisch oder revolutionär war, aber darauf abzielte,
den Protest gegen die herrschende neoliberale Politik im
spanischen Staat (wieder) vernehmbar zu machen und
voranzutreiben.
Ein zentrales – wenn auch noch unausgereiftes – Anliegen dieses Manifestes lag in der Propagierung einer
„partizipativen Demokratie“, bei der die Macht nicht wie
bei einer repräsentativen Demokratie in irgendeiner Form
delegiert wird, sondern von den „sozialen, politischen
und kulturellen“ Kräften ausgeübt werden soll. Gefordert
wurde u. a. das Recht auf eine angemessene Wohnung bei
sofortiger Einstellung der Zwangsräumungen bei rückständigen Hypothekenzahlungen; Beendigung der Privatisierungen der öffentlichen Dienste und des öffentlichen
Eigentums, namentlich im Erziehungs-, Justiz- und Gesundheitswesen und im Transport- und Kommunikationssektor; ein Schuldenaudit sowie Kapitalverkehrskontrollen
und Verstaatlichung der Privatbanken; eine Steuerreform
mit progressiver Besteuerung; Recht auf angemessene
Löhne und Renten sowie Verteilung der Arbeit auf alle
Hände und Verbot von Entlassungen in profitablen Unternehmen; das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über
ihren Körper und daher ggf. auch auf Abtreibung sowie
Ablehnung der geplanten (und schließlich fallen gelasse-
nen) Gesetzesverschärfung durch die Regierung; Recht
auf nationale Selbstbestimmung (bes. in Katalonien und
Euskadi).
Durchbruch bei den Europawahlen
So wie die Bewegung der „Empörten“ im Mai 2011 (15M) alle Welt überrascht hatte, kam auch Podemos überraschend und eroberte mit 7,96 % der Stimmen fünf der
insgesamt 54 spanischen EU-Mandate, während die letzten Umfragen lediglich ein Mandat vorhergesagt hatten.
Und dies bei bloß viermonatigem Wahlkampf! Explizit
bezog sie sich mit dem Untertitel ihres Wahlaufrufs – „Die
Empörung in politischen Wandel umsetzen“ – auf die
„Empörten“. Und eben darum ging es: Zwar war Podemos nicht das direkte Ergebnis dieser Bewegung, die drei
Jahre zuvor das Land in Atem gehalten hatte, aber gewissermaßen schon ein Abkömmling, auf den man mit Stolz
blicken konnte, weil er eine Perspektive bot, indem er die
Lehren daraus zog, warum die Massenproteste nicht dazu
in der Lage waren, das Regime zum Nachgeben gebracht
oder wenigstens zutiefst erschüttert zu haben. Und diese
Perspektive lag in der direkten politischen Intervention,
freilich auf der Wahlebene, was natürlich nicht gleichzusetzen ist und der Diskussion bedarf.
Daher der Begriff des „Wandels“, der nach Ansicht
der Gründer von Podemos im Januar 2014 das aufgreifen
sollte, was die damalige Bewegung ausmachte, nämlich
einerseits die radikale Ablehnung des Systems und seiner
Grundlagen, die auf das strukturell undemokratische
Regime von 1978 – einer parlamentarischen Monarchie als
Wegbereiter der Hinwendung zum ordoliberalen EU-Kapitalismus – zurückgehen, und andererseits deren Konzept, eine direkte Demokratie über Vollversammlungen
zu praktizieren und einzufordern. Hingegen wollte man
nicht die beiden Fehler der damaligen Bewegung wiederholen, nämlich zum einen deren Unvermögen, aus der
sozialen Bewegung heraus eine politische Alternative zur
bestehenden Ordnung unmittelbar erwachsen zu lassen,
und zum anderen die aus prinzipieller „Parteifeindlichkeit“ herrührende Weigerung, ein vollwertiges politisches
Instrument für eine solche Alternative zu schaffen.
Die AktivistInnen des 15-M mussten sich alle damit
abfinden, dass sich die PP-Regierung durch die bei den
Parlamentswahlen vom November 2011 erzielte absolute
Mehrheit – trotz der vorangegangenen Massenproteste –
ausreichend Rückhalt schaffen konnte, um ihre Politik des
Sozialabbaus weiter fortzuführen, und dass sie mühelos
all das überwinden konnte, was sich 15-M als Vorboten
Inprekorr 1/2016 15
Dossier
gesellschaftlichen Wandels versprochen hatte und was die
„mareas“1 vergebens weiterzuführen versucht haben.
Diese Erkenntnis der Bewegung, sich zuvor in eine
Sackgasse verrannt zu haben, verhalf seinerzeit Podemos
und ihrem Wahlaufruf für die Europawahlen zu entsprechender Resonanz, als es dort hieß: „Es ist wichtig,
dass bei den kommenden Wahlen zum Europaparlament
jemand kandidiert, der sich der Protestwelle der „Empörten“, die alle Welt in Erstaunen versetzte, verpflichtet
fühlt.“ Diese Worte waren wohl abgewogen, weil darin
im Grunde eine Verbeugung (eine „Selbstverpflichtung“)
vor dem Wagemut der damaligen Akteure und vor den
Erwartungen derjenigen zum Ausdruck kam, die daran
geglaubt hatten und – trotz aller Rückschläge – weiterhin
daran glaubten.
Von der Schonfrist zum Positionswechsel
Von dieser Position ist Podemos jedoch recht schnell
wieder abgerückt. Bis ca. Ende 2014 gab es eine regelrechte Schonfrist: Die Mitgliederzahlen in den über 1000
Kreisen (laut Schätzung vom Januar 2015) nahm beständig zu und erreichte im Juni 2015 die Zahl von 373 000,
wodurch Podemos zur zweitstärksten Partei hinter der PP
(863 000) und weit vor der PSOE (199 000) oder Izquierda Unida (30 000) wurde.
Die laufenden Umfragen ergaben, dass es in der Bevölkerung eine tiefe Sympathiebewegung gab für diese
streitbare und schillernde politische Formation, weil
sie eine Protestwelle wieder aufgriff und neu entfachen
wollte, von der viele Menschen – auch wenn sie sich
zwischenzeitlich inhaltlich und organisatorisch totgelaufen hatte – eine positive Erinnerung behalten hatten: Im
August lag sie bei 15,3 % und damit doppelt so hoch wie
bei den Europawahlen; im November bereits bei 22,2 %
und damit zur größten politischen Kraft machten … aber
eben nur bei den Meinungsumfragen. Demnach wäre sie
bei Parlamentswahlen mit fast 28 % siegreich gewesen,
gegenüber 26 % für die PSOE und 21 % für die PP.
Wir wollen hier nicht über den Wert von Umfragen
diskutieren, sondern nur festhalten, dass sie dazu beitrugen, unter der Bevölkerung das Bild vom unaufhaltsamen
Aufstieg von Podemos zu zeichnen, was besonders den
Medienauftritten des unverbrauchten Pablo Iglesias zu
verdanken war, die zu regelrechten Knüllern gerieten:
Ein Interview mit ihm vom September 2014 in einer Sendung, die normalerweise Einschaltquoten von 5-7 % hat,
wurde von fast drei Millionen Zuschauern verfolgt und
erzielte eine Quote von 14,5%.
16 Inprekorr 1/2016
Geht Medienwirksamkeit über politische Inhalte?
Tatsache ist, dass bei einigen in der Parteispitze recht
schnell die Auffassung reifte, dass es einer Neuausrichtung bedurfte, namentlich entlang der charismatischen
Führungsfigur von Pablo Iglesias. Am Anfang stand ein
Vorpreschen eines Flügels, der sich sehr rasch als Kern
einer Gruppe entpuppte, der sich – zusammen mit Pablo
Iglesias – aus der unruhigen Fakultät für politische Wissenschaften der Universität Complutense rekrutiert hatte.
In ihrem Visier standen einerseits unsere GenossInnen
von Izquierda Anticapitalista (Antikapitalistische Linke,
IA), die immerhin Mitgründer der Partei und redaktionell
hauptverantwortlich für „Mover ficha“ sowie für das Europawahlmanifest und die Durchführung des Wahlkampfes
waren, andererseits all diejenigen Unabhängigen – Parteilose also –, die zu Podemos gestoßen waren, weil sie darin
eben keine Partei gesehen hatten und die zumeist aus
der 15-M hervorgegangen waren und bei denen a priori
feststand, dass sie nicht das Organisationsschema und die
damit verbundene politische Neuausrichtung anstreben
würden, die die Riege um Iglesias alsbald offen in Angriff
nahm.
Noch nicht einmal 14 Tage nach den Europawahlen
erreichte die Kreise eine Mitteilung von Pablo Iglesias,
wonach im Oktober der Gründungskongress der Partei,
eine Bürgerversammlung im Vistalegre-Palast vorgesehen sei. Der eigentliche Schock aber war, dass dabei ein
25-köpfiges Organisationsteam gebildet werden sollte,
über das per starre Listenwahl von den Mitgliedern abgestimmt werden sollte. Das siegreiche Team würde also
alle Posten erhalten, was unter den gegebenen Umständen
das Team um den omnipräsenten Pablo Iglesias eindeutig
favorisieren würde. Und um das Maß vollzumachen, sollte
die Abstimmung per Internet binnen einer Woche nach
Erhalt dieser Nachricht erfolgen. Wen wundert, dass bei
diesem perfekt eingespielten Szenario die Mitglieder dann
noch erfuhren, dass Iglesias seine Liste bereits aufgestellt
hatte!
Damit war die erste Weiche hin zu einer vertikal
strukturierten, späterhin als „iglesianistisch“ bezeichneten
Organisation gestellt, die sich im Widerspruch dazu selbst
als offen für das „Fußvolk“ bezeichnet und sich rühmt,
autonom handeln und entscheiden zu können. Die ersten
Reaktionen kamen aus dem Kreis von Lapaviés, dem
traditionell kämpferischen Madrider Viertel. Sie argumentierten, dass darüber keinerlei Diskussion in den Kreisen
stattgefunden habe und dass ursprünglich lediglich ein
Treffen der Kreise vorgesehen gewesen sei, auf dem ein
Dossier
erster Austausch über die künftige Organisationsform
stattfinden sollte. Auf der daraufhin folgenden Versammlung der Madrider Kreise kamen die grundlegenden
Divergenzen erstmals zum Ausdruck, die fürderhin mehr
oder minder verdeckt das noch junge Parteileben begleiten sollten.
So wie der Feuerwehrmann als Brandstifter nach der
Feuerwehr ruft, so bemühte die „Fraktion“ das Schreckgespenst eines vorgeblichen Putschversuchs oder gar
Staatsstreichs von Seiten der Izquierda Anticapitalista
und gab sich unbeeindruckt von der heftigen Opposition
seitens der Basis in den Kreisen. Am Ende gab es ein Placet
für sie, die Kongressvorbereitung unter sich ausmachen zu
können. Mit dieser Auseinandersetzung wurde erstmals
und sehr frühzeitig der zuvor einhellige Enthusiasmus
über die Wahlerfolge getrübt. Aber noch waren nur die
radikalsten Teile der Mitgliedschaft in diese Auseinandersetzung involviert, während die Masse der Mitglieder und
SympathisantInnen in den Kreisen relativ wenig davon
mitbekam.
Hinzu kam, dass sich die Opposition entschloss, in
Deckung zu gehen, um keine Spaltung innerhalb einer
politisch noch unerfahrenen Organisation zu provozieren.
Die noch frischen Mitglieder an der Basis waren zu dieser
Zeit weitgehend bereit – was sicher auch in das Kalkül von
Iglesias und seiner Entourage eingeflossen war – in ihrer
Euphorie über den unerwarteten Wahlerfolg dem Mann
einen Blankoscheck auszustellen, der ihnen mit seiner
Medienpräsenz und makellosen Perfektion als Hoffnungsträger schlechthin galt. Die Aura, die Iglesias umgab,
ließ nicht erahnen, was sich hinter den Kulissen wirklich
zusammenbraute. Niemand konnte vermuten, dass der von
der Bewegung der Empörten übernommenen Slogan „Yes
we can“ auch anders interpretiert werden konnte, nämlich:
„Wir sind dabei, die Macht bei Podemos zu übernehmen.“
Ein spannungsgeladener Kongress
Auf der Bürgerversammlung im Vistalegre-Palast im Oktober, bei der es um die Organisationsstruktur der Partei
ging, lief das ab, was ablaufen sollte. Einmal mehr machte
sich die Riege um Iglesias den Enthusiasmus der Mitglieder zunutze, die durch die Beschwörung des bevorstehenden Sieges (in Reichweite … bei den Parlamentswahlen
im kommenden Jahr) in den Bann geschlagen waren, und
drückte mit der Unterstützung des erst im Frühsommer
inthronisierten Organisationskomitees Abstimmungsmodalitäten durch, die unter der Mitgliedschaft niemals
zuvor an der Basis diskutiert worden waren. Auch dort
galt die starre Listenwahl anstelle der Verhältnis- oder
Persönlichkeitswahl für die Führungsinstanzen, sodass die
„Fraktion“ eine absolute Vormachtstellung im Nationalrat
als dem Vertretungsorgan der Partei erzielte.
Pablo Iglesias wurde mit einer Stimmenzahl zum Generalsekretär gewählt, die an sowjetische Verhältnisse erinnerte. Abgelehnt wurde der Vorschlag, ein dreiköpfiges
Sprechergremium zu wählen, der von Teresa Rodríguez
von der IA und einer breiten Mitgliederinitiative getragen wurde, wobei letztere sich eher in Stellung bringen
wollten, als dass sie ernsthaft daran glaubten, die einmal
ins Rollen gekommene undemokratische Maschinerie
im Moment aufhalten zu können. Diese hatte in ihrer
Machtvollkommenheit einen weiteren Antrag kurzfristig
lanciert, wonach entgegen der bisherigen Regularien kein
Mitglied einer anderen Partei in den Nationalrat gewählt
werden dürfe. Dieser Antrag zielte ganz speziell darauf ab,
Mitglieder der IA aus der Führung herauszuhalten und
bildete quasi eine vorgeschaltete zusätzliche Barriere zu
dem Prinzip der starren Listen.2
In den Medien wurde der Kongress im Vistalegre-Palast fast einhellig als erdrückender Sieg von Pablo Iglesias,
dem „Himmelsstürmer“, gewertet. Den Wahlforschern
galt Podemos damals als aufgehender Stern am politischen
Firmament, bis dann einige Zeit danach die Trendwende einsetzte und die zwischenzeitlichen Wahlergebnisse
auf kommunaler und regionaler Ebene die Hoffnung auf
einen linearen Zugewinn bis hin zum „Endsieg“ bei den
Parlamentswahlen Ende 2015 doch stark dämpften.
Von der Realität eingeholt
Seinen Höhepunkt erreichte der „unaufhaltsame Aufstieg“ von Podemos wohl am 31. Januar 2015, als 300 000
Menschen in Madrid für einen politischen Neubeginn
demonstrierten und die Ankunft der Demonstranten an
der Puerta del Sol quasi die Kontinuität mit der 15-M
symbolisierte. Aber da war die Saat bereits verdorben,
denn „transformiert“ wurde die Empörung durchaus,
aber nicht in der gewünschten Richtung, sondern in die
Aufgabe einiger ihrer grundlegenden Prinzipien. So z. B.
in ihrer bedingungslosen Forderung nach Demokratie,
ihrem fast schon zwanghaften Streben nach horizontalen
Strukturen oder ihrer Weigerung, die Protestbewegung
einer „Persönlichkeit“ unterzuordnen.
Sicherlich gab es viele, die in der Bewegung von 2011
engagiert waren und sehr wohl akzeptierten, dass der Aufbau einer Partei – auch in der bewussten Tradition dieser
Bewegung – nicht ohne eine Delegation von KompetenInprekorr 1/2016 17
Dossier
zen vonstattengehen und sich damit in Widerspruch zu
deren Prinzipien setzen würde. Deswegen gab es etliche
Stimmen, die ein Festhalten an den libertären Prinzipien
des 15-M anmahnten: der Rotation der Delegierten und
ihrer Abruf barkeit, der Ablehnung jedweder Vormachtstellung einer Gruppe über die Gesamtpartei, der Einrichtung von Kreisen als Kern der Organisationsstruktur
etc. Das strikte Gegenteil dessen also, was die Führung
um Iglesias unbedingt umsetzen will, indem sie alles dem
angestrebten Wahlerfolg unterordnet.
Das entscheidende Problem in der Konzeption der
Partei liegt im Stellenwert, den die Wahlen in der Strategie
von Podemos einnehmen. Als zeitlich verschobener Wahlfortsatz einer zutiefst anti-elektoralistischen Bewegung hat
sich die neue Partei am Ende als durch und durch elektoralistisch entpuppt. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass
mit dem im Vistalegre-Palast laut vorgetragenen Spruch
„Den Himmel erobert man nicht im Konsens, sondern
im Sturm“ der Bezug auf Marx nur dazu gedient hat, die
Wahlebene paradoxerweise zum ausschließlichen Austragungsort dieses Ansturms zu machen. Was hochgestochen
„Transformation der Empörung“ genannt wurde und
letztlich zur Parteigründung führte, hat sich als radikale
Wesensänderung entpuppt, mit der eine soziale Bewegung
zu Grabe getragen und ein faktischer Bruch mit deren
Ideologie vollzogen wurde, die allenfalls noch als ferne
Quelle der Inspiration bemüht wird für eine Radikalität,
die sich zutiefst den Institutionen verschrieben hat.
Und mit der Ablehnung des „Konsens“ in dem genannten Zitat hat Iglesias nicht nur gemeint, dass man mit
der Kaste (PSOE und PP) brechen müsse, sondern auch
– wie die zwischenzeitliche Entwicklung zeigt – mit den
Antikapitalisten, die die Partei mitgegründet haben und
wenig geneigt sind, als bloßer Wahlverein zu fungieren
und dabei die sozialen Bewegungen zu ignorieren.3 Nur
so lässt sich verstehen, welche Absicht hinter der Errichtung einer extrem zentralistischen Organisation steckt:
eine Kriegsmaschine (für den Sturm auf die Wahlkabinen!), die definitionsgemäß diszipliniert und hierarchisch
zu sein hat und an deren Spitze ein unangefochtener
Häuptling residiert. Unter dem Strich ein Modell, das von
sich glaubt, gegen die Strategie des Feindes gewappnet zu
sein, ihm hingegen umgekehrt auf den Leim geht.4
Die Niederlage in Katalonien im Vorfeld der
Parlamentswahlen
Nach durchwachsenen Resultaten bei den (Teil)regionalwahlen 5 gab es bei den folgenden Kommunalwahlen ein
18 Inprekorr 1/2016
paar Durchbrüche wie die Eroberung der Bürgermeistersessel in Barcelona, Madrid oder Cadix durch linke
Einheitslisten, die zustande kamen, weil sich die Führung
von Podemos von ihrer bündnisbereiten Seite zeigte. Bei
den Regionalwahlen in Katalonien im September kam
es jedoch zu einem Debakel: Mit weniger als 9 % der
Stimmen lag das Bündnis von Podem/Podemos, Izquierda Unida und zwei weiteren Parteien nur wenig über der
antikapitalistisch-autonomistischen CUP und wurde sogar noch knapp von der PSC (Katalanische sozialistische
Partei) überholt.
Regelrecht distanziert hingegen wurde sie von den
Ciudadanos, einer neoliberalen Partei, die strikt gegen die
Unabhängigkeit Kataloniens auftritt und dennoch – mit
der Unterstützung der Herrschenden und der Medien, wo
die Partei geschickt als die rechte Variante von Podemos
verkauft wird – die zweitmeisten Stimmen erhielt. Damit
etabliert sie sich als feste Größe bei der künftigen Bildung
einer rechten Regierung auf nationaler Ebene oder auch
einer Koalition mit der PSOE, was zeigen würde, wie
flexibel die Herrschenden in ihren Optionen sind. Dies
beißt sich mit dem ursprünglichen Plan von Podemos, zur
Alternative auf institutioneller Ebene zu werden. Denn
die Rechte hat möglicherweise auf diesem Terrain ein
Gegengift hervorgebracht, das nach ähnlichem Muster
wie Podemos gestrickt ist und den dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust der PP auffangen kann.
Für Podemos, deren katalanischer Ableger nur den
unrühmlichen vierten Platz erzielte, ist die Bilanz wenig
beruhigend. Die Omnipräsenz der nationalen Leitung
im Wahlkampf, in Gestalt von Pablo Iglesias persönlich,
besonders aber die Ignoranz gegenüber dem stark ausgeprägten katalanischen Nationalbewusstsein kamen
schlecht an. Seither herrscht offene Krise: Die Generalsekretärin von Podem, eine Gefolgsfrau von Iglesias, ist von
ihren Funktionen zurück- und aus der Partei ausgetreten
und nach ihr noch etliche weitere Leitungsmitglieder, die
allerdings in der Partei geblieben sind. Ein ähnliches Bild
gibt es in Valencia. Die Zurückgetretenen kritisieren, dass
die Aktivitäten in den Basisstrukturen (Kreisen) von der
Madrider Führung ignoriert oder behindert werden und
dass die Mitgliederzahlen aufgrund dieser mangelnden
Einflussmöglichkeit zurückgehen.
Die Leitung ist sich sehr wohl der Wahlschlappe in
Katalonien und der momentanen Probleme bewusst,
glaubt aber, bei den Parlamentswahlen im Dezember
den rettenden Sprung nach vorne machen zu können.
Aber der Zweifel hat sich eingeschlichen und wird durch
Dossier
die vorbehaltslose Unterstützung, die Iglesias und seine
Entourage der hundertprozentigen Kehrtwende von
Syriza in Griechenland haben zuteil werden lassen, noch
verstärkt.6 Wie sehr die Aktivität der Podemos-Kreise
nachgelassen hat und sie sich zunehmend aus den Machtspielchen ausklinken, zeigt die auf ein extrem niedriges
Niveau gesunkene Beteiligung an den parteiinternen
Wahlen: Im Juli 2015 beteiligten sich nur 16,8 % (53 880
Stimmen) an der Kandidatenwahl für Kongress und Senat
sowie für den Regierungsvorsitz. Zum Vergleich: Im Oktober 2014 lag die Beteiligung bei der Bürgerversammlung im Vistalegre-Palast bei der Rekordzahl von 112 070
Stimmen.
War anfangs die Formel „weder links noch rechts“ als
konsequente Kampfansage an alle etablierten Parteien,
die „Kaste“, zu verstehen, ist die Praxis inzwischen eine
andere. So werden bspw. in einer Reihe von Kommunen
Minderheitsregierungen mit der PSOE gebildet. Ebenso
verwirrend sind die Bündnisse mit der IU im Rahmen
von Kommunal- oder Regionalwahlen (Katalonien),
zumal dies für die Parlamentswahlen kategorisch ausgeschlossen wird. Völlige Konfusion also!
Parallel dazu wird das einstige Wahlmanifest um seine
radikalen wirtschaftspolitischen Forderungen entschärft
und durch ein neokeynesianisches Programm ersetzt.
Nicht weniger schlimm ist – namentlich in öffentlichen
Einlassungen von Iglesias – die Revision der Positionen
in anderen Fragen wie der monarchistischen Struktur des
Regimes, des Kampfes für eine republikanische Gesellschaft oder die Aufarbeitung der Geschichte einschließlich der Forderungen der Opfer des franquistischen Terrors im Bürgerkrieg. Die zunehmende Desorientierung
von Podemos wird noch unterstrichen durch den vorgetragenen Anspruch, „die Mitte der politischen Bandbreite“ in Spanien einnehmen zu wollen. Dieser Bezug auf
das gemäßigte politische Spektrum ist meilenweit von der
Radikalität der 15-M und deren Ablehnung der Realpolitik entfernt.
Allerdings wäre es völlig verfrüht, den Abgesang auf
diese Partei anzustimmen. Auch wenn sie gegenwärtig in
der Talsohle steckt, kann sie wieder nach oben kommen
– vielleicht bei den kommenden Parlamentswahlen. Dies
wäre dann allerdings der gegenwärtigen Parteiführung
zum Trotz und nur dank dessen, was noch an Erbe aus der
Bewegung der Empörten und deren radikal antikapitalistischem Potential in der Partei steckt.
Da für die AntikapitalistInnen die sozialen Bewegungen und die Errungenschaften des 15-M eine zentrale po-
litische Rolle spielen, kommt ihnen beim Kampf um die
Rückbesinnung und Umorientierung dieser Partei eine
große Verantwortung zu, zumal das subversive Potential
der Partei noch nicht völlig aufgebraucht ist. Hierbei sollten sie sich darauf stützen, dass sie in den Instanzen von
Podemos trotz aller Ausgrenzungsversuche breit vertreten
sind und sich aktiv um die Reaktivierung der PodemosKreise bemühen.
1 Marea (= Flut), Mareas waren Proteste, die sich gegen die
Kürzungsmaßnahmen in einzelnen Bereichen (Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen) wandten. Durchgeführt wurden
sie von verschiedenen Plattformen, sozialen Einrichtungen,
Gewerkschaften (…) Die Proteste wurden auf Versammlungen diskutiert und basisdemokratisch beschlossen. Anm. d.
Red.
2 Hauptsächlich zielte die Maßnahme auf Teresa Rodríguez,
die mit dem zweitbesten Stimmenergebnis bei den Vorwahlen hinter Pablo Iglesias ins EU-Parlament gewählt worden
war. Mithilfe der Unterstützung der Basis in ihrer Heimatregion Andalusien (IA hatte sich zwischenzeitlich als Partei
aufgelöst und als Assoziation neu konstituiert) wurde sie zur
Vorsitzenden von Podemos in Andalusien gewählt, was ihr
einen Sitz im Nationalrat verschaffte.
3 Carolina Bescansa von der Parteiführung bringt die Diskrepanzen zwischen der „Fraktion“ und den Antikapitalisten
oder Bewegungsaktivisten so auf den Punkt: „Es gibt die einen bei Podemos, die gewinnen wollen, und die anderen, die
protestieren wollen.“ In diesem Satz kommen die strategischen Gegensätze klar zum Ausdruck, davon abgesehen, dass
mit Protest oder sozialer Bewegung Niederlage konnotiert
wird und gewinnen darauf reduziert wird, bei den Wahlen
gut abzuschneiden.
4 Juan Carlos Monedero, das im April 2015 zurückgetretene
Leitungsmitglied, lag richtig, als er (in einem kurzen klarsichtigen Moment) argumentierte, dass Podemos bestimmten
Lastern, die dem Werben um die Wählergunst eigen sind,
erlegen ist. „Mitunter ähneln wir denen, die wir weghaben
wollen. So ist die Realität. […] Podemos steckt in der Misere,
weil man sich nicht mehr die Zeit nimmt, in den Kreisen
zusammenzukommen, und es wichtiger ist, eine Minute im
Fernsehen zu erscheinen. […] Ab dem Moment, wo die politischen Kräfte das Hauptziel haben, an die Macht zu gelangen, lassen sie sich auf die Regeln des Elektoralismus ein und
werden zu Geiseln des Parlamentarismus.“
5 Zumeist lag Podemos an dritter, mitunter auch an vierter
und einmal sogar nur an fünfter Position. Mit einem Schnitt
von 13,5 % blieb man weit unter den Erwartungen, auch
wenn es in Aragon (20,5 %), Asturien (19 %) und Madrid
(18,5 %) ein paar Highlights gab.
6 In einem Video erklärt Iglesias unverfroren, dass Podemos
an der Regierung außer einigen Reformen im Erziehungswesen, der Verhinderung von Privatisierungen etc. selbst
„nicht viel machen können wird“, da der Gegner übermächtig sei.
Inprekorr 1/2016 19
Dossier
Katalonien –
Stunde der
Wahrheit
Die katalanischen Regionalwahlen trugen
aufgrund der sozialen und politischen Dynamik
der Unabhängigkeitsbewegung ganz spezifische
Züge. Zugleich waren sie der letzte Test
vor den nationalen Parlamentswahlen vom
20. Dezember. Esther Vivas
In Katalonien hat die Stunde der Wahrheit geschlagen.
Mit dem Wahlsieg – zumindest gemessen an der Zahl der
Parlamentssitze – bei dem die Unabhängigkeitsbefürworter von Junts pel Sí (Gemeinsam für ein Ja) und der CUP
72 von 135 Sitzen eroberten, ist der erste Teil des Fahrplans
für die Unabhängigkeit absolviert. Die Ciutadans (Bürger)
erlebten einen kometenhaften Aufstieg auf den zweiten
Platz und Miquel Iceta, der Generalsekretär der katalanischen PS (PSC), erzielte den dritten Platz, was noch kurz
vorher als unwahrscheinlich gegolten hatte. Zugleich blieb
Catalunya Sí que es Pot (Katalonien, ja das ist möglich;
eine Allianz aus Podemos und Teilen der KP/IU) weit
unter den eigenen Erwartungen und der ehemalige CDCKoalitionär Unió schied ganz aus.
Es stellen sich daher viele Fragen: Wie wird die spanische
Regierung unter Mariano Rajoy reagieren? Was passiert bei
den nächsten Parlamentswahlen? Wie wirkt sich das überraschende Abschneiden der Ciutadans in der Gesellschaft
aus? Wird die CUP aktiv oder passiv die Kandidatur von
Artur Mas (CDC) für den Gouverneursposten unterstützen?
Nachfolgend ein paar Anmerkungen zum Wahlergebnis.
Der Sieg der Autonomisten
Die starke Wahlbeteiligung zeigt, dass viele Katalanen
diese Wahlen als außergewöhnlich empfanden. Unter den
Unabhängigkeitsbefürwortern hat die Parole der Junts
pel Sí („Die Wahlen deines Lebens“), mit der die historische Bedeutung dieser Wahlen für die Unabhängigkeit
unterstrichen wurde, offensichtlich ihre Wirkung nicht
verfehlt. Fast zwei Millionen WählerInnen stimmten für
diese Parteien, ähnlich viele wie bei der Volksbefragung
20 Inprekorr 1/2016
zur Unabhängigkeit am 9. November 2014, wobei damals
auch die 16- bis 18-jährigen abstimmen durften.
Das hauptsächlich aus den beiden Organisationen CDC
und ERC (die sich auf eine Aufteilung im Verhältnis von
60 zu 40 geeinigt hatten) bestehende Bündnis Junts pel Sí
konnte viele Menschen für sich begeistern und von dem
Unmut in der Gesellschaft über die spanische Regierung
profitieren, die sich hartnäckig gegenüber dem Unabhängigkeitsstreben weiter Teile des katalanischen Volkes
verschließt.
Die autonomistische Massenbewegung, die sich in den
letzten Jahren entwickelt hat, fand in dem Bündnis ihre
parlamentarische Vertretung, die den weitverbreiteten
ernsthaften Wunsch nach einer Einheit der Autonomisten
verkörpert. Allerdings darf man nicht verkennen, dass sich
hinter dem Scheinwerferlicht dieses Gebildes eine Partei
verbirgt, die in vielerlei Korruptionsaffären verstrickt ist,
deren Parteilokale deshalb vielerorts durchsucht worden
sind und die darüber hinaus für Sozialabbau und Mittelkürzungen in den öffentlichen Diensten in Katalonien
verantwortlich ist.
Was passiert jetzt mit Junts pel Sí? Artur Mas hat verschiedentlich angedeutet, dass Viele in der CDC auch bei
den Parlamentswahlen das Bündnis beibehalten möchten,
das ihnen so exzellente Ergebnisse beschert hat, obwohl
die eigene Partei zuvor doch erheblich angeschlagen
schien. Für die ERC hingegen, der noch vor wenigen
Monaten nachgesagt wurde, alle Mitbewerber distanzieren zu können, könnte das Bündnis den politischen
Untergang bedeuten.
Nützliche Stimmen für die Ciutadans …
So wie Junts pel Sí die Stimmen aus dem autonomistischen
Lager auf sich ziehen konnte, so hat sich umgekehrt und
zulasten der PP und von Podemos Ciutadans den Ruf erworben, der natürliche Adressat für eine nützliche Stimme
der Gegner der Unabhängigkeit zu sein. Mit der Allgegenwart von Albert Rivera und Ciudadanos im Fernsehen,
die anfangs vom Establishment in Politik und Medien als
Antwort auf den raschen Aufstieg von Podemos gefördert
wurde, konnte die Partei nicht nur als rechte Alternative
zu Podemos etabliert, sondern auch die Regionalliste in
Katalonien gepuscht werden.
Mit den erzielten 25 Sitzen polarisiert und kompliziert
Ciutadans die politische Szenerie in Katalonien. Dies zeigt
leider auch, dass demagogische und spalterische Floskeln
unter Teilen der Wählerschaft verfangen, auch wenn die
katalanische Gesellschaft nicht so stark polarisiert ist, wie
Dossier
manche es gerne hätten: Zählt man die Stimmen zusammen, kommen die Unabhängigkeitsbefürworter auf 48 %
und 9 % für die Verfechter des Selbstbestimmungsrechts,
während die Gegner der Autonomie 39 % erzielen.
… gehen dem alten Zweiparteiensystem verloren
Unter den Parteien des bisher dominierenden Zweiparteiensystems konnte immerhin die Sozialdemokratie den
Schein wahren und den seit Monaten vorhergesagten
Einbruch verhindern. Ihr Führer Miquel Iceta, der sich als
„dancing man“ präsentierte, konnte der bis dahin leblos
dahinsiechenden PSC wieder etwas Farbe einhauchen und
kam auf den für unvorstellbar gehaltenen dritten Platz.
Auch die PP unter Xavier Garcia-Albiol konnte zwar
eine schlimmere Niederlage noch vermeiden, blieb den
Stimmen nach aber sehr schwach. Immerhin gelang es,
den Schatten der Korruption abzustreifen, der auf der alten
Führungsriege unter ihrer damaligen Vorsitzenden Alicia
Sánchez Camacho lastete und ihr Wählerpotenzial hatte
schrumpfen lassen. Der Versuch aber, den Schwung aus
seinem relativen Wahlsieg bei den Kommunalwahlen in
seiner Heimatstadt Badalona hinüberzuretten, misslang
angesichts des kometenhaften Aufstiegs der neuen Konkurrenz auf der Rechten.
Die Halbherzigkeit von Podemos …
Für die Kommunalwahlen in Barcelona hatte sich das
linke Bündnis Barcelona en Comú gebildet und stellt seitdem die neue Bürgermeisterin. Die Angst, dass sich dieses
Muster bei den Regionalwahlen wiederholen würde,
hatte zur Bildung von Junts pel Sí geführt. Es kam aber
nicht zu einem Catalunya en Comú. Stattdessen wurde auf
Führungsebene ein Wahlbündnis zwischen Podemos, der
linksökologischen ICV (Iniciativa per Catalunya Verds, Initiative für Katalonien – Grüne) und der IU unter dem Namen Catalunya Sí que es Pot verabredet und die Verfechter
eines Bündnisses der sozialen Bewegungen auf die Seite
geschoben. Wie sehr dadurch die potentiellen Anhänger
frustriert wurden, zeigt allein, dass noch nicht einmal die
knapp 10 % der Stimmen erreicht werden konnten, die die
ICV 2012 im Bündnis mit der IU erzielen konnte.
Die Desorientierung dieser Listenverbindung in der
Frage der nationalen Unabhängigkeit und ihre Ignoranz
gegenüber der Losung eines für Katalonien verfassungsgebenden Prozesses hat Podemos in eine Position gebracht,
die sich wenig von dem „Dritten Weg“ unterscheidet,
den die Sozialdemokraten vertreten und der ein Referendum in Abstimmung mit der Zentralregierung vorsieht.
Hinzu kamen arg verunglückte Einlassungen seitens Pablo
Iglesias’ zu diesem Thema, die natürlich von den Medien
genüsslich ausgeschlachtet wurden und noch mehr Kredit
verspielten.
Unter dem Strich war das Wahlergebnis für eine Formation, die angetreten ist, Mas und Rajoy in die Wüste zu
schicken, mehr als enttäuschend. Dies wird sich auch auf
die Parlamentswahlen auswirken, insbesondere auch, da
Ciutadans zur zweitstärksten Partei geworden ist. Zugleich
sollte es denjenigen eine Warnung sein, die als alleiniges
Ziel eben diese Parlamentswahlen im Auge haben.
… treibt die CUP nach oben
Die CUP hat unter allen Formationen die Wahlprognosen
am weitesten übertroffen. Für sie stimmten all diejenigen
unter den Unabhängigkeitsbefürwortern, die auf keinen
Fall für Mas waren. Zugute kam ihr auch, dass etliche Sektoren durch das Auftreten von Catalunya Sí que es Pot in der
Unabhängigkeitsfrage und ihr Eintreten für eine ominöse
„neue Politik“ abgestoßen wurden. Und natürlich profitierte sie auch von ihrer Parlamentsarbeit in der vergangenen
Legislaturperiode, wo sie konsequent für einen Prozess für
eine verfassungsgebende Versammlung als Schritt zur Autonomie eingetreten ist, was ihnen sicherlich die Stimmen
ehemaliger ERC-Sympathisanten eingebracht hat.
Die Zukunft wird weisen, wie die CUP ihre Rolle
in dem neu entstandenen politischen Szenario ausfüllen
wird, wo ihr nunmehr eine Schlüsselrolle im Unabhängigkeitsprozess zufällt. Ein Teil ihrer Wählerschaft plädiert
sicherlich für eine Unterstützung der Vorgehensweise
der siegreichen Junts pel Sí in dieser Frage und wäre auch
bereit, Mas als Präsidenten hinzunehmen. Ihre aktive Basis
und der andere Teil ihrer Wählerschaft jedoch sind da sehr
viel kritischer. Ihr Verhalten in diesem Spannungsfeld wird
sehr weitgehend über ihre politische Zukunft entscheiden.
[Bis zum 23.11. kam die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten nicht zustande, weil die CUP gegen Mas votierte.
Allerdings stimmten ihre Abgeordneten für einen von
Junts pel Sí vorgelegten Beschluss, der die Unabhängigkeit
von der Zentralregierung in Madrid und die Schaffung
einer eigenen Republik bis spätestens 2017 zum Ziel hat,
wogegen die spanische Zentralregierung sofortige Verfassungsbeschwerde eingelegt hat.]
30. September 2015
Inprekorr 1/2016 21
Dossier
Von Laclau
zu Iglesias –
Theorie und
Praxis des (Neo-)
populismus
Schon lange predigt Iglesias, dass das hergebrachte Schema „Klasse gegen Klasse“ nicht
mehr vermittelbar sei und durch „Volk gegen
Kaste“ ersetzt werden müsse, weil dies für jedermann viel anschaulicher sei. Emmanuel Barot
Die Position, mit der wir uns hier auseinandersetzen, geht im
Wesentlichen auf die Theorie der „populistischen Vernunft“
des 2014 verstorbenen argentinischen Philosophen Ernesto
Laclau zurück. Auch wenn sich schwer ermessen lässt, inwieweit sich manche Strömungen von Podemos auf diese Theorie bezogen haben oder noch beziehen, ist deren zentraler
Stellenwert für Iglesias Grund genug, uns damit gebührend zu
befassen.
Gramsci als Kronzeuge der Antimarxisten?
Zusammen mit Chantal Mouffe verfasste Laclau 1985 Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus,
ein Werk, das vornehmlich für ein strategisches Umschwenken des Postmarxismus plädiert und das damals breit rezipiert
und diskutiert wurde. Im seinem 2005 erschienenen Buch
Über die populistische Vernunft entwickelte Laclau eine Sichtweise, die man fürderhin als neopopulistisch bezeichnete und in
der dieser Konzeptwandel weiter aktualisiert und unterfüttert
wurde. Und erst kürzlich veröffentlichte Chantal Mouffe eine
Reihe von Gesprächen mit Iñigo Errejón (der als die „Nummer zwei“ von Podemos gilt) unter dem Titel Construir pueblo.
Hegemonia y radicalización de la democracia1, das dasselbe Thema
abhandelt. Das verbindende Moment all dieser Darlegungen
des neuen strategischen Konzeptes ist eine sehr fragwürdige
Interpretation der Theorie von Gramsci.
In einer Kritik an Togliattis Interpretation von Gramsci
hatte Perry Anderson in einem Artikel der New Left Review
22 Inprekorr 1/2016
von 19762 einige „unvereinbare Widersprüche“ im Werk des
italienischen Marxisten herausgearbeitet. In der darauf folgenden Debatte zu diesem Thema3 ging es hauptsächlich um
folgenden Punkt: Auf der Grundlage einer Konzeption von
der Hegemonie des Proletariats, in der die Arbeiterklasse das
zentrale Subjekt darstellt, entwickelte Gramsci anhand der in
der UdSSR 1926 geführten Auseinandersetzungen und seiner
eigenen Überlegungen über die spezifischen und komplexeren
Staatsformen in den westlichen Staaten ein Hegemoniekonzept, das er auf die Formen bürgerlicher Herrschaft unter dem
Aspekt ihrer kulturellen Dimension anwandte. Da er davon
ausging, dass die „Revolution im Westen“ nicht nach den
exakt gleichen Modalitäten wie die russische Revolution vorstellbar wäre, erweiterte er den Hegemoniebegriff um den sog.
„Volksblock“ [der um die Arbeiterbewegung gebildet werden
müsse]. Dabei misst er über die ökonomische Determination
hinaus der ethisch-politischen Offensive ein größeres Gewicht
bei, die angesichts der bürgerlichen Hegemonie eine Gegenhegemonie schaffen müsse, z. B. über die Entsendung von
Kadern in die Institutionen.
Dies lässt sich ambivalent interpretieren und kann als
Rechtfertigung für Parlamentarismus und Reformismus
umgebogen werden, indem man Begriffe wie „historischer
Block“ oder „intellektuelle und moralische Reform“ im
eigenen Sinn umdeutet. Mouffe und Laclau haben dies auf die
Spitze getrieben und aus Gramsci einen Verfechter der „Hegemonie ohne Determinierung durch die Klasse“ gemacht,
indem sie ihn mit bemerkenswerter Dreistigkeit verfälscht haben. Denn Gramsci hat immer und selbst in den spät entstandenen Briefen aus dem Gefängnis bei aller Kritik am Ökonomismus daran festgehalten, dass dieser Volksblock von einer Partei
geführt werden müsse, die den Standpunkt der Arbeiterklasse
und damit die ökonomisch begründete Klassenteilung als
Ausgangspunkt haben müsse.4
Da der Marxismus in ihren Augen ein zweifaches Manko
aufweist, nämlich einen ökonomischen Determinismus und
einen überholten Begriff des revolutionären Subjekts, entwickeln Mouffe und Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie.
Zur Dekonstruktion des Marxismus eine Konzeption, in der die
sozialen Bewegungen – hierunter die Arbeiterbewegung als
eine davon – miteinander verbunden werden müssen, wobei
sie untereinander aber völlig autonom und absolut gleichwertig sind. Um hegemonial werden zu können, müssen sie sich
– unter Wahrung ihrer Autonomie – intensiv untereinander
austauschen, um zu verhindern, dass alle (mehr oder minder)
antikapitalistischen Kämpfe, für die die jeweiligen Bewegungen stehen, auseinanderfallen. Die gemeinsamen Grundlagen
dieses Diskurses werden durch die Konzepte von „Demokra-
Dossier
tie“ und „demokratischer Revolution“ einerseits gebildet und
durch die Benennung eines gemeinsamen Gegners andererseits. Da der Klassenstandpunkt aufgegeben wird, werden
folgerichtig „Eliten“, „Kasten“ oder Vergleichbares zu neuen
Bezugsgrößen.
Daraus leitet sich die Vorstellung einer „radikalen“ Politik
für die Demokratie oder für eine „radikale Demokratie“ ab.
Von der Begrifflichkeit her lässt es sich nicht miteinander
vereinbaren, den Antagonismus und den sozialen Gegensatz zu diesem gemeinsamen Gegner anzuerkennen und den
„Konsens“ als utopisch zu kritisieren einerseits und auf der
anderen Seite die Auffassung zu vertreten, dass es ein Hinüberwachsen von der bürgerlichen Demokratie zu einer wie
immer gearteten wirklichen Demokratie geben könnte. Aber
die Autoren verorten diesen Antagonismus in einer Instanz,
in der eben diese Kontinuität durchaus möglich ist. In ihrem
Vorwort zu der Ausgabe aus dem Jahr 2000 von Hegemonie und
radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus schreiben
die Autoren: „Es ist sicherlich wichtig zu begreifen, dass nicht
die liberale Demokratie der Todfeind ist, wenn man durch
die Revolution eine komplett neue Gesellschaft gründen will.
Genau darauf haben wir auch hier schon hingewiesen, indem
wir darauf bestanden haben, dass linke Politik über den Begriff
einer „Radikalisierung“ der Demokratie neu definiert werden
muss. Für uns liegt das Problem der bestehenden liberalen Demokratien nicht in ihren Grundwerten, die in den Prinzipien
von Freiheit und Gleichheit für Alle zum Ausdruck kommen,
sondern in dem Machtsystem, das die Reichweite dieser Werte
bestimmt und begrenzt. Daher haben wir unser Ziel einer
‚radikalen und pluralen Demokratie‘ als ein neues Stadium in
der Umsetzung der ‚demokratischen Revolution‘ konzipiert,
als die Ausweitung der demokratischen Kämpfe für Gleichheit
und Freiheit auf eine größere Menge sozialer Verhältnisse.“
Was ist hier wohl mit „Ausweitung“ gemeint?
Hegemonie und „Postmoderne“
Diese Ausweitung besteht darin, dass sich das Volk im Rahmen des bürgerlichen Staates zunehmend mehr Rechte
erkämpft. Solche Errungenschaften sind natürlich (für Frauen,
Homosexuellen, Transgender, rassisch Verfolgte etc.) von
großer Bedeutung. Trotzdem hört der Kampf längst nicht dort
auf, da hiervon die kapitalistischen Produktions- und Klassenverhältnisse nicht annährend bedroht werden. Denn da für
die Autoren das Problem im „Machtsystem“ der „bestehenden
liberalen Demokratien“ und in der Entkopplung dieses „Systems“ von seinen materiellen Grundlagen (in erster Linie der
Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Kapital) liegt, muss sich
diese Politik der „Ausweitung“ der Kämpfe zwangsläufig und
letztlich ausschließlich auf die bestehenden lokalen, nationalen
oder auch internationalen Machtinstitutionen konzentrieren.
Als Daniel Bensaïd insistierte5, dass die Hegemonie nicht
„mit der postmodernen Beliebigkeit vermengt“ werden könne
und sich gegen diese „aufgefaserte Hegemonie“ wandte, da sie
„im Widerspruch zur ursprünglichen strategischen Bedeutung
des Begriffs im Sinne von Lenin und Gramsci steht, wonach
Herrschaft und Legitimität oder Führungskapazität zusammenfallen“, erkannte er zu Recht, dass die beiden Autoren
„eine bloße Ausweitung der Demokratie im Sinn haben, wo
die Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse nur ein Aspekt
neben anderen im weiten Spektrum der sozialen Verhältnisse sind. Die Aufgabe der Linke ist demnach nicht mehr, die
liberal-demokratische Ideologie zu bekämpfen, sondern sich
ihrer zu bemächtigen …“ Insofern „landen sie zwangsläufig
bei einer Kritik des revolutionären Wegs“ und „beschränkt
sich das Ziel der radikalen Demokratie letztlich … auf eine
Verherrlichung der gesellschaftlichen Pluralität.“
Insofern wird das einigende Moment für einen organisatorischen Zusammenschluss auf einen vagen „Gemeinsinn“ und
einen „alten ethischen Imperativ“ (den schon der Revisionist
Bernstein vor 100 Jahren reklamierte) reduziert, was Manipulationen Tür und Tor öffnet. Folglich ändern sich auch die
Begrifflichkeiten: Anstelle von „revolutionär“ heißt es jetzt,
„radikal“ zu sein. Die Zerschlagung der bürgerlichen Institutionen wird ad acta gelegt und die „Volksherrschaft“, die um den
Klassenstandpunkt und jeglichen Bezug auf das Proletariat entkleidet wurde, geht auf in der Bezugnahme auf ein sehr vage
umrissenes „Volk“.
Hegemonie aus Sicht der Neopopulisten
All dies wird in dem späteren Werk von Laclau Über die populistische Vernunft weiter ausgeführt, ausgehend von einer Hypothese und einer Prämisse. Die Hypothese besteht darin, den
„Populismus“, der zuvor immer vage umrissen und willkürlich
eingeteilt wurde, neu zu definieren, da der Begriff negativ
belegt sei und seine beiden hervorstechendsten Merkmale,
nämlich die Anrufung des Volks und die Kritik der Eliten nur
als irrelevante Begleiterscheinungen gälten. Statt diese Begriffe
in ihrer sozioökonomischen Dimension zu begreifen, so wie
sie gemeinhin auch verstanden werden („Populismus“ bezeichnet hauptsächlich die Instrumentalisierung des Volkszorns aus
diesen oder jenen Ecken der Gesellschaft etc.), überhöht Laclau
das Phänomen des Populismus und macht daraus eine eigene
politische Strategie. Als Prämisse dabei gilt ihm die Überbetonung der sozialen Heterogenität in unserer Zeit.
Das Anliegen des Populismus sei es, dem Volk zur Identität
zu verhelfen. Um dies zu begreifen, muss man auf den dualen
Inprekorr 1/2016 23
Dossier
Begriff des „Volkes“ in der Antike zurückgreifen: Einerseits
„populus“ oder „demos“ als die Gemeinschaft der Bürger,
die die Gesellschaft als Ganzes bilden und die Universalität
verkörpern, andererseits die „plebs“, das niedere Volk der
Ausgebeuteten, Unterdrückten und namenlosen Habenichtse.
Der Populismus – so Laclau – verhilft der „plebs“ als Teil des
„populus“, dazu, die Gesamtheit der zwar unterschiedlichen,
aber doch gleichermaßen legitimen Erwartungen, Forderungen und sozialen Bedürfnisse zu verkörpern, und wird dadurch
zum repräsentativen Ausdruck der gesellschaftlichen Totalität.
Aber dieser Prozess setzt voraus, dass sich die unterschiedlichen Strömungen in ihrem Kampf gegen einen gemeinsamen
Gegner – den Laclau nur vage analysiert – zusammenfinden:
die „Eliten“, das „Machtsystem“, den „globalisierten Kapitalismus“ etc. Da die sog. klassischen marxistischen Kategorien wie
Klassenkampf oder etwa die in letzter Instanz ökonomische
Bedingtheit für Laclau zu „Fetischen“ geworden sind, wird die
hegemoniale Politik, als deren Träger oder Kennzeichen die
Bezugsgröße „Volk“ wirken kann, dann darin bestehen, letztlich Trennlinien innerhalb des „populus“ festzulegen zwischen
denjenigen, die sich um die „Forderungen“ scharen können,
und jenen, die sich dem weiterhin entgegenstellen. Da aber die
„Klassen“ keine gültigen Kategorien mehr sind, die „Forderungen“ im Fluss sind und die „Äquivalenzkette“ endlos sein
kann, verschwimmen die Grenzen umso mehr. Insofern ist
nicht nur der „Populismus“ ein „verschwimmender Bedeutungsträger“, sondern auch das „Volk“, das überhöht wird, um
damit den Klassenstandpunkt zu ersetzen bzw. um das Volk
gegen die eigenen Interessen zu instrumentalisieren.
Die daraus sich ergebenden Schlussfolgerungen liegen auf
der Hand: „Eine Forderung des Volkes ist eine Forderung,
die die fehlende Ganzheit der Gemeinschaft über eine potentiell endlose Äquivalenzkette repräsentiert. Daher bedeutet
Populismus, der – wie gezeigt – der politischen Vernunft
schlechthin entspricht, einen Bruch mit den zwei Formen von
Rationalität, die das Ende der Politik bedeuten: Bruch sowohl
mit einem revolutionären Ereignis, das das politische Moment
überflüssig macht, weil es die vollständige Versöhnung der
Gesellschaft mit sich selbst ermöglicht; und mit einer einfach
gradualistischen Praxis, die Politik zur bloßen Verwaltung
degradiert.“ Als ob die Revolution von Marx, Engels, Lenin,
Rosa oder Trotzki als ein solches heilbringendes und wundersames „Ereignis“ gedacht worden wäre (wozu es dann später
hingegen bei Badiou geworden ist)!
Weder Revolution noch Reform, sagt Laclau, sondern
„radikaldemokratische“ Politik. All dies trägt angeblich zur
„Öffnung der Horizonte“ bei, weil die „Wiederkehr des Volkes als politische Kategorie“ dazu verhilft, „andere Kategorien,
24 Inprekorr 1/2016
wie die der Klasse, als das zu präsentieren, was sie sind: Träger
von kontingenten und partikularen Forderungen, aber kein
Knotenpunkt, von dem aus das Wesen der Forderungen selbst
klar werden könnte.“ Die Klasse ist bloß noch ein kontingentes
und obsoletes diskursives Konstrukt und jede Klassenpolitik ist
per definitionem mit eben diesem Manko behaftet. Auf diese
Weise ist dieser linke Neopopulismus letztlich völlig vereinbar
mit der kapitalistischen Gesellschaft.
Neopopulismus in Argentinien und
Eurokommunismus
Als ferner Abkömmling des Trotzkismus in Argentinien
hatte die von Jorge Abelardo Ramos gegründete „nationale Linke“ in den 60er Jahren in bestimmten intellektuellen
Kreisen einen notorischen Einfluss erlangt. Ramos war Autor
eines monumentalen Geschichtswerks über Lateinamerika
und feiner Beobachter des Peronismus, während die klassische
Linke aus Sozialisten und Kommunisten in Argentinien strikt
dagegen opponierte und dabei selbst vor einer Zusammenarbeit mit der US-Botschaft und der rechten Bourgeoisie nicht
zurückschreckte. Für Ramos war der bürgerliche Nationalismus in einem Dritte-Welt-Land ein Hebel, auf den man sich
stützen müsse, um die Hauptwidersprüche in einem halbkolonialen Land auszunutzen, während die zweitrangigen Widersprüche in dem Maße in Angriff genommen werden sollten,
wie sich die Bedingungen im ersten Konflikt verschärfen und
eine volle Unterstützung der Revolutionäre für das „nationale und volksnahe“ Lager notwendig machen. Anhand dieser
Theorie, vertreten von der „Sozialistischen Partei der nationalen Revolution“, wurde Laclau geschult.
Mit seinen Werken Hegemonie und radikale Demokratie. Zur
Dekonstruktion des Marxismus und Über die populistische Vernunft
hat er sich zunehmend aus dieser an sich schon heiklen Ecke
in Richtung Antimarxismus bewegt. Auf dem Weg von der
Auflösung der Klassen über die politischen Identitäten, die in
aufgeblähten Erzählungen und Diskursen hergeleitet werden,
bis hin zu dieser „radikaldemokratischen“ Sichtweise bleibt am
Ende gar kein Subjekt mehr übrig. Heraus kommt ein theoretisches Vakuum, gestreckt durch die verallgemeinernde Kritik
der Organisationen und natürlich der „Partei“, an deren Ende
die Verdammung des Leninismus steht, der im Rückblick als
strukturell autoritär verurteilt wird.
Damit war zumindest Tabula rasa gemacht, um das gebührend hervorzuheben, was bis dahin so weit hinten runter
gefallen war: die Selbstorganisierung. Bei Laclau aber findet
sich nichts darüber. Indem er von den Klassen abstrahiert und
Politik in einen autonomen Rang erhebt, dabei programmatisch inhaltslos bleibt und sich über die Organisationsfrage
Dossier
ausschweigt, überlässt es dieser Neopopulismus de facto den
Repräsentanten, sich für all die Forderungen zu engagieren,
sobald unter der Bevölkerung die Mobilisierungen dafür
abgeebbt sind: unter dem Strich also einem Führer. Die
Entwicklung von Podemos, deren Ursprünge in einer breiten
Protestbewegung liegen, hin zu einer zentralistischen Partei
mit einer bürokratischen und komplett auf einzelne Personen
zugeschnittenen Führung und einer Programmatik, die letztlich mit einem kapitalistischen System vereinbar ist, ist insofern
kein Zufall. Vielmehr veranschaulicht sie konkret, wohin die
Strategie von Laclau letztlich führt.
Zuletzt sei daran erinnert, dass dieser Neopopulismus dem
Eurokommunismus der 70er Jahre ähnelt, der – nicht zufällig
– sich derselben Instrumentalisierung Gramscis mit rechtsgewirkten, gradualistischen und elektoralistischen Vorzeichen
bedient hat. Der Eurokommunismus brach mit dem Stalinismus, trat für Pluralismus und Freiheitsrechte gegenüber der
Einheitspartei ein und vertrat die Konzeption eines friedlichen
Übergangs zum Sozialismus, um den Preis einer zunehmenden Integration in den bürgerlichen Staatsapparat. Als Synthese
aus Sozialismus und liberaler Demokratie verkörperte er den
Neoreformismus der westeuropäischen KPs. Ernest Mandel
hatte dies damals richtig zusammengefasst: „Auch damals
[nach dem WK II] war der Kapitalismus zu schwach, um den
Arbeitern Opfer aufzuzwingen. Die Reformisten nahmen
ihm diese Sorge ab. […] Diesmal werden die Dinge genauso
ablaufen, wenn die Arbeiter Berlinguer nicht daran hindern,
die Bourgeoisie aus dem Dreck zu ziehen, in dem sie sich
befindet.“6
Verwundert es, dass sich Iglesias nicht nur Gramsci – in
der Missdeutung durch Mouffe und Laclau – verbunden sieht,
sondern auch der KPI und Berlinguer?
Populismus und Klassenkollaboration
Mouffe und Laclau haben sich einen Popanz gewählt: einen
ökonomistischen und essentialistischen Marxismus, der – wie
in der Sowjetunion der 30er Jahre – die Produktivkräfte mit
Hilfe von Fünfjahresplänen fetischisiert und aus der Essentialität des Sozialen eine mechanische Ableitung vornimmt, wonach „die Klasse an sich“ auf einem metaphysisch vorbestimmten Weg – hierin einer falsch verstandenen hegelianischen
Logik folgend – fähig ist, sich in eine allumfassende „Klasse
für sich“ zu verwandeln. Natürlich müssen wir uns freimachen
von diesen stalinistischen oder stalinoiden Abfallprodukten.
Genauso aber von diesen neoreformistischen Pseudoerrungenschaften, die sich seit Jahrzehnten schon auf diese Karikatur des
Marxismus stürzen, um ihn dann – offen oder uneingestanden
– zu erledigen.
Laclau hat uns ein fraglos reiches Werk hinterlassen. Sein
Buch von 1985 ist scharfsinnig und gehört zu den Werken, die
Geschichte geschrieben haben. Und die Verbindung zwischen Theorie und Praxis ist alles andere als mechanisch und
unmittelbar und man kann einer Theorie nicht in die Schuhe
schieben, was führende Politiker, die sich auf sie beziehen, an
Strategie zu verantworten haben. Aber die „verschwimmenden Bedeutungsträger“ von Laclau haben nicht nur Iglesias wie
auch Tsipras inspiriert und die Politik von Chávez oder Morales zumindest teilweise bestimmt, sondern auch Laclau selbst
hat durch und durch bürgerliche Regierungen anhand seiner
eigenen Theorie nachhaltig unterstützt, wie bspw. die vorgeblich „fortschrittlichen“ Kirchner-Regierungen in Argentinien.
Wir wollen keineswegs alles und jeden unterschiedslos in
einen Topf werfen oder gar behaupten, dass Podemos zwangsläufig das machen würde, was die Kirchner-Regierungen
gemacht haben oder was sich die Regierung Tsipras nach
Unterzeichnung des dritten Memorandums und den Wahlen
im September als Agenda auferlegt hat, nämlich bürgerliche
Austeritätspolitik zu betreiben und weiterhin die ArbeiterInnen für die Krise zahlen zu lassen. Dennoch gibt es sehr viele
Signale und Weichenstellungen, die das Schlimmste befürchten lassen.
Aber allein der Umstand, dass ein politischer Theoretiker
wie Laclau soweit gegangen ist, auch bürgerliche Regierungen
zu unterstützen, zwingt uns zu hinterfragen, inwieweit sich
eine politische Führungsriege mit „radikalem“ Anspruch weitgehend und explizit auf ihn berufen kann. Genug Gründe also,
seine Theorien schonungslos zu kritisieren und die politischen
Realitäten bei Podemos genauestens zu analysieren und zu
bilanzieren.
1 Construir pueblo. Hegemonia y radicalización de la democracia , Icaria
Editorial, Mai 2015.
2 The Antinomies of Antonio Gramsci , New Left Review, n° 100,
November-Dezember 1976, Seite 5-78
3 Peter D. Thomas, The Gramscian Moment. Philosophy, Hegemony
and Marxism, Haymarket Books, 2011 (coll. Historical Materialism).
4 S. Gramsci Heft 13, §18
5 Daniel Bensaïd: Eloge de la politique profane, Paris, Albin Michel,
2008,
6 Ernest Mandel Kritik des Eurokommunismus Olle & Wolter, Berlin,
1978, S. 180
Quelle des Dossiers: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du
NPA n°70, S. 15ff.
Übersetzung aller Beiträge des Dossiers und Bearbeitung:
�
MiWe
Inprekorr 1/2016 25
Fr ankreich
Resolution des
Politischen Komitees
der NPA (Frankreich)
1
Gegen den IS und seine verabscheuungswürdigen
Attentate! Solidarität mit den Opfern!
1.1 Mit den Attentaten vom 13. November in Paris und
Saint Denis – zuvor in Bagdad, Ankara, Beirut und
Scharm-el-Scheich – und mit der nachfolgenden der
Geiselnahme in Mali und dem Ausnahmezustand in
Belgien ändert sich die Lage in unserem Land grundlegend. Denn zweifelsohne sind sie der Auftakt zu einer
neuen Welle massenterroristischer Anschläge des IS gegen
die Bevölkerung, auf die die Regierungen nach außen mit
Militäreinsätzen – wie damals George W. Bush nach den
Attentaten vom 11. September 2011 – und nach innen mit
der Verhängung des Ausnahmezustands und verschärfter
Repression reagieren werden. Wir müssen den Ernst dieser
neuen Lage erkennen, ebenso wie die berechtigte Betroffenheit, ohne deswegen in politische Kurzschlusshandlungen, ebenso wenig aber in Fatalismus zu verfallen.
1.2 Hinter den Attentaten vom 13. November steckt als
Auftraggeber der IS. So wie al-Qaida ist diese Organisation nicht aus dem Nichts entstanden.
Seit Jahrzehnten schon haben die USA gemeinsam mit
dem saudischen Königreich die fundamental-islamistischen Strömungen hochgepäppelt, um so die Linke in den
moslemischen Ländern zu bekämpfen. Lange waren diese
Strömungen Verbündete der USA. Die Kollaboration
erreichte ihren Höhepunkt während des Krieges in
Afghanistan in den 80er Jahren, als Washington, Saudi
Arabien und die pakistanische Diktatur die Fundamentalisten gegen den Einmarsch der Sowjetunion unterstützten. Ein Teil von ihnen hat sich später dann gegen die
saudische Monarchie und die USA gewandt. Ein Beispiel
dafür ist al-Qaida: Ihre Gründer waren erst Verbündete
der USA und der Saudis im Kampf gegen die sowjetische
Besatzung in Afghanistan, haben sich dann aber gegen ihre
Mentoren gewandt. Maßgeblich für die Kehrtwende war
der erste Irakkrieg durch die US-Regierung unter George
26 Inprekorr 1/2016
H. W. Bush und später der Einmarsch im Irak unter
George W. Bush. Infolge der Besatzung des Landes durch
die USA erlebte al-Qaida einen enormen Auftrieb und
konnte sich dadurch wieder eine maßgebliche territoriale
Basis im Nahen Osten schaffen, die ihr zuvor in Afghanistan beschnitten worden war. Noch heute unterstützt Saudi
Arabien in Syrien (al-Nusra) oder im Jemen Organisationen, die mit al-Qaida verbunden sind.
Was sich heute „Islamischer Staat“ im Irak und in
Syrien nennt und aus dem irakischen Ableger von al-Qaida
entstanden ist, existierte vor dem Einmarsch 2003 nicht als
eigene Organisation. Vielmehr ist sie sowohl das unmittelbare Ergebnis der US-Okkupation im Irak als auch des
zunehmenden Chaos in der Region. Rekrutierungsbasis
sind besonders die sunnitischen Sektoren, die zuvor aus
allen Schaltstellen der Politik rausgedrängt worden waren,
und ehemalige Mitglieder der Armee und Geheimdienste
von Saddam Hussein. Nach 2007 war sie im Irak besiegt
und marginalisiert, konnte sich aber in Syrien wieder
auf bauen, indem sie von den Bürgerkriegsbedingungen in
diesem Land und der extremen Brutalität des syrischen
Regimes profitierte.
1.3 Der IS muss als solcher bekämpft werden und als das,
was er ist, nämlich eine militärische und religiös-fundamentalistische Organisation, die auf Terror basiert und ein
Feind der Arbeiterbewegung, der Frauen und aller
demokratischen Rechte ist, und die sich auf einem Territorium ausbreitet, wo sie zunehmend die Konturen eines
Staats annimmt und von wo aus sie zu expandieren
versucht. Diese Organisation konnte sich auf die Verbrechen der Regimes von Saddam Hussein und Baschar
al-Assad stützen wie auch auf die finanzielle Förderung
durch die ultrareaktionären Scheichs der Golfstaaten und
auf die Komplizenschaft der türkischen Regierung unter
Erdogan, die jede fortschrittliche Massenbewegung zu
vernichten trachtet.
Fr ankreich
2
Gegen Notstand und Rassismus! Gegen den Burgfrieden mit der Regierung! Für unsere demokratischen Freiheiten!
2.1 Angesichts der Verlängerung des Ausnahmezustands
auf drei Monate und der Ankündigung von Verfassungsänderungen muss die Verteidigung der demokratischen
Rechte und Freiheiten zu einer unserer Hauptinterventionsachsen werden. Unter dem Vorwand, ein Gesetzesinstrumentarium aus der Zeit des Algerienkrieges an die
aktuellen Erfordernisse anpassen zu wollen und damit
einen Rechtsstaat unter Kriegsbedingungen aufrecht
erhalten zu können, will Hollande den Notstand auf Dauer
etablieren, um einen permanenten Ausnahmezustand
schaffen zu können. Hollande hat die politischen Koordinaten erheblich nach rechts und rechtsaußen verschoben,
indem er sich Vorschläge der FN und der Republikaner
(Sarkozy) zueigen gemacht hat: Entzug der Staatsbürgerschaft für Terrorverdächtige mit doppelter Staatsbürgerschaft, Verbot von Organisationen und Vereinigungen, die
„gegen die öffentliche Ordnung“ verstoßen (ohne genauere Kriterien dafür zu erstellen), Blockade von Internetseiten und Hausarrest für alle Personen, die terroristischer
Ziele verdächtigt werden, also nicht für Straftaten verurteilt sind.
Nach den Sicherheitsgesetzen, die im Gefolge der
Attentate vom 9. Januar verabschiedet worden sind, schickt
sich Hollande an, eine weitere Grenze bei der Beschneidung von Bürgerrechten zu überschreiten. [...] Die
Verlängerung des Ausnahmezustands auf drei Monate
wurde vom Parlament beschlossen, auch mit den Stimmen
der geschlossenen Fraktion der Front de Gauche. Neue
Gesetzesvorhaben sind in der Mache, angefangen mit der
Einschreibung des Ausnahmezustands in die Verfassung als
erster Schritt zu einem regelrechten „patriot act“ à la
Française.
Die Verlängerung des Ausnahmezustandes wurde im
Parlament nahezu einstimmig beschlossen. Keiner der
zehn Abgeordneten der Front de Gauche (von der KP und
BündnispartnerInnen von Ensemble) hat dagegen gestimmt. Die Linkspartei (PG) hat sich gegen die Verlängerung ausgesprochen, mit dem Argument, dass die Republik dies für ihre Verteidigung nicht bräuchte, wohingegen
die [sechs] sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten, [die mit Nein gestimmt haben], sehr geschraubte
Erklärungen abgegeben haben. Sie sind offen als Abweichler aufgetreten und haben sogar die Kundgebung vom
22. November unterstützt. [...] Außerdem haben die CGT
auf Druck ihrer Basis – besonders in Paris – und die Unef
[Studierendenverband] sich dagegen ausgesprochen. Damit
gibt es wichtige Anknüpfungspunkte, um eine Opposition
gegen den Ausnahmezustand zu formieren.
Das zeigt, wie weit inzwischen der Burgfrieden greift,
nämlich weit in die Reihen der Front de Gauche hinein.
Zugleich wird klar, dass es nicht leicht sein wird, in der
kommenden Zeit ein gemeinsames Vorgehen hinzu­
bekommen. Es zeigt aber auch, dass weite Teile der Basis
von Organisationen links der PS mit dieser Politik nicht
einverstanden sind. Ensemble hat sich dann auch gegen
den Ausnahmezustand ausgesprochen, trotz des Votums
der ihm nahe stehenden Abgeordneten. An diese Strömungen müssen wir uns unbedingt wenden, um die
Widersprüche auszunutzen und gegebenenfalls Absetzbewegungen zu beeinflussen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir hervorheben, dass
die Regierung die Sicherheitsmaßnahmen nicht dafür
instrumentalisieren darf, die Opposition aus den Reihen
der Verbände, Gewerkschaften und politischen Organisationen zu den sozialen, politischen und ökologischen
Themen mundtot zu machen. Wir müssen unser Demonstrationsrecht durchsetzen und den Ausnahmezustand ganz
konkret kritisieren, angefangen bei der sprunghaften
Zunahme der Hausdurchsuchungen ohne richterlichen
Beschluss.
Da der Ausnahmezustand um drei Monate verlängert
und das Demonstrationsverbot in der Pariser Region bis
zum 30. November erklärt wurde, ist es von zentraler
Bedeutung, zu versuchen, hiergegen unsere Klasse zu
mobilisieren. Die Regierung Valls/Hollande nutzt die
Betroffenheit und das Sicherheitsbegehren der Bevölkerung, um unmittelbar die Gegenwehr der Lohnabhängigen zu erschweren, just zu einem Zeitpunkt, wo sich in
den zahlreichen Solidaritätsbekundungen anlässlich des
„zerrissenen Hemdes“ des Personaldirektors bei Air France
gezeigt hat, dass sich in der ArbeiterInnenklasse Wut
angestaut hat, die zu einer gewissen Hoffnung auf eine
Belebung des Widerstands gegen Unternehmer und
Regierung berechtigt. Insofern kann sich der Kampf gegen
den Ausnahmezustand nicht nur auf die ideologische
Positionierung beschränken. Sich gegen den Ausnahmezustand zu wenden, bedeutet auch und vor allem, aktiv
dessen Auswirkungen zu bekämpfen, vor allem was das
Demonstrationsverbot angeht.
2.2 Vor diesem Hintergrund gilt es, den Klassenkampf
wieder zum vorrangigen Thema zu machen, da UnternehInprekorr 1/2016 27
Fr ankreich
mer und Regierung ihre Politik des Sozialabbaus fortsetzen. Diejenigen, die uns den Ausnahmezustand aufzwingen oder beifällig nicken, sind dieselben, die gegen das
Arbeitsgesetz, die GewerkschafterInnen und die soziale
Bewegung im Ganzen kämpfen. Keine dieser die Freiheit
beschneidenden Sicherheitsmaßnahmen wird verhindern,
dass der IS weiterhin unter der Jugend rekrutiert, denn
diese Maßnahmen torpedieren jedwede Sozialpolitik.
Insofern müssen die NPA und die gesamte Arbeiterbewegung für die sozialen, demokratischen und ökologischen
Forderungen eintreten. Keinesfalls lassen wir uns das
Recht nehmen, gegen die Unternehmergewalt zu kämpfen, gegen Arbeitsplatzabbau, Entlassungen, Aushöhlung
des Arbeitsrechts und Austeritätspolitik.
Zunächst einmal waren die Mobilisierungen und
Streiks suspendiert worden. Inzwischen aber gehen die
Streiks in verschiedenen Bereichen wie etwa bei Air
France weiter, wo trotz der Absage des Streiktags vom
19. November die Mobilisierungen weitergehen. Zudem
ist bereits für den 2. Dezember ein landesweiter Aktionstag
angekündigt. Dabei müssen wir das Eintreten verschiedener Gewerkschaften und nachfolgend der CGT gegen den
sozialen Burgfrieden und den Krieg nutzen, denn dieser
Aktionstag (am 2. Dezember) könnte dazu dienen, den
Forderungen der gesamten ArbeiterInnenbewegung
Gehör zu verschaffen und gegen den Kriegs- und Repressionskurs der Regierung Front zu machen.
2.3 In den Tagen nach den Terroranschlägen von Paris
gab es viele Angriffe auf Moscheen und Moslems sowie
antisemitische Gewalttaten. In mehreren französischen
Städten haben sich Rechtsextremisten unter die Versammlungen gemischt. [...] Die Hardliner unter den französischen und europäischen Politikern haben Flüchtlinge mit
Terroristen gleichgesetzt und die Schließung der Binnengrenzen gefordert. Die Moderateren mit Hollande an der
Spitze pochen auf schärfere Kontrollen und Registrierungszentren zwecks Aussortierung an den Grenzen. Dies
macht ein offensives und einheitliches Vorgehen gegen
Rassismus und für die Solidarität mit den Flüchtlingen
erforderlich.
Eine der Folgen der Attentate besteht in einer Zunahme des Rassismus und dies just wenige Wochen vor den
Regionalwahlen, in denen Marine Le Pen schon jetzt als
die große Gewinnerin dieser Wahlen angekündigt wird,
was einfach nur widerlich sein wird.
Dabei waren die meisten Selbstmordattentäter vom
13. November Franzosen oder Belgier und keine Syrer
28 Inprekorr 1/2016
oder Iraker. Insofern weisen die Attentate nicht darauf hin,
dass der IS seine Kämpfer einfach hierher schickt, sondern
weitgehend darauf, dass einige wenige Jugendliche in den
Dschihadismus abrutschen, weil er ihnen als Ausweg
erscheint. Ihr Abgleiten in Kriminalität und Selbstmord
gründet in einem reichen Nährboden, der politisch durch
zunehmende soziale Ungerechtigkeit, Ausgrenzung,
Rassismus, Diskriminierungen und Islamophobie bereitet
wurde. Folglich werden die Bombardements der IS-Stellungen dieses Problem auch nicht lösen.
3
Gegen den imperialistischen Krieg! Rückzug der
französischen Truppen aus Afrika und dem Nahen
Osten!
3.1 Seit Anfang dieses Jahrhunderts ist der französische
Staat immer tiefer in die imperialistischen Interventionen
im Nahen Osten und in Afrika verstrickt und seit dem
Regierungsantritt von Hollande sogar mit zunehmender
Tendenz.
Im gesamten Nahen Osten sind die umfassende Krise
des globalen Kapitalismus und der herrschenden Regime
sowie das Scheitern der imperialistischen Interventionen
für das gegenwärtige Chaos verantwortlich. Auf direktem
oder indirektem Wege haben die imperialistischen Mächte
und ihre Verbündeten vor Ort einstmals all diese terroristischen Gruppen bewaffnet und trainiert, um sie für ihre
Interessen zu instrumentalisieren.
In dieses Schema fügt sich auch die vorbehaltslose
Unterstützung Frankreichs für die ultrarechte Politik
Israels während des Gaza-Kriegs von 2014 oder die
Waffenlieferungen an die Ölmonarchien am Persischen
Golf und besonders an Saudi Arabien, die auch sämtlich als
Investoren in Frankreich willkommen sind, während
zugleich die Saudis und Katar den IS finanziert haben, um
das Bündnis zwischen Irak und Iran zu destabilisieren. Das
gleiche gilt auch für das Erdogan-Regime in der Türkei,
das den IS über den Ankauf von Erdöl finanziert und
ungestraft die Kurden bombardiert, die in Syrien mit der
Waffe in der Hand gegen den IS kämpfen. Und nicht
zuletzt für die unerschütterliche Unterstützung der
russischen Regierung für das (mit dem iranischen Regime
verbandelte) Assad-Regime und die in Tschetschenien
erprobte Expertise von Putin bei der Unterdrückung der
Bevölkerung. Das Ziel der Imperialisten dabei ist, ein
neues Gleichgewicht auf reaktionärer Grundlage herzustellen, nachdem die Regime im Gefolge des arabischen
Frühlings destabilisiert worden sind.
Fr ankreich
3.2 Lassen wir uns nicht in falsche Gefechte verstricken! Es gibt keinen „Kampf der Kulturen“, sondern
abscheuliche Attentate angesichts genauso abscheulicher
Militärinterventionen. Unsere Antwort kann einzig in der
Einheit der Unterdrückten und Ausgebeuteten bestehen,
über alle Grenzen und Konfessionen hinweg und gegen
die gerichtet, die gegen uns einen regelrechten sozialen
Krieg führen und dann von „gemeinsamen Interessen“
sprechen.
Imperialistische und militärische Interventionen
verschlimmern die Lage nur, wie die Ereignisse vom 13.
November auf tragische Weise gezeigt haben. Die Krise, die
den Nahen Osten durchzieht, kann nur beendet werden,
wenn die imperialistischen Truppen abgezogen werden,
„unsere befreundeten“ reaktionären Regimes wie die
saudische Monarchie oder die ägyptische Diktatur gestürzt
werden und die Rechte der PalästinenserInnen durch ein
Ende der Besatzung des Westjordanlandes und Gazastreifens durch den zionistischen Staat anerkannt werden.
Der IS ist hingegen seinem Wesen nach ein Instrument,
das die Hoffnungen der Völker, die diese mit den Aufständen im arabischen Raum verbunden haben, zerschlagen
will. Daher stellen wir uns gegen die imperialistische
Kriegslogik und fordern die konkrete internationale
Solidarität mit der dortigen Bevölkerung, die alltäglich
gegen den IS sowie gegen Assad kämpft. Dies beinhaltet
auch die Lieferung von – auch militärischen – Mitteln, die
deren demokratische und nicht-konfessionsgebundene Organisationen brauchen, statt stellvertretend für sie zu
handeln, was immer mit schwerwiegenden Konsequenzen
verbunden ist. Wir fordern auch die Streichung der PKK
von der Liste der terroristischen Organisationen und das
Ende der Unterdrückung der kurdischen Organisationen
durch den türkischen Staat, einen Verbündeten Frankreichs. Und wir betonen die elementare Pflicht, der
verfolgten Bevölkerung aus Syrien und dem Irak Schutz
und Asylrecht in Europa zu gewähren.
3.3 Im Unterschied zum Januar stützt sich der gegenwärtige politische Schwenk der Regierung nicht auf humanistische Regungen wie damals über die Parole: „Je suis
Charlie“, sondern auf Angst. Hier hat das Vorgehen der
Regierung nichts anderes anzubieten als Krieg und
staatliche Repression und gleicht damit der Regierung
Bush nach dem 11. September. Hollande beteuert, dass
„wir im Krieg sind“, und ist zugleich nicht in der Lage,
dessen Strategie und Ziele festzulegen. Insofern auch ist die
„nationale Einheit“ zerbrechlicher als im Januar. In diesem
Zusammenhang und nach der Geiselnahme in Bamako
steht uns eine weitere Verschärfung der militärischen
Interventionspolitik Frankreichs bevor und es ist nicht
auszuschließen, dass es dagegen zu wachsendem Widerstand kommt. Allerdings ist ausgemacht, dass eine jegliche
Anti-Kriegs-Bewegung grundlegend verschieden von
denen sein wird, die wir Anfang des Jahrhunderts hatten,
da sie in einem Kontext stattfinden würde, in dem Wirtschaftskrise, staatliche Repression und Aufschwung der
extremen Rechten zusammenkommen und folglich die
Polarisierung zunimmt. Aus diesem Grund kommt uns
dabei als AntikapitalistInnen und RevolutionärInnen eine
besondere Verantwortung zu. In dem Maß, wie die Kosten
und Kollateralschäden der von Hollande verfolgten Politik
zunehmen, können unsere Ideen bei einer Bevölkerung
auf Zuspruch stoßen, die um ihre eigene Existenz bangt
und um die ihrer Nächsten, und die möglicherweise nach
und nach begreift, dass die einzige „realistische“ Chance,
die Gewaltspirale zu unterbrechen, darin liegt, die
militärischen Interventionen zu beenden. Besonders unter
der Jugend kann dies passieren.
4
Schlussfolgerung
Es ist dringend geboten, alle Aktiven sowie alle politischen
und sozialen Organisationen zusammenzuschließen, die
gegen Burgfriedenspolitik, Ausnahmezustand, Krieg und
Rassismus sind. Angesichts des Ausnahmezustands müssen
wir unsere Kräfte darauf konzentrieren, die demokratischen Rechte zu verteidigen und die sozialen Mobilisierungen aufrecht zu erhalten und voranzutreiben, statt sie
durch das Klima der Einschüchterung und des Krieges
mundtot machen und ersticken zu lassen. Die Antwort auf
den Terror des IS kann nur in der Solidarität und den
Kämpfen der unterdrückten Klassen bestehen, die ihre
sozialen und demokratischen Rechte verteidigen müssen,
und in der internationalen Solidarität mit den Völkern des
Nahen Ostens oder Afrikas. All diejenigen müssen jetzt
zusammenstehen, die militärisches Abenteurertum, Krieg
und imperialistische Interventionen genauso wie den
Ausbau des Polizeistaats ablehnen, damit die kapitalistische
Barbarei bekämpft werden kann, die die Barbarei des
Terrorismus und der religiösen Fundamentalismen gebiert.
21./22. November
Übersetzung: MiWe
�
Inprekorr 1/2016 29
ö ko lo g i e
COP 21 – viel Lärm um
nichts
Der Klimagipfel endete erwartungsgemäß
mit einem Abkommen. Gleichzeitig müssen
sich die kapitalismuskritischen Kräfte der
Ökologiebewegung in ihren Befürchtungen
bestätigt sehen.
Das Abkommen wird 2020 in Kraft treten, sofern es von
55 der Unterzeichnerländer des Rahmenübereinkommens
der Vereinten Nationen über Klimaänderungen
(UNFCCC) ratifiziert wird und diese 55 Länder mindestens für 55 % der weltweiten Treibhausgasemissionen
verantwortlich sind. Angesichts der in Paris vertretenen
Positionen dürfte diese zweifache Bedingung keine
Probleme aufwerfen, wobei die Nicht-Ratifikation des
Kyoto-Protokolls durch die USA allerdings gezeigt hat,
dass man gegen Überraschungen nie gefeit ist.
Diese Grundsätze kann man natürlich mühelos teilen,
aber der von den 195 Teilnehmerstaaten verabschiedete
Text liefert keine Gewähr, dass sie auch tatsächlich befolgt
werden. Vor allem aber bleibt er völlig vage, bis zu welchem Zeitpunkt die Klimaziele erreicht werden sollen.
Stattdessen begnügt man sich mit der Formulierung, dass
„die Parteien so schnell als möglich den Höhepunkt der
weltweiten Emissionen erreichen und anschließend zügig
und unter Auf bietung der bestmöglichen wissenschaftlichen Kenntnisse den Ausstoß reduzieren wollen, um in der
zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ein Gleichgewicht
zwischen den anthropogenen Emissionen und deren
Absorption durch die Kohlenstoffsenken zu erreichen“.
Auf welchem Niveau die Klimaerwärmung gehalten
werden kann, hängt freilich davon ab, in welchem Jahr der
Höhepunkt erreicht und in welchem jährlichen Rhythmus
anschließend die globalen Emissionen reduziert werden,
und wann genau zwischen 2050 und 2100 das Gleichgewicht zwischen den Emissionen und deren Absorption
erzielt wird.
„Weit unter 2 °C“ – wie soll das gehen?
Die Quadratur des Kreises
Das Abkommen setzt zum Ziel, die durchschnittliche
Klimaerwärmung auf „deutlich unter 2 °C im Vergleich
zum vorindustriellen Zeitalter zu halten und weitere
Anstrengungen zu unternehmen, den Anstieg sogar auf
1,5 °C zu begrenzen, da dies die Risiken des Klimawandels beträchtlich verringern würde“.
Daneben bekräftigt der Text, diese Ziele erreichen zu
wollen und dabei den Grundsatz der gemeinsamen, aber
unterschiedlichen Verantwortung zu beachten, ebenso wie
die Menschenrechte, das Recht auf Gesundheit und
Entwicklung, die Rechte der indigenen Völker, der
Behinderten und der Kinder, sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter unter gezielter Förderung der
Frauen und der generationenübergreifenden Solidarität.
Besonderen Stellenwert dabei hat, dass der „Übergang“
sowohl den betroffenen Beschäftigten als auch den
jeweiligen Möglichkeiten der einzelnen Länder „gerecht“
wird …
In seiner Rede vor der Vollversammlung der Konferenzteilnehmenden am 12. Dezember gab sich F. Hollande
erfreut darüber, dass es gelungen sei, „das zu vereinen,
was unvereinbar schien“, und einen Text zu verabschieden, der „zugleich ambitioniert und realistisch“ ist. „Uns
liegt das für unseren Planeten entscheidende Abkommen
vor“, schloss er. Zuvor hatte sich sein Außenminister
L. Fabius als Versammlungsleiter zu einem Ergebnis
beglückwünscht, das „das bestmögliche Gleichgewicht“
darstellt.
Das Rahmenübereinkommen der UNO stammt von
1992 und erzielte mit dem Kyoto-Protokoll ein mehr als
bescheidenes Ergebnis. Seit vielen Jahren bereits unterminiert die drohende Klimakatastrophe zunehmend die
Existenzberechtigung des Kapitalismus und die Glaubwürdigkeit seiner politischen Sachwalter. Heute schon ist
absehbar, dass wir auf der Grundlage der Vereinbarung
von Paris (COP 21) mit einer umfassenden Gegenoffensive
Daniel Tanuro
„„
30 Inprekorr 1/2016
ö ko lo g i e
zu rechnen haben, die glauben machen soll, dass das
System – entgegen allen bisherigen Aussagen – dazu in der
Lage ist, die von ihm geschaffene Katastrophe einzudämmen, und dass die verantwortlichen Regierungen die
Situation im Griff haben.
All diejenigen, die nicht daran glauben, dass es einen
grünen Kapitalismus geben kann und schon gar nicht, dass
das Klima gerettet werden kann, ohne den systemimmanenten Zwang zu immer mehr Wachstum infrage zu
stellen, müssen sich jetzt fragen, ob das Pariser Abkommen
„die Quadratur des Kreises“ vollbracht hat. Damit wollen
wir uns hier befassen und auf andere Aspekte wie die
Anpassungsmaßnahmen, die Unterstützung für die Länder
des Südens etc. an anderer Stelle eingehen.
Sind nun die notorisch griesgrämigen Pessimisten und
Ökosozialisten durch den Pariser Gipfel widerlegt? Die
Antwort lautet zu mindestens 80 %: „Nein“. Und zwar,
weil selbst nach den Angaben des Sekretariats der
UNFCCC nur knapp ein Fünftel des Wegs zurückgelegt
ist, um unter dem Zwei-Grad-Ziel zu bleiben, und selbst
das nur auf dem Papier. Wir können also nicht einmal
sagen, dass das Glas des COP 21 halb voll oder halb leer ist,
sondern es ist mindestens zu vier Fünfteln leer. Grundsätzlich geht die Klimakatastrophe weiter und der Beweis
dafür, dass sich Unvereinbares vereinbaren lässt, wurde
nicht erbracht.
Der Teufel steckt im Detail
Gegenstand der Verhandlungen sind einerseits das in Paris
verabschiedete Abkommen und andererseits die nationalen
„Klimaschutzpläne“, die sog. „angestrebten nationalen
Beiträge“ (INDC), die jedes Teilnehmerland verabschiedet und im Vorfeld des Gipfels dem Sekretariat der
UN-Klimarahmenkonvention mitgeteilt hat. Das Pariser
Abkommen gibt wohl als Ziel eine Erwärmung unter 2 °C
und möglichst nah an 1,5 °C vor, aber die bis 2025 oder
2030 angestrebten INDC sind sehr weit davon entfernt,
dieses Ziel zu erreichen. Nach einer überschlägigen
Einschätzung würden sie zusammen auf eine Erwärmung
von katastrophalen 3 °C hinauslaufen.
Dieser Widerspruch zwischen den Absichtserklärungen
des Abkommens und der Realität der nationalen Klimaschutzpläne ist kein Geheimnis. Die in Paris verabschiedete Resolution (und auch das eigentliche Abkommen)
halten „mit großer Besorgnis daran fest, dass die erheblichen Diskrepanzen dringend beseitigt werden müssen,
wobei auf der einen Seite der Kluft die Gesamtwirkung
der von den Teilnehmern versprochenen jährlichen
Treibhausgasreduktionen von heute bis 2020 steht und auf
der anderen Seite die errechnete Kurve der Gesamtemissionen, die mit dem Ziel vereinbar ist, den weltweiten
Anstieg der Durchschnittstemperatur auf deutlich unter
2 °C zu halten, sowie weitere Anstrengungen zu unternehmen, den Anstieg sogar auf 1,5 °C zu begrenzen.“
Mit diesen Diskrepanzen hat sich die beim Klimagipfel
in Durban ad hoc eingesetzte Arbeitsgruppe (Ad Hoc
Working Group on the Durban Platform for Enhanced
Action, ADP) befasst, die darüber befinden sollte, auf
welche Weise ein ehrgeizigeres Klimaziel zu erreichen sei.
Ihr detaillierter Bericht ging am 30. Oktober 2015 im
Rahmen der Konferenzvorbereitung an das Sekretariat der
UNFCCC.
Dieser Bericht vergleicht die zu den Stichdaten 2015
und 2030 aufgrund der gemäß INDC erreichten Gesamtemissionen anhand verschiedener Szenarien: einerseits
unter der Prämisse „business as usual“, andererseits entlang
unterschiedlich hoher Reduktionen der Gesamtemissionen, die laut Weltklimarat erforderlich sind, um die
Klimaerwärmung mit 66%iger Wahrscheinlichkeit und
geringstmöglichen Kosten unter 2 °C zu halten, die sog.
„least cost 2 °C scenarios“.
Die Autoren gehen dabei nach einer simplen Methode
vor: Sie nehmen die Emissionen unter „business as usual“
als Referenzszenario, bei dem das Zwei-Grad-Ziel mit 0 %
Wahrscheinlichkeit erreicht wird, und das „least cost 2 °C
scenario“ als Zielvorgabe, bei dem das Zwei-Grad-Ziel zu
100 % erreicht wird. Unter dieser Maßgabe drücken sie
dann die Summe der Emissionsminderungen, die durch
die INDC prognostiziert werden, als Prozentsatz des
Zwei-Grad-Ziels aus. Ihre Schlussfolgerung: Bei diesem
Vergleich vermindern die INDC die Differenz zwischen
den Emissionen der beiden Szenarien 2025 um 27 % und
2030 um 22 %. Dies bringt uns zu unserer Aussage, dass
„das Glas der COP 21 zu 80 % leer ist“.
Dabei ist noch nicht einmal auszuschließen, dass diese
80 % zu niedrig gegriffen sind. Denn die INDC müssten
eigentlich genauer unter die Lupe genommen werden, da
nicht auszuschließen ist, dass die Länder ihre Zahlen
auf blähen, um sich schönzureden. Solche Tricksereien gab
es schon mehrfach bei der Klimafrage. Es sei nur daran
erinnert, wie die EU-Mitgliedsstaaten die Emissionen
ihrer Schadstoffindustrien hochgerechnet haben, um so
möglichst viele Schadstoffzertifikate gratis zu bekommen,
die dann wieder mit Profit verkauft wurden. Allein der
Umstand, dass bei diesen Klimaschutzplänen so stark auf
die CO2-Absorption durch die Wälder oder auf die
Inprekorr 1/2016 31
ö ko lo g i e
relativen Emissionsminderungen gesetzt wird und recht
wenig auf die Nettoreduktionen, lässt aufhorchen. Dies
mögen aber Experten prüfen, wir befassen uns eher damit,
wie das Pariser Abkommen die Diskrepanzen zwischen
den Klimaschutzplänen und dem 1,5- bzw. 2-Grad-Ziel
überwinden will.
Rosstäuscherei …
Ich muss vorausschicken, dass ich einen Punkt in den
Berichten des Weltklimarats nicht verstehe: Wenn die Vorhersagen über den Klimawandel immer beunruhigender
ausfallen und die Veränderungen viel schneller ablaufen als
in den Modellszenarien errechnet, wie kommt es dann,
dass der Höhepunkt der globalen Treibhausgasemissionen,
der nicht überschritten werden darf, wenn die Erwärmung
mit 66%iger Wahrscheinlichkeit unter 2 °C bleiben soll,
zwischen dem 4. und 5. Bericht deutlich nach hinten
geschoben wurde? Im 4. Bericht hieß es noch, die globalen
Emissionen müssten spätestens 2015 ihren Höchstwert
erreicht haben, damit die Erwärmung nicht über 2 °C
steigt. Im 5. Bericht steht nun aber, das Zwei-Grad-Ziel
könne erreicht werden, wenn die globalen Emissionen
2020, 2025 oder sogar erst 2030 zu sinken beginnen – bei
den späteren dieser Termine allerdings um den Preis
zunehmender Probleme. Ich setze voraus, dass es den
Autoren nicht einfach darum geht, die Hoffnung am
Leben zu halten, sondern dass sie für diese Änderung eine
wissenschaftliche Erklärung haben. Nur kenne ich sie
nicht …
Wie dem auch sei: Nehmen wir an, der Höchstwert der
Emissionen zur Einhaltung von 2 °C oder 1,5 °C müsse
tatsächlich erst 2025 oder 2030 erreicht sein, und kommen
wir auf unsere Frage zurück: Wie will der Klimavertrag
von Paris die Kluft zwischen den angestrebten INDC und
dem Ziel einer Erwärmung, die „klar unter 2 °C“ bleibt,
schließen? Die Antwort findet sich im verabschiedeten
Text: indem die INDC alle fünf Jahre überprüft werden,
mit dem Ziel, sie laufend anzupassen. Diese Überprüfung
wird aber einzig vom guten Willen der Parteien abhängen:
Sie ist rechtlich nicht bindend, sieht keine Strafen vor usw.
Es ist schon starker Tobak, während das Haus in Flammen
steht, eine dermaßen schwache Regelung als historischen
Durchbruch zu präsentieren …
Eine der wichtigsten Fragen betrifft das Timing: Das
Abkommen von Paris wird 2020 in Kraft treten, und die
erste Überprüfung findet … 2023 statt. Zur Erinnerung:
Die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls erforderte acht
Jahre, wobei dieses Übereinkommen lediglich eine kleine
32 Inprekorr 1/2016
Zahl von Parteien betraf und nur lächerliche Emissionsreduktionen brachte. In zehn Jahren – die geopolitischen
Spannungen werden sich dann weiter verschärft haben – soll es 195 Ländern geschwind gelingen, sich über
80 % des Wegs, der bis zur Klimarettung noch vor ihnen
liegt, zu einigen? Wer so denkt, spielt russisches Roulette
mit dem Schicksal von Hunderten Millionen Menschen
und mit den Ökosystemen. Der COP 21 gibt, gelinde
gesagt, keinen Anlass zur Revidierung der ökosozialistischen Analyse, er bestätigt sie vielmehr: Stößt das kapitalistische System an ökologische Grenzen, schiebt es das
Problem im Wesentlichen einfach vor sich her und macht
es dadurch immer komplexer und gefährlicher.
… und bewusste Ignoranz
Apropos „Gefahr“: Wer immer noch glaubt, am 12.
Dezember sei in Le Bourget ein Wunder geschehen, sollte
sich die zwei folgenden Fragen stellen:
„„ Wie kommt es, dass die Worte „fossile Brennstoffe“,
„Industrie“, „Kohle“, „Erdöl“, „Erdgas“, „Automobilindustrie“ und andere für dieses Thema entscheidende
Ausdrücke kein einziges Mal im Text von Paris auftauchen? Warum steht das Wort „Energie“ nur zweimal in
einem einzigen Satz, bei dem es um Afrika geht (und
einmal im Namen der Internationalen Energieagentur
IEA)?
„„ Und wie kommt es, dass die Ausdrücke „Energiewende“, „sparsamer Energieverbrauch“, „Recycling“, „Konversion“, „Gemeingüter“, „Dezentralisierung“ nie
verwendet werden? Dass „erneuerbare Energie“ nur ein
einziges Mal auftaucht, und zwar nur in Bezug auf die
„Entwicklungsländer“ („insbesondere Afrika“)? Dass
„Biodiversität“ nur einmal erscheint? Dass auch das
Konzept der „Klimagerechtigkeit“ nur an einer Stelle als
„für manche von Bedeutung“ erwähnt wird – im selben
pauschalen Abschnitt, in dem auch die Biodiversität und
die Wichtigkeit (ebenfalls „für manche“!) von Mutter Erde
erwähnt sind?
Diese Auslassungen sind kein Zufall, sondern Zeichen
einer klaren Ausrichtung, einer kapitalistischen Strategie
zur Beantwortung der Klimafrage. Offenbar sind die
Klimaleugner in der herrschenden Klasse nicht durchgedrungen, was auch gut so ist. Doch es wäre ein Irrtum,
nun erleichtert zu glauben, das Abkommen von Paris sei
ein „starkes Signal“, „setze den fossilen Brennstoffen ein
Ende“ oder markiere den Wendepunkt zu einem „gerechten Wandel“, wie manche behauptet haben. Die Verantwortlichen des Desasters – hauptsächlich der fossile
ö ko lo g i e
Energie- und der Kreditsektor – halten das Ruder nach
wie vor fest in der Hand.
Wende? Rolle seitwärts!
Gibt es eine Wende? Zweifellos! Auf höchster Ebene ist das
Bewusstsein gewachsen, dass die globale Klimaerwärmung
ohne wirksame Gegenmaßnahmen eine enorme, unübersehbare Gefahr für die Gesellschaft, deren Zusammenhalt
und die Wirtschaft darstellt (das Rundschreiben von Papst
Franziskus zeugt von diesem Phänomen). Wahrscheinlich
werden sich einige der kapitalistischen Entscheidungsträger nun nicht mehr damit zufriedengeben, den Klimagipfel nur als Deckmantel zu nutzen, um von der Katastrophe
abzulenken, die sich im Zuge ihrer politischen Sorglosigkeit seit dem Weltklimagipfel von 1992 anbahnt. Angesichts des Widerspruchs zwischen den INDC und den
erforderlichen Maßnahmen zur Begrenzung der Erwärmung auf maximal 2 °C werden sie versuchen, sich zu
einigen. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass ihnen
dies gelingen wird (um es euphemistisch auszudrücken), …
unter anderem, weil diese Wende sehr spät einsetzt, weil
das Kapital im fossilen Energiesektor den Fuß auf der
Bremse hat und die multipolare Welt von interimperialistischen Kämpfen zerrissen wird, ohne klare Führung …
Wichtig ist aber nicht nur das Ziel, sondern auch, wie
es erreicht werden soll. Das „least cost 2 °C scenario“, das
den Experten vorschwebt, beinhaltet nicht nur „sanfte
Energie“, sondern auch Kernenergie, fossile Brennstoffe
mit Kohlenstoffrückhaltung, Riesenstauseen [mit entsprechenden Folgen für Ökosysteme und Anwohner], und
Brennstoffe aus Biomasse mit Kohlenstoffrückgewinnung
(carbon recovery). Der 5. Bericht des Weltklimarats macht
deutlich: Ohne diese hier genannten Energieformen und
Verfahren ist die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels „nicht
rentabel“, die Kosten explodieren, die Profite sind bedroht!
Welch Sakrileg!
Unter den Technologien der Zauberlehrlinge steht die
Verbrennung von Biomasse mit Kohlenstoffrückgewinnung hoch im Kurs. Die Anhänger dieser Energieform
argumentieren, bei der Verbrennung der Biomasse werde
das beim Brennprozess entstehende CO2 zurückgehalten
und die neue Biomasse, die man zur Energiegewinnung
anbaue, nehme während ihres Wachstums CO2 aus der
Luft auf. So könne man nicht nur die Emissionen senken,
sondern auch den in der Atmosphäre angesammelten
CO2-Vorrat verringern. Eine unwiderlegbare Argumentation … doch der enorme Verbrauch an Biomasse, der
damit verbunden ist, hätte für die betroffenen Ökosysteme
und Bevölkerungen zerstörerische Folgen. Vor diesem
Hintergrund ist es zwar gut, dass der Pariser Vertrag
Weichen stellt, zum Beispiel mit der Ankündigung eines
weitreichenden „Mechanismus für nachhaltige Entwicklung“. Bei der Lektüre muss man aber feststellen, dass es
lediglich darum geht, den im Kyoto-Protokoll vorgesehenen „Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung“
so weit wie möglich auszubauen … dank dieses Projekts
können namentlich europäische Automobilkonzerne ihre
Emissionen „kompensieren“, indem sie im Süden in
„Wald“-Projekte investieren, auf Kosten der einheimischen Bevölkerung.
Das ist also der „realistische Plan“, den Hollande
während des medialen Höhepunkts des Gipfels erwähnt
hat. Hier zeigt sich das wahre Gesicht von dem, was immer
noch einige als Weg zu einem „grünen Kapitalismus“
begrüßen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Was
unter dem Namen der „nachhaltigen Entwicklung“
geschieht, ist antiökologisch und antisozial, kann das
Klima nicht retten und wird mit immer mehr Repression
verbunden sein, um Widerstände zu brechen und die
Opposition zum Schweigen zu bringen. Der unter dem
Vorwand der Terrorismusbekämpfung ausgerufene
polizeiliche Notstand ist alles in allem sehr aufschlussreich
in Bezug auf gewisse versteckte Tendenzen dieser Klimakonferenz …
Übersetzung: A. W. und MiWe
�
Inprekorr 1/2016 33
Ö ko n o m i e
Automobilindustrie –
same procedure …
Das Ausmaß des Skandals bei VW, eines der Weltmarktführer, lässt sich an
der Bedeutung dieses Industriezweigs messen, sowohl in Hinblick auf das dort
investierte Kapital und die Zahl der weltweit Beschäftigten als auch der Folgen
dieses Transportmittels für Städtebau und Umwelt. Niemals zuvor sind weltweit
so viele Autos produziert und zugelassen worden wie 2015.
Jean-Claude Vessillier
„„
Der bei VW aufgedeckte Betrug, der
längst nicht nur diesen Konzern betrifft, fällt auf den
gesamten Industriezweig zurück, in dem eine Handvoll
Konzerne seit den 70er Jahren den gesamten Weltmarkt
beherrschen. Nach dem heftigsten Einbruch, den diese
Industrie 2008/9 seit der Weltwirtschaftskrise von 1929
erlebt hat, tobt die Konkurrenz umso schärfer und am
meisten in den Ländern, wo die Verkaufszahlen, von
konjunkturellen Schwankungen abgesehen, stagnieren,
nämlich in Nordamerika, Europa und Japan.
Der Betrug von VW ist typisch für die kapitalistische
Industrie und deren Haltung gegenüber den Beschäftigten
wie auch der Bevölkerung, die gezwungen ist, den Dreck
einzuschnaufen. Der aufgedeckte Skandal enthüllt gegenüber breitesten Bevölkerungskreisen die umweltzerstörerischen Praktiken kapitalistischer Unternehmen, das
dahinter stehende Profitstreben schlägt sich in erster Linie
jedoch in der Ausbeutung der Arbeitskraft nieder. Die
Transformationsprozesse in den Fabriken, Werkstätten und
Entwicklungsabteilungen unter dem Vorzeichen der „Lean
Production“1 zielen auf die Beschäftigten und ihre in den
Jahrzehnten davor erkämpften Rechte. Eine Kritik an den
desaströsen Folgen der Automobilindustrie sollte diese
34 Inprekorr 1/2016
beiden Aspekte im Visier haben, um das gesamte kritische
Potential der sozialen Bewegungen auszuschöpfen.
Der Rubel rollt wieder …
Vor sechs Jahren mussten zwei der drei großen Automobilkonzerne der USA (GM und Chrysler) im Rahmen des
US-Insolvenzrechts unter die staatlichen Fittiche schlupfen und die beiden französischen Hersteller PSA und
Renault vermeldeten Defizite von 1,16 bzw. 1,5 Mrd.
Euro. Bis 2015 hatten sich die Profite durchgängig bei
allen Herstellern erholt und wurden erst wieder mit dem
Wachstumsknick in China und dem VW-Skandal getrübt.
Zuvor war Europa zur Achillesferse im weltweiten Absatz
der Automobilindustrie nach der Krise von 2008 geworden, aber zuletzt hatten sich die Produktions- und
Verkaufsziffern auch dort spürbar erhöht, jedoch im
Unterschied zu den übrigen Kontinenten nie wieder das
Vorkrisenniveau erreicht. Wurden 2007 noch 16 Millionen Neufahrzeuge in Europa verkauft, waren es 2014
gerade mal 12,5 Millionen. Mit anderen Worten: Einem
Anstieg des weltweiten Absatzes um 20 % zwischen 2007
und 2014 stand ein Rückgang der Verkaufsziffern um
20 % in Europa gegenüber.
Ö ko n o m i e
Während Produktion und Absatz der Automobile der
Globalisierung unterliegen, dominieren noch immer
dieselben US-amerikanischen, europäischen und japanischen Hersteller und streichen die weltweit entstehenden
Gewinne ein. Innerhalb dieser weltweiten Umwälzungen
vollziehen sich weitere Konzentrationsprozesse auf
Kapitalseite. Seit 2008 ist China zum weltgrößten Produzenten aufgestiegen. Die dort gefertigten Autos werden
vorwiegend im Inland verkauft, was China zum größten
Absatzmarkt macht.
Die durchgängige Erholung der Profite ist einerseits
Folge der weltweit gestiegenen Absätze, und beruht
andererseits auf den Umstrukturierungsmaßnahmen in
den klassischen Herstellerländern.
Die Vernichtung von Produktionskapazitäten in der
Nachkrisenzeit durch Werksschließungen und Arbeitsplatzvernichtung erwies sich vom Standpunkt der Kapitalisten als durchaus rational, da anschließend ihre Profite
wieder stiegen. Hier zeigt sich jedoch, dass Helmut
Schmidts Theorem, wonach „die Profite von heute die
Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von
übermorgen“ seien, eine Mär ist, namentlich für die
Autoindustrie. Deren gestiegene Profite fließen zunächst in
den Dividendentopf der Aktionäre, dann in die neuen
Absatzmärkte und zuletzt in die „eigenen“ Länder. Und
wenn dort investiert wird, dann in Modernisierungen, in
denen die menschliche Arbeitskraft durch immer weiter
vernetzte Maschinen ersetzt wird. Da die vorhandene
Arbeit nicht auf alle Hände verteilt wird, führen die
geringen Investitionen in die europäische Autoindustrie
nur zur Vernichtung von Arbeitsplätzen – so die heutige
Realität in Westeuropa.
… dank immer subtilerer Manöver
Die Phase, in der Werke umstandslos liquidiert wurden
und jeder Hersteller in Europa mit Ausnahme von VW
mindestens eine Fabrik mit mehreren Tausend Beschäftigten geschlossen hat, neigt sich inzwischen dem Ende zu
– nicht aber die Unternehmerangriffe. Die noch vorhandenen Belegschaften in den Autofabriken, die noch immer
zu den weltweit am stärksten geballten gehören, unterliegen immer neuen Zergliederungsprozessen. In ein und
denselben Werken finden sich immer mehr Beschäftigte
mit unterschiedlichem Status und Lohn.
Vorreiter waren die USA. Nach Angaben der dortigen
Automobilarbeitergewerkschaft UAW haben nur noch 10 %
der Beschäftigten in den Big Three – GM, Ford und
Chrysler – denselben Status und einen Durchschnittslohn
von 29 Dollar wie vor der Krise 2007. Die seither auf
denselben Arbeitsplätzen neu eingestellten verdienen gerade
noch zwischen 16 und 20 Dollar pro Stunde und machen
inzwischen die Hälfte dieser Belegschaften aus. Die Zahl
der nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten (weil
in nicht tarifgebundenen Werken tätig) liegt mittlerweile
bei 81 % der Gesamtheit aller Automobilarbeiter.2
Die „Normalität“ in den USA wird inzwischen dadurch
bestimmt, dass die Zuliefererfirmen mit traditionell sehr
geringem Organisationsgrad zahlenmäßig immer stärker ins
Gewicht fallen und Standortverlagerungen der Fabriken
vorgenommen werden, vornehmlich von Nissan, Mercedes
und VW. Diese Konzerne lassen sich in den Bundesstaaten
nieder, wo die gesetzlichen Regelungen am stärksten
zuungunsten der Lohnabhängigen ausfallen und folglich die
Löhne um die 15 Dollar liegen und damit nicht einmal halb
so hoch wie in der historischen Automobilstadt Detroit. In
25 US-Bundesstaaten gilt das „Right-to-work law”, das die
gewerkschaftliche Organisierung einschränkt, indem die
automatische Mitgliedschaft bei Einstellung unterbunden
wird und die Errichtung einer Gewerkschaft in einer Fabrik
von der mehrheitlichen Zustimmung der Belegschaft
abhängig gemacht wird. Eine solche Regelung öffnet
natürlich der Unternehmerwillkür Tür und Tor, da sie
entsprechenden Druck ausüben können. Und die Automobilkonzerne wie VW oder Nissan betätigen sich als die
Vorreiter in dieser Abwärtsspirale, in der die Rechte und der
Schutz der Belegschaften immer weiter ausgehöhlt werden.
In Europa greifen die Konzerne mittlerweile auf
dieselben Methoden zurück und zergliedern die Belegschaften oder umgehen die Gewerkschaften, sofern diese
die „Umstrukturierungen“ nicht mittragen. Die Nutzung
von Werkverträgen oder der Einsatz von Leiharbeitern
(mit weniger Rechten und Lohn) ist zur Regel geworden
und in Zeiten normaler Auftragslage stellen diese nicht
selten das Gros an den Fließbändern. Der Unternehmerwillkür sind sie besonders ausgesetzt und, brechen die
Aufträge ein, werden sie als Erste rausgeworfen. Obwohl
sie als Fließbandarbeiter besonders davon betroffen sind,
dürfen sie nicht an den „Belegschaftsentscheiden“ teilnehmen, auf die sich die Unternehmer neuerdings so gerne
stützen. Durch diese Trickserei der Unternehmer werden
die Abstimmungsergebnisse verfälscht, da leitende Angestellte und Techniker überproportional vertreten sind.
Die Fiat-Werke in Mirafiori (Turin) waren die ersten,
die diese Praxis in großem Maßstab angewandt haben. In
dieser historischen Fiat-Hochburg ließ Fiat-Chef Marchionne im Dezember 2011 auf diesem Weg einen neuen
Inprekorr 1/2016 35
Ö ko n o m i e
Arbeitsvertrag absegnen, der drastische Verschärfungen der
Arbeitsbedingungen und den Ausschluss der FIOM aus
dem Betriebsrat beinhaltete, weil sich der Metallerverband
der Mehrheitsgewerkschaft CGIL dem Diktat widersetzte.
Die knappe Zustimmung von 54 % zu den Vorstandsplänen kam nur dank der leitenden Angestellten und des
Büropersonals zustande, während die Bandarbeiter
mehrheitlich dagegen waren.
Derselbe Schwindel wurde kürzlich im lothringischen
Smart-Werk in Hambach/Mosel durchgeführt, wo auf
Antrag der Unternehmensleitung die Mehrheit der
Beschäftigten eine Verlängerung der Arbeitszeit mit
unterproportionaler Anhebung der Löhne akzeptierte. Die
in der Produktion Beschäftigten, für die dieser neue
Vertrag verbindlich gilt, waren zu 61 % dagegen, während
die mittleren und leitenden Angestellten, die individuell
den ihnen vorgelegten Änderungsvertrag ablehnen
können, zu 74 % dafür stimmten. Auch hier blieben die
Leiharbeiter – obwohl genauso betroffen – bei der Abstimmung außen vor.3
Bei Renault stellen die Leiharbeiter inzwischen fast
40 % der insgesamt 20.000 in der Produktion Beschäftigten in Frankreich dar, in einzelnen Werken wie Flins und
Sandouville sogar bis zu 80 %. Damit bilden sie ein
permanentes Druckmittel in der Hand der Unternehmer,
die Belegschaften zu spalten, sämtliche Gewerkschaften zu
schwächen und sämtliche Tarifrechte und Unternehmensvereinbarungen, die für die unbefristet Beschäftigten
gelten, zu umgehen. Damit soll der Personalabbau von
einer Zersplitterung der aktiven Belegschaften flankiert
werden, weil diese gerade in der Automobilindustrie in der
Vergangenheit den Widerstand gegen die Unternehmerwillkür organisiert haben.
Le Monde schrieb anlässlich des VW-Skandals auf der
Titelseite über das Klima der Angst, das in dem Konzern
herrscht – eine späte, aber wahre Erkenntnis. Denn
immerhin gehen sämtliche Modernisierungen im Sinne
der „Lean Production“ einher mit Unternehmerwillkür
und systematischer Kontrolle aller Belegschaftsangehörigen, um so auch die kleinsten Arbeitsabläufe zeitlich zu
erfassen und zu beschleunigen.
Schon lange versteht sich VW darauf, die Gesetze und
Auflagen zu umgehen, die den Unternehmerprofiten
hinderlich sind. Dortiger Personalchef war einst Peter
Hartz, Stichwortgeber von Kanzler Schröder in Sachen
Sozialabbau und Namenspatron der berüchtigten HartzGesetze. Unter ihm entstand die Tochtergesellschaft „Auto
5000“, wo 5000 Arbeiter zu 5000 DM Bruttoentgelt – also
36 Inprekorr 1/2016
20 % unter Tarif – bei zugleich längerer Arbeitszeit eingestellt wurden. Rekrutiert wurden die Beschäftigten über
Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit.
Parallel dazu wurden Flexibilisierungsmaßnahmen im
gesamten Konzern durchgeführt. Zwar galt weiterhin die
35-Stundenwoche im Jahresdurchschnitt, aber die Tagesarbeitszeit wurde den jeweiligen Betriebsabläufen angepasst. Neu Eingestellte können auf eine Wochenarbeitszeit
bis zu 42 Stunden verpflichtet werden. Festgelegt wurde
ein „Zeitkorridor“ von 26 bis 33 statt wie bisher 28,8
Wochenarbeitsstunden, und zwar ohne finanzielle Entschädigung für diese Flexibilisierung und auch ohne
Zuschläge für die Stunden 35 bis 40. Zu Beginn dieses
Jahrhunderts wurden 20 000 Arbeitsplätze abgebaut,
darunter 7 800 in Deutschland, und 13 000 Beschäftigte in
Vorruhestand geschickt. So sieht die Wirklichkeit des
vermeintlichen Sozialmodells VW aus.
Daneben gibt es auch die Niederungen des Alltags, in
denen sich der tugendhafte Konzern der Korruption
bedient. So wurde Peter Hartz im Januar 2006 wegen
Bestechung zu zwei Jahren auf Bewährung und 576 000
Euro Geldstrafe verurteilt. Er hatte gestanden, zwischen
1995 und 2005 Mitgliedern des Betriebsrats fast 2 Millionen Euro an Sonderprämien zugewendet zu haben, um
„Parties, Prostituierte und Reisen für die Vertreter des
Personals zu finanzieren“. Hartz hatte damals erklärt, den
Sozialfrieden sichern zu wollen. So sieht die westeuropäische „Softversion“ von Korruption aus.
Sehr viel heftiger steht es um die Repression in Brasilien, für die VW als Mittäter verantwortlich ist. Am
22. September 2015 haben mehrere Gewerkschafts- und
Menschenrechtsorganisationen sowie Opferverbände
Klage gegen den deutschen Automobilhersteller wegen
dessen Verwicklung in die Repression während der
Militärdiktatur von 1964 bis 1985 eingereicht. Der
Vorwurf lautet, dass mehrere Werksangehörige in dieser
blutigen Ära unter der Aufsicht und Beteiligung des
Sicherheitspersonals im Werk verhaftet und verprügelt
worden sind. Außerdem habe VW mutmaßliche Oppositionelle entlassen, schwarze Listen geführt und die Repressionsorgane der Diktatur mit Informationen über die
Belegschaft versorgt. Die Klage stützt sich auf Archive und
Zeugenaussagen von Opfern bei der Wahrheitskommission, die 2012 zur Untersuchung der während der Diktatur
begangenen Verbrechen eingerichtet worden ist.
Mag VW momentan im Rampenlicht stehen, so ist es
beispielsweise um Renault-Nissan unter dem Vorstandsvorsitzenden Ghosn nicht viel besser bestellt, wie die
Ö ko n o m i e
Aussagen von Beschäftigten im Nissan-Zweigwerk von
Canton in Mississipi belegen. Die dort Beschäftigten, die
zu 87 % Schwarze sind, arbeiten unter denselben Bedingungen, wie sie in Indien oder Bangladesch angeprangert
werden. „Wir arbeiten an sechs, manche gar an sieben
Tagen die Woche über zehn, zwölf Stunden. Die dort
herrschenden prekären Bedingungen haben zu zahlreichen
Arbeitsunfällen geführt.“ Die Werksleitung nutzt die
ganzen einschlägigen Gesetze des Bundesstaates aus, um
die Bildung einer Gewerkschaft zu verhindern und die
Beschäftigten einzuschüchtern.4
Oberwasser für die Zulieferindustrie
Die Zeiten sind vorbei, in denen in der Automobilindustrie
alle Arbeitsgänge von der Verarbeitung der Bleche über die
Motorenfertigung bis hin zur Innenausstattung an Ort und
Stelle geleistet wurden. Immer mehr geht die Produktion in
die Hände der Zulieferindustrie über, deren Anteil an der
Wertschöpfung zwischen 2000 und 2015 von 70 auf 80 %
hochgegangen ist. Der größte Batzen dabei kommt der
Elektronik zu, deren Anteil von gegenwärtig 30 % bis 2020
auf 50 % steigen dürfte.
Damit ist eine gewaltige weltweite Umstrukturierung
im Gange. Continental ist der weltweite zweitgrößte
Zulieferkonzern, während Bosch, der die Software für die
VW-Trickserei geliefert hat, seinen Umsatz zwischen 2007
und 2014 von 28 auf 40 Mrd. Euro gesteigert hat. Die drei
größten französischen Zulieferer – Valeo, Faurecia und
Plastic Omnium – agieren in derselben Liga und erzielen
Renditen, die in Europa höher als bei PSA und Renault
liegen. Valeo bspw. konnte seine Gewinnmargen zwischen
2007 und 2013 von 3,6 auf 6,6 % steigern. Dasselbe gilt auch
für die anderen weltweit tätigen, großen Zulieferer. In
dieser Schlacht um die gewinnträchtigsten Anteile bei der
Autoherstellung stehen die traditionellen Autokonzerne
inzwischen neuen Konkurrenten gegenüber, was zeigt, dass
sich die Kräfteverhältnisse zwischen Fahrzeugkonzernen
und Zulieferindustrie verschieben.
Dabei schneiden die Automobilkonzerne zunehmend
schlechter ab, was angesichts der über hundertjährigen
Tradition erstaunen mag. Ein Jahr vor dem VW-Skandal
musste GM weltweit 30 Millionen Fahrzeuge zurückrufen.
Davor hatte es Toyota, Chrysler und Nissan getroffen.
Durch den zunehmenden Einsatz von Auto-Elektronik und
immer komplexerer Software steigt das Pannen-Risiko.
Dieses Kräftemessen zwischen den Konzernen wirkt
sich auch auf die Organisation der Belegschaften aus. Die
ohnehin schon starke Konkurrenz zwischen den Beschäftig-
ten nimmt zu, da die Fertigungsprozesse auf immer mehr
Unternehmen und Fabriken mit jeweiligen Besonderheiten
und unterschiedlicher Größe verteilt werden und so auch
die Beschäftigten immer kleinere Einheiten bilden. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies in Frankreich und Italien, wo
die traditionelle Autoindustrie und gerade Renault und Fiat
ihre Fertigung besonders stark zurückgefahren haben.
Verschärfte Krise
Die wieder zunehmenden Profite bedeuten nicht, dass die
Automobilindustrie wieder in eine stabile Expansionsphase eingetreten ist. Die Autokonzerne stehen weiterhin vor
strukturellen Problemen und die jüngsten Skandale
zeigen, wie sehr in diesen unsicheren Zeiten um Marktanteile und Rentabilitätssteigerung gerungen wird. Auch
von anderer Seite weht ihnen der Wind entgegen: Die
vom Individualverkehr verursachten Umweltschäden
rufen wachsenden Widerstand in der Gesellschaft hervor,
der technologische Wandel lässt andere Branchen ihnen
die Butter vom Brot nehmen und zuletzt sind auch noch
die Arbeiter – hier und da auf der Welt – aufmüpfig.
Die weltweite Automobilerzeugung nimmt weiterhin
zu und v.a. setzt sich die weltweite Motorisierung durch mit
inzwischen fast einer Milliarde motorisierter Fahrzeuge.
Trotzdem können die Absatzsteigerungen in China und den
anderen Schwellenländern nicht auf Dauer die Sättigung der
Märkte in Nordamerika, Westeuropa und Japan kompensieren. Die kapitalistische Weltwirtschaft hat sich von der
systemischen Krise von 2008 (noch) nicht erholt und die
Schwellenländer befinden sich (noch) nicht wieder in einer
Aufschwungphase, die dauerhafte Absätze für die Autoindustrie gewährleisten könnte. Unter den BRICS-Staaten ist
seit 2014 und beschleunigt im ersten Halbjahr 2015 die
Autoproduktion in Russland um 27 % und in Brasilien um
18 % zurückgegangen. Auch China hat erstmals im dritten
Quartal 2015 rückläufige Produktionsziffern zu verzeichnen, was zwar vermutlich eher eine vorübergehende
Erscheinung ist, aber dennoch zeigt, dass die Autoindustrie
auch denselben Widersprüchen mit konjunkturellen
Schwankungen und einer Tendenz zur Überproduktion
unterliegt. Die Auslastung der chinesischen Autofabriken
lag in der Tat 2014 nur bei 85,6 % gegenüber 91,5 % in 2013.
Und für 2017 sind gar nur 72 % vorhergesagt, was der
gegenwärtigen Auslastungsquote in Europa entspricht.5
Der Absatz von Autos in den Schwellenländern stößt
auf ein zweifaches Hindernis: der wachsenden Ungleichheit in der Bevölkerung und den zunehmenden Problemen
aufgrund der Tendenz zur durchgängigen Motorisierung.
Inprekorr 1/2016 37
Ö ko n o m i e
China bspw. liegt mit 55 Millionen jährlich verkauften
Neufahrzeugen doppelt so hoch wie ganz Europa und ist
insofern für die dort stark vertretenen westlichen Produzenten ein ganz wesentlicher Absatzmarkt. Trotzdem kann
sich dort nur die Minderheit der Reichen ein Auto leisten,
so dass mit 109 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner und
prognostizierten 160 für das Jahr 2020 die Quote weit
unterhalb von Europa (500) oder Nordamerika (600) liegt.
Ein mit den Industrieländern vergleichbarer Motorisierungsgrad wäre schlichtweg unerträglich, sowohl was das
Weltklima angeht als auch für die Gesundheit der dortigen
Bevölkerung, die mehrheitlich sich zwar kein Auto leisten
kann, aber dennoch der massiven Luftverschmutzung
ausgesetzt ist. Nach Angaben von The Lancet sind 1,2
Millionen Menschen in China 2010 an den Folgen der
Luftverschmutzung verstorben, was fast 40 % der weltweit
aus diesem Grund vorzeitig Verstorbenen entspricht.
Deshalb wird der Autoerwerb in sechs der 15 größten
Städte Chinas inzwischen behördlich quotiert (Shanghai,
Peking, Kanton, Hangzhou, Tianjin, Shenzhen). Die
Zulassungsschilder in diesen Städten werden zu einem
Preis versteigert, der schlussendlich der Kaufsumme eines
Neuwagens entspricht – ungefähr 12 000 Dollar in
Shanghai. Trotzdem nimmt die Luftverschmutzung weiter
zu. Ein PSA-Manager fasst dies in folgende Worte: „Wir
haben noch drei, vier fette Jahre vor uns.“6 Das wiederum
macht verständlich, warum sich alle Autohersteller momentan so um den dortigen Markt reißen.
Daneben gilt, dass der Antagonismus zwischen Kapital
und Arbeit in allen Ländern die gleichen Widersprüche
hervorbringt, ob in China oder in den USA. Nach den
Streiks von 2010 in der chinesischen Automobilindustrie
sind soziale Bewegungen entstanden, die zwar weniger
spektakulär verlaufen, nichtsdestotrotz den Behörden
Lohnzugeständnisse abringen können. Seit 2010 sind die
Industrielöhne in China um jährlich etwa 20 % gewachsen.
Insofern verringert sich das Lohngefälle zwischen China
und den USA und liegt heute bei ca. 30 %.7 Hauptnutznießer der darauf folgenden Jagd nach Ländern mit billigeren
Löhnen sind momentan Indonesien und Indien.
Auch in den traditionellen Industrieländern stoßen die
Unternehmerangriffe auf neuen Widerstand. In den USA,
der Heimat des Fordismus, haben die drei großen Autokonzerne im Herbst 2015 Tarifverhandlungen mit der
UAW als der einzigen landesweit zugelassenen Gewerkschaft geführt. Die erste Runde fand bei Chrysler statt, der
heutigen FCA (Fiat Chrysler Automobile) unter Kontrolle
von Fiat und seinem Boss Marchionne. Der erste Entwurf
38 Inprekorr 1/2016
wurde mehrheitlich von den insgesamt 40 000 Gesamtbeschäftigten in der Urabstimmung abgelehnt, indem 65 %
der Organisierten gegen die Empfehlung der UAW mit
Nein gestimmt haben. Im größten Werk in Toledo/Ohio
stimmten sogar 87 % unter den 5 000 abstimmenden
ArbeiterInnen dagegen. Der Hauptgrund für die Ablehnung war, dass entgegen den Versprechungen der UAW das
Zweistufensystem der Löhne (unterschieden nach Eintrittsdatum) in unveränderter Form beibehalten werden sollte.
Die zweite Vertragsversion wurde dann mit 77 % der
Stimmen – also noch immer gegen eine beträchtliche
Minderheit – angenommen, hauptsächlich weil darin eine
Angleichung der Löhne nach achtjähriger Betriebszugehörigkeit in Aussicht gestellt wurde.
Auch in Europa stößt die zunehmende Flexibilisierung
der Arbeit auf Widerstand, obwohl die anhaltende Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Beschäftigten eingesetzt
wird. Insbesondere wird als unerträglich empfunden, dass
die Löhne weit hinter den mittlerweile wieder anziehenden
Profiten zurückbleiben. Dabei stehen die Belegschaften vor
dem Problem, angesichts der zunehmenden Zersplitterung
durch den Einsatz von Werkverträgen und Leiharbeit ein
gemeinsames Vorgehen der Beschäftigten zu bewerkstelligen. Keinesfalls darf in der Autoindustrie mit einer Friedhofsruhe gerechnet werden.
Im Zuge der Globalisierung verstetigt sich die Strategie
der Autokonzerne, auf allen Kontinenten ihre Fahrzeuge
produzieren zu lassen und zu verkaufen. Durch den stagnierenden Markt in den klassischen Absatzländern wird dort
der Kampf um Marktanteile umso erbitterter geführt.
Folglich musste der VW-Konzern – dessen relativ schwache
Position auf dem US-Markt dem Bestreben, Weltmarktführer zu werden, entgegenstand – zu solchen Methoden
greifen, wie sie im September aufgedeckt wurden. Hierin
sind die Methoden des Kapitalismus nicht anders als im
Leistungssport, wo Doping als Hilfsmittel eingesetzt wird.
Auto und Klima
Der Beitrag motorisierter Fahrzeuge zu Umweltverschmutzung und Klimawandel ist bereits heute erheblich und wird
– angesichts ständig steigender Absatzzahlen – noch weiter
zunehmen. Dabei zeigen die jetzt aufgedeckten Betrugsmanöver, dass die von der Automobilindustrie behaupteten
Fortschritte in Benzinverbrauch und Schadstoffausstoß sehr
viel geringer sind als angekündigt. Tatsächlich steigt der
Anteil des Transportwesens an den CO2-Emissionen
ständig weiter, wie die in Europa verfügbaren Zahlen
zeigen. Der Anteil des Individualverkehrs hieran beträgt
Ö ko n o m i e
ungefähr die Hälfte des Gesamtausstoßes des Transportsektors und beläuft sich auf 12 % der Gesamtemissionen an
CO2 in der EU.
In Frankreich lag 2011 der Anteil des Transportsektors
am gesamten Endenergieverbrauch bei 32 % und an den
Treibhausgasemissionen bei 27 % und damit an erster Stelle.
Hauptverantwortlich dafür ist der Transport auf der Straße,
der in besagtem Zeitraum bei fast 94 % der insgesamt 132,5
Millionen Tonnen emittierten CO2-Äquivalenten lag. Der
Anteil der Inlandflüge zum Vergleich lag in diesem Zeitraum bei knapp über 3 %.
In Europa sind die Normen zur Festlegung der Grenzwerte für die Schadstoffemissionen motorisierter Fahrzeuge
vor über 20 Jahren (1993) festgelegt worden. Seither werden
sie zwar periodisch überarbeitet, aber natürlich nicht entlang
gesundheitswissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern
abhängig von den Möglichkeiten der Autokonzerne, diese
Normen in die Fahrzeugproduktion nach und nach zu
integrieren. Inzwischen sind wir bei der sechsten Version
dieser Abgasnorm angelangt, die den Ausstoß von Stickoxiden, Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe und Feinstäuben
regelt. Der CO2-Ausstoß hingegen, der als Treibhausgas für
die Klimaerwärmung quantitativ verantwortlich ist, gilt den
Verfassern nicht als gesundheitsschädigend und unterliegt
daher einer anderen europäischen Regelung.
Die Wirkung der Dieselmotoren ist gesondert zu
betrachten, weil diese für den Ausstoß von Feinstäuben
verantwortlich sind, von denen einige von der WHO seit
Juli 2012 als krebserregend eingestuft werden. Seit dem
1. Januar 2011 sind hier Feinstaubfilter für Neufahrzeuge
verbindlich vorgeschrieben, wobei allerdings die kleinsten,
die sog. Nanopartikel von den meisten dieser Filter nicht
zurückgehalten werden. Fakt ist, dass die Hersteller trotz
gegenteiliger Behauptungen diese Problematik nicht im
Griff haben. Ende der 90er Jahre führte die Verordnung
neuer Normen für Dieselfahrzeuge dazu, dass der Ausstoß
an Stickoxiden massiv und unerwartet zugenommen hat.
Allein in Frankreich stieg der Ausstoß zwischen 1990 und
2012 von 30 000 Tonnen auf über 80 000 Tonnen, mit den
entsprechenden Auswirkungen auf den Treibhauseffekt und
die Atemwege.
Inzwischen behaupten die Hersteller, Abhilfe in Form
des SCR-Katalysators geschaffen zu haben, der dem Abgas
eine wässrige Harnstofflösung beimischt und am Ende aus
Stickoxiden Wasser (H2O) und Stickstoff (N2) entstehen
lässt. Diese bereits bei bestimmten Schwerlastfahrzeugen
angewandte Technologie kostet den Verbraucher zwischen
600 und 1000 Euro. Damit schwinden jedoch die Kosten-
vorteile des Diesels gegenüber dem Benzin, was die
Zukunft der Dieselfahrzeuge – sehr zum Missfallen
besonders der französischen Autokonzerne – infrage stellt.
Trotzdem halten PSA und Renault stur an der Dieselfahrzeugproduktion fest, weil sie diese besser als die Benziner
finden. In ihrer Dickköpfigkeit sind sie genauso wie der
führende AKW-Hersteller Areva, der auch nach Fukushima
am Bau von AKW festgehalten hat, was mittlerweile
konzernweit zum Abbau von Zehntausenden von Arbeitsplätzen geführt hat.
Die jüngsten Normen gelten natürlich nur für Neufahrzeuge. Alle anderen sind nach wie vor im Verkehr und
verpesten die Luft wie eh und je. In Frankreich bspw.
beläuft sich die Zahl der Dieselfahrzeuge, die vor 2000
zugelassen wurden und nicht mit einem Russfilter ausgestattet sind, auf 1,6 Millionen. Die Emissionen von CO2,
Stickoxid und Feinstaub führen alle und in unterschiedlicher Weise zur Belastung der Umwelt und der Gesundheit,
unabhängig davon, ob sie von Dieselfahrzeugen oder Benzinern stammen.
Im September 2015 wurde bekannt, dass VW seit
mehreren Jahren eine manipulierte Software in seinen
Autos installiert hat, die die offiziellen Abgastests der
US-Behörden austricksen sollte. Alsbald stellte sich heraus,
dass dieselbe Manipulation auch in Europa vorgenommen
worden ist. Von diesem weltweiten Skandal sind elf Millionen Fahrzeuge betroffen und das erwartete Strafmaß beläuft
sich auf 18 Milliarden Dollar. Damit veranschaulicht der
Fall aufs Trefflichste die Praktiken der Automobilindustrie
bzw. einer ihrer weltweit größten Konzerne, wie Daniel
Tanuro aufzeigt.8
Dass die Autos in Europa und den USA nicht die
offiziellen Abgasnormen einhalten, war ein offenes Geheimnis. Bereits vor einem Jahr veröffentlichte die Nichtregierungsorganisation (NGO) Transport & Environment
(T&E) einen Bericht: „Das Testsystem zur Erfassung des
Kraftstoffverbrauchs und der CO2-Emissionen ist nicht
mehr geeignet. Der Abstand zwischen den Testergebnissen
und der Realität ist bei den PKW zwischen 2001 und 2013
von 8 auf 31 % gestiegen.“9 [Für 2014 wird sogar ein Wert
von 40 % angegeben, AdÜ.] Diese am 5. November 2014
veröffentlichte Meldung verhallte ungehört bei den
zuständigen Stellen. Es bedurfte einer Überführung des
VW-Konzerns in flagranti, um diesen Betrugsskandal
auffliegen zu lassen. Eine Softwaremanipulation wiegt also
schwerer als die Verpestung der Umwelt!
Mit dem Skandal kommen jetzt auch die weiteren
Informationen ans Licht, so z. B., dass nur eines von zehn
Inprekorr 1/2016 39
Ö ko n o m i e
Fahrzeugen die Abgasnormen einhält. „Es ist hochwahrscheinlich, dass auch andere Hersteller Software verwenden,
die die Tests auf dem Prüfstand austricksen, insbesondere bei
Dieselfahrzeugen“, erklärte eine Expertin von T&E, dem
eigentlichen Paten der Enthüllung dieser Tatsachen. Beteiligt
ist die gesamte europäische Automobilindustrie. Wenn
Mélenchon von der französischen Linkspartei PdG das
„Ende der Straflosigkeit für made in Germany“ einfordert,
ignoriert er die engen Verbindungen zwischen den Autokonzernen, die sehr wohl untereinander über die Praktiken
und die Bestandteile der Autos Bescheid wissen. Das Auto
verpestet die Umwelt, ganz gleich, wo es hergestellt wird.
Schon vor der Aufdeckung des VW-Skandals waren die
europäischen Autokonzerne gegen die als zu streng erachteten Normen Sturm gelaufen. Ihre Lobby, der europäische
Automobilherstellerverband ACEA, schellte im Juli 2015 die
Alarmglocken: „Noch 2007 war die europäische Automobilindustrie mit 15 Milliarden Euro Gewinn die weltweit
profitabelste. Inzwischen aber sind aufgrund der immer
schärferen Normen die Gewinne geschmolzen, sodass 2012
sogar ein Verlust in Höhe von einer Mrd. Euro angefallen ist.
[…] Wir brauchen eine bessere Lastenverteilung zwischen
allen Industriebranchen.“10 Prompt wurden auch – entgegen
den vor ein paar Jahren getroffenen Beschlüssen – die
Schadstoffnormen durch die EU [auf Druck von Kanzlerin
Merkel] de facto wieder revidiert. Die Obergrenze liegt bei
80 mg Stickoxid pro Kilometer, aber bis 2020 dürfen diese
Werte um das 2,1-fache überschritten werden und anschließend noch um über 50 %, wohlgemerkt auf dem Prüfstand
„unter realistischen Bedingungen“. Kurzum dürfen die
Konzerne fröhlich weiter die Umwelt verpesten und
genießen dabei noch den Segen aller europäischen Regierungen.
Lässt man sie frei gewähren, dann werden die Autokonzerne weiterhin die Umwelt verpesten. Allerdings kommen
sie nicht umhin, auf eine mögliche Verknappung der
Ölreserven und wachsende Proteste gegen die Umweltschäden durch den Autoverkehr zu reagieren und alternative
Antriebsmöglichkeiten zu Benzin- und Dieselmotoren zu
entwickeln. Der Absatz der Elektroautos entwickelt sich im
Schneckentempo, zudem stammt der Strom vorwiegend aus
Kohlekraftwerken, sodass das Elektroauto genauso viel Energie verbraucht wie ein Verbrennungsmotor.11 Die Brennstoffzellen-Fahrzeuge, wo die Antriebsenergie über eine
chemische Reaktion von Sauerstoff und Wasserstoff erzeugt
wird, stehen kurz vor der Serienreife, was aufgrund der
geringen Verkaufszahlen der Elektrofahrzeuge und deren
geringer Reichweite (ca. 100 km) auch vergleichsweise
40 Inprekorr 1/2016
plausibler erscheint. Toyota und Daimler-Benz entwickeln
auch vorrangig in diese Richtung. Wie dem auch sei: Selbst
wenn dadurch die Abgasemissionen während des Betriebs
großenteils vermieden werden, so verbrauchen diese
Fahrzeuge dennoch im Vorfeld Energie und knappe Ressourcen. Und nichts kann darüber hinweg täuschen, dass es
Verschwendung ist und bleibt, wenn eine oder zwei Personen ein Schlachtross von mehr als einer Tonne Gewicht für
ein paar Kilometer in Bewegung setzen.
Vor welcher Zukunft steht die Autoindustrie?
Die kapitalistischen Konzerne müssen ihre produzierten
Fahrzeuge absetzen und zwar zu einem Preis, der den
erwarteten Profit abwirft. Angesichts stagnierender
Massenkaufkraft ist dies eine komplizierte Herausforderung. Man könnte meinen, dass daher die Automobilindustrie, die ja für langlebige Gebrauchsgüter schlechthin steht,
sich dieser Situation anzupassen versucht, indem sie billigere
Autos herstellt und verkauft. Aber das Gegenteil ist der Fall:
Die Autos werden immer teurer und zielen auf den wohlhabenden Teil der Gesellschaft, der durch die zunehmende
Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen prosperiert.
Die Losung also lautet: teurere Autos für die Reichsten!
Seit 30 Jahren schwanken in Frankreich die Absatzzahlen
zwischen 1,8 und 2,2 Millionen Fahrzeuge pro Jahr,
während die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 13
Millionen gewachsen ist. Die Hälfte der verkauften Neuwagen sind Firmenfahrzeuge oder Mietwagen.12 In Frankreich
ist die Anschaffung eines Neuwagens inzwischen ein Luxus,
der weniger als einem Viertel der Bevölkerung vorbehalten
ist und durchschnittlich 22 100 Euro (nach Abzug der
Rabatte) verschlingt. Damit sind die Preise seit 2007 um
über 20 % gestiegen gegenüber 10 % bei den sonstigen
Verbrauchsgütern. Und auch das Alter der Klientel in
Frankreich hat zugenommen: zwischen 1991 und 2014 von
43 auf 55 Jahre. Um auf dem kapitalistischen Markt verkauft
werden zu können, müssen die Waren für die Käufer einen
Gebrauchswert haben. Aber in den meisten europäischen
Ländern interessiert sich die Autoindustrie hauptsächlich
nur für den Gebrauchswert, den die Reichen ihren Autos
zumessen.
Dass die Industrie an diesem Weg festhält, liegt daran,
dass sie ihren Profit zunehmend im Luxussegment erwirtschaften. Als Beispiel hierfür dient der VW-Konzern, der
mit seinen verschiedenen Marken die gesamte Bandbreite
des Automarktes abdeckt. Die VAG-Gruppe hat 2014 mit
10,2 Millionen weltweit verkauften Autos einen Umsatz
von 200 Milliarden Euro und einen Gewinn von 15 Milli-
Ö ko n o m i e
arden Euro erzielt. Davon entfielen auf die Marke VW 4,6
Millionen Fahrzeuge mit einem Umsatz von 100 Mrd.
Euro und einem Gewinn von 2,5 Milliarden. Von der
Marke Porsche wurden 187 000 Fahrzeuge verkauft und
der Umsatz lag bei 17 Mrd. Euro und der Gewinn bei 2,72
Milliarden. Damit hat Porsche mit weniger als 2 % der
konzernweit verkauften Fahrzeuge und einem Durchschnittspreis von 92 000 Euro 21 % des Gesamtgewinns
beigesteuert. Die auffälligsten und verbrauchsintensivsten
Luxusschlitten sind somit zu einer der wichtigsten Profitquellen von VW geworden. Alle anderen Hersteller
liebäugeln mit diesem Vorbild, auch wenn sie vom sozialen
Nutzen ihrer eigenen Modelle faseln. Denn sie wissen sehr
wohl, wie man sich die wachsende Ungleichheit in den
kapitalistischen Ländern zunutze macht.
Die Autoindustrie hat in einigen europäischen Ländern
einen heftigen Umstrukturierungsprozess hinter sich. In
zehn Jahren sind die Produktionsziffern in Frankreich um
über 45 %, in Belgien um 50 % und in Italien gar um 60 %
zurückgegangen. Zahlreiche Werke wurden stillgelegt und
landeten auf dem Markt der Immobilienspekulation, statt
für andere Fertigungszwecke umgerüstet zu werden. In der
gleichen Zeit hat der Autoverkehr immer mehr zugenommen. Damit sind diejenigen, die ihre Stelle dort verloren
haben, doppelt gestraft, weil sie mangels geeigneter
öffentlicher Verkehrsmittel weiterhin Auto fahren müssen.
Die paar wenigen Beispiele für eine Produktkonversion
im Transportsektor auf Betreiben der Unternehmer sind
gescheitert und dadurch weitere Arbeitsplätze verlorengegangen. Der Autozulieferer Bosch bspw. wollte 2010
eigentlich sein Werk in Vénissieux bei Lyon schließen, da
das Geschäft mit den Einspritzpumpen für Dieselfahrzeuge
nicht mehr lief. Bosch stellte auf die Produktion von
Solarzellen um und behielt 150 von 500 Beschäftigten.
Nach bloß vier Jahren verkaufte Bosch das Werk an ein
bretonisches Unternehmen, das mittlerweile allerdings
vom Konkurs bedroht ist. Ebenso Schiff bruch erlitt der
Autohersteller Heuliez in Westfrankreich, den die spätere
Umweltministerin Ségolène Royal vor der Insolvenz
bewahren wollte, indem sie auf die Produktion von
Elektroautos umstellte. Diese Beispiele zeigen, dass
Konversion mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen nicht mit
einer kapitalistischen Wirtschaft vereinbar sind, bei der es
nur um Profite und Aktionärsdividenden geht.
Angebot und Nachfrage
Obwohl der Absatz von Neufahrzeugen in Europa tendenziell nicht mehr zunimmt und die Produktion in Frank-
reich, Italien und Belgien rückläufig ist, nimmt der Autoverkehr weiter zu. Zwischen 2005 und 2013 ist die Zahl der
zugelassenen PKW in der EU von 230 auf 250 Millionen
gestiegen. Diese Diskrepanz liegt an der längeren Lebensdauer der Fahrzeuge, da seit etwa 20 Jahren und besonders
seit Beginn der Krise 2008 die Verbraucher ihr Auto immer
länger nutzen. Gab es in Frankreich 1985 kaum Autos, die
älter als 15 Jahre waren, so ist die Zahl bis 1994 auf 1,6, 2008
auf 4,6 und 2011 auf 7 Millionen gestiegen. Europaweit ist
das Durchschnittsalter der Fahrzeuge zwischen 2006 und
2014 von 8,4 auf 9,7 Jahre gestiegen.
Die Mehrheit der Bevölkerung benutzt gezwungenermaßen ein Auto, da Arbeitsstätten und Wohnorte immer
weiter auseinanderliegen und öffentliche Verkehrsmittel
nicht ausreichend vorhanden sind. Dies gilt sowohl für den
Verkehr aus abgelegenen Vororten in die Städte als auch für
das flache Land, wohin immer mehr Menschen ziehen, die
dann täglich Dutzende von Kilometern zu ihren Arbeitsstätten zurücklegen müssen. Die Wege werden immer weiter
und zu 75 % per Auto zurückgelegt, während der Anteil der
öffentlichen Verkehrsmittel immer weiter sinkt, in Frankreich bspw. zwischen 1998 und 2010 von 15 % auf 11 %.13
Ursächlich sind der Verfall der öffentlichen Verkehrsmittel
und die Verknappung bezahlbarer Wohnräume unter dem
Primat der Profite.
Man kann also festhalten, dass Neufahrzeuge zunehmend
nur für die Reichen hergestellt werden, während das Gros
der Bevölkerung immer ältere Autos fährt. Zugleich
versucht die Autoindustrie, über ihre Werbung und die
Einflussnahme auf die Regierungen zu vermitteln, dass es
ihr nur darum geht, Autos für den täglichen Gebrauch zu
produzieren. Diese Behauptung wird zunehmend unglaubhaft, zugleich aber stimmen die Gewerkschaften den
Unternehmenswünschen zu.
Auf der anderen Seite gerät der Autoverkehr zunehmend
in die Kritik. Immer lauter werden die Forderungen, den
innerstädtischen Verkehr zu beschränken, und dies stößt
auch auf zunehmende Akzeptanz bei den Autofahrern selbst.
In Städten wie Paris oder London gibt es bereits Verkehrsbeschränkungen in bestimmten Stadtteilen und in Oslo soll bis
2019 die gesamte Innenstadt autofreie Zone werden. Um
dies umzusetzen, sollen dort die Bus- und Straßenbahnnetze
ausgebaut und 60 km neue Radwege geschaffen werden und
besondere Lösungen für Behinderte und den Frachtverkehr
gefunden werden, kurzum: Die Beschränkung des motorisierten Individualverkehrs soll einhergehen mit dem
gezielten Ausbau des ÖPNV.
Es gibt also – lokale – Beispiele, wie das Transportwesen
Inprekorr 1/2016 41
Ö ko n o m i e
ohne die Dominanz des Autos beschaffen sein müsste.
Grundsätzlich aber gilt, dass eine Umstellung auf ein
menschengerechtes Beförderungssystem und weg von der
Autogesellschaft nur möglich ist, wenn das Privateigentum
an den Produktionsmitteln infrage gestellt wird. Nur so
kann ein Transportwesen entstehen, das einerseits den
Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht und andererseits
den in der Autoindustrie Beschäftigten gerecht wird und ihr
Know-how nutzt.
Da es immer stärkere finanzielle und technologische
Verflechtungen zwischen den weltweit agierenden Autokonzernen gibt, kann die Enteignung einzelner Unternehmen
nur die Vorstufe zu einer Umstellung auf eine gesellschaftlich nützliche Produktion sein. Alles Weitere muss erst noch
„erfunden“ werden: die Einbeziehung der Beschäftigten, die
Aufhebung des weltweiten Konkurrenzdenkens und die
Entwicklung und Erzeugung energiesparender Transportmittel.
Der Volvo-Beschäftigte Lars Henriksson drückt es so aus:
„Die Autoindustrie ist kein Kohlebergwerk, sondern ein
flexibler Produktionsmechanismus, der gesellschaftlich
genutzt werden könnte, um nahezu jede beliebige technische
Ausrüstung in großem Umfang herzustellen. Gebt uns die
Pläne für sozial nützliche Dinge und wir werden es machen!“14
Die Kapitalisten zerstören Fabriken, Maschinen und
Menschen, sobald sie ihnen keinen Profit mehr bringen. Die
Industriebrachen in Detroit, Turin, Billancourt oder Aulnay
zeugen davon, wie Maschinenparks und Belegschaften
zerschlagen werden. Dabei geht es doch darum, die Erfahrung und das Know-how von Millionen von ArbeiterInnen
dieser Branche für das gesellschaftliche Gemeinwohl zu
nutzen.
Es ist an der Zeit, den Widerstand in der Autoindustrie zu
entfachen: gegen Arbeitsplatzabbau, gegen stagnierende
Löhne bei gleichzeitig steigenden Profiten und Dividenden
und gegen eine Umstrukturierung und Flexibilisierung der
Arbeit, die die Beschäftigten mehr denn je den Vorgesetzten
und Maschinen unterordnet und jeden Handgriff zeitlich
erfassen. Die Drohung mit der Arbeitslosigkeit wird von den
Unternehmern als Rechtfertigung der Autogesellschaft
genutzt und findet dabei den Zuspruch der Gewerkschaften.
Unser Widerstand gegen die Pläne der Kapitalisten kann
aber nicht darauf gründen, der Autoindustrie ihren verlorenen Platz wieder zu erobern. Als Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung dürfen wir es auch nicht allein den
Naturschützern überlassen, die Umweltschäden durch die
Praktiken der Autohersteller anzuprangern. Schadstoffzerti42 Inprekorr 1/2016
fikate, um sich freizukaufen, und Ausbeutung der Beschäftigten zur Bereicherung sind zwei Seiten derselben Medaille,
daher darf die Arbeiterbewegung auf beiden Seiten nicht
abseitsstehen.
Die Autogesellschaft muss zum Wohl der Bevölkerung
und der Wahrung des ökologischen Gleichgewichts infrage
gestellt werden. Dies lässt sich aber nur bewerkstelligen,
wenn die gesamte Gesellschaft geändert und von den
Erfordernissen der kapitalistischen Profitgier befreit wird.
Jean-Claude Vessillier, ehemaliger
Statistiker und Gewerkschafter bei Renault, ist Mitglied des
französischen Nouveau parti anticapitaliste (NPA) und der IV.
Internationale und arbeitet an der dortigen Website über das
Automobilwesen mit: www.npa-auto-critique.org/
Übersetzung: MiWe
�
1 „Lean Production“ ist ein von Toyota in den 70er Jahren
eingeführtes Produktionssystem, das auf dem „Just-in-timePrinzip“ und der permanenten Jagd nach unnützen Ausgaben
und Prozessen beruht. Die technischen Abläufe und die
Arbeitsorganisation werden dadurch ständig umgestellt. Das
zugrundeliegende Prinzip lautet: immer mehr mit immer
weniger Mitteln.
2 Informationen aus Labour Notes.
3 Interview mit Aktiven von Smart-Hambach in
L’Anticapitaliste Oktober 2015.
4 Auto actu.com November 2015.
5 Les Échos 11. Mai 2015.
6 Le Monde 19. April 2015.
7 La Tribune, 3. Juli 2015.
8 Europe Solidaires Sans Frontières, 28. September 2015, http://
www.europe-solidaire.org/spip.php?article35957
9 http://www.transportenvironment.org/sites/te/files/annualreport2014/index.html
10 Erklärung des Verbandspräsidenten der ACEA vom Juli
2015. siehe auch: www.acea.be
11 http://www.npa-auto-critique.org/article-le-vehiculeelectrique-entre-paillettes-et-realite-46236737.html
12 Les Échos 12. November 2015
13 Studie des Arbeitsministeriums DARES von November
2015
14 Lars Henriksson, http://www.npa-auto-critique.
org/2015/03/reconversion-de-l-industrie-automobile-emplois-climat-et-ecologie.html
S ü da m e r i k a
Ende einer Ära in
Südamerika?
Die Volksbewegungen, die Krise der „progressistischen“ Regierungskonzepte
und die ökosozialistische Alternative
Frank Gaudichaud
„„
Mehr als 40 Jahre ist der Putsch her, der
den chilenischen Weg zum Sozialismus hinwegfegte, und
mehr als dreißig Jahre die Gründung der größten sozialen
Bewegung des Kontinentes, des MST (movimiento de
trabajadores rurales sin tierra – Bewegung der landlosen
Landarbeiter); zwanzig Jahre ist es her, dass der Aufschrei
der Zapatisten „es ist genug“ gegen den Neoliberalismus
und das nordamerikanische Freihandelsabkommen
erschallte und mehr als fünfzehn Jahre vergingen seit dem
Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela (und mehr als
zwei Jahre seit seinem Tod). Jetzt scheinen die indigenen,
schwarzafrikanischen und weißen Völker Lateinamerikas
und ihre Versuche, einen Weg der Emanzipation zu
finden, an einem neuen Wendepunkt angekommen zu
sein. Eine politische, soziale und ökonomische Ära
mittlerer Dauer scheint allmählich auszulaufen, wenn
auch nicht überall in gleicher Weise und schon gar nicht
linear.
Mit ihren realen Fortschritten, ihren Schwierigkeiten
und ihrer bedeutsamen Begrenztheit und den Erfahrungen der verschiedenen und sehr unterschiedlichen
„progressistischen“ Regierungen der Region, seien es in
erster Linie Prozesse von Kräften von Mitte-Links, des
Sozial-Liberalismus oder – im Gegensatz dazu – einer
radikaleren nationalpopulistischen Richtung, die sich als
antiimperialistisch bezeichnet oder in den konservativen
Medien als „populistisch“ abqualifiziert wird, seien es
nun bolivarianische, ando-amazonische,
„Volks“revolutionen oder einfach institutionelle Wendungen zum Progressismus hin, scheinen diese politischen Prozesse auf große interne Probleme zu stoßen,
ebenso wie auf starke (nationale wie auch internationale)
konservative Gegenkräfte, nicht zu reden von zahlreichen Unklarheiten und ungelösten strategischen Dilemmata.
Spannungen und Grenzen des
lateinamerikanischen Progressismus
Es gibt keinen Zweifel, dass in den Ländern, in denen
verschiedene beeindruckende Wahlsiege der Linken oder
der Antineoliberalen sich konsolidiert haben – insbesondere in den Nationen, in denen diese Siege das Produkt
von Jahren sozialer Kämpfe (wie in Bolivien) oder einer
rapiden Politisierung und Mobilisierung der verarmten
Schichten (wie in Venezuela) sind – der Staat und seine
Regulierungsmacht, das interne ökonomische Wachstum, der Kampf gegen die extreme Armut mittels
spezifischer Programme der Umverteilung, sowie die
Einführung neuer öffentlicher Dienstleistungen Raum
gegriffen haben. Das macht einen bemerkenswerten und
nicht zu unterschätzenden Unterschied gegenüber der
infernalischen Welle von Privatisierungen und FragmenInprekorr 1/2016 43
S ü da m e r i k a
tierung und der gewalttätigen neoliberalen kapitalistischen Deregulierung der neunziger Jahre. Von Neuem
trat der öffentliche Sektor als den Markt regulierende
Kraft auf den Plan und verteilte teilweise die Erträge der
Bodenschätze zugunsten der Ärmsten um – mit direkten
und unmittelbaren Auswirkungen auf Millionen von
BürgerInnen. Dieser Prozess erklärt teilweise die bis
heute anhaltende Stabilität der Wähler- und sozialen
Basis dieser Experimente (in einigen Fällen nach mehr als
zehn Jahren Regierungszeit). Zum ersten Mal – nach
Jahrzehnten – zeigten verschiedene „postneoliberale“
Regierungen, angefangen mit Bolivien, Ecuador und
Venezuela, dass es sehr wohl möglich ist, damit zu
beginnen, die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen
wiederzugewinnen und gleichzeitig die extreme Armut
und soziale Ungleichheit mittels Reformen zurückzudrängen, die auf die Inklusion breiter Sektoren der
Bevölkerung zielen, die bis dahin von dem Recht,
mitzuentscheiden, ihre Meinung zu äußern und vor
allem teilzuhaben abgeschnitten waren. Und es lebte in
den geopolitischen kontinentalen Visionen auch der
Traum Bolivars wieder auf. Das drückte sich in den
Initiativen für eine alternative regionale Integration
zwischen den Völkern aus (wie z. B. ALBA-TCP), mit
denen man beabsichtigte, Raum für eine nationale
Souveränität gegenüber den großen Mächten des Nordens wiederzugewinnen, und gegenüber dem militärischen Imperialismus und den neuen Karavellen, als die
die transnationalen Unternehmen oder die einseitigen
Regeln der Weltfinanzinstitutionen figurieren.
In einer Situation, in der die Alte Welt und die Länder
der Europäischen Union der Diktatur der Troika (Weltwährungsfonds, Europäische Kommission und Europäische Zentralbank) unterworfen und inmitten einer tiefen
ökonomischen, politischen und auch moralischen Krise
sind, ist es wichtig, die Fähigkeiten zu betonen, die die
diversen Basisbewegungen und Führer des Neuen
Amerika bewiesen haben. Damit sind die Fähigkeiten
gemeint, Widerstand zu leisten und damit zu beginnen,
Multilateralismus zu praktizieren, die Demokratie zu
demokratisieren, einschließlich, mittels Projekten für
eine Alternative für das 21. Jahrhundert Politik neu zu
erfinden. In einer Zeit, in der ein Land wie Griechenland
versucht, in der Brandung der Schulden und unter dem
Druck der herrschenden Klasse Europas den Kopf oben
zu behalten, und junge Leute und Kollektive in diesem
Teil der Welt versuchen, emanzipatorische Wege zu
finden, kann man viel von Lateinamerika lernen, von
44 Inprekorr 1/2016
seinen traumatischen Erfahrungen mit dem kapitalistischen neoliberalen Fundamentalismus und von seinen
heroischen Versuchen, ihm vom Süden der Welt aus etwas
entgegenzusetzen.
Nichtsdestotrotz besteht die grundsätzliche Herausforderung, wie es Anfang 2015 der Theologe und
Soziologe François Houtard, Generalsekretär des Weltalternativforums, erklärte, besonders für die Länder, die die
meisten Erwartungen bezüglich eines Wandels weckten,
weiterhin darin, eine Wegbestimmung für einen grundsätzlichen Wandel hin zu einem neuen postkapitalistischen zivilisatorischen Paradigma vorzunehmen. Das
bedeutet, dass es sich nicht lediglich darum dreht, dem
Ziel einer postneoliberalen Modernisierung verhaftet zu
bleiben, und noch weniger, innerhalb eines neuen
„fürsorgenden“ Entwicklungsmodells zu verharren, oder
sich im Rahmen des Versuchs einer Neufestlegung des
Verhältnisses zwischen nationalem Wachstum, regionaler
Bourgeoisie und ausländischem Kapital zu bewegen, d. h.
auf eine Transformation der sozialen Beziehungen in
Bezug auf die Produktion und die Formen des Eigentums
abzuzielen. Diese Aufgabe ist zweifellos gigantisch und
mühsam. Unter dieser Perspektive und in der derzeitigen
historischen Situation treten trotz der mit Blut und
Schweiß durchgesetzten demokratischen Fortschritte1 die
zahlreichen Spannungen und Grenzen der unterschiedlichen lateinamerikanischen Spielarten des Progressismus
zutage, oder, besser noch, der Periode, die Anfang des
Jahrhunderts mit dem Kampf gegen die neoliberale
Hegemonie begann. Ein – heute staatsfixierter – Intellektueller wie Alvaro Garcia Linera definiert diese Spannungsfelder (besonders die zwischen Bewegungen und
Regierungen) als potentiell „kreativ“ und „revolutionär“,
als notwendige Erfahrungen, um schrittweise hin zu
einem „kommunitären Sozialismus“2 fortzuschreiten. Er
stellt dabei das Verhältnis zwischen den real existierenden
geopolitischen, politischen und sozialen Kräften in
Rechnung (und wertet nebenbei ohne viele Argumente
alle kritischen Stimmen, die von links kommen, als
„infantil“ ab …). Im Rahmen dieses Konzepts figuriert
die Erlangung der Regierungsverantwortung durch
national-populare Kräfte als demokratische – und
„konkrete“ – Antwort auf den Aufstieg der Volksbewegung in den Jahren 1990–2000, und der Staat wird als
zentrales Instrument einer „Kollektivverwaltung“ im
Kontrast zur Herrschaft des Wertgesetzes und der
regellosen neoliberalen Deregulierung betrachtet. In
dieser Verteidigung des von den unterschiedlichen
S ü da m e r i k a
progressistischen Regierungskräften Erreichten, sehr oft
als homogene Entität betrachtet, finden wir auch die
Handschrift von renommierten Intellektuellen wie Emir
Sader oder der chilenischen Soziologin und Volkserzieherin Marta Harnecker.3
Nichtsdestotrotz bestehen nicht wenige BasisaktivistInnen, einige Bewegungen und kritische AnalystInnen
unterschiedlicher politischer Richtungen (wie unter
anderen Alberto Acosta und Natalia Sierra in Ecuador,
Hugo Blanco in Peru, Edgardo Lander in Venezuela,
Maristella Svampa in Argentinien oder Massimo Modenesi in Mexico) darauf, dass die staatliche Politik des
Progressismus oder postneoliberalen Nationalismus (von
Uruguay über Argentinien bis Nicaragua4) zunehmend
„konservative“ Züge trage und den Charakter einer
„passiven Revolution“ (im Sinne Gramscis) annehme.
Oder, anders, es handele sich um eine Transformation
„von oben“, die in der Tat den politischen Raum, die
öffentliche Politik und das Verhältnis zwischen Staat und
Gesellschaft verändere, aber das Eindringen derer „da
unten“ in das Netz der Institutionen integriere – und
letztendlich neutralisiere. Dadurch komme es zu einer
abrupten Neuanpassung im Schoß der herrschenden
Klassen und des Herrschaftssystems, wodurch die
Fähigkeit zu Selbstorganisation und Kontrolle durch die
mobilisierten Schichten ausgebremst werde.5 So gesehen
könnte die Eroberung des Staates durch progressive
Kräfte auch die Gefangennahme der Linken bedeuten …
durch die Macht des Staates, seine Bürokratie und die
kapitalistischen Interessen, die er repräsentiert. Unter
diesem Gesichtspunkt könnte die Strategie, die Macht zu
ergreifen, um die Welt zu ändern, damit enden, dass die
Linke von der Macht vereinnahmt wird und sich zu einer
Kraft wendet, die das Wesentliche dieser Welt, wie sie ist,
konserviert. Für den urugayischen Autor Raul Zibechi
stellt sich das so dar:
In dem Maße, in dem die progressistische Ära in
Lateinamerika zu Ende geht, scheint der adäquate
Zeitpunkt gekommen zu sein, damit anzufangen,
längerfristig Bilanz zu ziehen, eine Bilanz, die sich nicht
auf konjunkturelle Phänomene oder sekundäre Daten
beschränkt, sondern die dahin geht, ein Gesamtpanorama
zu entwerfen. Außerdem muss man konstatieren, dass das
Ende dieser Ära, desaströs für die ärmeren Schichten und
die Linken, uns mit Unsicherheiten und Besorgnis
betreffend die unmittelbare, nach rechts gewandte und
repressive Zukunft erfüllt, die wir gewärtigen müssen.6
In den letzten Wochen hat es eine Lawine von
Meinungsäußerungen gegeben – verschiedene davon
haben wir auf Rebelion.org veröffentlicht -, die sich mit
der Existenz oder Nichtexistenz des „Endes einer Ära“,
einschließlich der Frage, ob eine solche Ära existiere,
befassen. Diese Debatte erreichte einen solchen Grad der
Polarisierung, dass die einen Autoren die anderen
anklagten, das Spiel des Imperiums zu spielen, indem sie
sich als „Diagnostiker der Kapitulation“ und „Caféhauslinke“ (so García Linera) gerierten, während die letzteren
die ersteren beschuldigten, als unkritische Auftragsintellektuelle für die Staaten der Region und deren schon jetzt
nicht mehr progressive, wenn nicht gar rückwärtsgewandte Regierungen zu fungieren … Dieser Dialog von
Gehörlosen trägt wenig dazu bei, die derzeitige politische
Situation zu ergründen. Sicherlich sind die Vorstellungen
eines möglichen „Rückstroms des Epochenwandels“7
oder, aus entgegengesetzter Perspektive, die Vorstellung
eines allmählichen „Endes der progressistischen Hegemonie“8 detaillierter und komplexer, so dass sie der Beginn
einer konstruktiven, wenn auch konfliktiven Debatte sein
könnten. Dabei muss man berücksichtigen, dass das
Phänomen sich unter sehr unterschiedlichen territorialen
bzw. nationalen Bedingungen abspielt:
Dieses Abrutschen ist in einigen Ländern (z. B.
Argentinien, Brasilien und Ecuador) klarer wahrnehmbar
als in anderen (Venezuela, Bolivien und Uruguay), weil
in den letzteren mehr oder weniger kompakte progressistische Machtblöcke erhalten sind und sich keine relevanten Abspaltungstendenzen nach links entwickelt haben.
Insbesondere war Venezuela das einzige Land, in dem
mittels der Bildung von Gemeindestrukturen seit 2009
die generelle Partizipation der armen Schichten angestoßen wurde …9
Jenseits der in Gang befindlichen Polemik bezüglich
des Ausmaßes der Erschöpfung, der Wende oder des
Rückstroms der Ära, und unter Berücksichtigung der
Verschiedenheit der analysierten Einzelprozesse, schält
sich heraus, dass in vielen Bereichen die progressistischen
Regierungen sich definitiv entschieden haben. Unter
dem Druck der globalen wie auch internen Akteure
optierten sie für einen „modernisierenden Realismus“
und eine Politik der „Maßnahmen des Möglichen“, was
oftmals der beste Weg ist, die Absage an strukturelle
Veränderungen in eine antikapitalistische Richtung zu
rechtfertigen. Das ist eine Dynamik, die symbolisiert
wird durch das „brüderliche“ Treffen ( Juli 2015) zwischen der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff –
Mitglied der Arbeiterpartei – und dem Verantwortlichen
Inprekorr 1/2016 45
S ü da m e r i k a
für Verbrechen gegen die Menschlichkeit Henry Kissinger (Ex-Außenminister der USA). Das geschah in einem
Moment, in dem Dilma die politische Rückendeckung
durch den Imperialismus suchte, angesichts einer durch
das Ausmaß der Korruption des Staatsapparates wachsenden Opposition in der Mitte der Gesellschaft und einer
wiedererstarkten Rechten. Mit Sicherheit ist das Ziel
dieser Art von diplomatischen Gesten seitens der Führung
der größten lateinamerikanischen Macht vor allem,
„ihren“ herrschenden Sektoren Rückhalt zu geben und
mehr „Sicherheit“ für die Geschäfte in Brasilien zu
bieten. Von einem anderen Schützengraben und Breitengrad aus erinnert das 2014 unterzeichnete verdeckte
Freihandelsabkommen zwischen Ecuador und der
Europäischen Union an die Grenzen der Ankündigung
eines „Endes der neoliberalen Nacht“ – auch seitens einer
aus dieser Perspektive im Diskurs vergleichbaren Regierung. Die Regierung Correa ist heute, konfrontiert mit
der Rechten und während sie die Gefahr eines kalten
Putsches beschwört, auch mit den sozialen und indigenen
Bewegungen konfrontiert (und einer wenn auch schwachen Linken). Das geht so weit, dass man von einer
politischen Sackgasse sprechen könnte, in dem Sinne, wie
es der Marxist Agustín Cueva entwickelte, dass nämlich
die caesarenhafte Figur des Präsidenten eine stabilisierende Funktion für das Kapital erfüllt:
Es gab in der Geschichte Ecuadors Momente, in denen
die Intensität der horizontalen, innerkapitalistischen
Konflikte in Kombination mit den vertikalen Auseinandersetzungen zwischen der herrschenden Klasse und dem
Volk zu groß war, als dass sie durch die aktuelle Herrschaftsform verkraftet werden konnte. Während die
Politik neue, stabilere Formen der Herrschaftsausübung
suchte, regierte die Instabilität, bis es zu dieser Sackgasse
kam.10
Auf der allgemeineren Ebene muss man, auch wenn
das nicht das einzige Problem ist, erwähnen, dass in allen
progressistischen Staaten ein produktivistisches Akkumulationssystem weiterbesteht, in dem in unterschiedlichem
Ausmaß und Intensität Staatskapitalismus, Neoliberalismus und Methoden der Ausbeutung der primären und
energetischen Ressourcen (Extraktivismus) mit ihren
zerstörerischen Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften, die Arbeiter und die Ökosysteme ineinandergreifen. Diese innere Spannung verbindet sich, in
ungleicher und kombinierter Weise, mit einem starken
finanzpolitischen globalisierten Kontext und dem
zentralen Aspekt der aktuellen Konjunktur: der ökono46 Inprekorr 1/2016
mischen Krise, die die Region hart trifft und zu einem
abrupten Preisverfall der Grundstoffe und insbesondere
des Ölpreises (der von fast 150 auf 50 Dollar pro Barrel
fiel) geführt hat. Das war das Ende des Aufschwungs der
vorangegangenen Periode und zeigte aufs Neue die
abhängige und neokoloniale Produktionsstruktur
Lateinamerikas, das verfluchte Erbe von Jahrhunderten
von imperialistischer Unterordnung. In diesem Kontext
findet zugleich eine Offensive des transnationalen
Kapitals, der Staaten des Nordens und einiger Mächte des
Südens (vor allem China) statt. Sie wollen noch mehr
Agrarland, Energiequellen, Mineralien, Wasser, biologische Ressourcen und Arbeitskräfte einheimsen – in einer
Spirale ohne Ende, bis zum letzten Blutstropfen. In
Ländern wie Bolivien oder Ecuador, wo es ein stärkeres
diese Gefahren betreffendes Bewusstsein gibt, wird
seitens der Regierung und ihrer politischen Unterstützer
die ziemlich einleuchtende Taktik verteidigt, dass man
zunächst eine extraktivistische und Industrialisierungsphase durchlaufen müsse, um für den Wandel die nötige
ökonomische Stärke zu haben. Das sei so etwas wie ein
„postneoliberaler Übergangsextraktivismus“, der es
kleinen Ländern mit geringen Ressourcen erlaube, sich
zu entwickeln, eine ursprüngliche Akkumulation
durchzuführen, um auf die immensen sozialen Bedürfnisse zu antworten, die diese verarmten Länder kennzeichnet, und um einen langsamen Prozess der Veränderung des Akkumulationsmodells einzuleiten. Aber gemäß
Eduardo Gudynas, dem Exekutivsekretär des Lateinamerikanischen Zentrums für soziale Ökologie (CLAES),
verhält es sich so:
„Es gibt keinerlei Beleg dafür, dass dies auch passiert,
und zwar aus verschiedenen Gründen: Erstens werden die
so generierten Erträge zu einem großen Teil für Programme verwendet, die den Extraktivismus noch
ausdehnen, zum Beispiel zur weiteren Erschließung von
Ölreserven oder zur Exploration von Minenprojekten.
Zweitens haben die extraktivistischen Strategien ökonomische Konsequenzen, die die Entwicklung von Autonomie in anderen produktiven Sektoren, sowohl in der
Industrie als auch in der Landwirtschaft, behindern. Die
Regierung müsste Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um
diese Deformierungen zu vermeiden. Aber das geschieht
nicht, tatsächlich gibt es in der Landwirtschaft eine
Tendenz, den Anbau für den Export zu fördern, während
der Nahrungsmittelimport zunimmt. Drittens müssen
die Regierungen in dem Maße, in dem diese Projekte
den sozialen Widerstand dagegen befeuern (jüngste
S ü da m e r i k a
Beispiele sind der der Guaranís von Yategrenda, Santa
Cruz oder das Reservat Yasuni in Ecuador), sie so
intensiv verteidigen, dass sie das extraktivistische
Paradigma in breiten Teilen der Gesellschaft stärken und
damit die Suche nach Alternativen behindern.“11
Sektorenübergreifende Proteste des Volkes
Tatsächlich ist es kein Zufall, dass die Welle von Volkskämpfen und Mobilisierungen, die im Herzen Amerikas
losbricht und die vielleicht eine neue historische Periode
von Klassenkämpfen ankündigt, direkt mit diesen
Raubzügen, Repressionen und dem nachfolgenden
territorial und sozial festzumachenden Widerstand
verknüpft ist:
Der Widerstand fokussiert sich auf die Minen und die
Monokulturen, besonders das Soja, ebenso wie auf die
städtische Bodenspekulation oder die diversen Formen,
die der Extraktivismus annimmt. Gemäß dem Observatorium für Konflikte im Bergbau gibt es in der Region
aktuell 197 Konflikte in Minen, die 296 Kommunen
betreffen. Peru und Chile mit je 34, gefolgt von Brasilien, Mexiko und Argentinien, sind die am meisten
betroffenen Länder.12
Diese Tendenz manifestiert sich vor dem bereits
beschriebenen Hintergrund der schweren Einbrüche im
Vergleich zum ökonomischen Wachstum der vergangenen Jahre, der tiefen und anhaltenden weltweiten
kapitalistischen Krise und des Fortbestehens der immensen sozialen Ungleichheit sowie der regionalen Asymmetrien auf dem gesamten Kontinent. Weiterhin ist es
notwendig, die bedeutende Offensive der verschiedenen
rechtsgerichteten Unternehmer und Medien, wie auch
der Oligarchien der Region zu betonen. Sie nützen das
Ende der Hegemonie des Progressismus dazu aus, das
Terrain wiederzugewinnen, das sie in den letzten 15
Jahren an die verschiedenen charismatischen Führer und
progressistischen Lenker verloren haben. Diese Rechtskonservativen und Neoliberalen kontrollieren weiterhin
– auf der politischen Ebene – entscheidend wichtige
Städte, Regionen und Länder (wie Mexiko oder Kolumbien), und sie bedrohen permanent die in der letzten
Dekade durchgesetzten Rechte, sowie den Prozess einer
neuen, von Washington unabhängigen regionalen
Integration. Wir wissen, dass diese rückwärtsgewandten
Kräfte immer bereit waren und sind, verschiedene
Spielarten der Destabilisierung, einschließlich Staatsstreiche, zu organisieren (wie im letzten Jahrzehnt in
Paraguay, Honduras und Venezuela), und zwar mit der
offenen oder indirekten Unterstützung seitens der
imperialen Agenda der Vereinigten Staaten.13
Zweifellos bringen von unten auch die verschiedenen
Protestbewegungen, die indigenen Völker, die Studenten und Arbeiter ihre eigene Agenda und ihre Überzeugungen aufs Tapet. Sie erkennen die Grenzen der
erreichten Transformation in den Ländern, in denen
„postneoliberale“ Kräfte regieren, und sie erkennen
deren absolutes Fehlen dort, wo immer noch die neoliberale Rechte dominiert. Sie verurteilen die verschiedenen
Formen der Repression, Einschüchterung oder Vereinnahmung in beiden Fällen: kollektive Opposition gegen
das Gensoja oder Arbeiterstreiks in Argentinien; große
Jugendmobilisierungen auf den Straßen in den großen
brasilianischen Städten, die das Recht auf ihre Stadt
fordern und die Korruption anklagen; tiefe Krise des
boliviarianischen Projekts, Gewalttätigkeit der Opposition und Reorganisierung der Volksbewegung in Venezuela; Kämpfe der Bauern und der indigenen Bewohner in
Peru gegen die Bergbaumegaprojekte (wie das in
Conga); Mapuches, Erwerbslose und Studenten in Chile,
die lautstark das verfluchte Erbe der Pinochet-Diktatur
anklagen; Kritik des Gewerkschaftsdachverbandes COB
und von Teilen der indigenen Bewegung an der Politik
der „Modernisierung“ von Evo Morales in Bolivien; in
Ecuador das Abrücken des Präsidenten Correa vom
Yasuni-Projekt, nämlich, das Öl im Boden zu lassen, mit
der Folge einer Konfrontation zwischen der Exekutive
und dem Dachverband der indigenen Völker (CONAIE)
sowie bedeutenden Teilen der organisierten Zivilgesellschaft; in Kolumbien die Suche nach einem wirklichen
Frieden, das heißt einem Frieden mit einer sozialen
ökonomischen Transformation und mit einer Agrarreform etc.
Das Szenario ist angespannt und in Bewegung. Aber
trotz allem gräbt (im Sinne von Marx) „der alte Maulwurf weiter“ und mit seiner Tätigkeit entwickelt sich
eine breite Palette an Erfahrungen sozialer Kämpfe,
Klassenkonflikte und politischer Debatten, begleitet von
verbreiteter Ausübung von Volksmacht und der Entwicklung radikaler Alternativen und Utopien.14 Auch
wenn einige kritische Intellektuelle eine Zeitlang
glaubten – und glauben machten –, dass Lateinamerika
– oder besser gesagt Abya Yala – das neue El Dorado des
„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ über einen „Linksruck“ der Regierungen und Erfolge in demokratischen
Wahlen erreichen könne, so wissen wir, dass die Wege
zur Emanzipation komplexer und erheblich verschlungeInprekorr 1/2016 47
S ü da m e r i k a
ner sind und dass die Machtapparate (Militär, Medien,
Wirtschaft) der lateinamerikanischen und imperialen
Oligarchien stark, resilient, widerstandsfähig und wenn
nötig auch grausam sind. Es existiert in den Gesellschaften Unseres Amerikas eine Dialektik zwischen der
Transformation der sozialen und Produktionsbedingungen und der Zerstörung der „Rassen“- und Geschlechtsbeziehungen, die zweifellos erneut von unten und von
der Linken angegangen werden muss, von Seiten der
Autonomie und der Klassenunabhängigkeit – aber
immer auf politischem Weg und nicht mit der Illusion,
einen Wandel ohne die Ergreifung der Macht erreichen
zu können.
Nuestroamerikanischer Ökosozialismus des XXI.
Jahrhunderts
Damit soll nicht bestritten werden, dass die kollektiven
Versuche der Ausübung von Volksmacht fortfahren
sollten, auch auf Wahlebene partielle Erfolge zu erzielen
oder die Wichtigkeit abzuschätzen, institutionelle
Räume in den Staats- und Parteiinstitutionen zu gewinnen. Aber das nur, wenn – und nur wenn – die Entwicklung derartiger neuer Politikkonzepte in den Dienst der
„Kommunen“ und der unteren Schichten gestellt
werden. Kann man den Staat dazu benutzen, den
kapitalistischen Staat zu beseitigen, indem man ihn eine
Zeit lang als Bollwerk nutzt, um die kolossalen feindlichen Gegenkräfte in Zaum zu halten? Oder kann, wie
Marx feststellte, der Staat an sich, weil er grundsätzlich
eine Kreatur der Herrschenden ist, für uns kein Werkzeug sein, weil er die Gefahr in sich trägt, unseren Geist,
unsere Seele und unsere Praxis zu vereinnahmen?
Es ist offensichtlich, dass die Kontrolle der Exekutive
„nur“ der Gewinn eines Teils der Macht ist, umso mehr,
wenn man nicht über eine parlamentarische Mehrheit
und eine mobilisierungsfähige soziale Basis verfügt.15
Erinnern wir uns an die Lehren aus Chile und wie 1973
Salvador Allende und der institutionelle Weg zum
Sozialismus der Unidad Popular zugrunde gerichtet
wurden. Deshalb beweist eine Regierung der Linken
und des Volkes ihren wahren Charakter darin, dass sie als
Hebel und Stimulus für die selbstorganisierten Kämpfe
der Arbeiter und der Volks- oder indigenen Bewegungen
dient. So fördert sie eine Dynamik der wirklichen
Machtgewinnung, der Transformation der sozialen
Produktionsverhältnisse, den Auf bau der Selbstverwaltung und emanzipatorische Wege hin zum „guten
Leben“. Im gegenteiligen Fall sind die politischen Kräfte
48 Inprekorr 1/2016
der Linken dazu verdammt, die herrschende Ordnung zu
verwalten und sogar in Zeiten der Instabilität sich in
bonapartistischer Manier über die Klassen zu erheben,
um den Leviathan Staat aufrechtzuerhalten und die
Herrschaft mehr oder weniger „progressistisch“ fortzuführen – unter mehr oder weniger großen Reibereien
mit den lokalen Eliten.
Unbestreitbar bieten die aktuelle Wendung und die
Zweifel sowohl Gefahren wie Möglichkeiten; das ist
auch der Moment, um erneut Neues zu diskutieren,
ohne „das Alte“ zu vergessen , um über antikapitalistische Strategien und deren Instrumente zu reden, die
geeignet sind, das aufzubauen, was nach unserem
Vorschlag „lateinamerikanischer (‚nuestroamericano‘)
Ökosozialismus für das 21. Jahrhundert“ heißen könnte.
Das ist ein Projekt, das weder ein Abklatsch noch eine
Kopie sein soll. Es wird sich nicht mehr durch kurzlebige
Wahltaktiken oder Kämpfe von Caudillos und bürokratischen Apparaten ersticken lassen, aber auch nicht der
Illusion des Auf baus von autonomen, pluralen Sozialstrukturen ohne ein gemeinsames, bis zu einem gewissen
Minimum zentralisiertes politisches Projekt erliegen.
Dieser Vorschlag erfordert, Augen, Nase, Sinne und
Herzen den in Gang befindlichen Experimenten zu
öffnen, die sich oftmals unter oder über dem Radar der
Mainstreammedien abspielen. Ohne Zweifel sind sie
zerstreut und wenig miteinander verbunden, aber sie
formen gemeinsam einen riesigen Strom von Kämpfen,
die in permanenter Veränderung begriffen sind – im
realen und konkreten Sinne ebenso wie, was die Erfolge
und Irrtümer betrifft. Das sind Erfahrungen, die es
erlauben, emanzipatorische Dynamik und originäre
kollektive Ansätze zu verstehen, aber auch die Gefahren,
die sie gewärtigen und denen sie ausweichen müssen.
Sicherlich erlauben sie uns nicht, eine Idealform für
Versuche erfolgreicher Aufstände zu identifizieren,
sondern sie zeigen eher ein Mosaik der Praxis, des
Wissens, der Aktion. Einige davon konzentrieren sich
auf das Land und den Agrarsektor, andere mehr auf den
Produktionssektor und die besetzten Fabriken, andere
auf die Ebene von städtischen oder Stadtteilgemeinschaften, wieder andere wurden auch von staatlichen oder
sonstigen Institutionen angestoßen, werden aber durch
die Nutzer kontrolliert: Da gibt es Kämpfe der Frauen,
die gegen patriarchale Gewalt kämpfen, der Obdachlosen, der Indigenen, der Arbeiterklasse verschiedener
Länder, da sind die Beispiele der ökologischen Landwirtschaft in Kolumbien, der Rufe nach dem „guten Leben“
S ü da m e r i k a
in Ecuador, der Kommunalräte in Venezuela, der Fabriken ohne Boss in Argentinien, der selbstverwalteten
Medien in Brasilien und Chile, der Gemeindeversammlungen in Peru und Mexiko etc.
Organisierte lokale Initiativen, die die Volksmacht
ergreifen und ausüben, virulente Proteste auf den Straßen
gegen seitens der nationalen und transnationalen Mächte
orchestrierte Entscheidungen; aber auch verfassunggebende Versammlungen zur Rückgewinnung der Utopie,
Wiederaufnehmen der Zügel der Politik durch die
Staaten: Die Wege zur Emanzipation sind weit entfernt
davon, eingleisig zu verlaufen. Insoweit bedeuten Experimente auch Prüfungen, Schwankungen und Rückschläge. Für die, die mit der Aufgabe beschäftigt sind, in die
Gesellschaft und die Art, Politik zu betreiben, zu intervenieren, seien es nun die Bürger der Länder der Region
oder Frauen und Männer, die den mühsamen Weg des
Widerstandes und der Emanzipation aus anderen geographischen Regionen kennengelernt haben, sind die
komplexen, manchmal widersprüchlichen und zutiefst
ermutigenden Erfahrungen ihre Grundnahrung.16
Diese Vielstimmigkeit und die unterschiedlichen
Beispiele ermöglichen es, den Faden einer Diskussion
fortzuspinnen, die die die offenen Adern des Kontinents
durchzieht; sie erlaubt es, mehr im Voraus zu denken und
hinaus über die progressistischen Regierungsprojekte.
Gleichzeitig muss man sagen, dass es unabdingbar ist,
sozio-politische Fronten aufzubauen, um der massiv
drohenden Rückkehr der Rechten und des Imperialismus
in Südamerika zu begegnen. Vor allem anderen ist es
unsere Pflicht, gegen den Strom zu denken, gegen eine
„kontemplative, institutionalisierte, administrative Linke,
eine Linke der AspirantInnen für Funktionärsposten, eine
Linke ohne Rebellentum, ohne Vision – eine Linke ohne
Linke.“17 Und zudem müssen wir, angesichts eines
malträtierten Planeten am Rande des ökologischen und
globalen Kollapses, gegen unsere eigenen fortschrittsfixierten und teleologischen Mythen andenken. Und sicher
ist es essentiell wichtig, anzuerkennen, dass alle diese
unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse, wie die
Welt zu verändern ist, die wir hier kurz aufgeführt haben,
widersprüchlich sind und voneinander abweichen: Einige
sind isoliert und sehr lokal, andere im Gegenteil institutionsgebunden oder vom Staat abhängig. Von daher rührt
das Interesse, die großen Debatten des 20. Jahrhunderts
wieder aufzugreifen, aber aus heutiger Sicht und unter
Erinnerung an die Bilanz der schmerzhaften vergangenen
Niederlagen:
Wie ist ein postkapitalistischer und ökosozialistischer
Übergang anzugehen? Was ist die Aufgabe der parteipolitischen Werkzeuge und der Bewegungen in diesem
Übergang? Welche Rolle spielen die bewaffneten Kräfte,
das parlamentarische System, die Gewerkschaften? Sie
zerstören, sie nutzen, sie transformieren, sie vermeiden,
sie auf brechen – gut, aber in jedem Fall: wie? Und auf
welche Weise kann man Kollektivgefühl, eine kulturelle
Hegemonie und eine antikapitalistische Linke aus dem
Volk und für das Volk wieder auf bauen? Wie kann man
es vermeiden, Illusionen bezüglich kleiner, auf sich selbst
bezogener Gruppen zu schüren, und gleichzeitig es
schaffen, den staatszentralistischen bürokratischen Horror
des 20. Jahrhunderts nicht zu wiederholen?
Die große Rosa Luxemburg warnte 1915: „Sozialismus oder Barbarei“. Im Jahr 2015 bekommen ihre Worte
einen eher noch katastrophischeren und warnenderen
Gehalt: „Ökosozialismus oder globaler Ökozid“. Zweifellos ist es der „Mut zu Neuem“, mit dem wir wieder
davon träumen können, die Mauern des Kapitals einzureißen, der bezahlten Arbeit, des Neokolonialismus und
des Patriarchats:
Die Welt zu ändern – das klingt sehr ambitioniert.
Mehr noch, es scheint sehr risikoreich angesichts der
Machtgruppen, die es niemals zulassen werden, dass die
kapitalistische Zivilisation umgestürzt wird. Aber unter
den aktuellen Umständen gibt es keine Alternative. Die
Lebensbedingungen breiter Teile der Bevölkerung und
der Zustand der Erde selbst verschlechtern sich mit
wachsender Geschwindigkeit. Wir nähern uns dem
„point of no return“. Und die Option, den Planeten zu
wechseln, gibt es nicht … Wir müssen die Herausforderung annehmen. Wir müssen Rebellen angesichts der
Macht sein (und vielleicht ihre Zerstörung herbeiwünschen). Wir müssen unsere Grenzen als Menschen
innerhalb der Natur erkennen und jede Form der Ausbeutung hassen. Wir müssen die sein, die gegen die
Ungerechtigkeiten und die, die sie begehen, aufstehen.
Wir dürfen nicht resignieren. Wir müssen fortfahren, das
Unmögliche zu fordern und aufzubauen.18
Die Aufgabe hat schon begonnen, sie ist das tägliche
Brot heute und geht morgen weiter.
Santiago de Chile, Sommer 2015
Franck Gaudichaud promovierte in
Politikwissenschaft an der Université Paris VIII bei Michael
Löwy, ist Dozent im Fachbereich Lateinamerikanische Zivilisation der Université de Grenoble, Mitglied der Redaktion
Inprekorr 1/2016 49
S ü da m e r i k a
der Website Rebelion.org und aktives Mitglied der IV. Internationale. Dieser Artikel erschien zuerst in Revista Memoria:
http://revistamemoria.mx
Übersetzung aus dem Spanischen: Thadeus Pato
�
1 Solche wie der Auf bau plurinationaler Staaten, die
Durchsetzung mehr oder weniger institutionalisierter
sozialer Rechte, die Schaffung verfassunggebender Versammlungen und von Raum für Bürgerbeteiligung oder
Anstöße für eine regionale Integration.
2 García Linera, Álvaro, Las tensiones creativas de la
Revolución. La quinta fase del Proceso de Cambio, La Paz,
Vicepresidencia del Estado Plurinacional de Bolivia, 2011. In:
www.rebelion.org/docs/134332.pdf.
3 Emir Sader, “¿El final de un ciclo (que no existió)?”, Pagina
12, Buenos Aires, 17 de septiembre de 2015 y Marta Harnecker, “Los movimientos sociales y sus nuevos roles frente a los
gobiernos progresistas”, Rebelión, 07-09-2015, http://
rebelion.org/noticia.php?id=202910.
4 Man muss hier anmerken, dass für uns die aktuelle
chilenische Regierung Michelle Bachelets eindeutig
außerhalb dieser Kategorie „südamerikanischer postneoliberaler Progressismus“ zu verorten ist, da sie grundsätzlich eine
„reformistische“ Kontinuität zu den neoliberalen Regierungen der Concertación darstellt, die das Land zwischen 1990
und 2010 regierten. Siehe dazu: F. Gaudichaud, Las fisuras del
neoliberalismo. Trabajo, “Democracia protegida” y conflictos
de clases, Buenos Aires, CLACSO, abril 2015. En: http://
biblioteca.clacso.edu.ar/clacso/becas/20150306041124/
EnsayoVF.pdf.
5 Modenesi, Massimo, “Revoluciones pasivas en América
Latina. Una aproximación gramsciana a la caracterización de
los gobiernos progresistas de inicio de siglo”. In: Modenesi,
Massimo (coord.), Horizontes gramscianos. Estudios en torno
al pensamiento de Antonio Gramsci, México, fcpys-unam,
2013.
6 Zibechi, Raúl, “Hacer balance del progresismo”, Resumen
latinoamericano, 4 de agosto del 2015. In: www.resumenlatinoamericano.org/2015/08/04/hacer-balance-del-progresismo.
7 Katu Akornada, “¿Fin del ciclo progresista o reflujo del
cambio de época en América Latina? 7 tesis para el debate”,
Rebelión, 8 de septiembre del 2015, http://www.rebelion.
org/noticia.php?id=203029.
8 Massimo Modenesi, “¿Fin del ciclo o fin de la hegemonía
progresista en América Latina?”, La Jornada, 27 de septiembre del 2015.
9 Massimo Modenesi, “¿Fin del ciclo o fin de la hegemonía
progresista en América Latina?”, op. cit.
10 Jeffery R. Webber, “Ecuador en el impasse político”,
Viento Sur, 20 de septiembre de 2015,
11 Ricardo Aguilar Agramont, “Entrevista a Eduardo
Gudynas: La derecha y la izquierda no entienden a la
naturaleza”, La Razón, 23 de agosto de 2015.
12 Zibechi, Raúl, “Hacia un nuevo ciclo de luchas en
América Latina”, Gara, 3 de noviembre del 2013, http://gara.
naiz.info/paperezkoa/20131103/430771/es/Hacia-nuevo50 Inprekorr 1/2016
ciclo-luchas-America-Latina.
13 Franck Gaudichaud, “El peso de la historia. América
Latina y la mano negra de Washington”, Le Monde Diplomatique, edición chilena, julio de 2015.
14 Pablo Seguel, “América Latina actual. Geopolítica
imperial, progresismos gubernamentales y estrategias de
poder popular constituyente. Conversación con Franck
Gaudichaud”. In: gesp (coord), Movimientos sociales y poder
popular en Chile, Tiempo robado editoras, Santiago, 2015,
pp. 237-278.
15 Cf. Marta Harnecker, “Los movimientos sociales y sus
nuevos roles…”, op. cit.
16 Tamia Vercoutère, prólogo a la edición ecuatoriana del
libro América Latina. Emancipaciones en construcción
(Quitogo, IEAN, 2013).
17 Pablo Rojas Robledo, “Hay que sembrarse en las experiencias del pueblo”. Fin de ciclo, progresismo e izquierda.
Entrevista con Miguel Mazzeo”, Contrahegemonía, septiembre 2015, http://contrahegemoniaweb.com.ar/hay-que-sembrarse-en-las-experiencias-del-pueblo-fin-de-ciclo-progresismo-e-izquierda-entrevista-con-miguel-mazzeo.
18 Miriam Lang, Belén Cevallos y Claudia López (comp.), La
osadía de lo nuevo. Alternativas de política económica,
Quito, Fundación Rosa Luxemburg/Abya-Yala, 2015, pp.
191-192.
Die Internationale
52
Neue Strategie, neue Partei?
Nach dem Scheitern des politischen Projektes von Syriza ist eine kritische Einschätzung
der Strategie der breiten antikapitalistischen Parteien, wofür Syriza über einige Jahre als
Paradebeispiel galt, mehr als dringlich.
51 Inprekorr 5/2014
d i e I n t e r n at i o n a l e
Neue Strategie, neue
Partei?
Folgt aus der Feststellung, dass eine neue Periode im Kapitalismus angebrochen ist,
auch, dass die Strategie revolutionärer Parteien geändert werden muss? Braucht es dazu
neue Parteien? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Ein Blick auch in die Geschichte der
Arbeiterbewegung
Willi Eberle
„„
N
ach dem dramatischen Scheitern des politischen Projektes von Syriza1 ist eine kritische Einschätzung der Strategie der breiten antikapitalistischen
Parteien, wofür Syriza über einige Jahre als Paradebeispiel galt, mehr als dringlich.2 Zudem steht die Phase von
linken Regierungen in Lateinamerika, Regierungen,
die von Massenbewegungen vor allem der Arbeiterklasse und, insbesondere in Bolivien, auch von der armen
Bauernschaft an die Macht gebracht wurden, vor ihrem
Ende. Diese haben, wie Syriza, als ihr organisatorisches
Zentrum eine politische Partei, die sich nicht als politische Organisation der kämpfenden Arbeiterklasse (und
Bauernschaft) versteht, sondern auf eine möglichst breite
elektorale Abstützung abzielt. Zu ihrem Beginn war dies
oft anders, etwa für die brasilianische PT; diese wurde
aber im Laufe der 1990er Jahre im Stile der britischen
New Labour in eine regierungsfähige Partei umgebaut
und stellte sich ebenfalls, einmal an der Regierung, im-
52 Inprekorr 1/2016
mer häufiger gegen die kämpfenden Arbeiterinnen und
Arbeiter.
Syriza ist nun – schwer geschwächt nach dem Abstoßen der linken Elemente vor allem um die Linke
Plattform, die dann die „Volkseinheit“ (!) gründeten – in
Griechenland die politische Kraft, die die Ausbeutungspolitik der Troika umsetzt. Aber es zeichnet sich ab,
dass sie fortan auf die Unterstützung der traditionellen
Memorandums-Parteien angewiesen ist und eine große
Koalition mit diesen anstrebt.3 Denn sie trifft auf den
wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse, die sich seit
Mitte November innerhalb von drei Wochen bereits
mit zwei gut befolgten Generalstreiks gegen die SyrizaRegierung gestellt hat.
Eines steht nun fest: Die Syriza Regierung hat den
zynischen, triumphalistischen Leitspruch „There is no
alternative“ (TINA) von Margaret Thatcher, der britischen Premierministerin Ende der 1980er Jahre, einmal
d i e I n t e r n at i o n a l e
mehr praktisch bestätigt. Beispielsweise ist die spanische Podemos – ein anderer Hoffnungsträger für viele
Formationen aus der radikalen Linken – kurz nach dem
Einknicken von Alexis Tsipras von Mitte Juli noch mehr
abgerückt von einem Programm eines Schuldenmoratoriums, geschweige denn, dass noch von irgendwelchen
Forderungen nach einem einseitigen Schuldenschnitt,
die noch vor eineinhalb Jahren hoch im Kurs standen,
die Rede wäre.4
Neue Periode
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzte eine
Kampfphase der internationalen Arbeiterklasse ein, die
die Strukturen der bürgerlichen Herrschaft weltweit
ins Wanken brachte. Sie erlebte ihre Höhepunkte unter
anderem im französischen Mai, im italienischen heißen
Herbst (1969 bis 1976), in der Nelkenrevolution in Portugal (1974), in der Rätebewegung unter der VolksfrontRegierung in Chile (1970), im Prager Frühling (1968),
in der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung in den
USA, den großen Streiks in England, den Aufständen
in Lateinamerika und in Asien und in den Jugendrevolten in Mexico und in Tokio und anderswo. Überall
jedoch konnte sich die Bourgeoisie auf die traditionellen
politischen Organisationen der Arbeiterbewegung oder
die nationalen Befreiungsbewegungen oder auf beides
stützen, um ihr zentrales Herrschaftsinstrument, den
bürgerlichen Staat, vor dem Ansturm der Arbeiterklasse und der Bauernbewegungen zu schützen, den neuen
Verhältnissen anzupassen und weiterzuentwickeln.
Diese Kämpfe waren in Europa gegen die einsetzenden Angriffe auf Errungenschaften aus der vorangehenden wirtschaftlichen Boomphase gerichtet oder aber sie
zielten darauf, mehr (höhere Löhne, lockere Arbeitsrythmen, mehr Freiheit, mehr soziale Absicherung usw.)
herauszuholen, als die Unternehmer angesichts der heraufziehenden Strukturkrise bereit waren, herzugeben.5
Besonders eindrücklich gestaltete sich, nebst anderen, der Auf bruch der Arbeiterklasse in Chile unter der
Regierung der Unidad Popular (Volkseinheit, November 1970 bis 11. September 1973). Diese hatte radikale
Reformen zugunsten der Lohnabhängigen, der bäuerlichen Bevölkerung und der Armen eingeleitet und
gleichzeitig gegenüber den Christdemokraten in einem
Geheimabkommen absolute Verfassungstreue gelobt.
Dies brachte sie in eine immer stärkere Zwickmühle,
da die Arbeiterklasse und die Bauernbewegung mit der
Besetzung von Ländereien und Fabriken und mit dem
Auf bau von Versorgungs- und Selbstverteidigungskomitees begannen, landesweite Rätestrukturen bis hin zu
einer Doppelmachtsituation zu entwickeln. Die Armee
setzte dieser arbeiter-demokratischen Entwicklung am
11. September 1973 mit tatkräftiger Unterstützung des
US-Imperialismus ein äußerst brutales Ende.6
General Pinochet, der Führer des Putsches, erklärte
kurz nach dem Putsch auch gleich, um was es dabei ging:
„Der Auf bau einer Nation besteht darin, aus Chile ein Land von Eigentümern, nicht Proletariern zu
machen … Es sind die Reichen, die Geld schaffen. Sie
müssen gut behandelt werden, damit sie mehr Geld hervorbringen.“
Es ist dies das Programm der Austeritätspolitik und
des Neoliberalismus, wie es mittlerweile weltweit gegen
die Arbeiterklasse und die breite Bevölkerung durchexerziert wird. Man sieht bereits aus dieser brutalen Eröffnungsparade der Bourgeoisie für die neue Periode, dass
sie sich keinesfalls auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken will, wenn es um die Sicherung
ihrer Herrschaft und die Durchsetzung ihrer Angriffe auf
die Arbeiterklasse geht.
In der Tat war der Kapitalismus in der zweiten Hälfte
der 1960er Jahre in eine sich auf mehreren Ebenen äußernde strukturelle Krise eingetreten. Die hohen Profite
der mehr als 20 vergangenen Jahre begannen abzuflachen, die Wachstumsraten sanken, die Oberhoheit des
US-Imperialismus konnte sich zunehmend nur mehr
militaristisch halten, was angesichts des hohen Blutzolls
und der Gräueltaten im Vietnamkrieg zu einer starken
Antikriegsbewegung an der Heimatfront führte. Und
die Unternehmer versuchten, die anziehenden wirtschaftlichen Probleme, oft mit Hilfe des Staates, auf die
Arbeiterklasse abzuwälzen, was zu einer schnell anwachsenden proletarischen Militanz führte. Die Jugend aus
den aufsteigenden Mittelschichten fand sich zudem nicht
mehr ab mit dem autoritären Mief der Nachkriegszeit.
Die Arbeiterklasse, zumindest ihre kombativeren
(svw. kämpferischeren) Segmente waren, wenn überhaupt, in den traditionellen staatstragenden Parteien der
Arbeiterbewegung organisiert, den kommunistischen
Parteien und teilweise der Sozialdemokratie. Eine Avantgarde unter ihnen jedoch suchte eher in den politischen
Organisationen der radikalen Linken eine revolutionäre
Antwort zu finden. In Frankreich etwa schloss die KPF
mit der Bourgeoisie Ende Mai 1968 das Abkommen von
Grenelle, das den Arbeitern und Arbeiterinnen zwar
bedeutende Lohnerhöhungen zugestand (die dann durch
Inprekorr 1/2016 53
d i e I n t e r n at i o n a l e
die Inflation bald aufgezehrt waren), aber den bislang
größten Streik in der Geschichte des Kapitalismus abwürgte. Deren Führung hoffte, damit den Eintrittspreis
in eine neue Regierung zu begleichen – dieser Dienst
sollte allerdings erst über zehn Jahre später unter der
ersten Regierung Mitterand belohnt werden. In Italien
versuchte die KPI mit ihren Vorschlägen einer Unterwerfung unter die Democrazia Cristiana im Rahmen des
sogenannten historischen Kompromisses wieder Regierungspositionen zu erobern, unter dem Versprechen,
die «wilde Arbeiterklasse» wieder in den Normalbetrieb
bürgerlicher Herrschaft einzuordnen. All dies waren
entscheidende Faktoren, diese stürmische Periode von
Vorstößen der Arbeiterklasse in anhaltende politische
und soziale Niederlagen zu führen.
Fortan gab eine neue Logik unter den Führungen der
Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der stalinistischen Parteien und ihrer Zerfallsprodukten den Ton an.
Helmut Schmidt, Führer der SPD und Regierungschef
einer sozialliberalen Koalition in Deutschland um die
Mitte der 1970er Jahre, brachte sie folgendermassen auf
den Punkt: „Die Profite von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“. Diese Logik der Kapitulation verstärkte vorerst
bei weiten Segmenten der Arbeiterklasse eine um sich
greifende Lähmung. Diese litten ab den 1970er Jahren
zum ersten Male seit dem Ende der 1940er Jahre unter
Massenarbeitslosigkeit und waren durch die fortwährenden Rückschläge in ihren Kämpfen eh schon zurückgeworfen; diese schweren Rückschläge waren zum großen
Teil verursacht durch das hartnäckige Festhalten ihrer
traditionellen Führungen an einer Politik der Klassenzusammenarbeit im Gravitationsfeld der Unterwerfung
unter die Regeln des bürgerlichen Staates und der Sozialpartnerschaft.
Linke Regierungen
Ab den 1970er Jahren setzte eine deutliche Rechtsentwicklung der traditionellen, staatstragenden Parteien
der Arbeiterbewegung ein. Olof Palme, der intelligente
Führer der schwedischen Sozialdemokratie, der damals
zum äußerst linken Flügel der europäischen Sozialdemokratie gezählt wurde, antwortete 1975 auf die Frage,
weshalb er als Regierungschef bereits in zwei Amtsperioden eine Austeritätspolitik betrieben habe: „Wir Sozialisten leben gewissermaßen in einer Symbiose mit dem
Kapitalismus“.7 Die vielleicht konsequenteste Rechtsentwicklung setzte ab dem Ende der 1970er Jahre bei der
54 Inprekorr 1/2016
britischen Labour-Partei ein, nachdem in Massenstreiks
1974 die konservative Regierung Heath zu Fall gebracht
wurde, und das politische System Großbritanniens in
eine tiefe Krise geriet.
Die stalinistischen Parteien verwandelten sich bis auf
wenige Ausnahmen in einer weiteren Rechtsentwicklung in eurokommunistische Parteien, wobei oft die
Vorstellung eines linken Pols gegenüber der Sozialdemokratie mitspielte. So würde ihnen ihre Verankerung
in linken Segmenten des Volkes (!) die Kolonialisierung
des bürgerlichen Staates ermöglichen, und insbesondere würde ihre Beteiligung an sogenannten linken
Regierungen erlauben, Druck von links auf die Sozialdemokratie und auf das Monopolkapital auszuüben.
Eine Vorstellung, wie sie für den Zentrismus seit jeher
charakteristisch ist und wie sie in der Volksfrontstrategie seit Mitte der 1930er Jahre zum zentralen Requisit
in der Strategie der stalinistischen und später der eurokommunistischen Parteien wurde. In seiner kritischen
Auseinandersetzung mit dem Eurokommunismus stellte
Ernest Mandel gegen Ende der 1970er Jahre zu dieser
Problematik fest:
“Diese [eurokommunistischen] Parteien können
sich nicht unter dem Druck der Massen in revolutionäre
Parteien verwandeln. … Die Zusammenarbeit mit der
Bourgeoisie oder gar ein historischer Kompromiss sind
nicht mehr möglich auf der Basis neuer Reformen, neuer
sozialer Erungenschaften, sondern fordern neue Opfer,
die der Arbeiterklasse auferlegt werden, um die Profitrate … zu steigern».8
Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die damit
verbundene schwere Krise der stalinistischen Parteien
und der ideologische Niederschlag des vermeintlichen
Endes der Geschichte wirkten sich im Zusammenhang
mit den schweren wirtschaftlichen Krisen der 1990er
Jahre als Faktoren für eine noch weitere Rechtsentwicklung des politischen Spektrums der staatstragenden
Linken aus.
Gleichzeitig aber wurde Mitte der 1990er Jahre ein
proletarischer Kampfzyklus eröffnet, der bis gegen die
Mitte der 2000er Jahre andauern sollte. Dieser Zyklus
brachte in Lateinamerika links-populistische Regierungen an die Macht (Brasilien, Venezuela, Bolivien,
Ecuador etc.), die aus politischen Organisationen hervorgingen, die oft ein Bündnis aus verschiedensten Parteien
umfassten. In Europa wurden in diesem Zyklus eher die
traditionellen staatstragenden Parteien der Arbeiterbewegung gestärkt. Dieser Kampfzyklus konnte letztend-
d i e I n t e r n at i o n a l e
lich – mangels einer angemessenen politischen Führung
– der Vorwärtsbewegung des Kapitals kaum Widerstand
entgegensetzen.
Die Diskussion um eine neue Strategie für die radikale
Linke wurde dadurch angefeuert. Es wurde argumentiert,
dass es möglich wäre, antikapitalistische Massenparteien
über elektorale Prozesse aufzubauen. Dazu aber müsse
endlich der alte Ballast, den revolutionäre Parteien mit
sich führen, hinter sich gelassen werden. Programm- und
Strategiedebatten, vor allem um die Natur des bürgerlichen Staates, das Ziel einer Diktatur des Proletariats, der
Begriff des Klassenkampfes und der Arbeiterklasse würden nur den Weg versperren, um den Zugang zu diesen in
Bewegung geratenen Massen zu finden. Dann könnten die
Voraussetzungen geschaffen werden für linke Regierungen, um sich erfolgreich gegen die Angriffe auf die Errungenschaften der Arbeiterklasse der vergangenen Periode
stellen zu können.9 Entsprechend entstanden ab dem Ende
der 1990er Jahre solche Formationen, vor allem in Europa,
meistens um eurokommunistische Parteien herum gruppiert, wie 2004 beispielsweise Syriza in Griechenland. Die
seit den 1980er Jahren zweite, heftigere, aber kürzere Periode von Massenmobilisierungen, die von 2010 bis 1012
dauerte, wo etwa 50 Millionen Menschen in Nordafrika,
Syrien, Spanien, Griechenland, Frankreich und anderswo
Regimes stürzten oder ins Wanken brachten, verstärkte
diese Debatte umso mehr. Nach dem steilen Aufstieg von
Syriza bei den beiden Wahlzyklen von 2012 schien vielen
Kadern der radikalen Linken klar zu sein, wo ’s lang gehen
sollte im Widerstand gegen die Austeritätspolitik und wie
die oft in einem Ghetto arbeitende revolutionäre Linke
ihre Isolation überwinden könnte.
Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben unmissverständlich gezeigt, dass eine „linke Regierung
die Arbeiterbewegung nur soweit stärkt, als die Arbeiterklasse, oder zumindest deren Avantgarde, sich keine
Illusionen über eine solche Regierung macht. Je stärker
und unabhängiger die Arbeiterbewegung ist, desto mehr
Reformen kann sie einer solchen Regierung abringen. Je
mehr sie auf ihre eigenen Organisationen vertraut, desto
mehr ist der Weg frei für eine grundsätzliche Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen der Arbeiterklasse
und ihren Verbündeten einerseits und der Bourgeoisie
andereseits. Je mehr sie sich aber an die staatliche Macht
bindet, umso größer ist die Gefahr einer bürgerlichen
Reaktion”.10
Eine linke Regierung ist keinesfalls eine revolutionäre Regierung, die sich im Prozess der Zerschlagung des
bürgerlichen Staates herausbildet. Sie verbleibt vielmehr
in diesem, lässt diesen intakt und funktioniert so – über
den Staat – unvermeidlich als Koalition mit der Bourgeoisie.
Strategie
Eine revolutionäre Strategie sollte Antworten geben auf
die Frage, wie die Herrschaft der Bourgeoisie zurückgedrängt, eine Doppelmachtsituation geschaffen und dann,
in einer revolutionären Machtergreifung, der bürgerliche
Staat zerschlagen werden kann.
Wir stehen angesichts der immer brutaleren Angriffe
der Bourgeoisie, die offensichtlich selbst vor großen Katastrophen nicht Halt machen wird, vor weiteren großen
Wellen von Massenaufständen. Und das Problem wird
sein, ob diese Erhebungen – anders als in den vergangenen 40 Jahren – diesen Angriffen etwas entgegensetzen
können. Und dies wird nur möglich sein im Rahmen
einer Strategie, die geduldig und hartnäckig auf diejenigen Segmente der Gesellschaft, insbesondere der Arbeiterklasse setzt, die am kampferprobtesten sind und am
entschlossensten die Machtfrage ansteuern. Denn, wie
Walter Benjamin in seiner 12. These über die Geschichte
bemerkte: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die
kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“. Und nicht die
Mittelschichten, an denen beispielsweise das Projekt von
Syriza und weitere primär elektoral ausgerichtete Projekte, wie beispielsweise Podemos in Spanien, anknüpfen.11
Lenin war in all seinem politischen Denken und
Handeln mit der Frage beschäftigt, was tatsächlich notwendig wäre, damit das Proletariat die Macht ergreifen
könnte. Nicht rhetorisch oder theoretisch, sondern
tatsächlich, und dann genau das zu tun. Die primäre
Aufgabe der bolschewistischen Partei lag darin, den
entscheidenden Beitrag für den Auf bau eines politischen
Instrumentes zu schaffen, das dem klassenbewussten,
organisierten Proletariat erlaubt, den Staat und die herrschenden Machtverhältnisse umzustürzen und an dessen
Stelle eine sozialistische Demokratie aufzubauen. Dies
bedeutete für ihn bei weitem mehr, als über Wahlverfahren im bürgerlichen Staat an die Regierung zu gelangen;
ja, der bürgerliche Staat musste durch die Arbeiterklasse
in der Schaffung von arbeiter-demokratischen Strukturen der proletarischen Selbstorganisation, in einer
proletarischen Klärung der geschaffenen Doppelmachtsituation, zerschlagen werden.12 Diese strategische Orientierung war entscheidend für den Erfolg der Oktoberrevolution.
Inprekorr 1/2016 55
d i e I n t e r n at i o n a l e
In einem Aufsatz aus dem Jahre 2006 bezieht sich
der marxistische Intellektuelle und Führer der damaligen LCR, Daniel Bensaïd, auf die Auswirkungen in
den Reihen des Marxismus des nachhaltigen Rückzugs
der internationalen Arbeiterbewegungen seit der Mitte
der 1970er Jahre als „Nullpunkt der Strategie“, d. h. des
Verschwindens von Auseinandersetzungen und politischen Kämpfen zwischen den Strömungen der extremen
Linken um entscheidende Probleme wie die proletarische
Selbstorganisation, den Fokismus, die Teilnahme oder
Nichtteilnahme von Revolutionären an Volksfronten
usw.13
Laut Bensaïd stehen sich seit der zweiten Nachkriegszeit zwei große „strategische Hypothesen“ gegenüber.
Eine der beiden nennt er „aufständischen Generalstreik“,
die trotz aller Ungenauigkeit oder Vereinfachung auf
eine Revolutionsstrategie mit Vorbild in der russischen
Oktoberrevolution von 1917 hinweist. Dies bedeutet
eine Revolution, die von der Arbeiterklasse im Bündnis
mit den subalternen Klassen angeführt wird. Diese stützt
sich auf die Sowjets oder die Arbeiter- und Bauernräte
als Organe der Selbstbestimmung und eignet sich die
Macht mit Hilfe eines bewaffneten Aufstandes an, der
von einer revolutionären marxistischen Partei angeführt
wird. Die andere nennt er die „graduelle Strategie“, das
was gemeinhin als Reformismus bezeichnet wird. Dieser
stützt sich auf den Syndikalismus und den Parlamentarismus als Methoden, um teilweise Verbesserungen zu
erreichen. Hierbei handelt es sich bis heute um das wichtigste politische Phänomen, das nicht nur traditionelle
reformistische Parteien umfasst – Sozialdemokraten, Stalinisten, Labouristen – sondern auch die Gewerkschaftsführungen, durch die die bürgerliche Ideologie weiten
Teilen der Lohnabhängigen übermittelt wird.
Ohne hier weiter auf das Argument von Bensaïd eingehen zu können, wollen wir kritisch seine Schlussfolgerung herausstreichen, dass das „Modell des Oktober“
heute keine angemessene strategische Hypothese mehr
darstelle. Dieses Argument hat in der Tat eine erdrückende Breitenwirkung erlangt, und hat sich unter anderem in den Strategien zum Auf bau sogenannter breiter
antikapitalistischer Massenparteien niedergeschlagen, die
primär elektoral die Regierungsmacht erobern wollen,
um die Angriffe, z. B. die Austeritätspolitik, abzuwehren. Dies war ja genau das Projekt von Syriza.14
Diese Diskussion ist nicht von geringer Bedeutung.
Nach vier Dekaden eines tiefgreifenden Rückgangs des
ideologischen Bewusstseins ist die soziale Revolution als
56 Inprekorr 1/2016
Alternative zum kapitalistischen System und im Besonderen die Hypothese des aufständischen Generalstreiks
gründlich hinterfragt und aus den strategischen Debatten gelöscht worden, nicht nur von (post)marxistischen
Intellektuellen, sondern auch von Organisationen der
marxistischen Linken selbst. Von daher etwa die Bedeutung des chavistischen Regimes in Venezuela und der
Debatte um einen «Sozialismus des 21. Jahrhunderts»
oder neuerdings des Syriza-Projektes.
Partei
Eine revolutionäre Strategie muss erstens den Willen eines politisch erfahrenen, maßgebenden, kämpfend nach
vorne drängenden Teils des Proletariats, einer Avantgarde, ausdrücken, zweitens braucht es ein politisch-organisatorisches Instrument, das diese Strategie praktisch repräsentiert und dessen Verwirklichung, dessen praktische
Umsetzung anführt. Und drittens muss diese Strategie
organisch verankert sein in dieser Avantgarde.
Die kollektiv, demokratisch erarbeitete, ja erstrittene politische Handlungsorientierung, um die sich diese
Avantgarde sammelt, das revolutionäre Programm, ist
maßgebend für eine revolutionäre marxistische Partei.
Ob sie breit ist oder nicht, wird – neben anderen Faktoren – durch die Reife der Arbeiterklasse bestimmt. Sind
wir bereit, uns für den Sturz des Kapitalismus zu organisieren? Sind alle unsere täglichen Interventionen in
den Kämpfen, Kampagnen und Debatten darauf ausgerichtet, eine Bewegung zu entwickeln, die anstelle der
herrschenden Despotie eine befreite, auf demokratischer
Planung beruhende Gesellschaft hervorbringen kann?
Sind wir für ein Programm, das diese Orientierung als
Grundlage hat? Der Ansatz der breiten antikapitalistischen Parteien jedenfalls scheint in eine andere Richtung
zu gehen.15
Trotzki schrieb 1937 in Bolschewismus und Stalinismus:
„Reaktionäre Epochen wie die unsere zersetzen und
schwächen nicht nur die Arbeiterklasse und isolieren
ihre Avantgarde, sondern drücken auch das allgemeine
ideologische Niveau der Bewegung herab und werfen
das politische Denken auf bereits längst durchlaufene
Etappen zurück.
Die Aufgabe der Avantgarde besteht unter diesen
Umständen vor allem darin, sich nicht von dem allgemeinen, rückwärts flutenden Strom davontragen zu
lassen – es heißt gegen den Strom schwimmen. Wenn
ein ungünstiges Kräfteverhältnis es nicht erlaubt, die
früher eroberten politischen Positionen zu wahren, gilt
d i e I n t e r n at i o n a l e
es, sich wenigstens auf den ideologischen Positionen zu
halten, denn sie sind der Ausdruck einer teuer bezahlten
vergangenen Erfahrung. Dummköpfen erscheint eine
solche Politik als Sektierertum. In Wirklichkeit bereitet
sie nur einen gigantischen neuen Sprung vorwärts vor,
zusammen mit der Welle des kommenden historischen
Aufschwungs.“
Ich denke, dies trifft gerade auch auf unsere Periode zu. Der Auf bau einer echten revolutionären Partei
mit Massencharakter ist nur möglich auf der Grundlage
eines breiten, klassenbewussten Teils der Arbeiterklasse.
Inmitten des revolutionären Aufschwungs von 1905 in
Russland argumentierte Lenin gegen einen Aufruf an
alle revolutionären Gruppen, ihre inhaltlichen Differenzen in den Hintergrund zu drängen und sich in einer
einzigen Organisation zu vereinen. Er schrieb: „Im
Interesse der Revolution sollte unser Ideal keinesfalls
sein, alle Strömungen und Auffassungen in einem revolutionären Chaos zu verschmelzen“. (Zitat in LeBlanc).
Ich denke, dass die Bedingungen für ein erfolgreiches
Projekt von Massen-Anti-Austeritätsparteien auf parlamentarischer Grundlage, geschweige denn von revolutionären Parteien mit Massencharakter vorläufig nirgends
gegeben sind. Momentan gilt es, „gegen den Strom zu
schwimmen“, die historischen Erfahrungen einzuverleiben und in den Interventionen aus diesem unverzichtbaren Schatz zu zehren. Um immer und überall in den
Kämpfen darauf hinzuweisen, dass die sich türmenden
Probleme, denen sich die Arbeiterklasse gegenübersieht,
eng mit der Eigentumsfrage zusammenhängen. Dass deren Lösung nur durch eine proletarische Lösung, mit der
Errichtung einer proletarischen Demokratie, durch einen
langen und heftigen Kampf gegen die Bourgeoisie und
ihren Staat zu erreichen sein wird. Und nicht durch den
Marsch durch die Institutionen des vorderhand immer
noch bürgerlichen Staates.
Und in Was tun? (1902) schreibt Lenin über die
Eigenschaften der Vertreterinnen und Vertreter dieser
Avantgarde:
„Man kann nicht genug betonen, dass … das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer
Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muss, der es
versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auftreten mögen, welche
Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der
Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu
zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um
Inprekorr 1/2016 57
d i e I n t e r n at i o n a l e
vor aller Welt seine sozialistische Überzeugung und seine
demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und
jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariates klarzumachen.“
Nun, dies sind nicht gerade Eigenschaften von Leuten
und Parteien, die nach Parlamentsmandaten und Regierungspositionen streben und zu diesem Zwecke zu allen
möglichen Zugeständnissen an die Bourgeoisie und/oder
an die retardierenden Segmente der Lohnabhängigen
und der Mittelschichten bereit sind.
Willi Eberle animiert die Webseite
maulwuerfe.ch, ist Mitglied der Schweizer Gauche anticapitaliste / Antikapitalistische Linke und lebt in Zürich.
1 Siehe etwa : Willi Eberle: Das Syriza-Debakel und die
verkannte Machtfrage unter maulwuerfe.ch vom 16.
September 2015. Siehe auch den Beitrag in Inprekorr Nr.
2/2014 {508/509] (März/April 2014) „Breite Parteien“ und
die Machtfrage in geschichtlicher Perspektive.
2 Siehe den Vorschlag der belgischen LCR-SAP: L’épreuve
de force grecque et l’urgence du débat stratégique à gauche
unter www.lcr-lagauche.org vom 15. Juli 2015.
3 Stathis Kouvelakis: ¿Hacia una gran coalición proausteridad? unter vientosur.info vom 25. November 2015.
Diese Entwicklung von Syriza war eigentlich spätestens
einige Tage nach dem Regierungsantritt von Ende Januar
2015 absehbar. Siehe dazu den unter Fußnote 1 aufgeführten
Beitrag, der einige einschlägige Quellen anführt.
4 Siehe z. B. Antonio Maestre: El fracaso de Podemos en su
intento por huir de la etiqueta extrema izquierda auf www.
lamarea.com vom 9. August 2015. Siehe dazu auch den Beitrag von Michel Husson: Podemos tras la rendición griega
unter vientosur.info vom 13. November 2015.
5 Siehe dazu etwa: Chris Harman: The Fire last Time. 1968
and after. Second edition. 1998; Philip Armstrong, Andrew
Glyn, John Harrison: Capitalism since 1945. 1984. Michel
Husson: Misère du capital. Une critique du néolibéralisme.
1996. Zu der Entwicklung bis hin zu Doppelmachtsituationen und den verfehlten politischen Ansätzen der Linken,
vor allem im Rahmen der Volksfrontstrategie, die diese
zum Scheitern brachte: Colin Barker (ed.): Revolutionary
Rehearsals. 1987.
6 Siehe dazu u.a. den Beitrag von Mike Gonzalez in Colin
Baker, op. cit. Und die sehr gute Broschüre: AL-Antifaschistische Linke: Chile 1973. Der Putsch der Generäle und das
Versagen der Regierung Allende. 2003.
7 Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The
West European Left in the Twentieth Century. 1996, Seite
747.
8 Ernest Mandel: Kritik des Eurokommunismus. Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus? 1978, Seite 53.
9 Diese hier etwas polemisch verkürzt wiedergegebene Position über «breite antikapitalistische Parteien» kann vielerorts
ausführlich nachgelesen werden, z.B. bei Murray Smith,
58 Inprekorr 1/2016
dem Gründer der Scottish Socialist Party, unter ‚Broad left
parties‘: Murray Smith replies to Socialist Alternative‘s
Mick Armstrong unter links.org vom 23. Juni 2014. Die
Nummern 169 (2003) bis 187 (2008) von Critique Communiste, der theoretischen Zeitschrift der damaligen französischen LCR, geben ein breites und nuanciertes Spektrum
dieser Debatte. Ein interessanter aktueller Austausch nebst
vielen anderen ist etwa der zwischen Catarina Principe (aus
dem portugiesischen Bloco de Esquerda) & Dan Russell:
Asking the Right Questions unter www.internationalviewpoint.org vom 18. September 2015 und der Replik
von Todd Chretien: What parties? – A debate: where do
socialists belong? unter www.europe-solidaire.org vom
19. September 2015.
10 Chris Harman and Tim Potter: The workers government unter isj.org.uk . Dieser Aufsatz stammt aus dem Jahre
1977 aus Anlass einer Debatte in der italienischen radikalen
Linken, dem historischen Kompromisses der PCI eine alternative linke Strategie zur Bildung einer linken Regierung
gegenüberzustellen. Siehe auch Paul Blackledge: Once more
on left reformism: A reply to Ed Rooksby unter isj.org.uk
vom 9. Januar 2014.
11 Hierzu auch : Nico Biver: Ist Syriza eine politische Formation der Mittelschichten? unter maulwuerfe.ch vom 8.
August 2015.
12 Paul LeBlanc: Organising for 21st century socialism -Reflections on the history and future of Leninism unter
links.org.au vom 8. Juni 2013. Dazu auch sein Buch: Lenin
and the Revolutionary Party. 1990. Siehe dazu natürlich
weiterhin W.I.Lenin : Staat und Revolution. 1917.
13 Sur le retour de la question politico-stratégique in Critique Communiste 181, Seiten 102ff. Siehe auch die kritische Intervention von Claudia Cinatti: Welche Partei für
welche Strategie? Unter www.ft-ci.org vom 2. November
2008.
14 Beispielsweise Antoine Artous: La LCR et la gauche: sur
quelques questions stratégiques. Critique communiste Nr
176, Seiten 175ff.
15 Siehe unter anderem: Mick Armstrong: A response to
Peter Boyle‘s ‚What politics to unite the left?‘ unter www.
greenleft.org.au vom 14. Dezember 2012
R e g i s t e r 2 0 15
Register 2015
Register nach Ländern
Titel
Afrika
Ist Afrika im Aufbruch?
Argentinien
Schwanengesang des Kirchnerismus
Belgien
Die LCR, die PTB, die Gewerkschaftslinke
und die Perspektiven
Bolivien
Bolivien: Anti- oder Staatskapitalismus
Brasilien
Brasilien – „die Patronin der Reichen”
Chile
Aufruhr in der politischen Szenerie
Soziale Kämpfe nach 2011
China
China und das „Chinesische Meer”
Die chinesische Finanzblase platzt
Deutschland
Gravitationszentrum des europäischen
Kapitalismus
Ecuador
Es war einmal … die Bürgerrevolution:
Europa
Immer konkurrenzfähiger – auf Kosten
der Löhne
Weltweite Flüchtlingskrise und Krise der
EU
Die europäische(Des-)Integration
Frankreich
Wider das Denkverbot
Streik gegen die Gymnasialreform!
Gebrauchsfähig für den Arbeitsmarkt
Mehr finanzielle Mittel statt Reformen!
Die Mobilisierung geht weiter
Für die Ausweitung des Kampfes!
Griechenland
Reform und Wandel?
Die Aufgaben der Linken nach dem Sieg
von SYRIZA
Nach dem Sieg für SYRIZA –
Mobilisierung gegen die Sparpolitik
Die Syriza-Regierung in den Fängen des
Neoliberalismus
Solidarität mit dem griechischen Volk!
AutorIn
HeftSeite
Firoze Manji, Jean
Nanga
2/2015
35
Marcelo N.
1/2015
41
Leitung der LCR/
SAP
1/2015
8
Virginia de la Siega 1/2015
44
Jean-Philippe Divès 1/2015
39
5/2015
Sergio Grez
Sergio Grez, Franck 5/2015
Gaudichaud
26
29
Pierre Rousset
Martine Orange
1/2015
5/2015
20
34
Heinz Jandl
5/2015
57
Jean-Philippe Divès 1/2015
36
Michel Husson
2/2015
30
Pierre Rousset
6/2015
4
Yann Cézard
6/2015
7
Julien Salingue
Nationale Bildungskommission der
NPA
Vincent Présumey
Galia Trépère
2/2015
5/2015
17
24
5/2015
5/2015
5/2015
Nationale Bildungs- 5/2015
kommission der
NPA
25
26
26
26
Panagiotis Sotiris 2/2015
Diethnistiki Ergatiki 2/2015
Aristera (DEA)
Andreas Sartzekis 2/2015
4
7
Kokkino Diktyo
3/2015
5
3/2015
6
3/2015
8
3/2015
4/2015
4/2015
4/2015
11
5
9
12
4/2015
4/2015
4/2015
15
19
21
Internationales
Komitee der IV.
Internationale
Das gebrochene Versprechen der Syriza- Giannis Kastanos
Regierung
Eine Art anderer Staat?
Todd Chretien
Die Schlinge zieht sich zu …
Jean-Philippe Divès
Die Wurzeln der Krise in Griechenland
Henri Wilno
Keine Zugeständnisse an die Verfechter Sotiris Martalis
der Austerität
Keynes oder Marx?
Michael Roberts
Seien wir ehrlich
Jonathan Neale
Neue Zeiten, neue Parteien, alte Fragen Daniel Tanuro
9
Éric Toussaint
4/2015
Ansatzpunkte für ein Schuldenaudit
Griechenlands
Der blutige Kampf des Imperialismus
Marc Pavlopoulos 4/2015
gegen die Résistance
Demut kommt vor dem Fall
MiWe
5/2015
Von links außen gegen das TsiprasAndreas Sartzekis 5/2015
Memorandum
5/2015
In Griechenland und ganz Europa die
Sotiris Martalis
Gegenoffensive aufbauen
LCR/SAP (Belgien) 5/2015
Die Machtprobe in Griechenland
und die Dringlichkeit einer linken
Strategiedebatte
5/2015
Grexit – für einen Tabubruch in der linken Daniel Tanuro
Debatte!
Für einen Gegenangriff der Arbeiterklasse OKDE-Spartakos 5/2015
auf das „linke“ Memorandum!
Der Kampf geht weiter
Stathis Kouvelakis 5/2015
OKDE-Spartakos 6/2015
Erklärung zu den Wahlen am 30.9.
Italien
Italien – das Ende der Friedhofsruhe?
Andrea Martini
1/2015
Die Gewerkschaften und das
Franco Turigliatto 3/2015
Zweigespann Renzi-Quinzi
Schulen im Dienste der Unternehmen!
Francesco Locantore5/2015
Die Heuchelei der Regierenden
Chiara Carratú
5/2015
Kuba
Kuba – ein Pyrrhussieg?
Erklärung des Büros 2/2015
der IV. Internationale
Kurdistan
Von der stalinistischen Raupe zum
Alex de Jong
4/2015
libertären Schmetterling?
Lateinamerika
Jean-Philippe Divès 1/2015
Ebbt die linke Welle ab?
Lateinamerika – Ende des Booms
Claudio Katz, Henri 1/2015
Wilno
Mexiko
LehrerInnen gegen Peña Nieto
Manuel Aguilar
5/2015
Niederlande
Wohin geht die Sozialistische Partei?
Pakistan
Solidarität mit Baba Jan!
Palästina
Erklärung der IV. Internationale zu
Palästina
Alex de Jong
59
4
5
9
11
14
16
18
60
17
42
22
23
20
35
31
32
31
1/2015
4
4/2015
64
3/2015
30
5/2015
31
2/2015
22
2/2015
11
6/2015
34
4/2015
46
3/2015
38
Uraz Aydın
1/2015
24
Metin Feyyaz
Alex de Jong
4/2015
4/2015
31
35
Internationales
Komitee der IV.
Internationale
Québec
Studierendenbewegung flammt erneut
auf
Schweiz
Eine (beinahe) entwaffnete Arbeiterklasse Willi Eberle
Spanischer Staat
Welchen Weg geht Podemos
Manuel Garí
Subsahara-Afrika
Imperialistische Fremdherrschaft in neuer Jean Nanga
Gestalt
Syrien
„Wir sind in einer Position der Schwäche“ Lorca, Midu, Abu
Laïla
Tunesien
Auf dem Weg zur „Normalisierung“
Dominique Lerouge
Türkei
Die AKP, die Kurden und die Belagerung
von Kobane
Störfeuer im Unternehmerparadies
Von der stalinistischen Raupe zum
libertären Schmetterling?
25
Inprekorr 1/2016 59
R e g i s t e r 2 0 15
Solidarität mit den kurdischen und
türkischen Aktivistinnen
Ukraine
Resolution zur Ukraine
Uruguay
Von Strukturreformen zum „progressiven
Projekt“
USA
Kampf um den 15-Dollar-Stundenlohn
Venezuela
Rechtswende nach Chávez’ Tod
Vietnam
Die Niederlage nach dem Sieg von 1975
Erklärung des Ju5/2015
gendcamps der IV.
Internationale
64
Internationales
Komitee der IV.
Internationale
3/2015
35
Ernesto Herrera
5/2015
38
Dan La Botz
4/2015
50
Pedro Huarcaya
1/2015
34
Pierre Rousset
4/2015
53
Register nach Themen (Auswahl)
Titel
Bildung
Schulen im Dienste der Unternehmen!
Die Heuchelei der Regierenden
Streik gegen die Gymnasialreform!
Gebrauchsfähig für den Arbeitsmarkt
Mehr finanzielle Mittel statt Reformen!
Die Mobilisierung geht weiter
Für die Ausweitung des Kampfes!
Aufruhr in der politischen Szenerie
Soziale Kämpfe nach 2011
Studierendenbewegung flammt erneut
auf
LehrerInnen gegen Peña Nieto
Debatte
Geopolitisches Chaos und die Folgen
Anmerkungen zur Debatte über
„Imperialismus und Geopolitik”
Die Dynamik der kapitalistischen
Globalisierung
Moderner Imperialismus konkret
Linksreformismus in der Defensive
Fundamentalismus
Religiöser Fundamentalismus
Geschichte
Benjamin und Trotzki: 1940
Jugendcamp
32. Internationales Sommercamp
Jugendcamp der IV. Internationale
Klima
COP 21 – Gipfel der Verlogenheit
Nachruf
François Vercammen (1944–2015)
Internationalistischer Praktiker und
Theoretiker: François Vercammen
François Maspero (1932–2015)
Nationale Frage
Anmerkungen zur nationalen Frage in
Westeuropa
Schottland – Nationalismus von links
60 Inprekorr 1/2016
AutorIn
HeftSeite
Francesco Locantore 5/2015
Chiara Carratú
5/2015
Nationale Bildungs- 5/2015
kommission der
NPA
Vincent Présumey 5/2015
Galia Trépère
5/2015
5/2015
Nationale Bildungs- 5/2015
kommission der
NPA
Sergio Grez
5/2015
Sergio Grez, Franck 5/2015
Gaudichaud
5/2015
22
23
24
Manuel Aguilar
5/2015
31
Pierre Rousset
François Sabado
1/2015
1/2015
56
62
Henri Wilno
2/2015
27
Hans-Ulrich Hill
Mikael Hertoft
2/2015
6/2015
59
56
Farooq Tariq
5/2015
52
Helmut Dahmer
6/2015
52
2/2015
5/2015
64
64
Daniel Tanuro
6/2015
12
Wilfried Dubois
Jan Malewski
5/2015
5/2015
44
46
Marcel-Francis
5/2015
Kahn, Alain Krivine
49
Henri Wilno
2/2015
40
Jean-Philippe Divès 2/2015
42
25
26
26
26
26
29
Belgien – Nationale Krise vor neoliberalem Hendrick Patroons
Hintergrund
Spanien – Nationale Konflikte im Spiegel Andreu Coll
der Geschichte
Neues aus der historischen
Kommunismusforschung
Nachruf auf Hermann Weber
Peter Berens
Ralf Hoffrogge: „Werner Scholem. Eine Peter Berens
politische Biographie (1895–1940)”
Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler Peter Berens
und Stalin. Die Linke Opposition der
KPD in der Weimarer Republik. Eine
Gesamtdarstellung,
Peter Berens
Gelsenkirchener Tagung vom
15./16.11.2014 zur Geschichte der
Linken Opposition der KPD und anderer
linker Kleinorganisationen
Ökologie
Der Alarmruf des Weltklimarats
Daniel Tanuro
„This changes everything“
Daniel Tanuro
Ökonomie
Ein Rundblick auf die Weltwirtschaft
Gaston Lefranc
Auf dem Weg in die nächste Finanzkrise Gaston Lefranc
Europa vor der Krise
Henri Wilno
Russland – ein Koloss auf tönernen Füßen Gaston Lefranc
Der aufhaltbare Anstieg des Ölpreises
Jean-Claude Vessillier
Die digitale Revolution als Ausweg aus
Jean-Philippe Divès
der Krise?
Die chinesische Finanzblase platzt
Martine Orange
Welches produktivistische Modell?
Michel Husson
Ökosozialismus
Die drohende ökologische Katastrophe Daniel Tanuro
Theorie
Utopie und Wirklichkeit – methodische Bernhard Brosius
Aspekte
2/2015
45
2/2015
48
2/2015
2/2015
53
54
2/2015
56
2/2015
57
1/2015
3/2015
47
50
3/2015
3/2015
3/2015
3/2015
3/2015
17
19
21
23
24
3/2015
27
5/2015
6/2015
34
26
6/2015
17
3/2015
53
31
die Internationale
Titel
AutorIn
Geopolitisches Chaos und die Folgen
Pierre Rousset
Anmerkungen zur Debatte über
François Sabado
„Imperialismus und Geopolitik”
Nachruf auf Hermann Weber
Peter Berens
Ralf Hoffrogge: „Werner Scholem. Eine Peter Berens
politische Biographie (1895–1940)”
Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler Peter Berens
und Stalin. Die Linke Opposition der
KPD in der Weimarer Republik. Eine
Gesamtdarstellung,
Peter Berens
Gelsenkirchener Tagung vom
15./16.11.2014 zur Geschichte der
Linken Opposition der KPD und anderer
linker Kleinorganisationen
Moderner Imperialismus konkret
Hans-Ulrich Hill
„This changes everything“
Daniel Tanuro
Utopie und Wirklichkeit – methodische Bernhard Brosius
Aspekte
Die Niederlage nach dem Sieg von 1975 Pierre Rousset
Der blutige Kampf des Imperialismus
Marc Pavlopoulos
gegen die Résistance
Stathis Kouvelakis
Der Kampf geht weiter
Religiöser Fundamentalismus
Farooq Tariq
Gravitationszentrum des europäischen
Heinz Jandl
Kapitalismus
Benjamin und Trotzki: 1940
Helmut Dahmer
Linksreformismus in der Defensive
Mikael Hertoft
HeftSeite
1/2015
56
1/2015
62
2/2015
2/2015
53
54
2/2015
56
2/2015
57
2/2015
3/2015
3/2015
59
50
53
4/2015
4/2015
53
59
5/2015
5/2015
5/2015
18
52
57
6/2015
6/2015
52
56